Hinter den Wolken - Daniela Blum - E-Book

Hinter den Wolken E-Book

Daniela Blum

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Beschreibung

Eigentlich wollte Sina ihrem verkorksten Leben ein Ende setzen. Doch nach ihrem Selbstmord findet sie sich nicht wie geplant im Paradies, sondern in der Schutzengelzentrale wieder. Dort erfährt sie, nur dann ins Paradies 'weitergehen' zu können, wenn sie vorher als Schutzengel tätig wird. Ihr Schützling wird Jan, ein junger Witwer, bei dem Sina so ihre liebe Müh und Not hat, ein unplanmäßiges Ausscheiden aus dem Leben zu verhindern. Als sie versehentlich sichtbar wird, bricht vollends Chaos aus: Nachdem auch der letzte Geisterbeschwörer und Priester erfolglos verschwunden sind, muss Jan Sinas Anwesenheit akzeptieren. Mehr noch, er fühlt sich immer mehr zu ihr hingezogen. Und Sina ist sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich endgültig abtreten will. Aber kann man sich in seinen Schutzengel verlieben? Und gibt es für Sina überhaupt einen Weg zurück ins Leben? Von Daniela Blum sind bei Forever erschienen: Strawberry Icing Weihnachtsflug ins Glück Hinter den Wolken

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Seitenzahl: 579

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Die AutorinDaniela Blum, Jahrgang 1981, stammt aus Frechen in Nordrhein-Westfalen. Nach ihrem Abitur verbrachte sie ein Dreivierteljahr als Au-pair in Atlanta, USA, um das Land und die Sprache besser kennenzulernen. Heute lebt sie mit ihrem Mann, ihrem kleinen Sohn und ihrer eigenwilligen Katze Emily in Erftstadt, bei Köln. Daniela Blum schreibt bereits seit ihrer Jugend und hat nach einer längeren Pause vor vier Jahren wieder damit begonnen. Ihre Kurzgeschichte Erwin der Igel erschien 2011 in der Anthologie Geschichten auf vier Pfoten, ihr erster Roman Strawberry Icing 2014 bei Forever.

Das BuchEigentlich wollte Sina ihrem verkorksten Leben ein Ende setzen. Doch nach ihrem Selbstmord findet sie sich nicht wie geplant im Paradies, sondern in der Schutzengelzentrale wieder. Dort erfährt sie, nur dann ins Paradies 'weitergehen' zu können, wenn sie vorher als Schutzengel tätig wird. Ihr Schützling wird Jan, ein junger Witwer, bei dem Sina so ihre liebe Müh und Not hat, ein unplanmäßiges Ausscheiden aus dem Leben zu verhindern. Als sie versehentlich sichtbar wird, bricht vollends Chaos aus: Nachdem auch der letzte Geisterbeschwörer und Priester erfolglos verschwunden sind, muss Jan Sinas Anwesenheit akzeptieren. Mehr noch, er fühlt sich immer mehr zu ihr hingezogen. Und Sina ist sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich endgültig abtreten will. Aber kann man sich in seinen Schutzengel verlieben? Und gibt es für Sina überhaupt einen Weg zurück ins Leben?  Von Daniela Blum sind bei Forever erschienen:  Strawberry Icing Weihnachtsflug ins Glück Hinter den Wolken

Daniela Blum

Hinter den Wolken

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Forever. Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © stylelounge-event.de ISBN 978-3-95818-062-8  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Im Andenken an die, die nicht mehr unter uns weilen, aber immer zugegen sind.Ihr bleibt unvergessen.

Prolog

Sina öffnete die Haustür und bemerkte als Erstes die beiden riesigen Koffer, die unübersehbar im Flur standen. Irritiert schloss sie die Tür und warf den Schlüssel in die Glasschale auf dem Sideboard links von ihr. Wie seltsam, ein Urlaub war nicht geplant, dachte sie und hängte ihre Jacke auf. Sie zog die Perücke vom Kopf und warf im Spiegel einen Blick auf die beiden Gepäckstücke. Ob Andre sie vielleicht überraschen wollte? Augenblicklich fühlte sie sich schlecht, ihren Ehemann bei den Vorbereitungen ertappt zu haben.

Sina griff nach einem gemusterten Baumwolltuch und wand es geschickt um ihren haarlosen Kopf. Bereits seit Wochen war die Chemotherapie beendet, doch noch immer spürte sie keine neu gewachsenen Stoppeln. Erneut wurde ihr Blick von den Koffern magisch angezogen. Nachdem Sina die Schuhe von den Füßen gestreift hatte, umrundete sie neugierig die Gepäckstücke. Kein Brief oder Zettel war daran befestigt.

»Andre?«, rief sie in die untere Etage hinein. Sie hatte sich schon gewundert, als sie den Wagen ihres Mannes in der Auffahrt entdeckt hatte. Normalerweise war er zu dieser Zeit noch im Büro.

Sie hatten die letzten drei Jahre viel durchgemacht, und eine kleine Auszeit vom Alltag würde ihnen beiden sicherlich guttun. Erneut sah sie zu den beiden Koffern. Heute war ein wirklich guter Tag, der angesichts des ungeplanten Urlaubs zu einem unvergesslichen werden würde. Die Überraschung war ihm definitiv gelungen. Diese Eigenschaft mochte sie an Andre. Diese kleinen Gesten seiner Wertschätzung und Liebe. Ob es nun die Melonen in einem Obstbecher waren, die er für sie herauspickte, weil sie allergisch dagegen war, oder ob er den Latte macchiato nur mit wenig Espresso bestellte, weil sie so viel Kaffee nicht mochte. Oder eben einen Überraschungsurlaub buchte – mit Sicherheit an ein schönes ruhiges und vor allem sonniges Plätzchen. Sina sah sich bereits unter einer Palme am Meer liegen.

»Andre?« Sie verließ das Gäste-WC, in dem sie sich die Hände gewaschen hatte, und machte sich auf die Suche nach ihrem Ehemann. Mit jedem Schritt hob sich ihre Stimmung, und die Freude auf den bevorstehenden Urlaub wuchs. Im Wohnzimmer fand sie ihren Mann mit einem Stift in der Hand auf der Couch sitzend.

»Sina. Was machst du denn schon hier?« Ertappt hob Andre den Kopf. Offenbar war er so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er sie nicht gehört hatte.

»Die Ärztin musste heute früher weg, da war sie ein bisschen schneller als sonst.« Glücklich setzte sich Sina neben ihn und küsste Andre auf die Lippen. »Tut mir leid, dass ich dir die Überraschung verdorben habe.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Flur und umarmte ihn anschließend fest. »Ich freue mich riesig.«

Etwas stimmte nicht. Andre umarmte sie zwar, seltsamerweise spürte sie aber kein Gefühl dahinter. Mit gerunzelter Stirn löste sich Sina von ihm. Andre wandte die Augen ab und sah vor sich auf den Couchtisch.

Als Sina seinem Blick folgte, entdeckte sie einen dicken Briefumschlag, auf dem in seiner Handschrift ihr Name geschrieben stand. Mit einem Mal begann ihr Herz laut zu pochen, und sie hielt die Luft an. »Was ist das?«, presste sie tonlos hervor.

Andre nahm den Briefumschlag hoch und drehte ihn zwischen den Händen. »Ich …« Er seufzte.

Sina rutschte ein Stück von ihm weg. Die Koffer waren nicht für einen gemeinsamen Urlaub. »Was ist los, Andre?« Ihre Stimme zitterte, so wie ihr ganzer Körper.

Ihr Mann seufzte erneut und sah sie endlich an. Sein Gesicht war ernst. Eine Maske, die alle seine Emotionen sorgsam verbarg. »Ich möchte die Scheidung.«

Seine Worte waren kalt. Kein Bedauern, keine Reue. Keine Liebe. Er hatte mit der Situation abgeschlossen.

Sie war sich sicher, sich verhört zu haben, und wartete darauf, dass er seine Worte mit einem Lachen als schlechten Scherz abtäte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen starrte Andre wieder auf den Briefumschlag in seinen Händen. Ich möchte die Scheidung, hallte es in ihren Gedanken wider. Ich möchte die Scheidung. Woher kam dieser Wunsch? Es war doch alles in Ordnung gewesen, oder etwa nicht?

»Was sagst du dazu?«

Sina war außerstande zu sprechen. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Wanduhr tickte. Kinderlachen aus dem Garten gegenüber wehte durch das geöffnete Fenster. Die Couch ächzte, als Andre sich bewegte. Sie merkte, wie er sie erneut ansah, doch sie starrte einfach durch ihn hindurch. Sie wollte ihn nicht deutlich sehen. Wollte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich möchte die Scheidung. Warum? Niemals hätte sie damit gerechnet, diese Worte von Andre zu hören. Sie waren ein tolles Paar, ein unschlagbares Team. Zu jeder Zeit konnte sie sich auf ihn verlassen. Warum jetzt? Warum?

Sina war zu keiner Bewegung fähig. Weshalb hätte sie sich auch rühren sollen? Ihr Leben war vorbei, denn der einzige Mensch, der ihr im Leben geblieben war, hatte sich von ihr abgewendet. Warum? Ihr Blick klebte sich an den großen Keilrahmen oberhalb der Couch. Ein Bild ihrer Hochzeit. Der schönste Tag ihres Lebens. Sie standen vor einem Baum, Andre umschlang sie von hinten, seine Hände ruhten auf Sinas schlanker Taille. Beide strahlten sie in die Kamera. Ein wunderschöner Maitag vor nun fast sechs Jahren. Ihre Pläne waren unendlich gewesen. Sie wollten die Welt bereisen, und nach Andres bestandenem Studium wollten sie sich um ihr gemeinsames Lebensziel Kinder kümmern, dafür hatte sie ihre Profitanzkarriere und ihren Traum einer eigenen Tanzschule aufgegeben.

Sie hatten die Welt bereist, und ein Jahr nach der Hochzeit hatte er sein Studium abgeschlossen. Trotz intensiver Versuche klappte es auch zwei Jahre danach nicht mit der Kinderplanung. Und dann kam die Diagnose: Myome in der Gebärmutter. Aber zu keinem Augenblick hatte sie an Andres Liebe oder Loyalität gezweifelt. Im Gegenteil. Sie hatten zusammengehalten, in guten wie in schweren Tagen. So, wie sie es sich in der kleinen Kirche vor all ihren Freunden und seiner Familie versprochen hatten. Das sollte nun alles vorbei sein? Warum? Was war passiert? Wann war es passiert?

»So sag doch was.« Andre rutschte neben ihr unruhig auf der Couch herum. Ihre unnatürliche Starre und Stille machten ihn nervös.

Ganz langsam drehte Sina den Kopf in seine Richtung. Er sah hinreißend aus. So gut wie am ersten Tag. »Warum?« Sie flüsterte das Wort, zu mehr war ihre Kehle nicht fähig.

Er blieb still. Sina kannte dieses Gesicht in- und auswendig. Er dachte nach, überlegte, wie er das, was er sagen wollte, in Worte fassen konnte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit holte er tief Luft. »Kinder waren immer mein Lebenstraum. Je mehr, desto besser. Ich wollte eine Großfamilie, wie ich sie nie hatte.« Er rieb sich durch das Gesicht, dann seufzte er. Ein entschlossenes Seufzen. Eins von der Sorte, dem Offenheit und schmerzhafte Ehrlichkeit folgen würden. »Ich kann nicht mehr, Sina. Meine Batterien sind leer. Ich dachte immer, ich wäre stark genug für uns beide. Doch das bin ich nicht. Anfangs glaubte ich, meinen Traum vergessen zu können. Du warst mir wichtiger. Deine Gesundheit war mir wichtiger. Aber dann … Ich …« Seine Stimme brach.

Sina war sich nicht sicher, ob sie noch weiter zuhören wollte. Seine Worte schnitten ihr Herz entzwei. Auch sie hatte für ihn auf ihre Träume verzichtet. Auch sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Es war auch ihr Lebensziel. Wollte er damit sagen, es wäre ihre Schuld? Sie konnte es ihm nicht mal verübeln. Sina starrte auf ihr Spiegelbild, das in der Glasfront des Wohnzimmerschranks zu sehen war. Wie sie diesen Anblick hasste. Ihren Körper hasste.

»Warum musstest du früher vom Arzt kommen? Ich hatte dir alles aufgeschrieben …« Er lachte kurz emotionslos auf und tippte auf den Umschlag.

Sina folgte seinen Fingern. »Ich will, dass du es mir sagst«, forderte sie, auch wenn sie fürchtete, an seinen Worten zugrunde zu gehen.

Andre atmete tief ein und stieß die Luft anschließend schnell aus. »Ich habe jemanden kennengelernt. Ich wollte es nicht, aber wir haben uns verliebt … und … und … sie bekommt Zwillinge. Von mir.«

Unter Sina brach der Boden weg. Was blieb, war ein riesiges, schwarzes Loch, das sie zu verschlucken drohte. Sie bekommt Zwillinge. Von mir, hallten Andres Worte immer und immer wieder in ihrem Kopf. Wie hatte es so weit kommen können? Wollte sie wissen, wer »sie« war? Wollte sie wissen, warum er sich in sie verliebt hatte? Erneut sah Sina auf die Glasscheibe des Wohnzimmerschranks. Verbiss ihren Blick geradezu in dem baumwollenen Haarersatz auf ihrem Kopf. Nein, sie brauchte nicht zu fragen, sie wusste es. Wusste es nur zu gut. Sie war nicht mehr die Frau, die Andre geheiratet und in die er sich verliebt hatte. Sie würde es nie wieder sein. Gab es eine weibliche Bezeichnung für einen Eunuchen? Konnte sie ihm überhaupt böse sein? Konnte sie ihm sein Handeln verübeln? Jeder war seines eigenen Glückes Schmied. Mit ihr konnte er seinen Lebenswunsch nicht mehr verwirklichen. Aber mit der anderen Frau.

Obwohl er im Begriff war, sie zu verlassen, wurde ihr klar, dass sie ihm nicht böse war. Im Gegenteil: Sie hatte Verständnis für seine Entscheidung. Was war sie nur für ein Mensch? Ihr war Andres Glück wichtiger als ihr eigenes.

Neben ihr ächzte die Couch. Andre stand auf. Unschlüssig blieb er stehen, dann spürte sie seine Hand auf ihrem Kopf. Für einen kurzen Augenblick blieben seine Finger auf ihrem Kopftuch liegen, dann verließ er den Raum. Im Türrahmen drehte er sich noch mal um. Nun endlich konnte sie Bedauern in seinem Gesicht lesen. Aber sie wollte es nicht sehen. Also wandte sie den Blick ab und starrte auf den Teppichboden.

»Du bist ein toller Mensch, Sina. Ich weiß, du kannst es auch ohne mich schaffen. Ich bin mir sicher, du wirst wieder jemanden finden, mit dem du glücklich sein kannst … Es tut mir leid … ich …« Dann war es still.

Sina hob nicht den Kopf. Sie wollte nicht sehen, wie er sie verließ. Sie hörte, wie Andre seine Jacke anzog. Hörte das Klirren, als seine Schlüssel in die Glasschale auf der Kommode fielen. Und sie hörte das dumpfe Klacken, als die Tür ins Schloss schlug. Er hatte das Haus verlassen. Er hatte sie verlassen.

Mechanisch stand Sina auf und ging in den Flur. Die Koffer waren verschwunden. Sie tapste zur Tür und sah durch das gläserne Quadrat hinaus auf die Einfahrt. Das Auto war bereits weg. Andre war weg. Für immer.

Sina drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Der Raum, nein, das ganze Haus fühlte sich leer an. So wie ihr Herz.

Erneut klebte sich ihr Blick an den Keilrahmen. Damals hatten sie sich viel versprochen, vor allem ewige Liebe und Ehrlichkeit. Übrig geblieben war nichts. Nichts als eine tiefe Leere und dieser unendliche Schmerz. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und sie schnappte nach Luft. Tränen brannten in den Augen.

Als bräche ein Damm in ihr, schossen die zuvor unterdrückten Emotionen aus Sina hervor. Sie weinte. Schrie. Schrie, so laut sie konnte, aber der Schmerz in ihrem Herzen wollte nicht vergehen. Sinas Füße gaben nach, und sie sackte auf dem Teppich zusammen. Sie zog die Beine an und schlang die Arme darum. Wie sollte es weitergehen? Ohne Andre war sie am Ende. Sie brauchte ihn. Er war ihr Leben, ihre Liebe. Ihr Fels in der Brandung. Ohne ihn gab es keinen Grund mehr, weiterzuleben.

Schutzengelhandbuch Kapitel eins – Aufgabenbereich im Detail

1.1 Der Schutzengel ist mit dem ihm zugeteilten Schützling bis zu dessen vorgegebenem Tod verbunden. Dies schließt alle körperlichen, mentalen, visuellen und akustischen Wege ein.

1.2 Der Schutzengel muss den ihm zugeteilten Schützling vor jedem erdenklichen Leid bewahren. Weder darf dem Schützling etwas durch sich selbst noch durch Dritte noch durch die Unachtsamkeit des Schutzengels widerfahren. Siehe hierzu auch Punkt 11.2 und 11.4.

1.2.1 Um diese Aufgabe bestmöglich auszuüben, darf der Schutzengel jeden Gegenstand und jedes Lebewesen positiv beeinflussen, ohne diesem ein Leid zuzufügen oder dieses in Gefahr zu bringen.

1.3 Wenn der Zeitpunkt des Todes (sei es vorgegeben oder unplanmäßig) gekommen ist, ist der Schutzengel für die sichere und angstfreie Begleitung des Schützlings zur Pforte verantwortlich.

1

Um sie herum war nichts außer friedvoller Stille. Kein Kühlschranksummen, keine Musik aus dem Radio oder die auswendig gelernten Dialoge der sogenannten »Reality«-TV-Serien auf den Privaten. Hatte es funktioniert? Unter sich spürte Sina einen harten, kalten Untergrund und nicht den dicken, flauschigen Teppich aus ihrem Wohnzimmer. Durchdringende Kälte kroch wie eine Schlange durch ihren Körper und rankte sich bis zu den Zehen und Fingerkuppen. Sina zitterte. Als sie es nicht mehr aushielt, schlug sie die Augen auf.

Es war taghell, dennoch leuchteten über ihr am Nachthimmel die Gestirne in all ihrer Pracht. Sterne des Orion, Taurus und der Gemini strahlten mit den anderen um die Wette, als wollten sie sich in ihrer Schönheit und Leuchtkraft übertrumpfen. Es war ein wunderschöner Anblick, der jede sternenklare Nacht in den Schatten stellte.

»Warum liegst du hier?« Das Gesicht einer Frau erschien über Sina und verdeckte den Sternenhimmel. Kurze, schwarze Haare, als hätte man ihr einen Topf auf den Kopf gesetzt und drumherum geschnitten, umrahmten ein ovales Gesicht. Auffälliger als die Haare war das schwarze Brillengestell, mit Gläsern beinah so groß wie Untertassen.

»Ich weiß nicht?« Sina zuckte mit den Schultern.

Zackig klatschte die Frau mehrmals in die Hände. »Los, aufstehen! Wir haben nicht viel Zeit!«

Sina rührte sich nicht.

»Beeil dich!« Die Frau zückte ein Blackberry und tippte darauf rum.

Was Sina anfangs für den unendlichen Sternenhimmel gehalten hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als kuppelartige Decke eines gigantischen Raumes. Helles Licht fiel durch die mächtigen, halbkreisförmigen Oberlichter und warf gleißende Kegel auf den braunen Marmorboden, auf welchem sie lag.

Und mit einem Mal war es nicht mehr totenstill. Anfangs war es nur ein Flüstern, das schnell immer lauter wurde. Stimmengewirr wie ein dröhnendes Brummen. Hektische Schritte, blecherne Lautsprecherdurchsagen und dahinplätschernde, süßliche Harfenklänge, die immer mal wieder für einen kurzen Moment die Oberhand gewannen.

Ein Rocksaum streifte Sinas Gesicht, und das Ende eines Spazierstocks verfehlte knapp ihr Ohr.

»Wir haben ein sehr enges Zeitfenster, und du musst noch so viel wissen!« Die Frau steckte leicht genervt das Blackberry weg und reichte Sina die Hand. Sie ergriff die dargebotenen warmen Finger und stand auf. Die Frau ging los, ohne darauf zu achten, ob Sina ihr folgte. »Das hier ist der Ankunftsbereich der Zwischenebene …« Und schon hatte die Menschenmenge sie verschluckt.

Ankunftsbereich? Gaffend blieb Sina stehen. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Personen mit Sackkarren, vollgestapelt mit Kisten in unterschiedlichen Größen, bahnten sich in atemberaubender Geschwindigkeit einen Weg durch die Menge. Andere standen an den geöffneten Kartenverkaufsfenstern links und rechts entlang der Wand. Wieder andere studierten die Anzeigetafeln oberhalb davon. Ein ganz normales, geordnetes Bahnhofschaos. Abgesehen von der zeitgenössischen Kleidung aus jeder erdenklichen Epoche, welche die Menschen trugen. Und dem atemberaubenden Sternenhimmel über ihr, als schaute man durch das Hubble-Teleskop.

Die Menge teilte sich, und die Frau rauschte Sina entgegen. »Warum bist du nicht hinter mir? Los jetzt, uns läuft die Zeit davon.« Sie zeigte auf einen Aufzug an der gegenüberliegenden Seite der Bahnhofshalle. »Da müssen wir hin! Bei mir bleiben, klar?! Ich habe nicht die Zeit, dich erneut zu suchen!« Die Frau griff nach Sinas Handgelenk und ging forschen Schrittes los.

Doch Sina bewegte sich keinen Millimeter. »Sekunde mal. Wer bist du? Und wo genau bin ich?« Sie löste sich aus der Umklammerung und stemmte die Hände in die Hüften.

Ihr Gegenüber schien über die Frage einen Moment irritiert. Jedoch kein Augenzwinkern später schob die Frau die Brille auf der Nase zurecht und reichte Sina die Hand. »Ich bin Seraphina. Chefin der deutschen Schutzengelzentrale.« Seraphina zeigte mit der rechten Hand auf die Umgebung. »Wie gesagt: Das hier ist die Zwischenebene. Sie ist das Bindeglied zwischen der unteren und der oberen Ebene. Alle diejenigen …«

Sina ließ ihren Blick erneut über die Umgebung schweifen. Schutzengelzentrale? Zwischenebene? Irgendwie sah das alles nach der Grand Central Station aus. Aber wie hätte sie in so kurzer Zeit und ohne es bemerkt zu haben nach New York kommen sollen? Das Letzte, woran sie sich erinnerte, waren eine Flasche Champagner, eine Menge Tabletten und der Wunsch, so schnell wie möglich zu sterben.

Sina runzelte die Stirn. Wie viel Zeit war seitdem vergangen?

Seraphina schnippte mit den Fingern vor Sinas Gesicht. »Zuhören und losgehen!«, Sie zog Sina an ihrem Handgelenk hinter sich her.

Sina versuchte Schritt zu halten und dabei nicht mit den anderen Menschen zusammenzustoßen. Ohne sich umzudrehen, redete Seraphina drauflos: »Mit dem Aufzug fahren wir in mein Büro. Dort wirst du vereidigt und bekommst das Handbuch. Das musst du so schnell wie möglich lesen. Was sag ich – am besten auswendig lernen. Jans Akte kann ich dir noch nicht geben, die ganze Buchstabengruppe S-C-H ist verschwunden. Ich mache dich aber mit ein paar Fakten vertraut, damit du zumindest einen groben Überblick hast.« Sie hatten den Aufzug erreicht, und ohne dass sie einen Knopf gedrückt hätten, öffneten sich die Lifttüren. »Wunderbar. Los, rein mit dir – hallo Tom!«

Sina wurde von Seraphina in das Innere geschoben. Vor ihr stand ein Mann mit runder Brille auf der Nase, polierter Halbglatze und einem dunkelblonden Schnauzbart. An der Brusttasche seines grünen Hemdes haftete ein Namensschild, auf dem Sicherheitsabteilung stand. Er stellte sich vor und schüttelte Sina mit einem festen Händedruck die Hand.

»Gut, dich zu sehen. Sind die Akten wieder aufgetaucht?«, fragte Seraphina.

»Leider nein, ich bin gerade auf dem Weg dahin. Wahrscheinlich haben die Archivare die Schränke bei einer ihrer Umräumaktionen im falschen Gang abgestellt und vergessen. Wundern würde mich das nicht.«

Der Aufzug stoppte. »Archive«, informierte sie eine helle, weibliche Stimme, während sich die Türen öffneten.

Verwirrt sah Sina dem davoneilenden Mann hinterher. Dies alles wirkte wie ein riesiges Verwaltungsgebäude. Mit Sicherheit träumte sie! Oder sie war im Delirium! Hervorgerufene Wahnvorstellungen durch den Tablettencocktail.

Seraphina kniff sie in die empfindliche Haut am Unterarm.

»Au!« Sina zuckte bei dem kurzen Schmerz zusammen und rieb sich über die rot werdende, brennende Stelle.

»Siehst du, kein Traum!« Seraphina schob die Brille ein Stück hinunter und musterte sie von oben bis unten. Augenblicklich fühlte sich Sina unbehaglich. »Willst du so aussehen?« Seraphina wedelte mit dem Zeigefinger vor Sina hin und her, schüttelte missbilligend den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Wenn du mich fragst, stünden dir ein paar Kilos mehr auf den Rippen viel besser zu Gesicht. Du siehst so knochig aus, beinah wie ein Skelett.« Ein weiteres tadelndes Naserümpfen. »Wenigstens sind diese hässlichen Augenringe weg.«

Sina presste die Lippen zusammen. Für den Gewichtsverlust, die Augenringe oder das Ausfallen ihrer roten, naturkrausen Haarpracht konnte sie nichts. Genauso wenig wie für so viele andere Dinge, die ihr in den letzten Monaten widerfahren waren. Sie verschränkte die Arme wie einen Schutzwall vor ihrer Brust. »Und wenn schon? Kann dir doch egal sein.«

Bevor Seraphina antworten konnte, kündigte die Aufzugstimme die Schutzengelzentrale an, und die Lifttüren glitten lautlos auseinander. Ein riesiger holographischer Erdball mit unterschiedlich hell erleuchteten Kontinenten dominierte den Raum. An einem Empfangstresen saß eine junge Frau. An ihrer weißen Rokokofrisur war ein dekoratives, silbernes Vogelnest samt passendem Federvieh befestigt. Mit einem Headset im Ohr tat sie nichts anderes, als das ununterbrochen läutende Telefon zu beantworten und die Anrufer weiterzuverbinden.

Seraphina durchquerte bereits den Empfangsbereich, erneut ohne darauf zu achten, ob Sina ihr folgte. Verwirrter denn je verließ Sina den Aufzug und blieb stehen. War das die Hölle? Wenn sie dem Pastor aus dem lange zurückliegenden Kommunionsunterricht Glauben schenken sollte, dann müsste das die Hölle sein. Naja, oder zumindest irgendetwas davor.

Ihr Blick schweifte durch den Raum. Die Hölle konnte es nicht sein, denn dafür war die Umgebung zu annehmlich. War die Zwischenebene womöglich der Himmel? Und sollte das etwa der Himmel sein? Das entsprach überhaupt nicht ihrer Vorstellung. Unterhalb des sich drehenden Erdballs stand in silbernen Buchstaben Guardian Angel Headquarter geschrieben. Sina drehte den Kopf zu einem Spiegel. Es dauerte einen Moment, bis sie erschrocken nach Luft schnappte. Dicke, kupferfarbene Locken ergossen sich über ihre Schultern. Fassungslos schlug sie die Hand vor den Mund. Sie träumte! Ganz sicher tat sie das! Sina konnte den Blick nicht von ihrem Spiegelbild abwenden und rieb sich gedankenverloren über die Stelle, an der Seraphina sie in den Unterarm gekniffen hatte. Das brennende Gefühl klang erst langsam ab. Oder vielleicht träumte sie doch nicht. Ungläubig nahm sie eine der Locken in die Hand und rieb sie zwischen den Fingern, nur um sicherzugehen, dass sie keiner Illusion unterlag. Sie schloss erleichtert die Augen, als sie die einzelnen Haare zwischen ihren Fingerkuppen spürte. Neugierig sah Sina weiter an sich herab, direkt in das herrliche Dekolletee ihrer B-Körbchen. Ihre Kehle brannte vor ungeweinten Tränen, und sie schlug sich erneut die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Sie war wieder eine Frau.

Seraphinas missbilligender Gesichtsausdruck schob sich in Sinas Blickfeld. Sie schien Sinas Stimmung nicht zu bemerken oder war nicht bereit, darauf einzugehen. Ohne auf ihren Gemütszustand zu achten, zog die Schutzengelchefin Sina mit spitzen Fingern vom Spiegel weg. Sehnsüchtig warf sie einen vorerst letzten Blick auf ihr Abbild und folgte Seraphina aus dem Empfangsbereich.

»Ich rede mir den Mund fusselig, nur um erneut deine Abwesenheit festzustellen. Was ist so schwer daran, mir zu folgen und gleichzeitig zuzuhören? Ich dachte, du bist multitaskingfähig!« Sie seufzte und murmelte, mehr zu sich selbst: »Hoffentlich täusche ich mich nicht.«

Egal, ob sie mal links oder rechts abbogen, es reihten sich immer gleich aussehende, schier endlose Korridore aneinander. Einzig kleine Schilder kennzeichneten die jeweiligen Länder, denen ein Flur zugeordnet war. Rechts und links gingen einzelne Büroparzellen ab, in denen Personen vor PC-Bildschirmen saßen.

Sina stierte immer wieder auf ihren Brustansatz und befühlte ihre Brüste, als könnten sie im nächsten Moment verschwinden. Seraphinas gemurmelte Worte kamen ihr wieder in den Sinn. »Du täuschst dich hoffentlich in was nicht?«

»Nur besondere Menschen dürfen das Amt des Schutzengels übernehmen. Denn nur sie haben Seelen mit Potenzial.«

»Meine Seele hat Potenzial?« Überrascht runzelte Sina die Stirn. Schwer vorstellbar.

Seraphina seufzte schwer. Offenbar mochte sie keine Rückfragen. Regelrecht widerwillig gab sie Antwort. »Das sind Menschen, die nicht nur an sich selbst denken. Deren Wohl hinter dem der anderen steht, die sich aufopfern und selbstlos sind. Diejenigen, die für ihre Lieben alles tun, damit es ihnen gut geht.« Zielstrebig ging Seraphina auf eine verschlossene Milchglastür am Ende des Gangs zu. Davor stand ein weißer Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß und in einem Buch las. Je näher sie kamen, desto deutlicher konnte Sina die Tränen auf den Wangen der anderen erkennen.

»Noch eine halbe Seite«, schluchzte sie, ohne von dem Buch aufzublicken.

Seraphina seufzte – ganz klar ihre Art, Missfallen kundzutun – und drückte die Klinke der Glastür hinunter. Mit einem Fingerschnippen bedeutete sie Sina, ihr zu folgen.

Wie alles andere war auch dieser Raum in Weiß gehalten. Nur die grünen Stängel der weißen Amaryllis in einer ellipsenförmigen Glasvase und eine rosafarbene Akte rechts neben dem Laptop gaben dem Büro etwas Farbe. Der leicht süßliche Duft der exotischen Blüten schwängerte die Luft. Seraphina bot Sina den Sessel an. Kaum hatte die Schutzengelchefin an dem Schreibtisch Platz genommen, schob sie erst den Laptop und anschließend die Blumenvase einen Millimeter zur Seite, als hätten sie zuvor nicht am korrekten Platz gestanden.

Die rosafarbene Akte neben dem Computer weckte Sinas Neugier, und obwohl der vermerkte Name auf dem Kopf stand, konnte sie ihren Nachnamen einwandfrei erkennen. Was dort wohl über sie drinstand? Gab es etwas, was sie nicht wussten? Die Milchglastür öffnete sich, und Seraphinas Assistentin betrat den Raum. Schniefend wischte sie sich über die tränennassen Wangen und presste einen Notizblock an die Brust.

»Hat er sie gerettet?«, fragte Seraphina, offenbar pflichtbewusst und weniger aus Neugier.

Die Assistentin schniefte erneut. »Ja. Aber dabei wurde er schwer verwundet und verlor sein Bein. Nun sind sie wieder vereint und leben glücklich bis an ihr Lebensende.«

»Wunderbar, dann können wir ja anfangen.« Seraphina lächelte kurz und holte Luft. »Ruf Xander an – Surfen im Heavennet während des Dienstes ist untersagt. Wenn seine Schützlinge zu spät zum Basketball kommen, kassiert er einen Verweis. Wenn René das Spiel verpasst, war es das mit der Profi-Basketballkarriere! Sibel soll aufhören, mit Johannes aus der Sicherheitsabteilung zu telefonieren, bevor Kevin die Gabel in die Steckdose schiebt und es zu einem unplanmäßigen Tod kommt. Weck Marcus auf – sein Schnarchen hört man bis zum Finnland-Korridor. Wenn er noch mal während seines Dienstes schläft, ziehe ich ihn vom Altenheim ab und gebe ihm einen Kindergarten. Ruf Wiebke, ich brauche sie umgehend. Ist Jans Akte gefunden worden?«

Sina war sich nicht sicher, ob die Assistentin alles schnell genug mitgeschrieben hatte. Sie selbst war bei Sibel soll aufhören zu telefonieren gedanklich ausgestiegen.

»Das Archiv kann sie noch nicht finden. Sobald sie vorliegt, wird sie raufgeschickt«, beeilte sich die Assistentin zu erläutern.

»Wir hinken der Zeit hinterher. Hätten die mit der Digitalisierung schon vor fünfzehn Jahren begonnen wie bei meiner Ankunft vorgeschlagen, hätten wir jetzt das Problem nicht. Aber nein, auf mich hört ja niemand. Es ist eine Zumutung, die Akten auf Papier sichten zu müssen. Besonders die 24/7 sind in den letzten Jahren umfangreicher geworden. Wenn da etwas wegkommt – eine Katastrophe.« Seraphina schnaubte. »Aber nun gut.« Augenscheinlich war das die Verabschiedung der Assistentin, denn sie verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.

Sina sah der Frau hinterher. Was war ein 24/7? Sollte sie ein Schutzengel werden? Und was geschah, wenn sie das nicht wollte? Blieb ihr überhaupt eine Wahl? Wenn sie Nein sagte, was passierte mit ihr? Konnte sie wählen, wohin sie gehen wollte, oder gab es jemanden, der das entschied?

»Wenn du nichts dagegen hast, unterbreche ich dich in deinem Fragenkarussell. Wie kann man nur so viele Fragen haben?«

Perplex starrte Sina die Schutzengelchefin an. »Woher …?« Die Worte hingen in der Luft.

Erneut musterte Seraphina sie über den Brillenrand hinweg. »Ich kann deine Gedanken hören.«

Sina schwor sich, erstmal an nichts mehr zu denken.

»Das wird nicht klappen, glaub mir.« Seraphina legte die Hände auf den Laptop. »Wie du richtig festgestellt hast, möchten wir dich gerne als Schutzengel akkreditieren.« Seraphina machte eine abwägende Geste. »Du hast natürlich die Wahl. Wenn du nicht möchtest, kann dich niemand dazu zwingen. Aber du kannst nicht einfach weitergehen. Wenn du das Schutzengelamt ablehnst und dich zum Weitergehen entschließt, wirst du einer Ebene zugeteilt. Leider wird dabei dein Entschluss zum Freitod berücksichtigt. Die Chance, zur oberen Pforte zu gelangen, sinkt somit auf dreißig zu siebzig.« Seraphina sah sie unverwandt an.

Sina runzelte die Stirn. »Mit ›oberer Pforte‹ ist der Himmel gemeint?«

»Eldorado, Himmel, Paradies, Elysium. Nenn es, wie du möchtest.«

»Also ist die untere Pforte …«

»Hölle, Unterwelt, Hades, Schatten…«

»Was ist das hier?«, fiel Sina Seraphina ins Wort und deutete mit dem Finger in dem Büro herum.

»Die Zwischenebene. Wärst du eben hinter mir geblieben, wie ich es gefordert habe, hättest du meine Erläuterungen hören können und würdest mir meine Zeit nicht mit albernen Fragen rauben.« Seraphinas Ton klang gereizt. Offensichtlich war sie nicht bereit, sich zu wiederholen.

Ungehalten beugte Sina sich vor. »Du willst mir sagen, ich hätte die Wahl, kein Schutzengel zu werden, nur um mir im nächsten Moment zu erklären, ich käme mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit in die Hölle – Pardon, in die untere Ebene. Wo ist denn das ›die Wahl haben‘?« Mit jedem Wort stieg Sinas Ärger.

Seraphina blieb völlig unbeeindruckt. »Du hast immer die Wahl, auch wenn dir die daraus resultierenden Konsequenzen nicht gefallen. Das wiederum hat aber immer mit der vorhergehenden Entscheidung zu tun. Du wolltest unplanmäßig sterben, nicht ich. Ich zähle dir nur die daraus entstehenden Möglichkeiten auf. Entweder das Amt des Schutzengels oder die Möglichkeit, in der unteren Ebene zu landen. Deine Entscheidung.« Seraphina griff nach Sinas Akte und schlug sie auf.

Sina war von ihrem unfreundlichen Verhalten erschrocken. So hatte sie sich einen Engel nicht vorgestellt. In ihrer Fantasie besaßen diese Wesen neben mächtigen, gefiederten Schwingen ein freundliches, gutherziges und ausgeglichenes Naturell, das nebenbei auch eine innere Ruhe ausstrahlte. Dazu war ihre Version des Himmels eine Kreuzung aus den dicken Wattewolken der Glücksbärchis und dem Regenbogenland. Doch bestimmt nicht dieses Etwas aus Behördengebäude und Verwaltungskomplex. Diese Erkenntnis, gepaart mit der Kaltherzigkeit der Schutzengelchefin, schürte Sinas Enttäuschung nur noch mehr.

»Ich habe mein Leben beendet, weil ich vergessen wollte. Die Scheiße der letzten drei Jahre reicht für die nächsten hundert Leben. Jetzt werde ich dafür bestraft, mein beschissenes Leben beendet zu haben, indem ich als Schutzengel umherwandeln soll? Womöglich noch für Andre und seine neue kleine Familie!«

»Wir hatten kurzzeitig darüber nachgedacht, doch die Idee dann wieder verworfen, weil sie nicht das gewünschte Resultat bringen würde«, bemerkte Seraphina ungerührt und sah von der Akte auf. »Darüber hinaus verstößt Fluchen gegen die Regeln. Es wäre also besser, wenn du dich direkt daran gewöhnen und in Zukunft die Fäkalsprache aus deinem Wortschatz streichen würdest.«

Sina hatte genug gehört. Nun wurde sie auch noch verhöhnt!

»Ich verspotte dich nicht, sondern sage ehrlich meine Meinung. Erhoffe dir kein Mitleid. Es gibt Menschen, die weit Schrecklicheres als du erlebt haben und nicht den Weg gehen, den du eingeschlagen hast.«

»Und erwarte du keine Entschuldigung von mir. Ich täte es jederzeit wieder!« Aufgebracht sprang Sina auf und deutete an ihrem Körper hinab. »Ich habe meine Haare und Brüste zurück. Alleine dafür hat sich mein Handeln gelohnt. Wenn ich nun in die Hölle muss, dann seis drum!«

Ohne auf Seraphinas Antwort zu warten, stürmte Sina aus dem gläsernen Büro, den Korridor entlang. Sie wollte nur noch weg. Doch wohin?

***

Jan schlug die Augen auf. Für einen kurzen Augenblick war er orientierungslos, bis sich sein Gehirn schwerfällig in Gang setzte. Grelle Spots tanzten im Takt des heißen R'n'B- Beats durch den Raum. Alle Männeraugen rund um die kleine, halbrunde Bühne waren auf die junge Frau gerichtet, die sich aufreizend an einer Poolstange räkelte. Eine andere als die, an die sich Jan als Letztes erinnerte. Ihre bronzefarbene Haut schimmerte im Licht der Strahler, und unter dem ultrakurzen Karofaltenröckchen blitzten zwei knackige Pobacken hervor. Wie Murmeln zeichneten sich ihre harten Brustwarzen unter dem weißen, fast durchsichtigen Blusenstoff ab.

Jan trank seine Flasche, ohne abzusetzen, leer und stellte sie neben sich auf den Tisch. An diesem Ort war er das letzte Mal zu seinem Junggesellenabschied gewesen, und der lag schon viele Jahre zurück. Von all den Hoffnungen und Wünschen dieser letzten Nacht als Unverheirateter war nichts übriggeblieben als ein schwarzes, bodenloses Loch, das ihn immer tiefer verschluckte.

Sein bester Kumpel Oliver deutete mit dem Kinn auf eine hübsche, brünette Kellnerin. »Die da ist megaheiß auf dich. Ich wette, bei der könntest du landen.«

Jan sah zu der angepriesenen Frau, und seine Augen verweilten bei den prallen Brüsten, die das viel zu enge, schwarze Mieder zu sprengen drohten. Er räusperte sich. »Ich bin hier, um zu gucken, und nicht, um anzufassen.«

Oliver trank seine Flasche leer und bedeutete der hübschen Brünetten, zwei neue zu bringen. »Mensch Jan. Wenn sich was zum Anfassen ergibt, sollte Mann nie zögern.«

Die Kellnerin bewegte sich zielsicher mit frischem Bier auf die Männer zu.

»Hey Süße, wie heißt du eigentlich?«, fragte Oliver, als sie bei ihnen angekommen war.

Die Bedienung stellte die Getränke vor den Männern ab und gewährte Jan einen großzügigen Blick in ihren Ausschnitt. Er bekam gar keine Möglichkeit, irgendwo anders hinzuschauen. Als er die Nippel sah, die am Rand des Mieders hervor blitzten, wollte er es auch gar nicht mehr. »Ich bin Lexi«, raunte sie.

»Ich bin Olli. Der Trübsal blasende Kerl da ist Jan.«

»Warum bist du schlecht drauf?« Ungefragt setzte sich Lexi bei Jan auf den Schoß. Dabei stellte sie das Tablett auf ihren Beinen ab, um ihr Tun vor neugierigen Blicken zu verbergen.

Jan brummte: »Ich hasse Geburtstage. Machen einem nur bewusst, wieviel Zeit vergangen ist.« Er spürte ihre Hand, die sich zielsicher auf seinen Schritt zubewegte.

»Das ist aber schade. Ich liebe Geburtstage.« Lexi machte einen Schmollmund und blickte Jan unverwandt an. Ihre Hand hatte seinen Penis über dem Jeansstoff gefunden, und ehe er sichs versah, öffnete sie die Knöpfe der Hose und ließ ihre flinken Finger dazwischen verschwinden. »Kann ich nichts tun, um deinen Ehrentag zu versüßen?« Verführerisch biss sie sich auf die Unterlippe. Jan zog scharf die Luft ein, als sich ihre Finger um seinen anschwellenden Schaft legten und ihn mit langsamen Auf-und-ab- Bewegungen massierten.

Für einen kurzen Moment gab sich Jan dem erregend prickelnden Gefühl hin, das sich warm in seinem Körper ausbreitete. Wie aus dem Nichts tauchte ein Paar blaugrauer Augen in seinen Gedanken auf, die nicht zu der heißen Kellnerin, sondern zu seiner Ehefrau gehörten. Resolut umfasste Jan Lexis Hand und zog sie aus der Hose. »Es ist nicht mein Geburtstag, sondern der meiner toten Frau. Sorg einfach nur für Biernachschub.« Seine Stimme war barsch, bevor er das Bein wegzog und so die Kellnerin zwang, aufzustehen.

»Das tut mir leid.« Lexi machte erneut einen Schmollmund, schien von Jans Worten aber nicht gekränkt zu sein. »Das macht zwölf Euro.«

Oliver händigte ihr fünfzehn Euro aus und verweigerte das Wechselgeld. Lexi bedankte sich, und Jan ließ sie nicht aus den Augen, während sie hüftschwingend zurück zur Theke ging. Oliver folgte dem Blick seines Kumpels. »Du lebst schon viel zu lange wie ein Mönch. Sie hätte gewollt, dass du dich wenigstens an ihrem Geburtstag amüsierst.«

»Hätte sie das?« Jan glaubte den Worten seines Freundes nicht. Wollte sie nicht glauben. »Ich bin nur hier, weil du dich nicht bei mir zu Hause betrinken wolltest«, brummte er ungehalten.

»Deine Bude ist sprichwörtlich eine Müllhalde. Da bekommt man Depressionen, wenn man nur zur Tür hereinkommt. Wenn ich mich schon volllaufen lassen soll, dann doch bitte mit hübschen Aussichten. Schließlich zahle ich. Und wer die Musik bestellt, der bestimmt auch, was sie spielt.«

Oliver reichte Jan die frische Flasche Bier, und das Klirren der Flaschenhälse, als sie aneinanderstießen, ging im lauten Bass der Musik unter. Die junge Tänzerin auf der Bühne war nun, bis auf einen Hauch von einem Stringtanga, splitternackt. Verführerisch spielte sie an ihren harten, kirschrunden Nippeln und leckte sich dabei einladend über die Lippen.

Jans Penis zuckte in der Hose, durch Lexis Berührung praller und härter als zuvor. Er ignorierte die Bedürfnisse seines Glieds, setzte die Bierflasche an und trank. Erst als sie leer war und auch die blaugrauen Augen aus seinem Kopf verschwunden waren, setzte er sie ab. Er durfte nicht an sie denken. Nicht an ihre Augen, nicht an ihr Lächeln und nicht daran, was heute für ein Tag war. Geschweige denn an ihren Namen. Sein Blick folgte der Stripperin, die, nur mit dem Stringtanga bekleidet, die Bühne verließ und sich auf den Personaleingang zubewegte. Dabei warf sie Lexi eine Kusshand zu, welche die Kellnerin erwiderte. Lexi bemerkte Jans Blick, lächelte und warf auch ihm eine Kusshand zu. Jan grinste, woraufhin sich Lexi genüsslich auf die Unterlippe biss. Die Einladung war unmissverständlich, trotz des zuvor erhaltenen Korbs.

Jans Penis pulsierte vor heißem Verlangen, doch der Verstand war nicht gewillt, dem nachzukommen. Kaltes Wasser konnte als Abkühlung sicher nicht schaden. Jan stand auf und blieb für einen Moment stehen, während sein Gleichgewichtssinn sich richtig einpendelte. »Ich bin mal aufm Klo.«

Oliver zog ein Kondom aus der Hosentasche und reichte es seinem Kumpel. »Safety first.«

Den Gummi ignorierend, ging Jan an seinem Freund vorbei zur Toilette. Kurz bevor er die Tür erreicht hatte, bemerkte er Lexi, wie sie mit einer Schachtel Zigaretten durch eine Seitentür schlüpfte. Er stieß die Tür zur Herrentoilette auf. Beißender Uringeruch stach ihm in die Nase, und er blinzelte gegen das grelle Neonlicht an. An einem der Pinkelbecken stand einer der jungen Typen vom Nebentisch. Eine Gruppe Halbstarker in Jeans und Anzugjacketts, mit den Taschen voller Euros und Club-Dollars. Bei ihnen wurden ebenso schnell neue Getränkerunden bestellt wie Tänzerinnen für private Lapdances.

»Hi.« Der Typ hob den Kopf zum Gruß.

»Mhm.«

Das Plätschern des Urins hallte durch den gefliesten Raum. »Die kleine, brünette Kellnerin … Lexi … steht auf dich. Hat dir einen gerubbelt, während sie auf deinem Schoß gesessen hat. Hab's genau gesehen. Hast du ihr ein Scheinchen extra gegeben?« Der Typ zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

»Mhm.«

»Treibst du's mit ihr?« Der andere drückte die Spülung und zog den Reißverschluss seiner Jeans hoch. »Wenn du kein Interesse hast, ficke ich sie gerne für dich. Ich steh drauf, wenn sie versaut sind.« Er tippte sich zum Abschied an die Schläfe und ging.

Einige Minuten später verließ Jan ebenfalls den Toilettenraum. Das brummende Geräusch des Händetrockners wurde vom Zufallen der Tür verschluckt. Das kalte Wasser hatte nur bedingt geholfen. Er ging zum Zigarettenautomaten, tastete in seiner Hosentasche vergebens nach seiner Geldbörse. Offensichtlich hatte er sein Portemonnaie auf dem Tisch liegen lassen. Sein Blick wanderte zu der geschlossenen Fluchttür, und er starrte auf den silbernen Knauf. In seiner Erinnerung spürte er erneut Lexis Hand an der sensiblen Haut seines Penis. Erst als er die metallene Stange in der Hand hielt und sie hinabdrückte, merkte er, was er im Begriff war, zu tun. Als hätte er sich verbrannt, ließ Jan den Türgriff los und trat einen Schritt zurück. Er sollte umdrehen und zur Bühne zurückkehren. Seit er Witwer war, hatte er keine Frau mehr angerührt. Das wäre Verrat. An sich selbst, an ihr und an seiner Einstellung im Allgemeinen. Früher war er so wie der Typ vom Klo gewesen, doch diese Zeiten hatte er lange hinter sich gelassen. Plötzlich öffnete sich die Fluchttür.

»Hallo.« Überraschung war in Lexis Gesicht zu lesen, und sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. »Suchst du die Toilette?«

Jans Blick huschte wie von selbst von den geschminkten Augen zu dem großzügigen Dekolletee. Lexis Auftauchen nahm ihm die Entscheidung ab. Grinsend zeigte er auf die Zigarettenschachtel in ihrer Hand. »Eigentlich hab ich dich gesucht. Ich hab mein Portemonnaie auf dem Tisch liegen lassen und wollte mir eine bei dir schnorren.«

Lexi lächelte und tastete mit der freien Hand nach dem Türgriff. Kalte Abendluft streifte Jans Gesicht, als sie die Fluchttür aufstieß. »Ich hab noch ein paar Minuten.« Lexi ließ Jan den Vortritt.

Ein altersschwacher Fluter beleuchtete nur spärlich den Hinterhof. Der Müllgeruch des am Rand stehenden Containers lag in der Luft. Neben der Tür befanden sich große, schwarze Mülleimer, zum Bersten gefüllt mit leeren Flaschen. In der Ecke daneben stapelten sich wahllos leere Plastik-Getränkekisten, Pappkartons und Bierfässer. Jan folgte Lexi und stieß gegen eine leere Colaflasche, die klirrend wegrollte. Außerhalb des Lichtkegels lehnte sich Lexi mit dem Rücken an die Hauswand, reichte Jan die Kippenpackung und nahm sich anschließend selbst eine Zigarette. Jan inhalierte einen tiefen Zug. Die stickige, warme Luft im Stripclub hatten seine Sinne ordentlich vernebelt.

»Tut mir leid wegen vorhin.« Lexi pustete den Rauch von Jan weg.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich muss mich entschuldigen. Du wolltest mir etwas schenken, und ich war abweisend zu dir.« Jan trat einen Schritt vor und berührte die Stelle, an der Lexis Augenbrauen ausliefen. »Ich mag deine Augen.«

»Und ich stehe auf deine Tattoos«, raunte sie und streichelte über seinen Oberarm.

Jan strich über ihre Wange und verweilte an ihrem Mundwinkel. »Und deine Lippen, die mag ich auch.« Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger über ihre feuchte Unterlippe.

Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, nahm Lexi seinen Zeigefinger in den Mund und umkreiste ihn mit der Zunge. Mit der anderen Hand streifte sie forsch über Jans harte Brust und verweilte am Bund seiner Jeans. Genüsslich schloss er die Augen und sog erwartungsvoll die Luft ein, als Lexi an seinem Finger lutschte und so tat, als wäre es sein Glied. Lust rauschte durch seine Adern.

Jan warf die Zigarette weg und trat näher an Lexi heran. Alle Bedenken oder Einwände verdrängte er und ließ nur Platz für diese sexy Frau.

Lexi nestelte an den Knöpfen seiner Jeans, glitt mit ihrer Hand unter den Rand seiner Boxershorts und umfasste zielsicher Jans anschwellenden Penis. »Und ich mag den«, hauchte sie.

Jan genoss das erregende Gefühl ihrer Finger um seinen Schaft. Er öffnete die Augen und zog den Zeigefinger aus ihrem Mund. Lust und Erregung waren in Lexis Augen zu sehen, und ehe sie etwas sagen konnte, verschloss er ihre Lippen mit seinen. Sie schmeckte verheißungsvoll. Nach sinnlichem Abenteuer ohne Verpflichtungen.

Als hätte sie nur darauf gewartet, öffnete sie den Mund und begrüßte seine Zunge mit der ihren. Jan stieß vor in die süße, unbekannte Höhle.

Lexis kreisende Bewegungen um sein Glied wurden forscher. Jan stöhnte bei dem ekstatischen Gefühl, das sich wellenartig in ihm ausbreitete. Forschend glitten seine Hände über das schwarze Ledermieder. An dem heißen Fleisch ihrer prallen Brüste drohten seine Finger zu verglühen. Begierig strich er über den Rand des Mieders, bis er gefunden hatte, was er suchte. Es bedurfte nicht viel, und ihr Busen sprang aus dem engen Käfig. Jan umfasste ihre herrlichen Brüste und drückte die harten Knospen wie reife Kirschen zusammen. Ein lustvolles Stöhnen entwich Lexis Lippen, als sich ihre Brustwarzen unter Jans Berührung zusammenzogen. Mit der Zunge zog Jan eine sengende Spur ihren Hals entlang. Anfassen war so viel schöner als nur gucken!

»Oh ja, nimm sie in den Mund«, murmelte Lexi an seinem Ohr.

Nur zu gern kam Jan ihrer Bitte nach. Seine Lippen umschlossen nacheinander die einladenden Knospen.

»Oh … ja …«, raunte Lexi und rieb lustvoll ihren Schoß an seinem Glied.

Ohne von den harten Nippeln abzulassen, streichelte Jan über Lexis Hintern und unter den Rand ihres Minirocks. Trotz schwarzer Nylons hießen ihn nackte Pobacken willkommen. Das war ein Geburtstagsgeschenk der besonderen Art. Lexis freie Hand war unter sein Shirt gerutscht und spielte neckisch mit seinen Brustwarzen. Erneut fanden sich ihre Münder, und ihre Zungen verschlangen sich miteinander.

Jan knetete die kleinen, festen Pobacken, bevor er nach Lexis Oberschenkel griff und ihr Bein um seine Hüfte legte. Voller Vorfreude glitten seine Finger unter den Rock und fanden eine nackte Lustperle. »Du geiles Stück«, stöhnte er und stieß hart seine Zunge in ihren Mund.

»Unterwäsche wird überschätzt.« Lexi schob sein Shirt hoch und knabberte an seinen Brustwarzen.

»Absolut«, stöhnte Jan und warf den Kopf zurück. Mit zwei Fingern tauchte er in ihre nasse Höhle. Augenblicklich umschloss ihn ihre heiße Vagina. Das Fehlen der Unterwäsche machte Jan nur noch geiler.

Lexi wand sich genüsslich unter Jans Berührung und schob Jeans und seine Boxershorts ein Stück hinunter. Seine Finger erkundeten den feuchten Lusthügel, während er mit den Zähnen an ihrer Brustwarze knabberte. Lexi krallte sich in seine Schultern.

»Nimm mich. Hier und jetzt«, keuchte sie und sah ihn mit lustvoll verklärtem Blick an.

Aus ihrem Mieder zog sie ein Kondom und hielt es hoch. Das wollte sich Jan nicht zweimal sagen lassen. Viel zu lange war er abstinent gewesen. Mit diebischem Grinsen pflückte er Lexi das Gummi aus der Hand und streifte es über, bevor er erneut mit den Fingern genüsslich ihre nasse Spalte traktierte. Lexi wand sich vor Erregung und biss sich stöhnend vor Lust in die Unterlippe.

Jan wollte nicht mehr länger warten, konnte nicht mehr länger warten. Er wollte in sie stoßen. Sie besitzen. Ihr und sich selbst ungeahnte Freuden schenken.

Hart presste er Lexi gegen die Hauswand, umfasste mit der anderen Hand ihren Oberschenkel und hob sie hoch. Lexi krallte sich in seinen Rücken, biss sich auf die geschwollenen Lippen. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, teilte er mit seinem harten Schwert ihre Scham. Langsam verschaffte er sich Einlass in die süße Höhle, bis er tief in ihr versank. »Oh … ja … besorg es mir richtig hart«, stöhnte sie und verstärkte die Umklammerung ihrer Oberschenkel um seine Hüfte.

Das ließ sich Jan nicht zweimal sagen. Er zog sich aus ihr zurück, nur um erneut in sie zu stoßen.

Die Fluchttür knallte scheppernd gegen die Hauswand. »Lexi? Lexi, bist du hier?«, rief eine Frau.

Jan hielt inne und sah Lexi an. Sie legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, ruhig zu sein. Gemeinsam hörten sie, wie die Frau auf den Hinterhof trat. Wenige Augenblicke später stieß sie gegen die Glasflasche, gegen die auch Jan zuvor gestoßen war.

»Lexi?« Die Frau war nur noch wenige Schritte von der Hausecke, hinter der Jan und Lexi standen, entfernt.

Grummelnd zog sich Jan aus Lexi zurück und ließ sie wieder runter. Mit eiligen Handgriffen steckte Lexi die Brüste zurück in das Ledermieder und fuhr sich durchs Haar. »Ich habe in zwei Stunden frei«, murmelte sie, lächelte und trat ins Licht, sodass die Kollegin sie sehen konnte.

»Da bist du ja. Tisch zwei verlangt ausschließlich nur nach dir.«

»Dann wollen wir die Jungs mal nicht warten lassen«, säuselte Lexi. Die beiden Frauen entfernten sich.

Jan lehnte sich schwer atmend gegen die kalte Mauer. Sein Glied zuckte vor ungestilltem Verlangen. Einen kurzen Moment überlegte er, selbst Hand anzulegen. Angesichts der Umgebung entschied er sich dagegen. Grummelnd zog er das Gummi ab und warf es in die dunkle Ecke neben sich. Anschließend schloss er die Jeans und kehrte in den Stripclub zurück.

Oliver grinste breit, als Jan sich neben ihn setzte. »Na, wie war das Anfassen? Ihr scheint es gefallen zu haben.« Oliver deutete mit dem Kinn auf Lexi, die am Nebentisch bei der Gruppe Halbstarker stand und Getränkewünsche entgegennahm.

Lexis Gesichtsausdruck war noch ein wenig verklärt, obwohl sie nicht einmal richtig begonnen hatten. Noch nie hatte er einem Feierabend so entgegengefiebert wie in diesem Moment. Er war fest entschlossen, zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte.

Der Typ aus der Herrentoilette verpasste Lexi einen herzhaften Klaps auf die Pobacke, die Jan noch wenige Minuten zuvor geknetet hatte. Besitzergreifend blieben die Finger des Typs unter dem Rock liegen. Ein wissendes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er die darunterliegenden nackten Tatsachen bemerkte. »Hey Süße, hast du Lust auf eine kleine Privatparty mit mir? Wann hast du frei?«, fragte er und tätschelte über Lexis Hintern.

Lexi schob die Hand des Mannes zur Seite und lächelte unverbindlich. »Tut mir leid, ich bin nicht so die Partymaus.«

Der Typ ließ sich nicht abschrecken und zog Lexi auf seinen Schoß. »Wir können uns auch gerne einen Film ansehen … in meinem Bett.« Die Jungs um ihn herum lachten, während der Typ die Hand zwischen Lexis bestrumpfte Beine schieben wollte.

»Ich habe schon was vor«, sagte Lexi und wollte aufstehen. Doch der Typ hielt sie fest und zwang sie, auf seinem Schoß sitzen zu bleiben.

»Ich weiß genau, du stehst darauf. Dem Typen neben uns hast du es auch besorgt, du geiles Stück. Ich merke genau, wie feucht deine kleine Muschi ist.« Nun war seine Stimme nicht mehr so schmeichelnd wie noch Augenblicke zuvor. Seine Kumpels lachten erneut und feuerten den Freund an, während dieser erneut versuchte, mit seiner Hand unter Lexis Rock zu gelangen. Lexi schlug seine dreisten Finger zur Seite und wollte aufstehen, kam jedoch gegen die Kraft des jungen Mannes nicht an.

Jans Gesicht verdüsterte sich. Zwar hatte er nach dem kleinen Stelldichein auf dem Hinterhof keinerlei Besitzansprüche auf Lexi, doch die Belästigung und Nötigung des anderen konnte er nicht unbeachtet lassen. Mit zwei Schritten stand er am Nebentisch, zog Lexi vom Schoß des Typen und schob sie zur Seite, außerhalb von dessen Reichweite.

Ehe der Typ wusste, wie ihm geschah, zerrte Jan ihn am Kragen vom Stuhl. »Wenn eine Frau Nein sagt, dann heißt das Nein. Klar?«, knurrte er aufgebracht und ließ sich von den anderen Jungs, die aufsprangen und ihn umzingelten, nicht einschüchtern. Er konnte die Angst im Gesicht des Jungen lesen, als dieser schnell nickte.

Jan ließ den Hemdkragen los, richtete ihn und klopfte dem Typen auf die Schulter. »Genießt die Show, und für später gibt es über uns einen Haufen schöner Frauen, die mit eurer überschüssigen Energie mehr anzufangen wissen als die Kellnerinnen.« Er verließ den Tisch der Jungs.

»Hey Opa! Du glaubst wohl, die kleine Schlampe beschützen zu müssen, nachdem du sie gebumst hast.« Überrascht drehte sich Jan wieder zu dem anderen Tisch. Umzingelt von seinen Kumpels, starrte ihn der junge Mann kampflustig an. »Deine Alte lässt dich wohl nicht mehr ran. Vielleicht sollte ich mal bei euch vorbeikommen und ihr zeigen, was ein geiler, harter Schwanz alles kann. Du kannst auch gerne zugucken.«

Provozierend fasste der Typ sich in seinen Schritt. Oliver umfasste Jans Unterarm und hielt ihn zurück. Er wusste genau, was in Jan vorging. »Lass gut sein, Kumpel. Die sind es nicht wert.«

Obwohl er wusste, provoziert zu werden, sah Jan rot. Er schob Olivers Arm zur Seite und preschte auf den anderen zu. »Niemand beleidigt meine Frau!«Jan holte aus und landete seine Faust treffsicher auf der Nase seines Gegenübers.

2

Sina sah den weißen, leeren Flur entlang. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Sie hatte sich hoffnungslos verlaufen. In der anderen Richtung ebenfalls nichts anderes als ein langer, weißer Korridor. Hätte sie nur besser aufgepasst, während sie Seraphina zu ihrem Büro gefolgt war. Verflixt, hier sah alles gleich aus. Nirgendwo konnte sie ein Ausgangsschild oder Exit-Zeichen entdecken. Angewidert rümpfte Sina die Nase. Der Currygeruch, der die Büroluft schwängerte, war widerlich. Offensichtlich war das der indische Sektor der Schutzengelzentrale. Mal sehen, ob sie hier mehr Glück mit der Verständigung hatte, schließlich hatte sie einige Monate über einer indischen Familie gelebt. Die Russen, Chinesen und Türken hatten aufgrund der Sprachbarriere nicht weiterhelfen können. Plötzlich rührte sich etwas auf dem Gang. Eine zierliche Frau in einem silberdurchwirkten Sari kam auf Sina zu. Erleichtert atmete sie auf. Diesmal musste sie niemanden bei der Arbeit – oder was auch immer die Leute in ihren Büroquadraten taten – stören.

Wenige Schritte vor Sina blieb die Inderin stehen, faltete die Handinnenflächen zusammen, führte sie in die Nähe des Herzens und machte eine leichte Verbeugung mit dem Kopf. »Namaste.«

Sina erwiderte die indische Begrüßungsgeste, doch bevor sie zu ihrer Frage nach dem Ausgang ansetzen konnte, war die hübsche Frau flink wie ein Eichhörnchen an ihr vorbei gehuscht und um die Ecke verschwunden. »Super, ganz toll. Ist denn niemand hier, der meine Sprache spricht und mir den Weg zum Ausgang erklären kann?« Sina warf die Hände in die Luft.

»Doch, ich.«

Überrascht wirbelte Sina herum. Vor ihr stand eine junge, etwas dickliche, europäische Frau. »Ich bin Wiebke. Bist du Sina?«

»Wenn Seraphina dich schickt, kannst du direkt wieder verschwinden.«

Wiebke schob die Brille auf der Nase zurecht und strich den dunkelbraunen Pony aus der Stirn. »Wie du meinst. Tschüss.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Perplex sah Sina ihr hinterher. Mit dieser Reaktion hatte sie definitiv nicht gerechnet. »Warte … könntest du mir zuvor den Weg zum Ausgang erklären? Bitte?«

Wiebke drehte sich um und lächelte. »Und ich dachte, du wärst freiwillig zu den indischen Kollegen gegangen.«

Sina schloss zu ihr auf, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. »Ich hasse Curry. Vor allem diesen penetranten Geruch. Er verbeißt sich in jede Faser deiner Kleidung, in jede Pore deines Körpers und haftet daran wie Fliegenschiss an einer Fensterscheibe. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Eine indische Großfamilie wohnte in der Etage unter mir. Deren Essen hat man schon gerochen, wenn man durch die Haustür kam.«

»Und was hast du dagegen getan?« Wiebke bog um die Ecke.

Sina versuchte sich den Weg genau einzuprägen. »Ich habe mich umgebracht.«

Wiebke hielt inne. »Du hast dich wegen des Essensgeruchs einer indischen Großfamilie umgebracht? Hätte ein Umzug nicht gereicht?«

»Ich habe mich nicht wegen der Kapoors umgebracht.«

»Weswegen dann?«

Sina schwieg. Mit der Frage hätte sie rechnen müssen, bei der Vorlage, die sie Wiebke geboten hatte. Ihre kleinen Dämonen, welche sie mit ihrem Selbstmord versucht hatte loszuwerden, kehrten mit hämischem Gelächter zurück. Die Erinnerung an das, was sie verloren hatte, tat zu weh, und ein riesiger Kloß, der schwer wie ein Stein war, brannte ihr in der Kehle. Sie räusperte sich. »Ich will nicht darüber sprechen.«

Wiebke schien ihre Antwort zu akzeptieren und bedeutete Sina ihr zu folgen. »Warum willst du zum Ausgang?«

Erneut bogen sie um eine Ecke und erreichten den russischen Sektor. Anders als in den übrigen Büros hingen hier eine große Landesflagge und die eingerahmten Bilder sämtlicher russischer Herrscher an der Längsseite des Flurs.

»Weil ich nicht hier sein will.«

Wiebke zeigte mit dem Finger auf eine Korridorgabelung vor ihnen. »Wir müssen rechts – warum willst du nicht hier sein?«

»Weil ich kein Schutzengel sein möchte.« Sina ahnte bereits Wiebkes nächste Frage. »Ich will den Menschen den Rücken kehren. Es gibt nichts, was mich bei ihnen hält. Ich habe alles verloren, und ich möchte nicht an den Ort zurück, der mich ständig an den Verlust erinnert.«

Wiebke ging nicht auf Sinas Worte ein. Eine Zeitlang liefen sie stumm nebeneinander her. Von Weitem nahm Sina leise das ununterbrochene Telefonklingeln wahr. Direkt fühlte sie sich besser. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, standen sie im Empfangsbereich.

»So, da wären wir.«

»Und wie geht's jetzt weiter?« Unsicher blieb Sina stehen.

»Das kommt auf dich und deine Entscheidung an.« Wiebke steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans.

Unschlüssig sah Sina zum Aufzug und wieder zu Wiebke. »Was erwartet mich?«

Wiebke zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich bin noch nicht weitergegangen. Ich habe mich entschlossen, bis zum Tod meiner Schützlinge auf der Zwischenebene zu bleiben.« Sie blickte ebenfalls zum Aufzug. »Einige sagen, es ist so, wie man es sich immer vorgestellt hat. Andere behaupten, man vergesse alle Sorgen und Nöte. Feinde würden zu Freunden. Die perfekte Harmonie und man ist mit sich selbst im Reinen. Ist man weitergegangen, gibt es kein Zurück.«

Ist man weitergegangen, gibt es kein Zurück. Wiebkes Worte hallten laut in Sinas Kopf. Wollte sie wirklich um jeden Preis weitergehen? Wenn sie in der unteren Ebene landete und es ihr dort nicht gefiel, hätte sie keine Möglichkeit mehr, ihre Entscheidung zu korrigieren. Und für immer an einem Ort festzusitzen, an dem sie nicht sein wollte, löste in ihr eine Mischung aus Angst und Schrecken aus. Szenarien von Bandenkriegen und Schießereien, von Ruinen und Häusern, die in Schutt und Asche lagen, kreisten in ihren Gedanken. Nein, so wollte sie nicht leben. Dann keimte ein kleines Hoffnungspflänzchen in ihr. Schließlich gab es eine dreißigprozentige Chance, in der oberen Ebene anzukommen. Alle Sorgen und Nöte zu vergessen, war genau das, was sie wollte.

Einen Moment gab sie sich der Vorstellung von feinem, weißem Sandstrand, azurblauem und angenehm temperiertem Wasser hin. Eine warme Sommerbrise streichelte durch ihr Haar und trug das salzige Aroma des Meeres und sein verlockendes Rauschen zu ihr. Dort wäre sie wieder eine Frau, und die tiefen Narben an ihrem Körper und ihrer Seele könnten heilen. Niemand, der sie verletzte oder ausnutzte, so wie es Andre getan hatte.

Sehnsuchtsvoll seufzte Sina und öffnete die Augen. Die paradiesische Vorstellung war verschwunden. Was blieb, war die bittere Erkenntnis. Niemals hätte sie das Glück, zur oberen Ebene zu gelangen. Die Chancen standen dreißig zu siebzig, und sie war noch nie ein Glückskind gewesen. Vor allem nicht in den letzten drei Jahren. Seit dieser Zeit klebte das Pech an ihr wie ein lästiger Kaugummi an einer Schuhsohle.

»Wenn ich bleibe und bei dieser ganzen … Schutzengelsache mitmache, wie stehen meine Chancen, in die obere Ebene weitergehen zu können?«

Wiebke runzelte die Stirn. »Das Handbuch hat solche Fälle ganz klar geregelt. Wenn dein Schützling seinen planmäßigen Tod erreicht hat, hast du die Option, auf dem direkten Weg weiter zur oberen Ebene zu gehen. Oder aber du hast deine unerledigte Aufgabe beendet. Auch dann kannst du unverzüglich zur oberen Pforte aufbrechen, wenn du das möchtest.«

»Ich habe eine unerledigte Aufgabe?« Sina war überrascht. Sie hatte sich umgebracht, was sollte da unerledigt geblieben sein?

»Das ist der Grund, warum du hier und nicht weitergegangen bist. Ich kann dir das schlecht erklären.« Wiebke suchte offensichtlich nach den richtigen Worten. »Alle, die auf der Zwischenebene sind, sind hier, weil sie noch nicht bereit sind. Die einen wollen nicht, die anderen können nicht. Ich zum Beispiel will nicht. Du hingegen kannst nicht.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ist das verständlich?«

Sina nickte, obwohl sie von diesen Neuigkeiten wenig begeistert war. »Weswegen hat dich Seraphina zu mir geschickt?«

»Ich dachte, das willst du nicht wissen.«

Sina zog eine Grimasse. »Vielleicht möchte ich es doch.«

»Ich sollte dich finden und zu ihr bringen. Sie hat wohl deinen schlechten Navigationssinn vorausgeahnt.« Wiebke seufzte. »Aber ich habe direkt deinen Ärger gespürt, also habe ich es dir gar nicht erst angeboten. Reisende soll man bekanntlich nicht aufhalten.« Sie standen mittlerweile vor den Aufzügen. »Also? Was ist der Plan?«

Sina zuckte mit den Schultern und dachte über Wiebkes Erklärung nach. Die Regelung aus dem Handbuch klang in ihren Ohren sehr viel besser als die Optionen von Seraphina. Woher wusste sie, ob Schutzengelsein ihr gefallen könnte? »Warum bist du Schutzengel geworden? Und warum bist du auf der Zwischenebene?«

Wiebkes Blick wurde wehmütig. »Ich hatte alles im Leben. Eine liebevolle Familie und gemeinsame Ziele, die wir erreichen wollten. Ich bin hier, um sie beim Erreichen dieser Ziele zu unterstützen. Ich wache über sie, achte darauf, dass ihnen kein Leid geschieht. Das ist meine Aufgabe, und solange sie leben, werde ich die Zwischenebene nicht verlassen.« Wiebke sah zu Sina und lächelte. Trotz des traurigen Untertons schien sie sehr gefasst mit dem Thema umzugehen. Keine Trauer oder Betrübtheit war in ihrem Blick zu sehen. »Ich bin der unsichtbare Teil der Familie, und obwohl ich nicht mehr unter ihnen weile, habe ich die Möglichkeit, an ihrem Leben teilzuhaben.«

»Wirst du warten, bis du wieder mit ihnen vereint bist, um mit ihnen gemeinsam weiterzugehen?« Widerwillig fand Sina den Gedanken sehr romantisch.

Wiebke schob die Hände in die Hosentaschen. »Das könnte ich, wenn ich wollte. Möchte ich aber nicht. Ich liebe sie, daran besteht kein Zweifel, doch zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Weg zur Pforte antreten, sollte ich für sie nur noch eine liebevolle Erinnerung sein. Sie sollen und müssen ihr Leben leben, und das bedeutet zwangsläufig auch ein Leben ohne mich.«