Hinter der Fassade - Katrin Streich - E-Book

Hinter der Fassade E-Book

Katrin Streich

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Beschreibung

Für Katrin Streich ist jeder Mensch ein offenes Buch, in dem sie lesen kann, was anderen verborgen zu bleiben scheint. Doch die Diplom-Psychologin geht noch weiter: Sie ist der Überzeugung, jeder von uns kann hinter die Fassade der anderen Menschen blicken. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist ein wirkliches Interesse an den Menschen, und das Wissen über die nötigen Werkzeug der Kommunikation. Genau dieses Wissen gibt sie in ihrem Buch an die Leser weiter. Katrin Streich weiß sehr genau wovon sie spricht, denn sie war jahrelang als Polizeipsychologin tätig. In dieser Zeit konnte Streich unter anderem mithelfen Geiselnahmen sowie Entführungen zu beenden, musste dabei Kriminelle hinsichtlich deren psychischer Stabilität, Persönlichkeit und auch Gefährlichkeit einschätzen. Zahlreiche dieser Fälle greift Katrin Streich in ihrem Buch auf, und erläutert vor diesem Hintergrund äußerst spannend, wie und woran in den unterschiedlichsten Situationen die wahre Persönlichkeit eines Menschen zu erkennen ist. Daneben gibt die Psychologin hilfreiche Tipps, wie sich dieses Wissen in Alltagssituationen wie Gehaltsverhandlungen oder während einer Beziehungskrise nutzen lässt.

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Katrin Streich

Hinter der Fassade

Entschlüsseln Sie Ihr Gegenüber mit den Techniken einer Kriminalpsychologin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2017

© der Originalausgabe:

2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Petra Holzmann

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: SFIO CRACHO/Shutterstock

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-763-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-995-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-996-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

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Für mein ehemaliges Team im LKA. Ohne Euch würde es die hier erzählten Geschichten gar nicht geben.

Ein Team – ein Weg

Einleitung

»Was denkt der andere wirklich? Stimmt das, was er sagt? Übertreibt er, verheimlicht er etwas, sagt er nur die halbe Wahrheit?« Das zu wissen, kann nicht nur im Beruf, sondern auch im Alltag interessant und hilfreich sein.

Aber ist jeder Mensch für jeden ein offenes Buch? Kann jeder in seinem Mitmenschen lesen und erkennen, was er wirklich denkt, was hinter dem steckt, was er sagt?

Oft begegnet man den Vorstellungen, dafür sei eine spezielle Ausbildung erforderlich. Oder ein Mensch müsse über besondere Fähigkeiten verfügen, um hinter die Fassaden anderer Menschen schauen zu können. Von mir als Kriminalpsychologin beispielsweise wird genau das im Grunde geradezu erwartet. Häufig werde ich gefragt, ob ich Menschen immer sofort durchschaue. Oder ob ich als Psychologin andere sofort profile, mir also umgehend ein Gesamtbild von ihrer Persönlichkeit mache. Meine Antwort lautet in der Regel scherzhaft, dass ich nicht jeden sofort durchschaue, sondern dass das schon mal fünf bis zehn Minuten dauern könne. Tatsächlich kann ich gar nicht sagen, ob ich andere Menschen wirklich sofort einer Art Profiling unterziehe, weil vermutlich meine professionelle Persönlichkeit inzwischen mit meinem persönlichen Ich verschmolzen ist und ich eine Analyse anderer Menschen wohl automatisch durchführe.

Doch das ist letztlich keine besondere Fähigkeit, denn die Basis dieser Fähigkeit findet sich in jedem von uns. Wir müssen sie nur entdecken, und dann müssen wir lernen, wie wir am besten mit ihr umgehen, um uns ihre vielfältigen Möglichkeiten zunutze zu machen.

Die unabdingbare Voraussetzung, die Basis dieser Fähigkeit, ist das wirkliche Interesse an anderen Menschen. Wir müssen uns aufrichtig für andere Menschen interessieren, um dann auch in ihnen lesen zu können. Aber nicht nur das, wir müssen ihnen zudem den notwendigen Raum geben, sich wirklich entfalten zu können. Das heißt, dem anderen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu zeigen. Denn zeigt sich ein Mensch offen, dann gibt uns das die Gelegenheit, ihn oder sie besser einzuschätzen und einzuordnen.

Ich werde nicht nur regelmäßig gefragt, ob ich Menschen sofort analysiere oder profile. Sehr oft werde ich auch nach meiner Zeit als Polizeipsychologin gefragt – weil Menschen diese Tätigkeit spannend finden. Tatsächlich war ich ein Jahrzehnt im Polizeidienst tätig und in dieser Zeit mit einer Vielzahl spannender Fälle beschäftigt, bei denen verschiedene Aspekte oder Ebenen der Psychologie eine Rolle spielten. In den folgenden Kapiteln dieses Buches werde ich über viele dieser Kriminalfälle berichten – als Beispiele dafür, wie wir in anderen Personen lesen können. Ich werde darüber berichten, wie es in diesen Fällen gelungen ist, beispielsweise hinter die Fassaden von Straftätern zu blicken, wie es mit einem Blick in das Seelenleben von potenziellen Selbstmördern gelungen ist, diese von ihrem Vorhaben abzubringen, oder wie mit den Mitteln der Kommunikation Geiselnahmen entschärft werden konnten.

Vor allem aber sind diese ausgewählten Einsätze ausgesprochen gut geeignet, um all jene Mechanismen darzustellen, mit denen wir als Menschen Kommunikation und soziale Interaktion aufbauen können. Sie sind natürlich Extremereignisse, die der normale Mensch in seinem ebenfalls normalen Alltag vermutlich nur selten oder gar nicht erleben wird. Jedoch funktioniert soziale Interaktion und Kommunikation immer nach den gleichen Regeln, sie funktioniert also auch abseits derartiger Fallbeispiele nach den identischen Mechanismen. Die beispielhaften Extremsituationen dienen daher vor allem dazu, diese Regeln und Mechanismen sehr plastisch darstellen zu können. Die Polizeifälle werden ergänzt durch beispielhafte Alltagssituationen, die jeder von uns aus seinem eigenen Leben kennt und in denen wir mit den beschriebenen Mitteln ebenfalls Fortschritte erzielen können. – Sei es die Gehaltsverhandlung mit dem Vorgesetzten oder die Bewältigung einer Krise in einer Partner-Beziehung.

Abgesehen davon handelt es sich bei den besagten Fällen um Situationen beziehungsweise Abläufe, die auch sehr spannend zu verfolgen sind. Denn letztlich geht es um einen Blick hinter die Kulissen oder die Fassaden von Menschen, der beschreibt, wie Kommunikation in solchen Extremsituationen funktioniert und wie Kommunikation aufgebaut werden kann.

Die Fallbeispiele in diesem Buch sind nach der Maßgabe ausgewählt, dass es darin sehr viel soziale Interaktion gibt. Und weil es derart viel soziale Interaktion gibt, lassen sich von diesen Fällen auch sehr viele Regeln sowie Mechanismen ableiten, die für jeden Menschen nützlich sind. Aus Gründen des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte, aber auch aus polizeitaktischen Gründen werden die Fälle hinsichtlich ihrer Protagonisten verfremdet dargestellt. Das tut für dieses Buch nichts zur Sache, denn nicht die exakte Wiedergabe der Fallkonstellation, sondern die dahinterstehenden Dynamiken stehen hier im Mittelpunkt.

Eine wichtige Voraussetzung für ein Gespräch:

das wirkliche Interesse am anderen Menschen.

Teil 1: Selbstreflexion

Beginnen möchte ich mit einem Fall, der zum einen zum Schutz des Opfers verfremdet ist, denn das Opfer war noch ein Kind, als es ein mehrwöchiges Martyrium durchstehen musste. Heute ist dieses Opfer eine junge Frau, die durch die Erwähnung von Orten und Namen nicht wieder mit der Tat in Verbindung gebracht werden soll. Des Weiteren ist der Fall verfremdet, weil ich dem Täter nicht die Möglichkeit geben möchte, sich durch zu viele Details der Tat noch einmal als eine Art Berühmtheit fühlen zu können. Es werden zudem nur jene Details der Tat zur Sprache kommen, die mit dem Thema dieses Buches in Verbindung stehen. Es geht also nicht um die brutalen und scheußlichen Einzelheiten, es geht allein um die psychologischen Aspekte von Kommunikation.

Die Tat, von der ich spreche, machte im Jahr 2006 bundesweit Schlagzeilen. Zu Beginn jenes Jahres verschwand eine 13-jährige Schülerin, nennen wir sie Hannah L., spurlos. Niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Das Mädchen hatte sich am Morgen auf den Weg zur Schule gemacht, war dort aber nie angekommen. Wie häufig der Fall, machten sich die Eltern erst nach einer gewissen Zeit wirklich Sorgen um ihre Tochter – nachdem sie alle bekannten Kontakte abtelefoniert und auch sonst einiges unternommen hatten, um das Verschwinden aufzuklären. Nach einer Weile aber war dann der Punkt erreicht, an dem sie die Polizei einschalteten. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, was sich zugetragen haben könnte. War das Mädchen entführt worden? Oder war es einfach nur von zu Hause weggelaufen?

Normalerweise wird beim Verschwinden eines Kindes dieses Alters zunächst nicht an Entführung gedacht, sondern eher daran, dass es weggelaufen ist. Es dauerte eine Weile, bevor vor diesem Hintergrund alle Eventualitäten überprüft worden waren. Und irgendwann kam dann die Frage auf, ob es sich nicht doch um eine Entführung handeln könnte. An dieser Stelle wurde ich zur Bearbeitung dieses Falls hinzugezogen. Denn wenn ein Kind verschwunden ist, kümmert sich zwar die Polizei darum, doch Spezialkräfte und damit auch wir Polizeipsychologen kommen erst zum Zuge, wenn befürchtet wird, dass ein Mensch entführt wurde.

Grundsätzlich kommen Spezialkräfte nur bei besonderen Fällen zum Einsatz. Wie erwähnt ist das bei Entführungen der Fall, aber etwa auch bei Geiselnahmen oder Erpressungen sowie bei Suizid-Situationen. In diesem Fall waren wir Polizeipsychologen zu zweit und nur ein Bruchteil des gesamten Teams.

In besagtem Fall also war ich ein Teil der Spezialkräfte bzw. der Verhandlungsgruppe und habe den psychologischen Part übernommen. Als Psychologe hält man sich normalerweise im Hintergrund – man beobachtet und hört auf die Gesprächssituation. Man schätzt die psychologische Seite eines Gegenübers ein: Was für eine Persönlichkeit ist es, um welche psychische Konstitution handelt es sich? Auf dieser Basis gibt der Psychologe Unterstützung für ein Gespräch. Er gibt Hinweise, welche Gesprächsverläufe am besten eingeschlagen werden sollten, er schätzt ein, ob jemand verhandelbar ist, oder wie gefährlich ein Mensch in einer bestimmten Situation ist. All das lässt sich besser bewerkstelligen, wenn der Psychologe im Hintergrund sitzt und zuhört, als wenn er selbst in eine Kommunikation eintritt.

In dem besagten Fall der Hannah L. kamen wir Psychologen also zum Zuge, als das Wort Entführung ausgesprochen wurde. Es gab in diesem Fall noch nirgendwo eine Spur, ein bloßes Weglaufen von Daheim passte auch nicht zu dem Persönlichkeitsprofil des Mädchens, zudem war Gott sei Dank nirgendwo eine Leiche gefunden worden. So traurig das ist – eine solche taucht in vielen Fällen leider relativ schnell auf, wenn Kinder gekidnappt, sexuell missbraucht und getötet wurden.

Als Spezialkräfte kümmerten wir uns erst einmal um die Familie des entführten Mädchens. Das dient normalerweise einerseits der Stabilisierung der Angehörigen, es ist aber auch für den Fall wichtig und sinnvoll, dass sich ein möglicher Entführer telefonisch meldet, somit den Kontakt aufnimmt und vielleicht Lösegeldforderungen stellt. In solchen Situationen kann die Familie, die den Anruf meist annimmt, polizeilich unterstützt werden.

Die Beratung der Angehörigen war wie gesagt auch mein erster Kontaktpunkt mit dem Fall – ich konnte damals noch nicht ahnen, dass es bei Weitem nicht das letzte Mal sein würde, dass ich mit diesem Fall, mit dem Opfer und auch dem Täter Kontakt haben sollte.

Zunächst einmal war ich bei den ersten Gesprächen dabei. Da stellt sich die Polizei näher vor und erklärt ihre Arbeit und ihre Vorgehensweisen. Ein wesentlicher Punkt der Arbeit der Psychologen besteht zuallererst in der Einschätzung der Stabilität der Angehörigen. Der psychologische Status ist enorm wichtig für das Durchstehen der Situation. In manchen Fällen ist es notwendig, medizinischen Beistand zu organisieren oder auch einfach nur Freunde der Familie zu aktivieren, damit sie den benötigten Halt vermitteln können. Es geht also bei diesem ersten Kontakt erst einmal darum, einen Eindruck von den Angehörigen zu gewinnen und die eigenen Positionen transparent zu machen, z.B. wer von den Beamten für was zuständig ist, wie die Polizei nun vorgeht etc. Wir haben diese Familie anschließend bis zu dem Punkt beraten, an dem eine klassische Entführung immer unwahrscheinlicher wurde. (Zu einer klassischen Entführung gehören oftmals Lösegeldforderungen und Kontaktversuche vonseiten der Täter, um den Angehörigen, der Polizei oder auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, was sie eigentlich wollen.)

Als es mit der Zeit immer noch keine Hinweise darauf gab, dass die 13-Jährige wirklich entführt worden war, wurden in diesem Fall die Kontakte mit den Angehörigen langsam wieder zurückgenommen beziehungsweise heruntergefahren. Dieses Herunterfahren ist übrigens eine ziemlich schwere Aufgabe, die sehr gut vorbereitet sein will. Schließlich kann man sich nicht einfach vor die Angehörigen stellen und ihnen mitteilen, dass es das nun war und dass man jetzt einfach geht. Vielmehr muss dieses Vorgehen mit Gründen unterfüttert werden, was die Situation aber auch nicht einfacher gestaltet. Denn mit dem Rückzug der Spezialisten wird den Eltern im Grunde implizit gesagt, dass die Polizei nun doch nicht von einer Entführung ausgeht. Einen anderen Grund gibt es schließlich nicht dafür, dass sich die Spezialisten wieder zurückziehen. Für die Eltern heißt das dann anzunehmen, dass das Kind entweder doch weggelaufen ist oder dass irgendetwas geschehen ist, und das Kind nicht mehr lebt, aber noch nicht gefunden wurde.

Nun ist es aber nicht so, dass eine derartige Entwicklung einen kompletten Rückzug vonseiten der Polizei bedeutet. Es wird vielmehr ein anderer Ansprechpartner bei der Polizei genannt, der für sie bei etwaigen Fragen erreichbar ist. Trotzdem bleibt es natürlich ein schwieriger Moment, den Eltern den Rückzug der Spezialisten beizubringen.

Es ist übrigens auch ein schwieriger Moment, wenn ein Fall endgültig abgeschlossen wird – für die Betreuenden ebenso wie für die Betreuten. Ist der Einsatz irgendwann vorüber, existieren auch keine polizeilichen Ziele mehr. Das ist etwas, was man immer auch als Einsatzkraft im Hinterkopf behalten muss. Man muss sich die Frage stellen und beantworten: »Was ist hier meine Aufgabe?« Diese Aufgabe besteht eben nicht vor allem darin, psychologischen Halt zu geben, die Aufgabe ist vielmehr herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist. Die Familie ist in dem Zusammenhang vor allem so zu unterstützen, dass es dem Gesamteinsatz zugutekommt, das heißt, es sollte beispielsweise nichts Unbedachtes durch die Familie an die Presse herausgegeben werden, das Opfer sollte mit allen Mitteln geschützt und der Täter gefunden werden. Das mag hart klingen, ist aber die Realität.

Sich selbst kennen

Gerade in Betreuungssituationen oder auch beim Überbringen von Todesnachrichten wurde mir immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, sich selbst zu kennen. Beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage, wie wir selbst mit den Themen Tod und Sterben umgehen. Haben wir selbst mit diesen Themen ein großes Problem oder wissen wir, dass wir in einer Weise reagieren, dass uns solche Vorfälle nicht mehr aus dem Kopf gehen, dann wird es uns natürlich auch schwerer fallen, solche Aufgaben zu übernehmen. Wichtig ist also das Wissen über die eigene Einstellung zu einem derartigen Thema.

Ebenfalls wichtig ist das Wissen, wie wir es selbst schaffen können, aus einer solchen Interaktion wieder herauszukommen, wie wir also eine professionelle Distanz wahren. Denn es ist etwas anderes, ob man eine solche Aufgabe beruflich ausführt oder einem Freund eine Todesnachricht überbringt. Natürlich kann und soll man auch im beruflichen Fall Empathie zeigen, Menschen eventuell auch einmal in den Arm nehmen – aber es ist trotzdem etwas anderes, als wenn man einem Menschen wirklich persönlich nahesteht. Für meine Berufsgruppe ist es auch wichtig, die besagte professionelle Distanz zu wahren, um sich nicht verantwortlich beispielsweise für das Leid einer ganzen Familie zu fühlen. Tatsächlich ist genau das jedoch sehr schnell der Fall: Wir fühlen uns verantwortlich und meinen, die Probleme anderer lösen zu müssen. Wir denken, wir müssen beispielsweise den Schmerz von einer Familie nehmen. Doch das ist oft – zumal in einer solchen Betreuungssituation – nicht möglich, dafür sind auch andere Professionen da.

Genau deswegen ist es so enorm wichtig, sich selbst zu kennen. Wenn wir etwa bemerken, dass wir mit manchen Situationen wirkliche Probleme haben, dann ist es wichtig, dass wir zunächst einmal an uns arbeiten, bevor wir uns solchen Situationen aussetzen. Diese Arbeit an uns selbst besteht dann vor allem darin, dieses eigene Problem zu erkennen. Denn es nützt uns wenig, dass vielleicht andere uns sagen, wir seien viel zu nahe dran an dem Problem – oder einem Fall oder den darin involvierten Personen.

Ich erinnere mich an Fälle, in denen es um eine zeitlich lange Unterstützung von Familien ging. Da gab es immer wieder Kollegen, die es nicht schafften, diese notwendige Distanz aufrechtzuerhalten. Selbst wenn es sich nicht um einen Rund-um-die-Uhr-Kontakt handelte, fühlten sich diese Kollegen rund um die Uhr verantwortlich für die Person, die sie beispielsweise im Rahmen eines Entführungsfalls zu betreuen hatten. Sie waren 24 Stunden am Tag ansprechbar, und sie fühlten sich selbst schon fast als guter Freund der Angehörigen oder sogar als ein Familienmitglied.

Solche Kollegen sollte man eigentlich aus dem Einsatz herausnehmen, denn gibt man diesen Kollegen ein polizeitaktisches Ziel mit – etwa dass sie auf Unwahrheiten achten sollen –, dann kommt es womöglich zu dem Moment, dass sich der Kollege wegen der persönlichen Nähe überhaupt nicht mehr vorstellen kann, dass eine der betreuten Personen lügt. Denkt ein Kollege so, dann kann er im Grunde die Ziele nicht mehr umsetzen, die er eigentlich umzusetzen hat. Und ohne eine gute Selbstreflexion fehlt ihm womöglich auch die Einsicht, nicht mehr für den laufenden Einsatz geeignet zu sein. Das mächtige Gefühl der Verantwortungsübernahme trübt ihm den objektiven und ehrlichen Bick auf die eigene Situation und Leistung.

Was einmal mehr zurück zur Notwendigkeit der Selbstreflexion führt, die nicht nur für Polizeibeamte, sondern für alle Menschen so wichtig ist. Denn nur, wenn wir ein Problem erkennen, können wir eben auch dagegen angehen. Ein erster Schritt besteht darin, dass wir über das besagte Problemthema mit anderen Menschen sprechen. Hierbei muss es nicht um ein Thema gehen wie den Tod oder das Sterben. Bei der Polizeiarbeit kann es zum Beispiel vorkommen, dass ein Kollege immer dann Probleme bekommt, wenn es um Fälle mit Kindern geht. Weil er vielleicht selbst Kinder hat und der Identifikationsfaktor daher sehr hoch ist. Wann immer wir in Situationen kommen, die uns potenziell belasten, weil die Themen eben sehr schwierig für uns sind, sollten wir besonders auf uns achten.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Mutter eines sehr guten Freundes hat die Diagnose bekommen, dass ihre Erkrankung einen tödlichen Ausgang nehmen wird. Ihr Freund ist verständlicherweise sehr mitgenommen und macht sich sehr viele Gedanken. Er hat Angst, dass die Mutter leidet, er hat Angst vor der Zeit ihres Sterbens und weiß nicht, wie er mit der Mutter emotional umgehen soll. Sie sind nun Stütze, Freund und Berater zugleich. Selbstreflexion heißt in diesem Falle, die eigenen Gefühle zu kennen und auch zuzulassen. Sie sollten wissen, wie Sie auf den möglichen hohen Erwartungsdruck des Freundes reagieren und wie Sie es schaffen können, die Verantwortung für die Genesung der Mutter nicht zu übernehmen. Denn das schaffen Sie nicht, egal, wie sehr Sie es sich auch wünschen. Verantwortung haben Sie Ihrem Freund und sich selbst gegenüber. Selbstreflexion heißt auch, die eigenen Grenzen zu kennen und auf sich selbst zu hören. Ein erster Schritt dahin kann sein, Erwartungen und Wünsche der anderen von den eigenen zu differenzieren. Das klingt erst einmal einfach, ist es aber leider ganz und gar nicht. Doch eine solche Differenzierung bringt eine erste Ordnung in die eigene Erlebenswelt. Natürlich können wir auch Erwartungen von anderen erfüllen, dann sollten wir aber wissen, dass unser Handeln nicht primär von uns selbst motiviert ist. Nur ein Ausdifferenzieren zwischen dem, was von uns selbst stammt, und dem, was von den anderen gewünscht oder erwartet wird, gewährleistet eine bewusste Selbststeuerung.

Wenn wir von diesem Punkt nun zurückkehren zu dem Fall Hannah L., dann hätte es natürlich auch passieren können, dass zu unserem Team ein Kollege zählte, der eine Tochter hat, die im gleichen Alter wie das entführte Kind ist, und deren Physiognomie außerdem eventuell auch an die Entführte erinnert. Dieser Kollege würde dann womöglich nicht mehr nur eine Familie erkennen, die es zu betreuen gilt, er würde sich vielmehr selbst in deren Situation versetzen.

Hat man tatsächlich selbst Kinder im Alter eines entführten Kindes, lässt sich natürlich wenig gegen eine potenzielle Identifizierung mit den Angehörigen machen. Der Fakt an sich ist nicht weiter problematisch. Nur wenn dies die eigene Arbeit behindert, wäre es aus der rein professionellen Warte betrachtet sinnvoll, die Aufgabe beziehungsweise die nahen Kontakte mit den Angehörigen anderen zu überlassen.

Allerdings können wir als Menschen auch Strategien entwickeln, die es uns ermöglichen würden, »so einen Fall trotzdem zu übernehmen«. Das allerdings kann sich sehr schwierig gestalten, weil es im Grunde auch den Versuch darstellt, uns selbst professionell wahrzunehmen. Wir müssten uns immer wieder auch zurückziehen und uns selbst sagen, es handle sich nicht um unsere eigene Situation. Es wäre also immer wieder eine bewusste Distanzierung erforderlich.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an den Fall eines Kindes, das zunächst verschwunden war und später tot aufgefunden wurde. Es handelte sich um ein Mädchen im Alter von etwa acht Jahren und auch in diesem Fall waren wir als Polizei in die Betreuung involviert. Dieser Fall erregte zudem große öffentliche Aufmerksamkeit – die Stadt war regelrecht gepflastert mit Plakaten, die das Gesicht des Mädchens zeigten, auch das Fernsehen berichtete.

Dieses Mädchen hatte etwas an sich, das mich persönlich sehr berührte. Bis heute bin ich mir nicht wirklich vollkommen sicher, was es war, wahrscheinlich hat mich ihr Gesicht an irgendwen oder irgendetwas aus meiner eigenen Vergangenheit erinnert. Ich hatte vorher schon mit Fällen von verschwundenen Kindern zu tun, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass sie nicht mehr lebten. Doch bei genau diesem Mädchen fühlte ich mich persönlich involviert. Ich habe während dieser Zeit auch festgestellt, wie schwer es ist, sich von einem derartigen Gefühl zu befreien. Selbst wenn ich nach der Arbeit nach Hause ging, habe ich immer noch an das Kind gedacht – was grundsätzlich bei solchen Fällen nicht untypisch ist, trotzdem war es hier doch noch etwas anderes. Ich musste mir immer wieder sagen, dass der Fall mit meinem eigenen Leben nichts zu tun hatte, und ich musste meine professionelle Betrachtung aufrechterhalten.

Was mir in der Situation vor allem geholfen hat, das waren Gespräche mit einem Kollegen. So etwas halte ich übrigens grundsätzlich für eine gute Idee. Ich hätte natürlich auch mit Menschen aus meinem privaten Umfeld sprechen können. Dann aber hätte ich das Berufliche aktiv in mein Privatleben hineingezogen. Eine solche Situation belastet ohnehin schon das Private. Es ist sicher manchmal unmöglich zu vermeiden, dass man etwas zu Hause erzählt. Günstiger ist jedoch die Variante, sich mit einem Kollegen auszutauschen.

Der erste wichtige Punkt in diesem Zusammenhang ist allerdings der, dass man das Thema überhaupt einmal ausspricht. Denn oftmals ist eine solche Situation gerade aus dem Grund belastend, weil sich das Thema im eigenen Kopf befindet und darin kreist und kreist. In meinen Fall war der Kollege ebenfalls in den Fall involviert, und er konnte daher auch berichten, wie er ihn persönlich empfand. Vor allem tat er das mit der gleichen professionellen Herangehensweise wie ich – ich fand mich also in seinen Äußerungen ein Stück weit wieder.

Ich habe aber noch etwas anderes getan: Ich habe mir ein Bild des Mädchens genommen und versucht, in mich zu gehen, um herauszufinden, was es denn wirklich ist, was mich an dem Gesicht des Mädchens so sehr anspricht. Auf jeden Fall habe ich letztendlich erkannt, dass mich dieses Mädchen nicht an jemand anderen erinnert. Vielmehr kam ich zu dem Schluss, dass mich wohl die Hilflosigkeit ansprach, die dieses Kind auf den Fotos ausdrückte. Es sah einfach aus wie ein junger Mensch, der Hilfe benötigt. Ihre Augen schauten schon auf dem Foto traurig aus, obwohl sie zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht wissen konnte, was ihr später zustoßen würde. Genau das hat mich so angesprochen – vermutlich stellvertretend für Menschen, die allgemein traurig sind oder Hilfe benötigen. Für mich war es wichtig, genau das herauszufinden, weil es mir dann letztlich geholfen hat.

Was erneut zu dem Punkt führt, dass wir uns selbst kennen müssen, um andere zu erkennen. Denn aus einer solchen Erkenntnis lassen sich weitere Schritte ziehen, wie es auch bei mir der Fall war. Ich habe mir gesagt, dass ich ja genau das Richtige tue, wenn es tatsächlich das ist, was mich an dem Bild des Mädchens so angesprochen hat: Ich helfe mit, den Fall aufzuklären, und ich helfe bei der Betreuung der Familie. Ich konnte dem Gefühl also ein aktives Handeln entgegensetzen, und das tat mir gut.

Selbstreflexion heißt: sich selbst kennenlernen

Erkennen: Welche Probleme hat man mit welchen Themen?Erkennen der eigenen GrenzenUnterscheidung zwischen den Erwartungen und Wünschen der anderen und den eigenenFeinfühlig sein mit sich selbstGegen Problemthemen angehen:Darüber mit anderen sprechen, das Thema überhaupt einmal aussprechenHerausfinden, warum einen das Thema sensibilisiert

Ziel: Wir müssen uns selbst kennen, um andere zu erkennen!

Erkennen, was andere in uns auslösen

Das alles funktioniert natürlich nicht nur in der Polizeiarbeit, sondern auch im alltäglichen Leben eines jeden Menschen. Denn immer, wenn wir nicht genau wissen, warum uns etwas stört, warum uns irgendetwas an einem anderen Menschen aufregt, oder wenn es schlicht und einfach nicht rundläuft im Leben, wenn so etwas der Fall ist, dann sollten wir erst einmal bei uns selbst anfangen und uns fragen, warum es genau so ist, wie es ist. Warum ist es so, dass mich bei meinem Gegenüber etwas stört? Warum regt mich ein bestimmter Mensch immer dermaßen auf? Warum habe ich immer das Gefühl, von einem bestimmten Menschen nicht ernst genommen zu werden?

Natürlich finden sich immer auch Auslöser für solche Ärgernisse in dem anderen Menschen, das ist gar keine Frage. Für das eigene Weiterkommen jedoch ist es wertvoller, wenn wir zunächst einmal bei uns selbst anfangen. Wenn wir also prüfen, was genau das Gegenüber beziehungsweise die Situation in uns auslöst. Nur so können wir herausfinden, was wir dem entgegenzusetzen haben, was wir selbst auf der Handlungsebene tun können, um etwas an einer Situation zu verändern. Denn dass wir die anderen verändern, ist wohl der absolute Ausnahmefall.

Liegt es etwa daran, dass wir uns selbst dem anderen gegenüber viel kleiner fühlen? Halten wir uns für weniger wert als den anderen? Kann er uns genau aus diesem Grund eventuell auch so sehr treffen, wie es der Fall ist? Es gibt eine Reihe von Faktoren, die am Ende zu den eigenen Knackpunkten führen. Meistens ist es so, dass Menschen, über die wir uns immer wieder aufregen oder mit denen wir ständig anecken, in uns etwas ganz Besonderes triggern beziehungsweise auslösen. Das zu erkennen ist wichtig.

Das bedeutet jetzt nicht, dass andere Menschen immer alles richtig machen würden. Aber es ist eben sinnvoll zu wissen, wo genau denn die Punkte liegen, die uns immer wieder so sehr berühren oder auch aufregen. Sinnvoll ist das, weil genau dies uns weiterbringen kann, weil wir aus diesen Erkenntnissen wiederum Strategien entwickeln können, die uns helfen, besser mit entsprechenden Situationen umzugehen.