Hip und Hop und Trauermarsch - Jaromir Konecny - E-Book

Hip und Hop und Trauermarsch E-Book

Jaromir Konecny

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Beschreibung

DER Zeitgeistroman für die Teenies der Hip Hop-Generation: Der erste Jugendroman von Slam-Poetry-Star Jaromir Konecny!

Manchmal ist das Leben nicht einen Furz wert, findet Bejb, der Trostpreisträger. Wo immer er auftaucht, sorgt er für unfreiwillige Komik. Dabei leidet er immens an seiner heimlichen Liebe zu Kathrin. Als Bejb die Schule wechselt, hofft er auf einen Neuanfang und tatsächlich: In seiner neuen Klasse wird gerappt, was Beats und Wörter hergeben. Bejb wird vom Hip Hop-Fieber gepackt. Und plötzlich ist er ein Star! Als er sich in Hana verliebt, scheinen seine einsamen Nächte endlich ein Ende zu haben … Aber Bejb wäre nicht Bejb, würde jetzt nicht ausgerechnet Kathrin auftauchen und ihm alles gründlich vermasseln.

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Seitenzahl: 287

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Inhaltsverzeichnis
 
DER AUTOR
Widmung
Danksagung
Prolog
 
Kapitel 1. – Afterheim
Kapitel 2. – Neues Leben
Kapitel 3. – Hana
Kapitel 4. – Stechtiere
Kapitel 5. – No Future
Kapitel 6. – Der Projekttag
Kapitel 7. – Open Mic
Kapitel 8. – Du und ich und das leere Haus …
Kapitel 9. – Das Huhn
Kapitel 10. – Die Party
Kapitel 11. – Die legale Wand
Kapitel 12. – Plagen mit den Phagen
Kapitel 13. – Gangsta Rap
Kapitel 14. – Omas HipHop
Kapitel 15. – Zirkus
Kapitel 16. – Showdown
Kapitel 18. – Der Fame
 
Epilog
Copyright
DER AUTOR
Foto: Sandra treml
Seit Jahren begeistert der in Prag geborene promovierte Chemiker Jaromir Konecny mit seinen Geschichten und seinem »behmisch«-bayerischen Akzent das Publikum bei Poetry Slams, aber auch bei traditionellen Lesungen. Konecny, der 1982 in die Bundesrepublik übergesiedelt ist und mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in München wohnt, hat über sechzig Slam-Wettbewerbe und weitere Literaturpreise gewonnen und wurde zweimal Vizemeister des gesamtdeutschen Poetry Slams.
»Hip und Hop und Trauermarsch« ist sein erster Jugendroman.
Für Jany und Gabriel, unsere Jungs. Damit sie’s besser machen!
Danksagung
Einige Freunde haben das Rohmanuskript gelesen und mir geholfen, Bejb richtig großzuziehen:
David Morber, der mit seinen fünfzehn viel belesener ist als manch ein Sechzigjähriger.
Christine Morber hab ich vor langer Zeit dank Chemie kennen gelernt und diese stimmt bei uns immer noch.
FIVA – Nina, du gibst dem Game so viel Weiblichkeit und Klugheit, dass mir davon schwindlig wird. Hinter jedem deiner Worte steht Menschlichkeit. Ich freue mich auf die neue Platte!
Christof Größl, mit dem ich so viel »on the road« war in diesem Jahrtausend wie mit keinem anderen.
Großmeister Jan Off – wir zwei, Maestro, haben in den letzten zehn Jahren zusammen etliche Bühnen gerockt. Wäre mir ohne dein Buch Vorkriegsjugend der Ausflug in die Welt des HipHop überhaupt eingefallen?
Ich danke euch!
 
Stellvertretend für das HipHop-Diskussionsforum bei MZEE.com, wo ich hin und wieder reingucke und mich inspirieren lasse, muss ich mich unbekannterweise bei Hippiheppo213 bedanken. Durch einen seiner Sprüche hab ich so einen Lachkrampf gekriegt, dass ich den Spruch im Buch einfach verwenden musste. Und Mann! Als Buchse deinen Satz brachte, hat die ganze Klasse gelacht.
Auch das sehr lesenswerte Buch 20 Jahre HipHop in Deutschland von Sascha Verlan und Hannes Loh bescherte mir einige hübsche Erleuchtungen.
 
Und insbesondere möchte ich mich bei meiner Lektorin Susanne Stark für ihre wunderbare Unterstützung bedanken. Sie hat mich nach fünfzehn Jahren Subkultur aus der Meute geholt und gesagt. »Jaromir, Mensch, vielleicht solltest du endlich mal was G’scheites schreiben …« Einen Jugendroman? Warum nicht!
Gott gab mir zwei Augen, um die Welt zu entdecken, aber dann kam CNN, um sie wieder zu verstecken …
Prinz Porno,Jung, schön und stylisch/Blackbooked Nr. 2
 
Banaler Rap ist Publik und macht uns in Sachen Kunst zu’ner Bananenrepublik …
Freundeskreis,Wenn der Vorhang fällt/Quadratur des Kreises
 
Es ist Zeit, dass sich einiges ändert hier, denn ihr habt leider wenig bewegt.
Lass uns kämpfen, dass hier einiges besser wird, ansonsten ist es für uns alle zu spät. Jetzt sind wir da und machen das Ding für euch, denn die Zukunft liegt in unserer Hand. Hebt die Faust hoch, wir stehen hinter euch. Einer für alle und all for ONE.
Kool Savas & Azad,All 4 one/ONE
Prolog
Im Himmel
Und dann kommt er – der Freifall gratis.Der Flug ist umsonst, weil der Aufprall zu hart ist.Fettes Brot,Kleines Kind/Fettes Brot für die Welt
 
 
Ich hänge im Himmel. Wie ein Engel! Leider bin ich kein Engel! Engel können fliegen. Ich nicht. Trotzdem muss ich auf die Erde zurück. Irgendwann. Und irgendwie! So’ne Lage ist nichts Ungewöhnliches bei mir. Ich bin von Geburt an Hundescheißemagnet. Jetzt häng ich halt von der Kuppel herunter, die man hier im Zirkus »der Himmel« nennt, und halte mich am Schaukelreck fest. Und das können die Fliegenden Kosaken auf jeden Fall besser. Klar gibt’s wie immer ein paar offene Fragen. Zum Beispiel: Wie lange machen meine Hände das noch mit? Scheiße!!!
»Lass die Linke los!«
»He?«
Das Publikum tobt. Direkt unter mir, in der Zirkusmanege, laufen ein paar Artisten mit’ner Rettungsmatratze herum. Sehe ich da meinen Vater mithüpfen? Die Matratze sieht aus dieser Höhe klein aus wie ein Höschen. Was wollt ihr damit, ihr Deppen? Wie soll ich dieses Ding treffen? Bin ich Batman, oder was? Und wenn ich’s doch durch irgendeine Laune der Gravitationskraft schaffe, breche ich mir sowieso alle Knochen. Aus dieser Höhe ist jede Matratze hart wie Beton. Scheiße! Wird wohl nichts mehr aus unserer Nummer … aus dem Internat auch nichts. Jetzt geht’s mir an die Leber!
»Lass die Linke los!«, kreischt Hana noch mal. »Greif weiter nach links, dann kannst du dich zu der Rolle hinziehen …«
Soll ich nicht besser warten? Bis mich hier jemand befreit? Da klettert doch schon irgendein Kosake hoch … Warum fliegt er nicht, verdammt? Meine Hände werden immer schwächer … Wie viel Zeit hab ich noch? Zwei Minuten, drei Minuten?… Ach, scheiß drauf! Bin doch ein Mann! Das schaff ich schon! Ich lasse die Linke los und die Kacke beginnt zu dampfen wie eine Dampflok. Da ist sie wieder, meine Bürde, mein Buckel des Glöckners, der wegtrainierte Tick. Von wegen wegtrainiert! Die verdammten Hände äffen sich plötzlich wieder nach. Bin wieder klein, bin zehn Jahre alt: die Spiegelbewegung der anderen Hand – die siamesischen Zwillinge der Bewegung. Noch mit zehn trieben mich meine verkoppelten Hände in den Wahnsinn. Wenn die Linke einen Verschluss abschraubte, drehte sich die Rechte mit. Diese verfluchten Hände waren einfach nur auf gegenseitige Verarschung aus. Kein Sinn für Kooperation. Echt asozial, Mann! Die ersten zehn Jahre meines Lebens hab ich nur einhändig gelebt. Die andere Hand ließ ich am Körper hängen. Oder auf dem Tisch liegen. Soll sie doch vor sich hin kurbeln, wenn sie will. Aber dann, mit zehn … Mit zehn hab ich die Bälle entdeckt. Die Bälle bombten mir Gruben ins Hirn. Bälle wie Seziermesser. Fünf Jahre lang hab ich jongliert, um die Hände zu entkoppeln. Und ist das nicht krass, Mensch? Ist das nicht schizophren? Ich hab’s geschafft! Noch heute in der Früh hat die Rechte nicht mal gezuckt, wenn die Linke den Wasserhahn zuschraubte. Plötzlich aber bin ich wieder klein, bin zehn Jahre alt: Die Linke lässt das Reck los – die Rechte macht mit. Ja, warum gerade jetzt? Verdammt noch mal! Ich kämpfe, ich kämpfe, doch das ist der blöden Hand scheißegal. Sie lässt den Anker einfach los …
Auch Apfelhaller hüpft jetzt tief unter mir herum. Willst du mich fangen, oder was, du Idiot? Meinst du, dass noch was geht? Mach mir besser’ne Beatbox, Appleman MC! Beat für den Sarg! Hip und Hop und Trauermarsch! Jetzt wird die Platte gescratcht! Grandmaster Apple! Ein kleines Gesicht aus dieser Höhe. Doch das Gesicht wird immer größer, das Gesicht rast auf mich zu. Check die Nudel, Mann! Ist das nicht genial? Wenn der Tod näher ist als deine Nasenspitze, denkst du nicht mehr an ihn. Ich denk an was anderes und krieg’nen Ständer.
1.
Afterheim
… wollte mit euch spielen und dabei sein, ein teil vom spaßsein,doch gab’s keinen von euch, der mich ließ, und so saß ich tagsheim,ihr draußen unterwegs, ich drinnen und las geschichten,vergaß meine pflichten, zu beschäftigt, mich aus der welt zuflüchten …Curse,Schlussstrich/Feuerwasser… ich wurd zum schlüsselkind, das sind die kinder, wo dieeltern nicht zu hause sind …Cora E.,schlüsselkind/schlüsselkind
 
 
Ich kam also mit zwei linken Händen auf die Welt. Oder mit zwei rechten. – Wie du’s halt nimmst. Meine Alten haben’s erst an meinem ersten Geburtstag gemerkt. Ich buddelte im Sandkasten und sie guckten mir zu. Das tun sie manchmal, wenn ich Geburtstag habe. »Schau, was der macht!«, sagte Mutter. Ich buddelte mit der Rechten im Sand und die Linke buddelte mit. Ohne eine Schaufel zu halten.
»Das ist das Ende seiner Artistenkarriere«, sagte Vater. Bis dahin war ich ganz normal. Ich hatte einen Vater und eine Mutter, die keine Zeit für mich hatten, einen Bruder und eine Schwester. Vater und Bruder männlich, Mutter und Schwester weiblich. Alle viel älter als ich und echt tierisch! Die Familie Spiderman. Stark und schnell und fit – Muskeln bis ins Hirn. Bodenakrobaten eben. Sie treten auf der ganzen Welt auf. Und schicken Kohle nach Hause, damit wir hin und wieder ein Hähnchen grillen können. Oma und ich.
Das war also das Ende meiner Zirkuskarriere. Schon vorher hatten sich meine Gründer gewundert, dass bei mir alles viel später kam als bei meinem Bruder und meiner Schwester. Echt miese Koordination. Gekrabbelt bin ich wie E. T. Und das noch mit anderthalb Jahren. »In dem Alter konnten deine Geschwister schon Saltos schlagen«, hat Oma gesagt.
Jetzt sehe ich meine Alten, die Tiere, meistens nur in den Ferien, wenn sie mich zu sich in den Zirkus holen. Oder ins Varietee. Wo auch immer sie halt gerade ihre abgedrehten Kunststücke vorführen. Manchmal besuchen sie Oma und mich, aber nicht allzu oft. Nicht dass du denkst, meine Alten sind Rabeneltern oder so was. Sie lieben mich. Wenn sie mich nicht liebten, würden sie sich viel mehr mit mir beschäftigen.
Eigentlich war ich froh, dass sie nicht mit uns in Afterheim lebten. Schon so war ich dort eine Lachnummer. Ohne mich ständig mit meiner glorreichen Familie vergleichen lassen zu müssen. In Afterheim kannte jeder jeden. Und ich war nun mal der Typ mit den zwei linken Händen, der nicht mal beim Zirkus unterkam. Geschickt wie ein Storch. Viele Afterheimer fingen schon an zu kichern, wenn sie mich erblickten.
Zum Glück ist in der ersten Klasse Kathrin nach Afterheim zugezogen. Mit ihren Eltern. Boah, dieses Mädchen! Mann! Wenn du die siehst, dann glaubst du an Wunder! Wir trafen uns oft in unserer Stadtbücherei. Früher bin ich mit Oma allein hingegangen. Oma fuhr voll auf Agatha Christie und P.D. James und so ab – ein echter Krimi-Junkie. Doch seit Kathrins Mutter in Afterheim lebte, zog sich Oma immer mehr Liebesromane rein. Kathrins Mutter Dora stand auf das Zeug. Und Oma fand alles gut, was Dora machte. Doras Vater war Omas Cousin. Aber schon lange tot.
Während also Oma und Dora über die Schreie der Leidenschaft fachsimpelten, wühlten Kathrin und ich die Regale durch: »Kennst du das da?«
»Wild Thing – Sex-Tips for Boys and Girls … Kannst du mir daraus vorlesen?« Kathrin las mir vor. Über die Tipps haben wir uns vor Lachen gekugelt: »Bit-ten Sie Ih-re Part-nerin, Ih-nen zu zei-gen, wo sich die Ei-er-stö-cke be-fin-den …«
»Igitt!«
Später trafen wir uns auch allein in der Bücherei. Ohne Kathrins Mutter und meine Oma. Und noch später liefen wir auch draußen zusammen rum. So entdeckten wir die alte, halb zugewachsene Sandgrube in den Wäldern hinter Afterheim. Darin ein kleiner Teich mit Fröschen … Mann! Manche Froschmännchen haben’s echt drauf. Zum Beispiel die Stummelfrösche. Die Männchen setzen während der Paarungszeit keinen Fuß auf den Boden. Die faulen Säcke lassen sich vom Weibchen zum Laichplatz auf dem Rücken tragen und bleiben gleich mehrere Monate am Weibchen festgeklammert. Wie’n Rucksack! Die hab ich echt beneidet manchmal. Warum war ich nicht als Stummelfrosch auf die Welt gekommen?
Am oberen Rand der Sandgrube waren kleine Höhlen. Wir bauten sie weiter aus, ich und Kathrin. Im weichen Sandstein ließ sich gut buddeln. Kathrin hat mich nie gefragt, warum meine Linke mitmachte, wenn die Rechte am Sandstein schabte.
Zur Sandgrube kamen keine anderen Kinder. Sie ballerten lieber an der Playstation oder am PC rum. Mit zehn zockten alle Mitschüler Ballerspiele. Oder zogen sich Videos rein. Freddy und Jason und so. Blutiger Blödsinn! Egal! Zur Waldgrube traute sich sowieso keiner. Der bewachsene Weg dahin wurde von einem Schwarm Killerbienen bewacht. Sie nisteten in einem ausgehöhlten Baum am Rande des Weges. Einmal im Jahr landete jemand aus Afterheim wegen der Stiche im Krankenhaus. Dann war wieder Ruhe um die Grube herum.
»Wenn du ganz langsam und ruhig an dem Baum vorbeigehst«, hatte Kathrin gesagt, »tun sie dir nichts!« Und so war’s auch. Kathrin wusste Bescheid über die Bienen.
Langsam kotzten mich meine Hände aber an. Ich meine, mit zehn hab ich angefangen, darüber wirklich nachzudenken. Bis dahin bin ich mir ganz normal vorgekommen. Wie die anderen halt. Klar konnte ich bei vielen Spielen nicht mithalten, zum Kicken hätte ich einen Hüpfball gebraucht, diese Größe konnte ich noch mit dem Fuß treffen. Die blöden Hände haben meine ganze Koordination vermiest. Statt Fußball zu spielen, hab ich halt viel gelesen. Am meisten freute ich mich sowieso auf die Grippe. Dann lag ich zwei Wochen lesend im Bett, Oma flitzte jeden Morgen in die Stadtbücherei und brachte mir fünf neue Bücher, die zog ich mir dann bis zum nächsten Tag rein. Und Kathrin las mir manchmal aus Wild Thing vor. Übelst gelacht haben wir.
An meinem zehnten Geburtstag ging ich nach der Schule direkt nach Hause. Mutter rief an. »Hast du unsere Geschenke bekommen, Robert?«
»Ja, danke!«
»Nächstes Jahr kommen wir sicher zu deinem Geburtstag. Dann feiern wir zusammen, ja?«
Ich sagte nichts. Jedes Jahr dasselbe.
»Wo ist Oma?«
»Beim Pfarrer!«, sagte ich. »Sie geht jeden Dienstag hin. Kommt gleich zurück.«
»Beim Pfarrer? … Hat sie was mit dem?«
»Aber, Mutter! Ich bin erst zehn …«
»Entschuldigung! Thomas!«, rief sie plötzlich. »Deine Mutter besucht jede Woche den Pfarrer in Afterheim … Hi, hi, hi …« Im Hintergrund hörte ich meinen Vater etwas brummen.
»Kannst du ihr sagen, dass ich sie in einer Stunde anrufe?«, sagte Mutter. »Ich muss was mit ihr besprechen.«
»Mach ich!« Ich legte auf und lief in die Küche. Verdammt! Hatte vergessen, ihr zu sagen, dass Oma noch in die Konditorei gehen wollte. Den Geburtstagskuchen holen. So wie ich sie kannte, würde sie frühestens in zwei Stunden wieder heimkommen. In der Konditorei verkaufte ihre Freundin, die Gottschalk. Die brachte locker 100 Kilo auf die Waage. Deswegen machte sie voll auf Trennkost. Nur Sahnetörtchen, meine ich. Aber die echt hemmungslos! Mann! Wenn ich schon ihre Stimme hörte …
»Ach, Robert, du bist immer noch so klein … Du musst viel mehr essen, weißt du?«
Und du weniger, du fette Schnepfe! Bis die zwei über die ganze Nachbarschaft abgelästert und mein Privatleben ordentlich durchgekaut hatten, würde sicher eine Stunde vergehen. Musste Mutter noch – mal anrufen … Aber wo war das verdammte Telefon wieder? Ich hatte Oma gezwungen, zwei schnurlose Siemensdinger zu kaufen, und jetzt gingen die ständig verloren … Konnte sie ums Verrecken nicht finden. Selbst wenn ich die Suchtaste auf dem Gerät drückte. Als ob sie in andere Dimensionen gefallen seien. Ganz unsympathisch, die Geräte. Wenn Oma zu Hause war, dann wusste ich, wo ich zu suchen hatte. Sie packte die Dinger immer in Decken ein. Damit sie keine Strahlung abgeben, weißt du. Gepulste Mikrowellen und so. Oma hatte echt keine Ahnung von Technik: »Ach, Omi, da strahlt doch die Station und nicht das Mobilding! Das Ding ist ein Empfänger, verdammmt!« Seit wir die Geräte hatten, laberte Oma ständig von Gehirntumoren und ähnlichem Krampf, echt krank:
»Oma, ich ruf Kathrin an!«
»Telefonier nicht so viel, du kriegst sonst einen Gehirntumor!« Wirklich bescheuert, oder? Old school halt. Deswegen würde ich auch nie ein Handy bekommen … Verflucht! Wo hatte ich das verdammte Gerät hingetan? … Ach, egal! … Ich gab die Suche auf. Wollte sowieso nicht noch mal mit der Mutti reden. Null Bock auf so was! Dann lieber mit dem Dicken, dem Pfarrer. Die Pfarrei war gleich am Ende unserer Straße.
Die Sonne schien, die Tür des Pfarrhäuschens stand auf. Auch die Küchentür war halb offen. »Was soll ich mit Robert machen?«, hörte ich Oma den Pfarrer fragen. »Das mit den Händen geht nicht weg. Das behindert ihn wirklich …«
Ich hielt im Flur an. Scheiße! Warum erzählte sie ihm das? Was hatte der Dicke mit meinen Händen zu schaffen, he?
»Vertrauen Sie auf Gott!«, sagte der Pfarrer. »Gott wird Robert nicht im Stich lassen. Beten, beten, beten … Beim Beten stört ihn die Behinderung doch nicht …«
Und bumm! Blitz! Der Big Bang im Hirn! Die Erleuchtung! Gott ist tot! Und wenn Gott doch lebt, dann mag er die Gottlosen – sie belästigen ihn nicht mit ihren Problemen. Du musst dir halt selber helfen! Jawohl! Nichts wie in die Bücherei … Aber die Mutter … Eh! Sollte sie doch das Telefongerät heiß läuten. Ich joggte zum Stadtplatz. Bis dato hab ich sowieso alles aus Büchern gelernt. Hmm … Dort im Regal hatte ich letztes Mal doch etwas gesehen … Was war das noch? Wie ein Magnet zog mich das Hobby-Regal an: Sport, Spiel, Schach … Da war’s! Dave Finnigan. Alles über die Kunst des Jonglierens.
Zu Hause schlachtete ich mein Sparschwein. Der Spielzeugladen hatte noch auf. Vier Jonglierbälle kaufte ich. Hübsche farbige Dinger aus Leder. Fühlten sich gut in der Hand an.
Am Abend feierten Oma und ich mit einem Käsekuchen und frisch gepresstem Orangensaft meinen zehnten Geburtstag. Mutter rief an dem Tag nicht mehr an.
Schon am Abend nach der Feier fing ich mit den Bällen an. Nur Omi wusste Bescheid. Meine Mitschüler sollten sich ihr Gaudi anderswo holen. Ich warf also Bälle in die Luft. Eine Stunde am Tag. Monate brauchte ich, bis nur zwei Bälle kurz zusammen in der Luft blieben. Fühlte sich ganz derbe an, Mann! Eine krasse Tat! Krass wie’n Osterei! Wahnsinn! Konnte ich wirklich jonglieren lernen? Klar dauerte die Suche nach den Bällen mindestens so lange wie das Üben – Bälle sind halt rund. Sie hüpfen dir aus den Händen, kullern weg und verstecken sich vor dir. Wo bist du hingerollt, du blöder Ball? Um die Bälle abzufangen, stand ich am Bett, aber ohne Bücken ging gar nichts! Willst du was lernen, dann bück dich! Am Anfang schlugen meine Hände zu wie zwei irre Baseballschläger. Vorsicht! Der Ball kommt! Bumm rechts! Bumm links! Hätte das jemand gefilmt, hätte er den Freakfilm-Bambi des Jahres gekriegt. Hin und wieder musste Omi neue Fensterscheiben einsetzen lassen. Und einmal knallte ich das eingerahmte Foto meiner Familie ab: »Quatro Qualm beim Todessprung.« Und hop von der Wand! Zum Glück ließ es Omi nicht mehr einrahmen.
An meinem zwölften Geburtstag gab mir Kathrin in unserer Sandgrube einen Kuss. Und davon bekam ich eine Vergiftung. Na ja, nicht direkt von dem Kuss. Aber der Kuss hat mich in’nen derben Rausch gekickt! Bin von unseren Sandhöhlen runtergesprungen, zu dem Baum mit den Killerbienen gerast und hab meine Hand hineingesteckt.
»Bejb!«, brüllte Kathrin von oben. »Was machst du da?«
»Ich hol dir etwas Honig!«, brüllte ich zurück. Ja, das war’ne Idee! Nur schnell’ne Hand voll Honig schöpfen, hinauf zu Kathrin und schon würde sie mir aus der Hand lecken.
»Es ist doch erst März!«, rief Kathrin. »Die Bienen haben noch keinen Honig!«
Ja, Scheiße! Honig hab ich tatsächlich nicht erwischt im Loch. Dafür einen Stich und noch einen. Au! Photonenschnell zog ich meine Hand heraus. An ihr hing wie an einem Magnet ein ganzer Bienenschwarm. Verdammte Kacke! Nichts wie weg hier! Und schon düste ich den Weg runter. Mit’nem Bienenschwarm am Arsch! Haut ab, ihr Monsterbienen! Nur die Viecher nicht zu Kathrin führen. Die Bienen stachen, als wären sie auf Crack. Auuuh! Drei, vier, fünf … »Aaaah! Scheiße!« … neun, zehn Stiche! Und hop über den Busch! Wie bei Winnie Puuh. Nur viel dramatischer! War das nicht zum Heulen? Der erste Kuss, und schwupp: Für einen Monat musste ich ins Krankenhaus. Zehn krasse Bienenstiche. Zu allem Überfluss hat sich ein Stich am Fußknöchel entzündet, eine kleine Blutvergiftung, der Fuß musste aufgeschlitzt werden.
Ins Krankenhaus brachte Kathrin mir ein Buch über Bienen und ähnliche Stechviecher. Schon damals hatte sie diese Anflüge, mich zu belehren! Aber diese Bienen, die sind echt hemmungslos! Hast du schon von den männlichen Bienen, von den Drohnen, gehört? Mann! Sie treiben’s mit der Königin, legen sich dann für ein paar Wochen auf die faule Haut, um zu relaxen, verstehst du, nur so … und werden von den weiblichen Bienen, den Arbeiterinnen, durchgefüttert – kann ja sein, dass die Königin stirbt und die Drohnen noch mal ranmüssen. Aber bald ist Schluss mit Hawaii. Wenn die Lage klar ist, werden die Drohnen von den Weibern abgestochen. Einfach so! Auf die marxistische Art. Weil sie nur abhängen und fressen. Das heißt dann die Drohnenschlacht. Krass, was? Pure Bitch, so eine Biene!
Den Geburtstag feierte ich mit Oma erst, als ich aus dem Krankenhaus kam. Für die Schule hatte mir Oma vier Packungen Möwenpickeis gekauft. Kathrin mochte Karamelleis. Das Eis ging weg wie Biokondome. Sogar Tobi klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Tobi war mein Vorbild in der Schule. Beliebt, aber auf die angenehme Art. Lauter Einser, und doch ständig am Spielen. »Der Tobi!«, sagte Oma manchmal, »der wird’s ganz weit bringen!«
»Wollen wir zur Sandgrube?«, fragte ich Kathrin nach der Schule im Hof.
»Ich kann heute nicht, Bejb!«, sagte sie. »Ich muss …« Drei andere Mädchen aus unserer Klasse schwärmten aus der Schule heraus, sie zogen Kathrin mit. »Bis morgen, Bejb!« Und weg war sie.
Verdammt! Kathrin! Warum konnten wir nicht mehr so schön in unseren Sandsteinhöhlen spielen wie früher? Dachte sie am Ende, dass sie mich vergiftet hätte? Mädchen denken so was … Ach, Quatsch! Kathrin war halt mit zwölf ein richtiges Mädchen geworden. Und ich? Na, klar! Für die Mädchen war ich zu viel Junge, für die Jungen zu wenig. Da waren Tobi oder Olli, der Checker, ein anderes Kaliber …
Seit meinem zwölften Geburtstag ist Kathrin also nicht mehr in die Sandgrube mitgekommen. Pilze mit mir zu sammeln, das war noch okay, aber in die Sandgrube? Nee … Da lief nichts mehr. Auch in der Bücherei haben wir uns weiter gesehen, aber … irgendwie anders. Plötzlich kam sie mir verdammt komisch vor. Wollte mir nicht mehr aus Wild Thing vorlesen. Laberte lieber mit den anderen Mädchen als mit mir. Wir spielten nicht mehr zusammen. Auch wenn ich mit Oma weiterhin Kathrins Mutter besuchte. Zum Kuchenessen. Meistens gab’s Zwetschgenstreusel. Aber ohne Sahne. Und das war’s. Allerdings ging Oma in der letzten Zeit nicht mehr so oft zu Kathrins Mutter. Lag wohl an Kathrins Vater, der ein Arschloch hoch zwei war. Machte auf Spaßvogel und so: Furzte und rülpste laut und lachte drüber und erwartete, dass du auch drüber lachst. Wenn du nicht gelacht hast, war er sauer auf dich. Echt lustig, was? So’ne Furznummer, meine ich! Leider ziemlich abgedroschen. Viel Geschick gehört auch nicht dazu. Nur ein paar Bohnen oder so …
Aber nicht nur das. Kathrins Vater dachte sich außerdem noch die schlechtesten Witze der Welt aus und vertrieb sie auf diesen pseudo-witzigen Internetseiten: Bei uns lachen Sie sich einen ab … Das hatte mir Kathrin erzählt, die ihn selbst zum Kotzen findet. Oberpeinlich, der Typ halt. Einmal hatte er Kathrin in der Schule abgeholt. Trug damals ein »wirklich abgefahrenes« T-Shirt – vorne mit dem Spruch »Ich bin komisch«, und hinten stand »Ich auch«. Ha, ha, ha … War das kein Brüller? Auf sein Auto hatte er sich den Spruch geklebt: »Bitte Abstand halten, so gut kennen wir uns ja gar nicht.« Und genau solchen Dünnschiss bekamst du von seinem AB zu hören. Wenn du so was zehnmal hintereinander abgekriegt hattest, mochtest du da nicht mehr anrufen. Sonst platzten vor lauter Lachen deine Hämos. Witzig zum Abkacken. Kathrin redete nicht gern von ihm. Zum Glück leitete er im Nachbardorf eine Autowerkstatt und ließ sich nur sehr wenig zu Hause blicken. Manchmal kam mir zu Ohren, dass er’s mit seinen Kundinnen trieb. Ich erzählte Kathrin nie was davon. Wahrscheinlich wusste sie’s ja selbst.
Zwei Jahre hab ich gebraucht, um zwei Bälle hochzuwerfen und zu fangen: mit derselben Hand. Und viele weitere Monate übte ich das Werfen von einer Hand in die andere. Echt spannend! Mit fünfzehn, nach fünf Jahren Übung, schaffte ich vier Bälle. Und plötzlich mochte ich meine Hände. Sie konnten jonglieren. Ich war ein ganz normaler Heranwachsender geworden. Der sich halt hin und wieder in krasse Lagen brachte. Oder?
Doch für die Leute in Afterheim bin ich der Freak geblieben. Auch wenn ich meine Glieder schon im Griff hatte (na ja, nicht alle …). Die Leute kannten mich ja seit dem Kindergarten. Als mir noch alles aus den Händen fiel, als mich jeder vom Spiel wegschubsen konnte, als ich mir manchmal in die Hose pisste vor Angst. Jedes Baby am Sandkasten durfte mir zeigen, wo’s langging. Wenn mich Oma nicht am Periskop hatte, blies irgendein Tigerling sofort seine Milchmuskeln auf und ging auf mich los. Aha! Du willst mich auch vermöbeln, Arschgesicht? Nichts leichter als das. Ich brauchte nur am Sandkasten aufzutauchen, und schon wurde zur Attacke geblasen. Irgendein Rambino mit Windeln im Hirn fand sich immer. Gleich musste er zeigen, dass sein Vater den richtigen Saft verspritzt hatte. Der Schlimmste war Olli, der Muskelprotz, der übte schon damals seine Karateschläge an mir. War ja zwei Jahre älter als ich. Oma hat mich später immer vor ihm gewarnt. Ich erinnerte mich ja nicht mehr so gut an den Sandkasten. Aber Olli hat mich auch in der Schule hin und wieder verdroschen. Ich war nun mal sein Lieblingssandsack.
Manche Kinder beschützten mich mit der Zeit, na klar. In der Sechsten hatte Tobi dem Olli gesagt, er solle sich andere Opfer suchen als mich. Seitdem ließ mich Olli in Ruhe. Er hatte jetzt sowieso echte Sandsäcke in seiner Karateschule hängen. Klar war ich dankbar für ein bisschen Hilfe. Leider hat mich so was noch weiter in die Falle getrieben. Echt peinlich, dass mich ein gleichaltriger Junge an die Hand nehmen musste! Das bescherte mir auch meinen rühmlichen Spitznamen: der Bejb! Mit der Zeit wusste keiner mehr, wie ich richtig hieß. Nicht mal die Lehrer. Man nannte mich Bejb. Von Baby, weißt du?
Klar half mir auch meine Oma dabei, meinen Ruf zu vernichten.’ne echte Quasselstrippe war sie. Total hemmungslos! Vor allem was mein Privatleben anging. Jeden zweiten Tag flitzte sie in die Apotheke in Afterheim. Dort arbeitete damals noch Dora, Kathrins Mutter. Zum Glück ist die Apotheke irgendwann Pleite gegangen. Dank der Globalisierung! Seitdem muss Dora nach Mönchhausen in die Arbeit fahren.
Ich bin also etwa zwölf, komme mit der Oma in die Apotheke und Oma brüllt gleich über den ganzen Laden: »Dora, wir brauchen Kamillentee!«
»Hast du Magenprobleme, Anna?«
»Nein! Aber Robert hat da unten eine Entzündung. Direkt an der Vorhaut! Hat sich sicher wieder schlecht gewaschen. Ich muss ihm jetzt Spülbäder machen …«
Aber hallo! Die ganze Apotheke hat sich schlapp gelacht. Mit zwölf schwor ich mir, mit Oma nie mehr einen öffentlichen Raum zu betreten.
Zu allem Überfluss war ich der Zweitkleinste in der Klasse. Wenn mich meine Mitschülerinnen sahen, begann bei ihnen die Milch zu tropfen. Sogar Kathrin sprach auf einmal wie eine Lehrerin mit mir: »Das kannst du machen, Bejb, das nicht …« Offensichtlich weckte ich nur ihren Muttertrieb. Wo mich selbst schon ganz andere Triebe beherrschten! Mit vierzehn tobten Stürme in meinem Körper. Hormonstürme! Als ich nach den Ferien in der achten Klasse auftauchte, hatte sich für mich die Welt von Grund auf verändert. Die Welt bestand nur noch aus Brüsten! »Ja, Scheiße!«
»Warum schimpfst du gleich?«, fragte Kathrin. Sie stand neben mir in der Klassentür und verströmte Düfte. Wie’ne Frühlingswiese, auf die man sich gern legen würde. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass Kathrin nicht bloß nett und intelligent war … Ich sagte nichts, ich glotzte wie Robinson, als Freitag auf seiner Insel auftauchte. Mannomann! Auch die anderen Mädchen in der Klasse trugen keine Zöpfe mehr – sie trugen Möpse! Ja, Wahnsinn! Warum war mir das nicht vor den Ferien aufgefallen, he?
»Leck mich!«, sagte ich.
»Na, hör mal, Bejb!«, sagte Kathrin. Sie lächelte ihr geheimnisvolles Lächeln, das alles bedeuten konnte: eine Reise zum Schatzplanet oder eins auf die Fresse. Oder beides zusammen und gleichzeitig. »Reiß dich zusammen!«, sagte sie.
»Was?« Ich drehte mich zu ihr um und wurde gleich mit ihren Brustwarzen konfrontiert, über die sich ihr weißes T-Shirt spannte wie ein Zirkuszelt. Noch vor den Ferien konntest du mit ihren Brüsten Murmeln spielen, jetzt dachte ich bei ihrem Anblick eher an einen Handball. Glotz, glotz!, machte ich, direkt von Auge zu Brustwarze. Kathrin war um einen halben Kopf größer als ich. Dieser Frau konnte ich nicht sagen: »Schau mir in die Augen, Kleines!«
»Verfickt!«, sagte ich. Mehr gab mein Wortschatz sowieso nicht her.
»Ach, Bejb!«, sagte Kathrin, schüttelte ihre blonde Mähne, auf der zwei Schmetterlinge herumschwirrten, und trippelte zu ihrer Bank. Die Frühlingswiese verduftete, ich glotzte dem grauen Schulalltag entgegen. Hausaufgaben und Entsagung. In der umgekehrten Reihenfolge. Noch vor den Ferien waren dir die Mädels mächtig auf den Sack gegangen, jetzt wolltest du sie gerade dort haben.
Alles wurde anders. In der siebten Klasse hatten die Jungs noch gestritten, wer der beste Gameboyspieler war, in der achten protzten sie mit ihren Sextaten. »Gestern hab ich’s der Metzgerin besorgt, bis die Blutwürste flogen …«
»Ja, ja … Wenn die Wurst Flügel hätte, gäbe es keinen besseren Vogel …«
»He?«
Klar machten sich jetzt die Mädchen lustig über uns … besser gesagt: über mich: »Am Bejb kannst du üben! Dem kannst du einen Kuss geben? Der ist noch kein richtiger Mann …«
»Was? Dem Bejb? Und wohin soll ich ihn küssen? Auf den Po, oder was? …«
»Na, warum nicht, wenn er die Windeln abnimmt …«
Gegen das Schicksal kannst du einfach nicht gewinnen. Immer neue Strategien dachte ich mir aus, immer neue Geschichten … Und immer fiel ich auf die Schnauze dabei. Ich musste einfach die Witzfigur der Schule spielen. Den unfreiwilligen Clown. Den Bejb halt! Nur Oma redete mich noch mit meinem richtigen Namen an: Robert!
Zum vierzehnten Geburtstag hatte ich von Oma eine Digitalkamera bekommen. Wahrscheinlich hat auf der Welt niemand so viele Fotos von Kathrin geschossen wie ich. Auch Oma blitzte ich sehr oft ab. Mit dem aufgeblühten Barbarazweig in der Küche zum Beispiel, im Hintergrund die Eisblumen am Fenster. Jedes Jahr an ihrem Namenstag, am 4. Dezember, am Barbaratag, steckte meine Oma einen Kirschzweig in die Vase. Kurz vor Weihnachten blühte der Zweig auf. Das war mein schönstes Foto von Oma: Oma mit blühendem Kirschzweig und Eisblumen.
Die Tiere kamen uns nur sporadisch besuchen. Ich blieb allein mit Oma in Afterheim. Und mit meinem Spitznamen. Ganz ehrlich: Der Bejb war wirklich die Härte für mich! Echt zum Kotzen, Mann! Wie ich diesen Scheißnamen hasste! Warum kannst du deine Kindheit nicht einfach abstreifen, wenn sie stinkt, ha? Wie Socken! Wieso konnte ich keinen männlichen Namen bekommen wie die anderen Jungs in der Schule? Rammbock zum Beispiel, oder Kasten, oder Jerry die Stirn, Hardy, Hans die Synapse, Andy Latte … Ich musste mir einen männlichen Spitznamen erkämpfen, keine Frage. Auch bei den Indianern wird ein Junge erst mit einem Kampfnamen zum Mann.
Leider war die Schule in Afterheim kein Indianerlager, sondern ein Ort der Demütigung. Wo ich auch hintrat, lag ein Scheißhaufen. Einmal erzählte Tobi vorne an der Schneckfront über eine Karateshow, die er in einem Nachbarort gesehen hatte. Vor allem über die Heldentaten von Olli, dem Depp, der mich früher immer so verdroschen hatte. Olli war die größte Nummer in Afterheim. Ging jetzt bei Kathrins Vater in die Lehre – als Automechaniker. Sehr beliebt. Sportler und Wichser. Wenn Olli vorbeistolzierte, hielten sich die Mädchen vor Begeisterung die Höschen fest.
»Boah! Mensch! Stellt euch vor, Olli hat mit der Handkante Ziegelsteine zertrümmert …«
»Das ist nicht schwer«, sagte ich, »das kann ich auch …«
»Ach, Bejb!«, sagte Kathrin. Die anderen Mädchen kicherten.
Ich krallte mir in der Klassenecke den Besen und legte ihn über zwei Schulbänke. »Lass das, Bejb!«, sagte Kathrin.
Jetzt nur nicht schlappmachen, Mann! Alle schauten zu. Die ganze Klasse. Ojda! Held werden mit einem Schlag! Berühmt sein ohne Ende! Fame! Das musste doch gehen, oder? Oft genug hatte ich’s in Karate-Filmen gesehen. In einer Doku hatte ein Karatelehrer mal gesagt: »Hier ist nicht die Stärke entscheidend, sondern die Schnelligkeit.« Na klar, Mann! Ich musste nur schnell genug mit der Handkante zuschlagen, dann würde der Besen wie ein trockenes Baguette brechen. Hau zu und scheiß drauf! Ich haute zu! Auuuh! Der Besen brach nicht. Die Hand schon! Zumindest fühlte sie sich so an. Aber nicht nur das! Der Besen federte zurück, sprang von der Bank auf mich zu und haute mir eins auf die Hirndose. Ich ging zu Boden. Wieder mal voll auf Slapstick, was? Real life from Afterheim! Peinlich wie Dany Küblböck! Die Mädchen halfen mir hochzukommen. »Ach, Bejb!«
»Spinnst du, du Depp?« Die Jungs röchelten vor Lachkrämpfen. Ich steckte die Hand in die Tasche. Das Fleisch fühlte sich verdammt roh an. Roh und derb! »Tut’s nicht weh?«, fragte Kathrin.
»Nööö!«, sagte Tobi.
»Das mach ich zu Hause mit Kieselsteinen!«, sagte ich. Die Klasse bekam’nen neuen Lachanfall.
»Ach, Bejb!«, sagte Kathrin. »Lass die Faxen!« Wie oft nur hatte ich diesen blöden Spruch gehört? Aber es gibt noch schlimmere Sprüche. Echt krasse Sprüche!
Ich beschloss, mich künftig nur noch Robert nennen zu lassen. Eigentlich ein guter Name. Aber auch der wurde zu einem schlechten, als Klara Klarova in unserer Schule auftauchte. Ihre Eltern waren Spätaussiedler aus Tschechien … Gleich in der ersten Pause erzählte sie den Mädchen irgendwelchen Schwachsinn über Prag. »In Prag ließen sich alle Mädchen die Brustwarzen piercen!«
»Ich lass mir meinen Sack piercen«, sagte ich. »Zwei Ringe unten an der Sacknaht. Hab schon’nen Termin …«
»Beim Zahnarzt, oder?«, sagte Nora.
»Ach, Bejb …«, sagte die Tschechin. Komisch. Sie wusste noch nicht, wie unser Klassenlehrer hieß, aber meinen Spitznamen kannte sie schon.
»Ich heiße Robert«, sagte ich.
»Robert?«, fragte sie. »Robertek?« Sie klatschte sich auf ihre fetten Oberschenkel und lachte.
»Was ist daran so lustig?«, fragte Kathrin.
»Auf Tschechisch heißt ›der kleine Robert‹ ›Robertek‹«, sagte Klara. »So nennt man in Tschechien’nen Dildo …«
»Was!?«
»Ja!«
»Hehe!«
Stimmt das überhaupt, Mann? Dass die Tschechen Robertek zu Dildo sagen? Wirklich? Scheiße! Egal. Bei uns damals haben’s die Weiber jedenfalls geglaubt. Meine Fresse! War das’ne Welle! Von Zeit zu Zeit war ja auch vorher schon etwas über mich geschwappt, diesmal aber war’s schlimmer als die Gülleflut: »Ach, Robert! Kannste’s mir besorgen?«, ist zum geflügelten Spruch der Mädchen aus unserer Klasse geworden. Und nicht nur in der Klasse! Der Spruch breitete sich in der Schule aus wie Windpocken. Sogar die ganz kleinen Mädchen, die aus der Fünften und Sechsten, riefen mir nach: »Ach, Robert, kannste’s mir besorgen?« Verfluchte Gören! Ich schäumte vor Wut. Warum heißen Dildos in Tschechien nicht einfach Bully oder Maximus oder Tutti-Frutti-Prickler, ha? So wie’s in den zivilisierten Ländern der Brauch ist? Warum kümmert sich die EU-Kommission nicht um so was, statt über den Gurkenpreis oder die Gulaschkochdauer zu labern?