Hirn gegen Hayley - Hayley Morris - E-Book
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Hirn gegen Hayley E-Book

Hayley Morris

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Beschreibung

Jeder kennt sie. Diese unerwünschte Stimme im Hinterkopf, die sich immer dann einmischt, wenn man sie am wenigsten braucht. Auch Hayley Morris hört diese Stimme im Kopf und hat sich lange gefragt, wer es eigentlich ist, der ihr da so nervig dazwischenfunkt. Inzwischen ist ihr klar: Es ist ihr Gehirn, das wie ein unkündbarer Mitbewohner in ihrem Kopf haust und ihr keinen Frieden gönnt. In Hirn gegen Hayley zeigt Hayley Morris auf ihre unnachahmlich charmante Art, dass es normal ist, sich zu viele Gedanken zu machen, dass man nicht seltsam ist, nur weil man eine belanglose Peinlichkeit noch Wochen später im Kopf wälzt, und dass es okay ist, manchmal vor lauter aufdringlichen Gedanken wie gelähmt zu sein, auch wenn man sich dabei oft merkwürdig fühlt.

  • Ein urkomisches Plädoyer fürs Zuvieldenken und das ideale Buch für alle Grübler, die sich endlich einmal richtig verstanden fühlen wollen
  • »TikToks lustigste Komikerin« – Sunday Times

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Seitenzahl: 322

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Führst du beim Duschen imaginäre Diskussionen mit dir selbst?

Lebst du in ständiger Angst, dass dein Partner dich pupsen hört?

Überanalysierst du andauernd jeden noch so kleinen Aspekt deines Lebens?

HIRN: Wir haben den Ofen angelassen! Wahrscheinlich brennt das Haus schon!

Es ist 6 Uhr morgens, warum sollte der Ofen an sein? Hör auf, mich abzulenken.

Wie auch immer, ich habe schon mein ganzes Leben lang mit aufdringlichen Gedanken, Panikattacken und Angstzuständen zu kämpfen und habe mir in diesem Buch zu alledem gründlich Gedanken gemacht, damit du das nicht mehr tun musst.

Ich spreche wirklich alles an: Von psychischer Gesundheit über Menstruationstassen bis hin zu diesen peinlichen Erinnerungen, die uns bis 3 Uhr morgens wach liegen lassen.

HIRN: Die Feuerwehrleute werden deine hässliche Unterwäsche sehen, die du im Bad gelassen hast …

Wo war ich … Ah ja, Ich kann euch vielleicht nicht eure Ängste nehmen oder dafür sorgen, dass ihr euch zu 100 % in eurer Haut wohlfühlt, aber ich hoffe, dass ich euch zumindest eine Pause vom ständigen Geplapper eures Gehirns verschaffen kann und dass wir uns freuen und darüber lachen können, wie ähnlich wir uns im Grunde alle sind.

HIRN: Ok, können wir jetzt bitte nach dem Ofen sehen?

NAGUT!

Hayley Georgia Morris, geboren 1993, ist eine britische Social-Media-Influencerin, Autorin und TikTok-Sensation. Vom Lockdown während der Corona-Pandemie gelangweilt, begann sie im Januar 2021 humorvolle und vollkommen tabulose Kurzvideos auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zu teilen, und hatte damit schnell Riesenerfolg. Mehr als 7 Millionen Menschen folgen ihr inzwischen auf ihren Kanälen, was sie zu einer der größten Digital-First-Komikerinnen überhaupt macht. Für ihre Videos wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2021 von Blogosphere als »TikToker of the Year« und 2022 als »Sunday Times Face to know«. 2023 veröffentlichte sie mit Hirn gegen Hayley (Me vs. Brain) ihr erstes Buch. Morris lebt auf der Isle of Wight an der Südküste Englands.

Hayley Morris

LEIDFADEN VON EINER, DIE SICHZU VIELE GEDANKEN MACHT

Aus dem Englischenvon Constanze Wehnes undLina Robertz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Me vs. Brain bei Century, einem Imprint von CORNERSTONE. CORNERSTONE ist Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 2023

© by Hayley Morris 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Isabella Kortz

Covergestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung eines Fotos von: David Reiss photographyund eines Designs von: Holly Ovenden

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31097-4V003

www.heyne.de

Für meinen Dad,

sorry, dass es in diesem Buch dauernd um Kacka und Muschifürze geht

Einführung

Hi, ich bin’s, Hayley.

Als die Leute vom Penguin Verlag mir vorgeschlagen haben, ein Buch zu schreiben, war mein erster Gedanke:

Na logo, ich will unbedingt ein Buch schreiben! Bis Mittwoch habt ihr mindestens tausend Seiten, verlasst euch drauf. Ach was, zweitausend, wenn nicht mehr. Wie lang darf ein Buch eigentlich werden? Und worüber schreibt man da so? Was, wenn ich einfach tausendmal das gleiche Wort schreibe? Sieht es dann überhaupt noch aus wie ein Wort? Vielleicht drehe ich beim Schreiben ja endgültig durch. Vielleicht wird es das längste Buch, das jemals geschrieben wurde. Leere Seiten sollen ja sehr inspirierend sein …

Und natürlich kam dann auch sofort die Panik. Kaum hatte ich die ersten Wörter – diese Wörter – geschrieben, fragte ich mich, ob ich überhaupt wusste, worauf ich mich da eingelassen hatte. Was, wenn ich gar kein Buch schreiben kann? Vielleicht bin ich nicht gut genug? Ich denke dauernd, dass ich nicht gut genug bin, weil ich es immer allen recht machen will und dabei natürlich völlig absurde Ansprüche an mich selbst stelle. Außerdem bin ich ein Supercooles-aber-eigentlich-superängstliches-Mädel™. Dann ist mir wieder eingefallen, was der große Ernest Hemingway angeblich mal gesagt hat: »Betrunken schreiben, nüchtern lektorieren.«

Wenn dieser alte, mittlerweile leider tote Typ Tausende von Büchern schreiben konnte, obwohl er total hacke war, dann werde ich ja wohl ein einziges hinbekommen. Außerdem habe ich jemanden, der für mich lektoriert, ich kann also ununterbrochen bechern. So wie immer. Spaß beiseite, in Wahrheit bin ich ziemlich langweilig und hasse es, einen Kater zu haben.

Während ich hier so sitze und mit meinen lächerlichen kleinen Händen auf meinem lächerlichen kleinen Laptop herumtippe, denke ich, dass wir eigentlich nie wissen, worauf wir uns einlassen. Zumindest hoffe ich, dass es nicht nur mir so geht; dass ich nicht die Einzige bin, die irgendwie durchs Leben stolpert und einen Fehler nach dem anderen macht. Vielleicht hinterfragen andere beim Schreiben auch jedes Wort dreimal.

Solange ich denken kann, war eigentlich immer Lärm in meinem Kopf. Und zwar keine Soundtracks von Filmen oder gute Ratschläge von irgendwelchen freundlichen Geistern, sondern eine ganz bestimmte Stimme. Eine Zeit lang dachte ich mal, es wäre mein inneres Kind, aber dann ist mir aufgegangen, dass mein inneres Kind unmöglich so gemein sein könnte – in allen Erinnerungen, die ich an mich selbst als Kind habe, finde ich mich eigentlich ziemlich süß und niedlich. Die Stimme sagt mir mit Vorliebe, was ich alles nicht kann. Aber damit nicht genug. Manchmal, zum Beispiel, wenn ich gerade abspüle, taucht die Stimme plötzlich aus dem Nichts auf und sagt so etwas wie: Bald wirst du sterben.

Ich will gar nicht abstreiten, dass ich irgendwann sterben werde. Dieses Schicksal erwartet uns alle (viel Spaß bei meinem Buch, ich verspreche euch, dass es nicht immer so düster ist), aber muss ich ausgerechnet jetzt über die Unausweichlichkeit des Todes nachgrübeln, wo ich gerade dabei bin, einem Teller ein nettes Schaumbad zu verpassen? Nein, danke. Immer wieder überrascht mich die Stimme mit irgendwelchen Bemerkungen, Erinnerungen und Ablenkungsmanövern, von banal bis brutal:

Dein Freund liebt dich nicht.

Wenn das nächste Auto blau ist, kriegst du deinen Traumjob, wenn nicht, wirst du für immer unglücklich sein.

Alle Menschen, die du liebst, werden sterben.

In dieser Jeans siehst du aus wie Rumpelstilzchen, und das ist kein Kompliment.

Es kommt vor, dass die Stimme recht hat – manchmal sehe ich tatsächlich aus wie Rumpelstilzchen, und ich weiß, dass das kein Kompliment ist. Na und? Vielleicht sehe ich mit Absicht aus wie das fiese kleine Männchen aus dem Märchen und starte damit einen neuen Trend? Dann muss ich ausnahmsweise mal keine neuen Klamotten kaufen. Mode ist sowieso komisch, erfinde lieber deinen eigenen Stil (das klingt verdächtig nach einer Giorgio-Armani-Werbung, oder?).

Abends im Bett ist die Stimme besonders laut. Sie hält mich wach, indem sie mir die Dinge ins Ohr flüstert, vor denen ich mich am meisten fürchte. Sie jammert mir vor, dass ich morgen total unausgeschlafen sein werde. So geht das, bis der Wecker klingelt. Und wenn ich mich dann todmüde aus dem Bett quäle, sagt sie, ich hätte halt nicht die ganze Nacht grübeln sollen und dass wir jetzt besser bei der Arbeit anrufen, uns krankmelden und zurück ins Bett kriechen. Ich kann nur verlieren.

Die Stimme ist in meinem Kopf, aber sie ist nicht ich. Es ist Hirn. Ich, Hayley, bin ein ausgeglichener, ruhiger und verhältnismäßig guter Mensch, wage ich zu behaupten. Hirn nicht. Sie ist verwirrt, nervtötend und liegt eigentlich immer falsch. Ich würde nicht sagen, dass Hirn und ich Freundinnen sind – wir sind eher so etwas wie Mitbewohnerinnen, wobei sie in meinem Kopf haust, ohne Miete zu bezahlen, und all meine Sachen benutzt, ohne vorher zu fragen. Sie schläft sogar in meinem Bett, und das geht für Mitbewohnerinnen eindeutig zu weit, wenn du mich fragst. Wenn es ginge, würde ich Hirn operativ entfernen lassen. Dann könnte sie in einem Einmachglas auf meinem Schreibtisch wohnen, da würde sie richtig hübsch aussehen, und ich hätte endlich meine Ruhe.

HIRN: Du kannst mich nicht einfach in einem Glas auf deinem Schreibtisch halten. Dann würdest du nämlich sterben, und ich weiß zufällig, dass du auf gar keinen Fall sterben willst, weil du nämlich jedes Mal, wenn ich dir sage, dass wir sterben, sagst: »Nein, alles in Ordnung, uns geht’s gut.« Dabei hast du gerade selbst zugegeben, dass wir irgendwann sterben, falls du es nicht mehr weißt.

Andererseits haben Hirn und ich schon so viel zusammen durchgemacht – auch wenn sie es meistens versaut. Immer macht sie mich schlecht, sie ist furchtbar pessimistisch und heckt dauernd irgendetwas aus, um mich in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Wegen ihr musste ich nicht nur die Arzt- und Zahnarztpraxis, sondern auch den Friseursalon wechseln – bei denen kann ich mich nie wieder blicken lassen. Vielleicht hast du auch so ein Hirn, dann weißt du, was ich meine. Und wenn nicht, wird dir dieses Buch eine völlig neue Welt öffnen: Willkommen in der Welt der Zuvieldenker:innen.

In diesem Buch geht es um die Reise mit meinem schrecklich anstrengenden und geschwätzigen Hirn, darum, wie wir gelernt haben, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Ich hoffe, dass du beim Lesen feststellst, dass du nicht allein bist und so ein verrücktes Hirn ganz normal ist. Wer weiß, vielleicht können Menschen und Hirne eines Tages sogar friedlich zusammenarbeiten und eine bessere Welt für uns alle erschaffen.

HIRN: O Gott, was für ein peinlicher Satz. Bitte nimm meinen Namen aus dem Titel, ich will auf gar keinen Fall mit diesem Buch in Verbindung gebracht werden. Vielleicht wäre es besser, du würdest überhaupt kein Buch schreiben.

Zu spät, jetzt habe ich schon angefangen …

Ich vs. Intrusive Gedanken

Gegen ein feines kleines Drama hatte ich noch nie etwas einzuwenden. Mein perfektes Abendprogramm sieht in etwa so aus:

1. Akt: Ein streitendes Paar am Nebentisch, der Typ hat ganz eindeutig Mist gebaut, und das Mädel hat ihn auf die Hörner genommen.

2. Akt: Eine Meinungsverschiedenheit im Pub, der Kunde ist König, aber das Personal bekommt nicht genug Geld, um einfach nett lächelnd nachzugeben, und bleibt stattdessen stur.

3. Akt: Ein Kräftemessen zwischen einem Jugendlichen, der im Bus in voller Lautstärke irgendein Spiel auf seinem Smartphone daddelt, und einer Frau, die der Meinung ist, öffentliche Transportmittel sollten ein Ort der Ruhe und Meditation sein.

Wie gesagt, für ein bisschen Drama im Leben der anderen bin ich immer zu haben. Aber in meinem eigenen Leben? Nein, danke. Das ist nichts für mich, Leute.

Trotzdem spiele ich in meiner eigenen Existenz eindeutig die Hauptrolle. Als Jugendliche bin ich durch unser Haus spaziert und habe vor erfundenen Kameras für meine erfundene Reality-Show Hayley hängt im Haus ab posiert. Wie eine Bloggerin kommentierte ich meine unglaublich schlechte Make-up-Routine und kochte Nudeln, als würden Heerscharen von Fans mir begeistert von zu Hause aus zusehen. Manchmal vergaß ich dabei sogar, dass meine Sendung gar nicht echt war, und überzeugt davon, dass mein damaliger Schwarm mir zusah, räumte ich die Spülmaschine noch ein bisschen verführerischer aus als sonst. Ups, habe ich grade echt einen sexy Squat gemacht, um den Geschirrspüler-Tab aus dem Schrank zu holen? Das war nur für dich, Nathan.

Eigentlich hat mich vor allem die Stimme aus dem Off – so habe ich sie am Anfang genannt – zur Hauptperson gemacht. Von morgens bis abends war da diese Stimme in meinem Kopf, die jede einzelne meiner Bewegungen kommentierte – und es war nicht meine eigene Stimme. Ich lebte in meinem persönlichen Film, aber ich fühlte mich ganz und gar nicht wie ein Star. Als es das erste Mal passierte, war ich sechs Jahre alt. Ich war gerade in einer Disney-Phase und hatte die ganzen traurigen Filme gesehen, in denen die Eltern von irgendwelchen Tierkindern sterben. Wer ist bloß auf so eine bescheuerte Idee gekommen? Sollen diese Filme Eltern etwa dabei helfen, mit ihren Kindern über den Tod zu sprechen? Ein ziemlich traumatisierendes Erlebnis, wenn man mich fragt. Ich bin immer noch nicht über den Tod von Bambis Mutter hinweg. (Achtung Spoiler.)

Eines Abends, ich lag schon im Bett und war kurz davor einzuschlafen, flüsterte mir die Stimme ins Ohr: Stell dir vor, deine Eltern sterben auch plötzlich. Woher kam diese Stimme? Ich wusste es nicht. Es war weder meine noch die von Mum oder Dad, und auch nicht die von einem der Disney-Charaktere. Solche Gedanken hatte ich vorher noch nie gehabt. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass meine Eltern sterben könnten, eine Welt ohne sie konnte ich mir einfach nicht vorstellen. An jenem Abend weinte ich mich in den Schlaf.

Mit der Zeit wurde die Off-Stimme zu einer ständigen Begleiterin. Von morgens bis abends, von dem Moment, in dem ich aufwachte, bis zur Sekunde, in der ich einschlief, musste ich mir anhören, wie sie meinen Tag beschrieb, mir Fragen stellte und mir neue, oft furchterregende Gedanken in den Kopf pflanzte.

Mit fünfzehn ergatterte ich meinen ersten richtigen Job – als Kellnerin. Wenn ich bei der Arbeit war und meine immer gleichen, monotonen Aufgaben erledigte, war die Stimme meistens still. Und dann, an einem ganz normalen Sonntag, als ich gerade ein Tablett mit Gläsern zu einem Tisch trug, hörte ich sie: Was, wenn du plötzlich stolperst und mit dem Gesicht in einem Haufen Glasscherben landest?

Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass die Stimme vielleicht die Zukunft vorhersagte. Ich stellte sie mir vor wie eine von diesen unheimlichen Wahrsagerinnen. In Filmen spielt die Off-Stimme eine wichtige Rolle – sie leitet die Szene ein, erklärt, was vorher passiert ist, und liefert uns die wichtigsten Informationen zur Hauptperson. In meinem Fall waren das Informationen über mich selbst, die mir allerdings vollkommen neu waren. Schnell stellte ich das Tablett ab und suchte mir eine harmlosere Aufgabe: Besteck polieren.

Doch so schnell gab die Off-Stimme nicht auf: Die Steakmesser, hm? Die sehen echt scharf aus. Das tut bestimmt ordentlich weh, wenn du dir damit aus Versehen in den Bauch stichst. An diesem Tag blieben die Steakmesser unpoliert, die Gäste bekamen keine Getränke, und ich … ich war meinen ersten Job gleich wieder los. Überraschung!

Als ich mit siebzehn endlich den Führerschein machen durfte, bot Dad an, mit mir zu üben – in meinem neuen Auto. Er hatte auch meinem Bruder das Autofahren beigebracht, der zwar nicht beim ersten, aber immerhin beim zweiten Mal bestanden hatte, ich wusste also, dass ich in guten Händen war. Mit meinem Dad an meiner Seite, der mir mit ruhiger Stimme jeden Handgriff erklärte, fühlte ich mich sicher. So sicher, dass ich drei Monate später meinen Führerschein in der Hand hielt. Die Straßen der Isle of Wight warteten nur darauf, von mir erobert zu werden.

Die Musik auf voller Lautstärke brause ich also meine Lieblingswege entlang, links nie enden wollende, saftig grüne Felder und rechts das strahlend blaue Meer. Und zwischen mir und dem Meer? Nur die Klippenkante und ein freier Fall. Gar. Kein. Problem.

Fahr über die Klippe.

Was? O mein Gott, nein! Ich drehe die Musik leiser, damit ich besser sehen kann. Bin ich zu nah an der Kante? Ich muss sofort anhalten, ich bin eine Gefahr für mich und alle anderen. Ich sollte jemanden anrufen und mich abholen lassen. Ein paar Meter weiter halte ich auf einem staubigen Parkplatz und krame nach meinem Handy. Wen rufe ich an? Meine Eltern? Aber was soll ich ihnen sagen?

Eine echte Zwickmühle. Ich habe Angst, den Motor anzumachen, Angst, dass ich tatsächlich über die Klippe fahre, aber wenn ich jetzt meine Eltern anrufe und ihnen von den merkwürdigen Einfällen der Off-Stimme erzähle, dann nehmen sie mir garantiert meinen Führerschein weg und zwingen mich, das Auto zu verkaufen. Ich wäre meine neu errungene Freiheit gleich wieder los und müsste mich mit dem nicht existenten öffentlichen Nahverkehr der Isle of Wight begnügen.

Also stecke ich mein Handy wieder ins Handschuhfach, drücke auf Play und fahre vom Parkplatz – Spiegel, Blinker, Schulterblick. Auf keinen Fall lasse ich mir meine Freiheit wegnehmen! Für den Rest der Fahrt schmettere ich aus voller Kehle und in Dauerschleife »Unwritten« von Natasha Bedingfield. Wenn die Off-Stimme wieder etwas sagt, höre ich ihr einfach nicht zu.

Ein paar Wochen später düse ich über die Autobahn nach Brighton, auf dem Weg zu meinem allerersten Uni-Semester. Es ist ein berauschendes Gefühl. Die Autobahn ist dreispurig, und ich bin für die Überholspur geboren. Ich tue so, als wüsste ich nicht, dass man auf der ganzen Insel nur achtzig fahren darf, ich fühle mich wild und frei. Mir fällt gar nicht auf, dass die CD, die ich eingelegt habe (um die Off-Stimme zu übertönen) durchgelaufen ist. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, die Autofahrt und das wundervolle Gefühl der Freiheit zu genießen.

TRITTAUFDIEBREMSE!

Ohne Vorwarnung ist die Off-Stimme wieder da, lauter als je zuvor.

FAHRINDIEMITTELPLANKE! MACH, DASSDASAUTOSICHÜBERSCHLÄGT!

ZIEHDIEHANDBREMSE!

Das Auto schwankt leicht, als ich das Lenkrad fester packe. Vorsichtig ordne ich mich auf der langsameren Spur ein. Die Off-Stimme flüstert mir ins Ohr:

Reiß die Tür auf und schmeiß dich aus dem Auto.

Ich taste nach dem Autoradio. Ich muss die Stimme übertönen. Sie ist gefährlich – sie will nicht, dass es mir gut geht, sie will Nervenkitzel, Gefahr, Tod. Ich höre auf, nach der Play-Taste zu suchen, und konzentriere mich auf die Straße. Ich versuche, die Stimme zu ignorieren. Weil ich den Rest des Weges im Schneckentempo zurücklege, komme ich eine Stunde später an als gedacht, und als ich mein Studentenwohnheim erreiche, würde ich mich am liebsten auf die Erde werfen und den Boden küssen, so dankbar bin ich, dass ich es geschafft habe.

Während meiner Zeit an der Uni ist die Off-Stimme überall dabei. Es ist ein bisschen so, als würde ich in den Final Destination-Filmen leben – eine Reihe von Horrorfilmen, in denen eine Gruppe Jugendlicher immer wieder dem Tod entkommt, nur um kurz darauf von ihm eingeholt zu werden. Nicht gerade das, was man sich für die Ersti-Woche wünscht, was?

Jeden Tag sagt mir die Stimme, ich solle aus dem Fenster springen, mich vom Balkon stürzen oder vor einen Zug werfen. Jeden Tag kämpfe ich dagegen an. Die Stimme verlangt vollkommen absurde Dinge von mir. Mein Handy aus dem Fenster schmeißen zum Beispiel, die Vogelkacke von Autos lecken oder in die Getränke anderer Leute spucken. Eines Tages habe ich ein Einzelgespräch mit meiner Dozentin und versuche, ihre Fragen zu meinem Essay zu beantworten, in dem es darum geht, wie das Internet das Fernsehen verdrängt. Es sind viele Fragen. Da meldet sich die Off-Stimme wieder zu Wort:

Küss sie.

Okay, das ist neu. Wo kommt das denn jetzt her? Bin ich etwa in meine Dozentin verknallt? Habe ich Gefühle für sie entwickelt, die ich besser nicht haben sollte? Ist das der Beginn des größten Liebesskandals, den meine Uni je gesehen hat? Mit mir als Hauptperson? Plötzlich sind da Bilder von uns in Hochzeitskleidern in meinem Kopf, und ich frage mich, ob sie wohl ihren Job verliert. Wenn sie sich meinetwegen gegen ihre Karriere entscheidet, wird sie mich letzten Endes bestimmt dafür hassen. Na toll, das kann ja nur schlecht ausgehen.

Die Dozentin spricht über meinen Essay, als wäre nichts gewesen: »Diesen Vergleich hier, zum Beispiel, finde ich wirklich interessant …«

Die Off-Stimme unterbricht sie. Los, küss sie auf den Mund.

Nein, hör auf. Garantiert küsse ich sie nicht auf den Mund.

Dann schlag ihr auf die Stirn.

Wieso denn das? Natürlich nicht. O Gott, stell dir vor, was dann passiert. Wahrscheinlich würde ich von der Uni fliegen. Da küsse ich sie ja noch lieber.

Die Dozentin hat aufgehört zu reden.

Bestimmt kann sie hören, was wir denken.

Was? Nein, das geht doch gar nicht, oder?

Verwirrt sieht die Dozentin mich an. »Also, was meinen Sie dazu?«

Die Off-Stimme schlägt vor, »Fotze« zu rufen und aus dem Raum zu rennen. Zugegeben: Eine besonders gute Alternative habe ich nicht. Stattdessen behaupte ich, dass ich Kopfschmerzen habe und mich nicht konzentrieren kann. Verständlicherweise ist sie genervt – ein erster Streit unter Liebenden? Sie beendet das Gespräch und ruft die nächste Studentin herein.

Irgendwie schaffe ich es durchs Studium. Stolpere durchs Leben. Die Off-Stimme immer im Schlepptau.

Eine meiner Freundinnen bekommt ihr erstes Baby, und als ich das süße, kleine, stupsnasige, gerade frisch geschlüpfte Ding im Arm halte, höre ich die Stimme: Lass es fallen.

Vor Schreck erstarre ich.

Lass es fallen und verpass ihm einen Tritt.

Ohne Vorwarnung drücke ich meiner Freundin ihr Baby wieder in die Arme. Mir darf man so etwas Kostbares auf keinen Fall anvertrauen.

Natürlich mache ich nicht, was die Off-Stimme will, aber ich passe genau auf, was sie sagt. Mehr als früher. Ich muss wachsam bleiben. Vielleicht bin ich tatsächlich die Art Person, die ihre Dozentin küssen, ein Baby fallen lassen oder das Auto über die Klippe fahren würde. Ich nehme jede einzelne ihrer Ideen als Warnung.

Jahre später, in denen die Off-Stimme in meinem Leben für viel Chaos gesorgt hat, beschließe ich endlich, dass es an der Zeit ist, jemandem von ihr zu erzählen. Sobald ich darüber nachdenke, kann ich nicht fassen, dass ich vorher nie auf die Idee gekommen bin. Eigentlich komisch, dass die Stimme es nicht selbst vorgeschlagen hat. Was ist selbstzerstörerischer, als sein tiefstes, dunkelstes Geheimnis zu verraten? Aber vielleicht hat sie gedacht, dass ich dann sediert und weggesperrt werde und in meinem Kopf vor lauter Nebel kein Platz mehr für sie ist.

Als meine beste Freundin und ich die Strandpromenade entlanggehen, drehe ich mich also zu ihr um und erzähle ihr alles. Ich kotze die Worte regelrecht aus und beobachte sie dabei, wie sie mich beobachtet.

Erst sagt sie gar nichts. Dann gibt sie zu: »Seit wir losgelaufen sind, habe ich mir schon ungefähr achtmal vorgestellt, dich von der Mauer zu schubsen.«

O mein Gott, was für ein Monster, will sie mich etwa umbringen? Oder ist sie …? Sind wir …? Sind wir etwa deshalb beste Freundinnen, weil wir beide Psychopathinnen sind?

Wir fragen Google und finden heraus, dass es da draußen Tausende von Menschen gibt, die mit einer Off-Stimme leben. Nur, dass es nicht Off-Stimme heißt, sondern »intrusive Gedanken«. Auf Französisch heißt es l’appel du vide, was irgendwie sexy und mysteriös klingt, finde ich.

Und anscheinend sind intrusive Gedanken auch ziemlich normal. Nur weil man sie hat, bedeutet das noch längst nicht, dass man sich selbst oder andere Menschen umbringen will. Es sind eben nur Gedanken. Und es gibt eine ganze Reihe davon. Welche Art genau dich heimsucht, ist ein nettes, kleines Russisch Roulette. Du bist nicht gut genug, nicht witzig genug, nicht sexy genug oder Das hast du gar nicht verdient sind nur ein paar Beispiele. Die Off-Stimme flüstert dir vielleicht Dinge zu, wie: Du hast doch überhaupt keine Gehaltserhöhung verdient, Du bist keine Künstlerin, du hast null Talent oder Du bist ein wertloses Stück Scheiße und niemand mag dich. Ganz normal eben.

Vielleicht drehen sich deine intrusiven Gedanken auch um Sex, und du fühlst dich total pervers, weil du dir vorstellst, wie es wohl wäre, deine Dozentin zu küssen, oder wie Paare beim Geschlechtsverkehr aussehen. Vor allem, wenn es Leute sind, die du dir eigentlich auf gar keinen Fall beim Sex vorstellen willst, wie das ältere Ehepaar, das immer auf der Bank vor deinem Haus sitzt. Obwohl es natürlich schön ist, dass sie noch genug Pep und nicht zu große Probleme mit den Gelenken haben. Trotzdem kann ich auf die Details gut und gerne verzichten. Es ist nämlich gar nicht so einfach, zwei älteren Herrschaften in die Augen zu gucken, wenn deine intrusiven Gedanken dir kurz vorher ein Bild von ihnen in der 69er-Stellung beschert haben.

Ich habe herausgefunden, dass diese Gedanken nicht dazu da sind, einem das Leben unnötig schwer zu machen, sondern dass unsere Gehirne einfach nur versuchen, uns zu beschützen, indem sie sich das Schlimmste ausmalen. Im Grunde sind die intrusiven Gedanken das Gegenteil von dem, was du eigentlich willst. Ich fühle mich also nicht mehr ganz so schlecht, weil ich mir vorgestellt habe, was Betty und Norman hinter verschlossenen Türen treiben.

Mit diesem neuen Wissen als Waffe beschließe ich, der Off-Stimme – oder Hirn, wie ich sie heute nenne – nicht kampflos das Feld zu überlassen. Sie ist ein Teil von mir, aber mehr auch nicht. Manchmal sind wir uns einig und manchmal nicht. Manchmal hat sie recht, aber meistens liegt sie falsch.

Ich gegen Hirn ist das neue Motto.

Wie Hirn Chatnachrichten interpretiert

Montag Morgen. Während mein Freund weiterschlafen darf, habe ich mich aus dem Bett in mein Auto gequält – überhaupt nicht bereit für einen neuen Tag. Ich habe total vergessen, meinem Freund Tschüss zu sagen, weil der frühmorgendliche Streit zwischen zwei Nachbar:innen meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Wegen diesem Streit komme ich noch zu spät zur Arbeit, außerdem befürchte ich, dass ich vergessen habe, Deo zu benutzen. Ich mache den Schnüffeltest: Unauffällig stecke ich den Finger in meine Achselhöhle und rieche daran, indem ich so tue, als würde ich mich an der Nase kratzen. Ich habe definitiv kein Deo benutzt! Mist!

Mein Handy plingt, und eine Nachricht von meinem Freund leuchtet auf.

FREUND: Morgen.

HIRN: Moment mal, das klingt irgendwie abweisend, oder?

Ich lese die Nachricht noch ein paarmal.

Vielleicht war es eher ein »Mooor-geeen«, so eine Art fröhlicher Singsang.

HIRN: Dann hätte er es mit Ausrufezeichen geschrieben. Er ist sauer auf uns, und das weißt du genau.

Vielleicht war es ein einfaches, effizientes und vollkommen neutrales »Morgen«, so wie wenn wir morgens zusammen aufstehen und er mir persönlich einen guten Morgen wünscht.

HIRN: Wo ist dann der Smiley? Nein, er ist definitiv wütend.

Vielleicht ist er tatsächlich böse auf mich. Ich antworte: Guten Morgen, wie geht’s dir heute?

FREUND: Gut, und dir?

HIRN: Oha! Das ist ja noch schlimmer, als ich dachte. Er hat nicht mal Danke gesagt.

Ich finde eigentlich, dass es eine legitime Antwort auf meine Frage ist. Oder nicht?

HIRN: Auf gar keinen Fall. Ganz offensichtlich ist er angepisst, weil wir abgehauen sind, ohne uns zu verabschieden. Er denkt, dass er uns egal ist und dass wir stinken.

Ich kriege Panik, und zwar nicht nur, weil ich kein Deo benutzt habe. Habe ich etwa Mist gebaut? Zur Sicherheit sollte ich mich entschuldigen.

ICH: Mir geht’s gut, danke. Tut mir leid, dass ich heute Morgen einfach so gegangen bin. Janine und Bill haben sich schon wieder über den Müll gestritten.

FREUND: Haha, kein Problem. Bin eh gerade erst aufgestanden.

HIRN: O Gott, er hat einen Punkt benutzt. Los, ruf die Polizei. Das könnte böse enden.

Was, wieso? Weil er die Grundlagen der Zeichensetzung beherrscht?

HIRN: Zeichensetzung benutzt man in E-Mails. Aber ganz sicher nicht in einer Textnachricht an die Liebe seines Lebens.

Ach, komm schon. Du übertreibst, alles ist gut.

HIRN: Wenn alles gut ist, warum fragst du ihn dann nicht einfach, ob er böse auf uns ist?

Wenn du darauf bestehst …

ICH: Ach so, okay. Ich wollte nur sichergehen, dass zwischen uns alles in Ordnung ist?

FREUND: Klar, warum auch nicht?

HIRN: Fuck! Das hast du ja super hingekriegt. Garantiert macht er gleich Schluss. Los, wir müssen mehr rausfinden.

Wie konnte nur so schnell alles so schiefgehen? Gerade haben wir uns noch Guten Morgen gewünscht, und jetzt machen wir Schluss? Schnell tippe ich meine Antwort ein.

ICH: Ich frage nur, weil du ein bisschen komisch bist heute Morgen. Sicher, dass alles in Ordnung ist?

FREUND: Ja, alles gut. Ich bin nicht komisch.

HIRN: Ach. Du. Scheiße. Zwei Punkte hintereinander. Wir sind so was von erledigt. Sag ihm, dass wir wissen, was die Punkte bedeuten.

Ich bin empört. Er kann doch nicht ernsthaft Schluss machen, nur weil ich vergessen habe, mich heute Morgen von ihm zu verabschieden. Jetzt fange ich auch noch an zu schwitzen, bestimmt ist der Gestank mittlerweile unerträglich. Außerdem bin ich viel zu spät dran. Und eine Abmahnung kann ich wirklich nicht gebrauchen.

ICH: Ich finde es nur ein bisschen komisch, dass du so viele Punkte verwendest und so tust, als ob alles in Ordnung sei, obwohl ganz offensichtlich nicht alles in Ordnung ist.

FREUND: Du benutzt auch Punkte, Hayley. Ich hab dir doch gesagt, dass alles gut ist. Ist bei dir alles gut?

HIRN: Er will Streit? Den kann er haben!

Das Handy klingelt, es ist mein Freund.

Er versichert mir, dass alles gut ist. Er ist nicht sauer auf mich. Puh, noch mal Glück gehabt.

HIRN: Außer er lügt.

Ich vs. Identität

Ich war unglaublich gerne ein Kind. Kind zu sein ist einfach. Deine Eltern wecken dich, suchen dir was zum Anziehen raus, machen dir Essen, chauffieren dich überallhin. Wie eine winzige Königin mit riesigen Diener:innen. Kinder müssen niemals Entscheidungen treffen.

Als Erwachsene verbringe ich viel zu viel Zeit damit, mich fertig zu machen, bevor ich das Haus verlasse. Es fängt harmlos an: Ich sitze vor dem Spiegel und schminke mich. Ich schminke mich immer genau gleich. Einerseits, weil ich nicht besonders gut im Schminken bin, vor allem aber, um den ewigen Entscheidungsbaum des Lebens etwas zu stutzen. Wenn ich auch noch Smokey Eyes, eine Cut Crease, einen Soft Glam oder No-Make-up-Look könnte, würden die Äste des Baums nie aufhören zu wachsen. In meinem Fall gilt also: Ignoranz gleich Effizienz. Als Nächstes mache ich meine Haare auf eine von zwei möglichen Arten: Offen und gewellt oder eng anliegend und streng zurückgekämmt in einen tief sitzenden Zopf, wozu ich das Fett von meiner Kopfhaut verwende. So weit, so gut.

Der nächste Schritt ist dann schon nicht mehr so einfach, jetzt werden die Dinge mitunter unschön. Ich öffne die Tür meines Kleiderschranks und enthülle meine Auswahl an Klamotten. Die Hälfte meiner Garderobe ist schwarz, die zweithäufigste Farbe ist Weiß, dann kommt Grün, und dann gibt es noch einzelne orange blaue und pinke Farbkleckse. Ich hasse alle meine Klamotten. Ich starre in das Kleiderchaos und spüre, wie sich an meinem Hinterkopf ein unangenehmer Druck aufbaut, während ich verzweifelt nach einem Outfit suche.

HIRN: Wir haben nichts zum Anziehen.

Blöderweise hat sie recht. Es ist nicht so, dass ich nicht genug Klamotten besitze – ich habe sogar eindeutig zu viele –, aber sie sehen alle doof aus. Ein Sammelsurium von verschiedenen Identitäten, die ich in den letzten zehn Jahren anprobiert habe. Dabei habe ich mich davon inspirieren lassen, wer bei Instagram gerade die coolsten Styles hatte. Lackhose und gerüschtes Bandeau-Top? Kein Problem, schon habe ich mich bei Vinted eingeloggt, um das Outfit nachzukaufen. Irgendwann kommen die Pakete dann an, und obwohl ich weiß, dass es vollkommen unverantwortlich ist, sich so viele Klamotten liefern zu lassen, ist mir das in diesem Moment egal. In den Pappkartons wartet eine neue, bessere Version meiner selbst. Ich reiße die Verpackungen auf, und sofort verschwindet meine Euphorie: Wie konnte ich je glauben, dass Gothic-Punk-Rave mein neuer Stil sei? Die gute alte Kaufreue setzt ein, und ich fühle mich schuldig. Ich bin eine verschwenderische und lächerliche Person, die den Planeten zerstören will. Ich hasse mich. Und meine neuesten Anschaffungen verschwinden in der Kleiderhölle meines Schranks.

Stattdessen ziehe ich Basic-Outfit Nummer 1 an: Jeans und ein weißes T-Shirt. Schlicht und einfach.

HIRN: Da ist sie wieder, unsere Miss Langweilig.

Okay, zugegeben. Gestern hatte ich genau das Gleiche an. Und vorgestern auch. Vielleicht bin ich langweilig.

Ich probiere Outfit Nummer 2 an: ein schwarzes Kleid. Hübsch, nicht zu auffällig, aber trotzdem ein bisschen was anderes.

HIRN: O mein Gott! Sind wir etwa schwanger?

UTERUS: (Schnappt nach Luft) Wir kriegen Zwillinge!

Ernsthaft? Sieht es so schlimm aus? Im Laden fand ich es eigentlich ganz gut. Dezent, ja, aber auch irgendwie chic. Und die Verkäuferin hat gesagt, dass ich toll darin aussehe.

HIRN: Sie hat natürlich gelogen, Erbsenhirn.

Ich werfe das Kleid auf den wachsenden Berg aus Klamotten, die ich schon mit dem unsichtbaren Etikett »Secondhandladen« versehen habe und die trotzdem immer wieder in meinem Schrank landen.

Nächstes Outfit. Aller guten Dinge sind drei. Ich probiere es mit einem langärmeligen, grünen Midikleid, das ich vor fünf Jahren gekauft habe. Dazu Knöchelsocken und Sneakers.

BRÜSTE: Du machst wohl Witze.

Ich gucke zu den Mädels runter. Sie sind gut versteckt, ich weiß gar nicht, was sie haben.

BRÜSTE: Seit wann bist du denn so prüde? Schämst du dich etwa für uns?

Nein. Das heißt, manchmal schon, aber nur, weil ich keine Lust habe, dass fremde Männer euch anstarren, obwohl sie überhaupt kein Recht dazu haben.

Eine Stunde später sieht mein Schlafzimmer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, ich trage wieder mein langweiliges, altes weißes T-Shirt und frage mich zum tausendsten Mal: Wer zur Hölle bin ich eigentlich? Natürlich machen Kleider keine Leute, aber für gewöhnlich sind sie ein guter Anhaltspunkt. Laut meiner Garderobe bin ich also ein Goth-Punk-Cowboy, der gerne auf Raves geht, es manchmal aber auch superschlicht mag.

Strumpfhosen und Turnanzug

Als Jugendliche wusste ich, dass ich einmal Tänzerin werden würde. Meine Uniform bestand aus Strumpfhosen und Turnanzug, beides trug ich fünf Tage die Woche, um nach der Schule trainieren zu gehen. Im Stepptanz war ich eine Niete. Ich habe es gehasst. Ich musste dabei immer daran denken, wie jemand eine Aluminiumdose mit dem Fuß zerquetscht, das habe ich mal in der Kindersendung Blue Peter gesehen. Keine Ahnung warum, aber das Bild hat sich in mein Gehirn eingebrannt und flammt immer auf, wenn jemand diesen albernen Hüpfer macht. Ballett habe ich genauso gehasst. Viel zu diszipliniert und ernst. Und warum muss das Haar dabei unbedingt am Kopf kleben und in einen Zopf gezwängt werden? Damals wusste ich noch nicht, dass genau dieser fettige, angeklebte Zopf später zu einem echten Lebensretter werden würde. Jazz dagegen habe ich geliebt. Nur beim Jazz konnte ich – das stille, schüchterne Kind – so richtig loslassen. Wie wild durch den ganzen Raum hüpfen, als wäre ich die Backgroundtänzerin von Britney Spears, war genau mein Ding! Ich habe zeitgleich mit meiner Cousine mit dem Tanzen angefangen. Irgendwann gegen Ende unserer Schulzeit wurde dann klar, dass sie ihr Glück als professionelle Tänzerin versuchen würde. Mein sehnlichster Wunsch war es, Britney Spears zu werden, Backgroundtänzerin reichte mir nicht mehr. Außerdem wollte ich einen roten Catsuit und eine echte Schlange als Halskette – eindeutig realistischere Wünsche. Nachdem ich mich von meiner Cousine verabschiedet hatte, die an die Royal Ballet School ging, hängte ich meine Strumpfhose endgültig an den Nagel, bereit für das Leben als Popstar.

Topshop-Blazer

Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so leicht war, ein Popstar zu werden. Sogar noch schwieriger als Primaballerina. Kein Problem, dann wurde ich eben Rundfunkjournalistin. Ich hatte weder die Stimme noch die Power eines Popstars, und Sprechen schien mir einfacher als Singen, außerdem habe ich schon immer gern vor der Kamera gestanden. Ich habe einen Platz in einem tollen Studiengang bekommen, meine schicksten Shirts und elegantesten Blazer von Topshop eingepackt und bin losgezogen, um das Fernsehen zu revolutionieren. Mit Nachrichten und … solchen Sachen halt. Du weißt schon.

Am Anfang lief es gut. Meine Noten waren okay, ich konnte ein bisschen Berufserfahrung sammeln, aber es hat sich irgendwie nicht richtig angefühlt. Die meiste Zeit war ich mies drauf. Vielleicht lag es daran, dass die meisten Nachrichten schlechte Nachrichten sind und ich den Leuten damit den Tag ruinierte. Ich weiß nicht, ob du in letzter Zeit Nachrichten geschaut hast, aber da draußen ist echt die Hölle los. Ganz selten darf man vielleicht mal berichten, dass ein Welpe eine Katze gerettet hat, aber in neunundneunzig Prozent der Fälle geht es um Politik, Krieg und andere deprimierende Dinge. Als ich mit dem Studium fertig war, wusste ich, dass es nicht das richtige für mich war, aber hey, immerhin hatte ich jetzt einen hübschen Studienkredit, der mich noch lange an dieses Kapitel in meinem Leben erinnern würde.

Pencil-Skirts und Ballerinas

Trotzdem war die frischgebackene Absolventin in mir bereit zu zeigen, was sie draufhatte. Und schlappe acht Monate später sollte ich endlich die Gelegenheit dazu bekommen. Alle hatten mir immer gesagt, dass man nach dem Studium unbedingt nach London ziehen müsse – anscheinend erfüllen sich in London alle deine Träume von selbst. Also bin ich nach London gezogen. Nach gefühlt hundert Absagen, genau an dem Tag, an dem meine maximale Kontoüberziehung erreicht war, bekam ich eine Stelle als Praktikantin in einer Beauty-Firma. Jeden Tag um 7:30 Uhr spazierte ich in Pencil-Skirt, einer Schickimickibluse und Ballerinas ins Büro und machte mich daran, Anrufe zu beantworten und PowerPoint-Präsentationen zu erstellen, um meine viel ältere Chefin zu beeindrucken.

Das Problem daran, in London zu leben, war, dass ich aus irgendeinem Grund immer mehr ausgab, als ich verdiente, dabei kaufte ich mir noch nicht mal irgendwelche tollen Sachen. Allein den Fuß vor die Tür zu setzen schien ein Vermögen zu kosten. Ich war derart knapp bei Kasse, dass ich lieber zweieinhalb Stunden nach Hause lief, als das Geld für ein Zugticket auszugeben. Irgendwann habe ich angefangen, nebenher im Restaurant bei mir um die Ecke zu jobben, um mir etwas dazuzuverdienen. Wochenlang sah ich niemanden, nicht mal meine Freund:innen, die nur ein paar Minuten weit weg wohnten. Ich war am Ende meiner Kräfte.

Dann, eines Tages, beschloss ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Genug war genug. Und wie alle Zwanzigjährigen mit großen Träumen, wenig Geld und noch weniger Plan kaufte ich das günstigste One-Way-Ticket, das ich finden konnte, packte meine Koffer und flog nach Australien.

T-Shirts, Shorts und Rucksack

Der Greyhound-Bus setzte mich an einem besonders hübschen Straßenabschnitt kurz vor Cardwell an der australischen Ostküste ab, wo ich auf einer Bananenfarm arbeiten würde. Ich hatte ein altes T-Shirt und abgeschnittene Jeans an, aber es war mir vollkommen egal, wie ich aussah. Die Sonne schien, mein Handy war ausgeschaltet, und ich trug kein Make-up. Die Aussicht war so atemberaubend schön, dass ich mich fragte, ob sie echt war oder jemand sie per Green-Screen eingesetzt hatte. Niemand, der noch ganz bei Trost war, würde diese Aussicht aufgeben und jemals wieder weggehen. Das Meer war beinahe unnatürlich blau und erstreckte sich meilenweit, es schien direkt in den wolkenlosen Himmel überzugehen. Die Bäume am Straßenrand hatte ich noch nie gesehen, und überall blühten leuchtend bunte Blumen.

Jeden Tag packte ich Bananen in Kisten und stopfte mich zum Frühstück, Mittag- und Abendessen mit Bananen voll. Freitagabends gingen wir in die einzige Bar im Ort, um uns abzuschießen, und verbrachten dann den Samstag an einem nahe gelegenen Wasserfall, wo wir von Felsen aus in herrlich kristallklares Wasser hüpften. Aber das Allerbeste war, dass ich mit dem Traktor über die Plantage fahren durfte! Keine Frage, mein Leben auf der Bananenfarm war himmlisch, aber bekanntlich soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist, und außerdem hatte ich schon einen neuen Job in Aussicht.

100 % Polyester