Historisch reflektierte Osteopathie - Christian Hartmann - E-Book

Historisch reflektierte Osteopathie E-Book

Christian Hartmann

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Beschreibung

Eine spannende und weite Reise – auch jenseits des osteopathischen Horizonts! Will man die Identität bzw. das Identitäts-Chaos der gegenwärtigen Osteopathie verstehen, kommt man um ihre Geschichte nicht umhin, denn Identität ergibt sich niemals aus der alleinigen Gegenwartsanalyse. Diese Geschichte der Osteopathie beginnt nicht mit A.T. Still (1828-1917), dem Entdecker der Philosophie der Osteopathie, denn er selbst ist auch nur Teil eines viel größeren Bildes. Eines, das letztlich bis zu den kulturellen Anfängen der Menschheit zurückreicht. Soweit muss die Zeitreise auch gehen, will man die gegenwärtige Osteopathie also als Ganzes begreifen. Auf diese Zeitreise wird Sie das Buch mitnehmen. Dabei ist für Spannung gesorgt, denn durch eingestreute Reflexionen wird stets ein unmittelbarer Gegenwartsbezug hergestellt, bei dem interessante und zuweilen kritische Fragen und Gedanken auftauchen werden (z.B. Gibt es so etwas wie Pathophysiologie überhaupt?). Teil I – Heilphilosophien im Wandel Die Zeitreise des ersten Teils führt von der frühen Menschheit bis in die Entstehungszeit der Osteopathie Ende des 19. Jhdts., im Grenzland der USA. Sie werden mit wichtigen kulturhistorischen Rahmenbedingungen vertraut gemacht und wie diese die in ihnen entstandenen Heilphilosophien geprägt haben. Dabei werden wesentliche Inhalte schamanistischer Medizin, Priester-Medizin, Hippokratischer Medizin, klerikaler Medizin, heroischer Medizin und Schulmedizin, sowie deren Bedeutung für das therapeutische Selbstverständnis beleuchtet. Am Ende des ersten Teils versteht man: Ein vertieftes Verständnis einer Heilphilosophie ist ohne die Kenntnis der sie begründenden kulturellen Rahmenbedingungen mit ihrem Menschen- und Naturbild unmöglich. Man versteht: Die Bedeutung einer Heilphilosophie ergibt sich erst im Verhältnis zu anderen Heilphilosophien. Man versteht: Alle Heilphilosophien hängen mehr oder weniger miteinander zusammen. Man versteht: Es gibt mit der Konstitutions- und der krankheitsorientierten Medizin zwei grundsätzlich unterschiedliche therapeutische Denkschulen in der westlichen Welt. Und man versteht: Therapeutisches Denken und Fühlen der Gegenwart ist keine individuelle Leistung, sondern Ergebnis einer Jahrtausende alten Prägung. Mit diesem Rüstzeug im Gepäck folgt im zweiten Teil eine Betrachtung der Osteopathie. Teil II – Osteopathie Hier geht es vor allem um die ursprüngliche Osteopathie, ohne die eine moderne Osteopathie nicht verstanden werden kann. Wie im ersten Teil werden auch bezogen auf die ursprüngliche osteopathische Medizin zunächst wichtige kulturhistorische Rahmenbedingungen vorgestellt. Daraufhin folgt eine Vorstellung des Entdeckers der Osteopathie, des amerikanischen Landarztes A.T. Still (1828-1917), auf seiner Suche nach einer Reform im medizinischen Denken. An einigen Textfragmenten wird exemplarisch gezeigt, wie sich diese Suche bei Still schriftlich abbildet. Dabei wird auf Besonderheiten seiner Sprache eingegangen, ohne die ein Verständnis seiner Texte unmöglich ist. Schließlich erfolgt eine grobe Darlegung wesentlicher Inhalte von Stills ursprünglichen Philosophie der Osteopathie, wobei auf deren naturphilosophisches Fundament eingegangen wird. Anschließend erfolgt in der gewohnten historisch reflektierten Weise die Darstellung der wissenschaftliche Ausarbeitung von Stills ursprünglicher Philosophie der Osteopathie durch J.M. Littlejohn und Louisa Burns. Auch auf die medizinhistorische Bedeutung dieser Arbeiten wird kurz eingegangen. Es folgt eine skizzenhafte Beschreibung von W.G. Sutherlands kraniosakraler bzw. qualitativer Erweiterung der ursprünglichen Osteopathie. Themen wie Naturphilosophie, Wissenschaft, Metaphysik, Spiritualität, qualitative Wahrnehmung etc. tauchen hierbei auf und werden wie im ersten Teil in den gesonderten Bereichen gegenwartsbezogen reflektiert. Nach dieser Erarbeitung der ursprünglichen Osteopathie folgt eine kurze Darstellung der Gesamtentwicklung der Osteopathie seit der Gründerzeit. Da die gegenwärtige Osteopathie keine kohärente Identität besitzt, wird auf sie nicht mehr im Detail eingegangen. Vielmehr widmet sich der letzte Abschnitt den möglichen Gründen, die die Osteopathie in ihr aktuelles Identitäts-Chaos geführt haben könnten. Zurück in der Gegenwart Wieder in der Gegenwart angelangt, erkennen die Leser*innen: Auf wichtige Gegenwarts-Fragen, wie Was ist Osteopathie?, oder Was ist die Philosophie der Osteopathie? gibt es aus guten Gründen keine 'handliche' Antwort. Vielmehr erkennt man, dass eine als Ganzes Historisch reflektierte Osteopathie, d.h. eine Osteopathie, die eingebettet in ihre kultur- und medizinhistorischen Rahmenbedingungen betrachtet wird, weitaus mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten geben kann. Aber man erkennt auch, dass es die ernsthafte Beschäftigung mit genau diesen Fragen ist, die die gegenwärtige Osteopathie wieder zum dem transformieren könnte, was sie ursprünglich einmal war: eine philosophische Konstitutionsmedizin. Und vielleicht noch wichtiger: Ganz individuelle und persönliche Fragen, die mit der Lektüre dieses Buchs für die Leser*innen auftauchen, erschließen einen frischen Blick auf sich selbst und andere Menschen im therapeutischen Alltag.

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Christian Hartmann

Historisch reflektierte Osteopathie

Auf dem Weg zu einer philosophischen Konstitutionsmedizin

Impressum

TITEL

Historisch reflektierte Osteopathie

UNTERTITEL

Auf dem Weg zu einer philosophischen Konstitutionsmedizin

von Christian Hartmann

2. überarbeitete Auflage

ISBN 978-3-941-52378-4

© 2022, JOLANDOS Verlag

Hesseloherstr. 11, D-82396 Pähl

www.jolandos.de – [email protected]

Kapitel 6.1. von Martin Ingenfeld

Originalquelle: Mayer J. (Hg), Stanton C.: (Hg). Lehrbuch osteopathische Medizin,

München: Elsevier, 2017, S. 7–16. MfG des Elsevier-Verlags.

COVERENTWURF & SATZ

Christian Hartmann

TITELBILD

milieu word in a dictionary. milieu concept.

Quelle: www.clipdealer.de. Media-ID: A:107389455 von piotrkt

E-BOOK-HERSTELLUNG

Zeilenwert GmbH

Jede Verwertung von Auszügen dieser deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung des JOLANDOS Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

»Wer sich von der schädlichen Macht des Herkommens freimachen will, wird vielerlei entdecken können, was als unbezweifelbar hingestellt wird und was doch weiter keine Begründung hat als den weißen Bart und die Altersrunzeln, die damit verbunden sind. Man kann diese Maske abreißen, wenn man das Maß der Wahrheit und der Vernunft an die Dinge anlegt; aber wer das unternimmt, wird zunächst ein Gefühl haben, als wenn seine bisherige Art zu urteilen vollständig über den Haufen geworfen würde; später wird er jedoch merken, dass sein Urteil nun auf viel sichereren Basis ruht.«

Michel de Montaigne, 1580

Inhalt

Vorwort

Begriffe

Danksagung

Einführung – Heilphilosophien als großes Theater

Teil I Heilphilosophien im Wandel

1. Der frühe Mensch

Heilkunde der Frühzeit

2. Altertum

3. Antike

3.1 Philosophie

3.2 Hippokratische Medizin

3.3 Römisches Reich

3.4 Galenische Medizin

4. Christliche Dogmatik

4.1 Urchristentum

4.2 Staat und Kirche – Teil 1: römisch-katholische Kirche

4.3 Klöster

4.4 Staat und Kirche – Teil 2: Heiliges Römisches Reich

4.5 Gut und Böse

4.6 Transformation der Weltsicht

5. Neuzeit

5.1 Universitäten

5.2 Renaissance – Aufbruch in die Antike

5.3 Humanismus

5.4 Kirchenspaltung

5.5 Naturwissenschaftliche Revolution und Aufklärung

5.6 Allopathische Medizin

5.7 Allopathische Medizin im 19. Jahrhundert

Überleitung zu Teil II

Teil II Osteopathie

Vorbemerkung

6 Ursprüngliche Philosophie der Osteopathie 1: Philosophische Wurzeln – Andrew Taylor Still

6.1 Zeit und Umfeld

6.2 Biografie und Persönlichkeit

6.3 Ergänzende Erläuterungen

6.3.1 Verschiedenes

6.3.2 Eine (ver)besser(t)e Medizin entsteht

6.3.3 Lehre und Ausbildung

6.3.4 Rückzug und Veränderung

6.4 Veröffentlichungen und Sprache

6.5 Textauszüge

6.6 Stills Philosophie der Osteopathie – ein Entwurf

7 Ursprüngliche Philosophie der Osteopathie 2: Ausarbeitung und Erweiterung

7.1 John Martin Littlejohn – Osteopathie als biologische Wissenschaft

7.1.1 Biografie und Persönlichkeit

7.1.2 Veröffentlichungen

7.1.3 Werk

7.1.4 Ein haltloses Gerücht

7.1.5 Textauszüge

7.1.6 Bedeutung

7.2 Louisa Burns – Zellularphysiologie statt Zellularpathologie

7.2.1 Biografie & Persönlichkeit

7.2.2 Veröffentlichungen

7.2.3 Werk

7.2.4 Textauszüge

7.2.5 Bedeutung

Zusammenfassung von Kapitel 7.1. und 7.2

7.3 William Garner Sutherland – Kraniosakrale Osteopathie

7.3.1 Biografie & Persönlichkeit

7.3.2 Veröffentlichungen

7.3.3 Werk

7.3.4 Bedeutung

Zusammenfassung Kapitel 7

8. Gegenwärtige Osteopathie

8.1 Vorbemerkung

8.2 Techniken

8.3 Eine Erfolgsgeschichte

8.4 Drei Hauptströmungen

8.5 Identitäts-Chaos der Osteopathie

Fazit

Stills Vision

Literaturempfehlungen

Bibliografie (Auswahl)

Vorwort

Gender

Alle geschlechterspezifisch verwendeten Ausdrücke in diesem Buch sind gleichgeschlechtlich gemeint.

Zu diesem Buch

Im vorliegenden Buch finden Sie die wesentlichen Inhalte meines gleichlautenden Seminars Historisch reflektierte Osteopathie. Der darin präsentierte Wissensstand basiert auf dem Studium tausender Seiten Originalliteratur aus der Gründerzeit der Osteopathie über einen Zeitraum von etwa einem Vierteljahrhundert. Ergänzt und bereichert wurde diese Forschungsarbeit durch den kritischen Austausch mit anderen Experten im Bereich Geschichte und Philosophie der Osteopathie, deren Wissen ebenfalls auf einem kritischen Studium der osteopathischen Quelltexte aus der Gründerzeit beruht.

Erwarten Sie nicht zuviel. Meine umfangreiche Verlegertätigkeit bietet nicht jenes ruhige Umfeld, das nötig ist, um eine wissenschaftliche Ausarbeitung des komplexen Themenbereichs durchzuführen. Dennoch habe ich mich entschieden das Seminar in Buchform anzubieten. Diese Entscheidung verstehe ich als notwendigen Kompromiss aufgrund zahlreicher Anfragen seitens interessierter Seminarteilnehmer. Zudem glaube ich, dass auch ein breiteres Publikum von der Historisch reflektierten Osteopathie profitieren kann, geht es doch im Kern um grundlegende Fragen zum Menschen, insbesondere im Kontext des Heilwesens. Die fehlende Wissenschaftlichkeit hoffe ich in den kommenden Jahren nachliefern zu können. (Sollte mir dies nicht gelingen, sind die folgenden Generationen herzlich eingeladen, den Faden aufzunehmen und weiterzuspinnen.)

Auch bitte ich zu berücksichtigen, dass es sich bei Historisch reflektierte Osteopathie um den ersten Versuch handelt, sich der Osteopathie als Ganzes transdisziplinär bzw. universalgeschichtlich zu nähern. Da hierzu noch keine Literatur existiert, konnte ich wichtige Schlussfolgerungen nicht überprüfen. Dadurch ließ sich nicht vermeiden, dass manche Aussagen spekulativ sind, deren Überprüfung noch aussteht und zu der ich auch auffordere. Betrachten Sie die Spekulationen als Vorstufe und Anregung für einen kritischen Austausch insbesondere innerhalb der Osteopathie-Szene. Zwar habe ich mich bemüht diese Spekulationen so neutral wie möglich zu halten, dennoch dürften persönliche Verzerrungen entstanden sein. Den gut informierten Leser bitte ich diese Stellen mit neugieriger Skepsis zu lesen.

Manchen von Ihnen wird zudem auffallen, dass auf bekannte Heilphilosophien wie Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin, Chiropraktik etc. nicht eingegangen wird. Grund hierfür ist, dass Ziel des vorliegenden Buches nicht die Erarbeitung spezifischer Inhalte unterschiedlichster Heilphilosophien zu untersuchen und zu vergleichen. Vielmehr geht es darum, die Heilphilosophien der allopathischen Medizin und der Osteopathie zu betrachten und zu vergleichen, um dadurch allgemeine und für den Menschen innerhalb der therapeutischen Welt bedeutende Aspekte herauszuarbeiten.

Zum Inhalt

Motivation meiner Forschungsarbeit war stets, ein tieferes Verständnis der Osteopathie als Ganzes zu erlangen. Es ging mir also von Beginn an nicht nur um Inhalte, sondern auch um ihre Bedeutung innerhalb der Medizin- und Menschheitsgeschichte, sowie für den Menschen in seinem unmittelbaren therapeutischen Sein. Hierbei sind im Lauf der Jahre Prämissen entstanden, an denen ich mich bei meiner Arbeit zunehmend auszurichten versucht habe:

1) Die Osteopathie als Ganzes erschließt sich ausschließlich über die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie.

2) Die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie erschließt sich ausschließlich über das Studium der Originaltexte.

3) Die Originaltexte können nur innerhalb ihres Entstehungskontextes verstanden werden.

4) Die gesellschaftliche Bedeutung der über die ersten drei Prämissen erschlossenen Osteopathie als Ganzes kann nur im Verhältnis zur allopathischen Medizin der westlichen Welt erschlossen werden.

5) Die allopathische Medizin als Ganzes kann nur innerhalb des Entstehungskontextes von Heilphilosophien erschlossen werden.

Konsequenterweise beginnt die Zeitreise in Historisch reflektierter Osteopathie in umgekehrter Reihenfolge: Teil I (Heilphilosophien im Wandel) dient dazu, die allopathische Medizin als Ganzes besser zu verstehen. Erst in Teil II geht es um Osteopathie. Hier erfolgt zunächst eine Annäherung an eine mögliche ursprüngliche (Philosophie der) Osteopathie, der die Gegenüberstellung mit der Heilphilosophie der allopathischen Medizin folgt. Wie sich zeigen wird, eröffnet dieser umfassende Vorlauf einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Osteopathie. Dieser widmet sich das Buch skizzenhaft im letzten Abschnitt des zweiten Teils.

Ohne unmittelbaren Gegenwartsbezug sind historische Fakten meines Erachtens nach bedeutungslos. Daher unterbreche ich die Zeitreise immer wieder mit persönliche Reflexionen. Sie sollen das Nachdenken über Zusammenhänge anregen, die einen Bezug zu unserem täglichen Alltag haben.

Abschließend

Grundwissen, Methode, Technik, handwerkliche Fähigkeit oder Erfahrung sind für mich im therapeutischen Setting von sekundärer Bedeutung. Dies gilt auch für Patienten und sogar deren Wohlergehen. Für mich sind in ihm die Therapeuten als Menschen das Allerwichtigste. Ich betone: als Menschen! Nicht in einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle (Heiler, Guru, Halbgott in Weiß, Kunsthandwerker etc.). Daher liegt es mir auch am Herzen, Sie mit Historisch reflektierter Osteopathie nicht als Student, Schüler, Osteopath, Mediziner, Patient etc., sondern als Mensch anzusprechen.

Auch geht es mir nicht um Lehre und schon gar nicht um Belehrung. Es geht auch nicht um Zustimmung oder Ablehnung meiner Gedanken, sondern lediglich darum, sich auf eine Zeitreise einzulassen. Eine Zeitreise, die Ihnen hilft einen Blick von außen auf die Welt des Heilens, die Osteopathie als Ganzes, den Menschen und hoffentlich auf sich selbst werfen zu können. Nicht um sich zu bewerten, sondern um über sich selbst zu staunen und möglicherweise auch wohlwollend zu schmunzeln.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen viel Vergnügen beim Lesen dieses Buchs.

Christian Hartmann

Pähl, 19. Januar 2022

Begriffe

Nachfolgend die Deutung wichtiger Begriffe, so wie sie in diesem Buch verstanden werden. Es wird keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit gestellt.

HISTORISCH REFLEKTIERTE OSTEOPATHIE

Beschreibung der die Osteopathie als Ganzes im transdisziplinären und universalgeschichtlichen Kontext.

URSPRÜNGLICHE PHILOSOPHIE DER OSTEOPATHIE

Philosophie der Osteopathie, die aus den Quellentexten A. T. Stills, J.M. Littlejohns, Louisa Burns’ und W.G. Sutherlands abgeleitet werden kann.1

URSPRÜNGLICHE OSTEOPATHIE

Summe aller diagnostischen und therapeutischen Verfahren, die auf Basis der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie bzw. der daraus abgeleiteten Theorien zu Gesundheit und Krankheit appliziert werden. Als Handlungsfeld integraler Bestandteil der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie.

GEGENWÄRTIGE (PHILOSOPHIE DER) OSTEOPATHIE

Wie oben, aber bezogen auf Inhalte und Anwendungen, die in der gegenwärtigen Öffentlichkeit unter dem Begriff Osteopathie, Osteopathische Medizin, Osteopath, osteopathisch etc. im Verständnis einer therapeutischen Heilkunde erscheinen.

OSTEOPATHISCHE MEDIZIN

Die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie wurde von ihrem Entdecker und Namensgeber A.T. Still als grundsätzliche Reform der allopathischen Medizin verstanden. ALs solche widerspricht sie dem allopathischen Denken in wesentlichen Aspekten. Damit stellt der Begriff ›Osteopathische Medizin‹ ein Oxymoron dar (Begriff, der sich selbst widerspricht) und wird folgerichtig in diesem Buch nicht verwendet.

OSTEOPATHEN

Therapeuten, die eine – wie auch immer lautende – Philosophie der Osteopathie im klinischen Alltag umsetzen. Auf Attribute, wie ›wahrer‹ oder ›echter‹ wird verzichtet, weil die ursprüngliche Osteopathie noch nicht wissenschaftlich erarbeitet wurde und in der gegenwärtigen Osteopathie ein Identitäts-Chaos herrscht. Es fehlt damit ein glaubhafter Bezugspunkt für abgrenzende bzw. wertende Attributierungen.

Auf den Begriff ›Osteopathischer Mediziner‹ wird aufgrund der Argumentation zum vorigen Begriff ›Osteopathische Medizin‹ verzichtet.

THERAPEUTEN

Jeder Mensch, der sich beruflich oder privat fürsorglich um einen anderen Menschen kümmert.

ALLOPATHISCHE MEDIZIN

SYN.: SCHULMEDIZIN, GELEHRTE MEDIZIN, KRANKHEITSORIENTIERTE MEDIZIN, UNIVERSITÄRE MEDIZIN

Auch wenn die moderne allopathische Medizin zunehmend konstitutionelle Elemente beinhaltet, spielen diese sowohl im akademischen Kontext, wie im klinischen Alltag nur eine Nebenrolle. Gesellschaftlich, politisch, akademisch und im Praxisalltag herrscht die krankheitsorientierte Ausrichtung noch vor.2

MEDIZIN

Umfasst sämtliche heilkundlichen Philosophien, die eine Lehre über Prozesse von Gesundheit und Krankheit von Lebewesen beinhaltet und diese im klinischen Alltag umsetzt. Der Medizinbegriff ist demnach explizit keine Domäne der universitären Medizin. Folglich wird der Begriff im vorliegenden Buch im Sinn von Gesamtmedizin verwendet, in der die allopathische Medizin einen wichtigen Bestandteil darstellt.

KONSTITUTION

Summe aller Bedingungen, die auf einen Menschen einwirken und auf die er zurückwirkt. Die Konstitution drückt sich in der physikalischen Wirklichkeit in spezifischen Formen (körperliche Symptome, Verhalten etc.) aus.

(RAHMEN)BEDINGUNGEN – SYN.: MILIEU, FORMEN, UMSTÄNDE

Im Zusammenhang mit Heilphilosophien alle Einflüsse, die direkt oder indirekt die Konstitution eines Menschen und damit die biopsychosozialen Prozesse beeinflussen. Diese Einflüsse werden üblicherweise in ein inneres Milieu (›Organismus‹) und eine äußeres Milieu (›Umwelt‹) unterteilt. In der Wirklichkeit handelt es sich jedoch stets um eine untrennbare funktionelle Einheit.

PHILOSOPHIE

Versuch, die Wirklichkeit methodisch und rational zu ergründen und zu begreifen.

PHILOSOPHIEREN

Das Ein- und Ausüben mentaler und physischer Prozesse mit dem Ziel, die Phänomene der Welt verstehen zu wollen.

TRANSDISZIPLINÄR – SYN.: PHILOSOPHISCH

Anders als in der Interdisziplinarität, bei der sich getrennte Disziplinen fruchtbar miteinander austauschen, verschmelzen in der Transdisziplinarität alle Fachbereiche zu einer Einheit. Damit entspricht sie dem ursprünglichen Verständnis der Philosophie.

PHÄNOMENE

Strukturelle und funktionelle Erscheinungen in der Wirklichkeit.

Danksagung

Mein Dank gilt der kanadischen Osteopathin und wichtigsten Osteopathiehistorikerin der Gegenwart, Jane Stark D.O.M.P., dem Präsidenten des Museum of Osteopathic Medicine in Kirksville, Jason Haxton, und dem ehemaligen Präsidenten der A.T. Still University, Prof. Dr. James McGovern, sowie seiner Frau Rene McGovern für ihre Unterstützung im Bereich osteopathiehistorischer Forschung. Insbesondere ohne den langjährigen Austausch mit Jane Stark wäre dieses Werk undenkbar.

Für ein besseres Verständnis der zentralen Bedeutung der Philosophie insbesondere in der ursprünglichen Osteopathie bin ich Prof. Dr. Martin Pöttner und Andreas Grimm für ihre unzähligen Anregungen und ihr enormes Wissen zu Dank verpflichtet. Ohne sie hätte ich die größeren Zusammenhänge der ursprünglichen Osteopathie kaum erschließen können.

Auch danke ich den vielen Interessierten, mit denen ich mich über einen Zeitraum von fast 20 Jahre auf Kongressen am Buchstand meines JOLANDOS Verlags oder während meiner vielen Seminare unterhalten konnte. Dieser Austausch, aber auch jener mit meinen Patienten half mir besser zu verstehen, welche meiner Erkenntnisse nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen von Wert und Nutzen sein könnten.

Danken möchte ich auch Dirk Luthin für die kritische Durchsicht des ersten Teils in meines Buchs.

Schließlich gilt mein besonderer Dank meiner Lebensgefährtin Theresa, die während der Erstellung des Buchs auf viele Stunden gemeinsamen Erlebens verzichten musste. Ohne ihr geduldiges und verständiges Warten im Hintergrund hätte ich sicherlich nicht die Ruhe gefunden, dieses Buch neben dem hektischen Verlagsalltag zu schreiben.

Einführung – Heilphilosophien als großes Theater

Die meisten Heilphilosophien sind durch ein grundlegendes Muster verbunden, die das einem Theaterstück gleicht. Mit ihm möchte ich Sie in der Einführung vertraut machen, denn es erleichtert die Übertragung der Inhalte auf den therapeutischen Praxisalltag.

LEIDEN & SYMPTOME

Es liegt ein Leiden vor, das sich in Symptomen ausdrückt. Zudem liegt der Wunsch des Betroffenen vor, dieses Leiden zu lindern. Die Symptome erscheinen in der physikalischen Realität und sind damit empirisch erfassbar (z. B. Rötung der Haut, Fraktur des Knochens, Verdauungsstörungen, vegetative Veränderungen, Verhaltensauffälligkeiten bei psychischen Prozessen und Schmerzen etc.)

REALITÄTSVERDOPPELUNG (SYMPTOM URSACHE)

Aufgrund von Beobachtungen, Überlegungen und Erfahrungen entsteht innerhalb bestimmter kultureller Rahmenbedingungen eine Idee davon, was die Ursachen für die Symptome sind (Stand der Sterne, Zorn der Götter, Genetik, Ernährung, Autoimmunreaktion, energetische Dysbalance, Fehlhaltung, Karma etc.). Das daraus entstehende Erklärungsmodell ist rein theoretisch und damit metaphysisch. Somit wird die physikalische Realität der Symptome durch die metaphysische Realität des Erklärungsmodells verdoppelt und zugeordnet.3

GEHEIMCODIERUNG

Jedes Erklärungsmodell wird durch spezifische Ausdrücke codiert, damit sich die Experten der betreffenden Heilphilosophie besser austauschen können. Da diese Codierung normalen Menschen nicht vertraut ist, erscheint sie ihnen als Geheimwissen. Menschen mit Zugang zu diesem Geheimwissen, wird daher eine besondere Heilmacht zugeschrieben, was wiederum ihren magischen Status begründet.

RITUALE & UTENSILIEN

Jede Heilphilosophie hat ihre ganz speziellen Rituale (Tanz, OP-Vorbereitung, Spritze aufziehen, Behandlungsbank herrichten, Hände waschen, Rezeptblock zücken, Ansprache, Praxisabläufe, Opferrituale etc.). Sie dienen der Wiedererkennung und Versicherung der Heilphilosophie. Und sie setzen spezifische Rahmenbedingungen, in denen eine ganz bestimmte Erwartungshaltung entsteht und ein dazu passender ebenfalls ganz spezifischer Heilzauber angewendet wird. Gleiches gilt für sämtliche während der Rituale verwendeten Utensilien (Stethoskop, Kräuter, Würfel, Federschmuck, Kerzen, OP-Besteck, Trommeln etc.).

Reflexion

Stellen Sie sich einen Herzchirurgen vor, der halbnackt und mit Federn geschmückt zum Klang von Trommeln in den OP tanzt. Oder einen Schamanen, der im Anzug und weißen Kittel mit Stethoskop um den Hals hinter einem Schreibtisch sitzt, am Computer arbeitet und Sie zur Begrüßung als erstes bittet, ein Formular auszufüllen. Stellen Sie sich weiterhin vor, Sie wären im ersten Fall ein westlicher Durchschnittsbürger, der noch nie Kontakt mit magischer Medizin hatte, und im zweiten eine Amazonas-Indianerin, die den Regenwald noch nie verlassen hat. Würden Sie den beiden Magiern vertrauen?

UNBEDINGTER GLAUBE

Glauben mehrere Menschen oder Gruppen von Menschen an das Erklärungsmodell, entsteht eine intersubjektive Realität. Je stärker Heiler und Patienten an sie glauben, d. h. sie für wahr halten, um so mächtiger erscheint der damit verbundene Heilzauber. Der Glaube selbst beeinflusst seinerseits die Wahrnehmung der Glaubenden. Zeichen, Symptome, Strukturen, Funktionen etc. werden automatisch, d. h. unbewusst immer im Sinn des Erklärungsmodells gedeutet. Widersprüche werden nicht verarbeitet oder abgewehrt (so möglicherweise auch mein obiger Vergleich zwischen Heilphilosophien und Theaterstücken). Alles dient der Stärkung des Glauben an die selbst konstruierte Wahrheit.

Reflexion

Auch bei Naturwissenschaftlern kann es vorkommen, dass sie Forschungsergebnisse, die nicht zum eigenen Weltbild passen, unbewusst ignorieren. Dieser Mechanismus ist momentan auch gut bei Vertretern von Extrempositionen in Bezug auf die Klima- oder die Impffrage zu beobachten (auf beiden Seiten!). Hier lohnt es sich, im Zweifel für den Angeklagten zu sein: Die meisten von ihnen haben keine bösen Absichten, sondern lediglich Angst um ihren Glauben an ihre Wahrheiten.

HIERARCHISCHE ROLLEN

Wer Zugang zu der Geheimcodierung und dem aus ihm erwachsenden Heilzauber hat, erscheint mächtiger als jene Menschen, die diesen Zugang nicht besitzen. Entsprechend wird ihnen mehr Verantwortung zugesprochen, was zusätzlich zum hohen Status durch die ›magischen Fähigkeiten‹ automatisch zu einer gesellschaftlich anerkannten höheren hierarchischen Position führt.

OPFERGABEN

Sowohl der zu Heilende aber auch der Heiler müssen etwas geben, damit der Heilzauber auch wirken kann. Dies kann Geld, Hühner, Votive, Blut etc., aber auch Lebenszeit (Wochenenddienste, eine entbehrungsreiche Ausbildungszeit) sein. Entscheidend ist, dass diese Opfergaben im kulturellen Kontext des Opfernden einen besonderen Wert besitzen.

KRISE & INNERE NEUORDNUNG

Bei schweren Leiden handelt es sich häufig um Prozesse, die auf einen kritischen Höhepunkt, d. h. eine Krise zulaufen. In dieser häufig kurzen Zeitspanne der Entscheidung sind Heiler und zu Heilender ohnmächtig und nur die Wahrheit des Erklärungsmodells scheint über den weiteren Verlauf zu entscheiden.4 Ist eine schwere Krise überwunden, beginnt häufig ein neuer Abschnitt des Lebens. Leidensweg, Krise und Überwindung führen zu einer inneren Neuordnung, mit der man seine Lebensreise quasi ›gereinigt‹ fortsetzt. Das Theaterstück ist aus, man geht vor die Tür und sieht die Welt mit neuen Augen.

KOMPETENZ DURCH BEWEISE

Der Behandlungserfolg wird in der physikalischen Wirklichkeit sichtbar gemacht. Sei es durch Ausspucken des ›Bösen‹, die Mitgabe herausoperierter Gallensteine, die Normalanzeige auf dem Fieberthermometer, das plötzlich schöne Wetter, eine Sternschnuppe etc. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Mit diesem Wissen im Gepäck beginnen wir nun unsere Zeitreise und begeben uns auf die Suche nach dem, was sich hinter dem Begriff Osteopathie verbergen könnte.

Teil I

Heilphilosophien im Wandel

1.  Der frühe Mensch

Es wird vermutet, dass sich der Ast der Hominiden vor etwa 5–7 Millionen Jahren von den Schimpansen abspaltete und über die Jahrmillionen ein immer komplexer werdendes Sozialverhalten entwickelte. Schließlich tauchten vor ungefähr 120.000 Jahren die ersten Bestattungsrituale auf. Hier begann die erste Revolution des Menschen – die kognitive Revolution.

Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod setzte die spezifische Fähigkeit der Abstraktion voraus. Durch sie wurde es dem Menschen möglich, sich eine zweite Wirklichkeit jenseits der physikalischen Wirklichkeit, d. h. eine metaphysische Wirklichkeit zu konstruieren, eine Fähigkeit, die inzwischen auch in anderen Lebensformen nachgewiesen werden konnte. Allerdings erscheint der Grad der Abstraktionsfähigkeit dort weit weniger (oder anders?) komplex, als bei den Hominiden. Aufgrund seiner kognitiven Fähigkeit wird der Mensch als Homo sapiens1 klassifiziert.

Hinweise auf diese erste Weiterentwicklung der Abstraktionsfähigkeit zeigen sich vor allem in Höhlen- und Felswandmalereien. Sie tauchen nach heutigem Wissensstand mit dem Ende einer längeren Kälteperiode auf allen Kontinenten vor ca. 45.000 Jahren auf und wurden vermutlich von Schamanen angefertigt, deren Hauptaufgabe darin bestand, zwischen physischer und metaphysischer Welt zu kommunizieren.2 Man geht davon aus, dass die Höhlenzeichnungen in verschiedenen Kulturen unabhängig voneinander entwickelt wurden, was ein menschliches Kollektivbewusstsein vermuten lässt.

Mit der Höhlenmalerei entstehen auch die ersten abstrakten Symbole als Piktogramme, also als vereinfachte grafische Darstellungen realer Gegenstände. Allerdings finden sich auch Symbole wie etwa ein Doppelkreuz, die Naturerscheinungen nicht eindeutig zugeordnet werden können. Ob die Symbole ausschließlich auf Vereinfachungen komplexerer Bilder aus der Natur oder auch auf die Wiedergabe archaischen Formbewusstseins beim Menschen zurückgehen, das bildlich ausgedrückt wird, ist nicht sicher geklärt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Mischung dieser beiden und möglicherweise auch noch anderer, bisher unbekannter Hypothesen.

Die Abstraktionsfähigkeit ist Grundlage zahlreicher neuer Fertigkeiten und Fähigkeiten, mit denen der Homo sapiens schon bald das Gesicht der Erde nachhaltig prägen sollte. Zwei der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigsten Fähigkeiten dürften hierbei das Erfinden von Geschichten und das Glauben an diese Geschichten gewesen sein. Beides verbindet nicht nur einzelne Individuen einer Gemeinschaft, sondern auch unterschiedliche Gemeinschaften miteinander. Es ist diese Fähigkeit der Erschaffung von intersubjektiven Realitäten (›Geschichten‹), sowie ihr sippenübergreifender Glaube an diese Geschichten, die zu einer hocheffizienten und von Naturereignissen immer unabhängigeren Ressourcengewinnung und -verteilung führte. Und es ist diese Fähigkeit, die dem Homo sapiens einen wesentlichen Vorsprung gegenüber anderen konkurrierenden Arten verschaffen sollte.

Reflexion

Diese Überlegenheit drückt sich auch dadurch aus, dass der Homo sapiens die meisten großen Säugetiere überall dort ausrottete, wo er auftauchte. Das Phänomen der ›Naturzerstörung‹ ist also keineswegs eine Errungenschaft des modernen Menschen, sondern Teil eines evolutionsbiologischen Prozesses, bei dem die Beschaffung kurzfristig benötigter Ressourcen überlebenswichtig ist. Ein nachhaltig ökologisches Denken macht in diesem Kontext primär keinen Sinn. Hatte eine Gemeinschaft die Ressourcen der Umgebung aufgebraucht, zog man einfach weiter. Dies mag auch erklären, warum die meisten frühen Menschen Nomaden waren.

Als erste intersubjektive Realitäten innerhalb der nomadischen Gemeinschaften vermutet man Gerüchte und gemeinsame spirituelle Vorstellungen (Religionen) sowie gemeinsame Wertvorstellungen beim Tausch von Waren. Auch erste Heilphilosophien zählen wohl dazu. So finden sich bereits in vielen frühen Felsmalereien schamanistische Handreliefs, die wahrscheinlich dazu dienten, eine Art Heilenergie zu ›speichern‹. Beim Anlegen einer Hand an das Relief wird diese Energie übertragen, selbst wenn man kein Teil jener Gemeinschaft war, in welcher der Schamanen-Künstler gelebt hat.

So entstanden aus einzelnen abstrakten Symbolen und Lauten Wörter, Sätze, Geschichten, Musik, Tanz, Vorstellungen von Raum und Zeit, von Göttern und Geistern, von Muschelgeld und Schmuck, von Eigenem und Fremdem etc. und mit ihnen die ersten Kulturen der Menschheit.

Auch die Vorstellung eines ›Ichs‹ scheint letztlich nur eine mentale Projektion, eine Abstraktion, eine intersubjektive Realität zu sein, das wir für wahr, unteilbar und scheinbar heimatlos jenseits aller Welten halten. Die Geschichte des ›Ich‹ begann sich wahrscheinlich erst vor nicht einmal mehr als ca. 15.000 Jahren konkreter herauszubilden.

Reflexion

Der gemeinsame Glaube von Vertretern unterschiedlicher Kulturen an die gleichen Geschichten ist Voraussetzung für ein längeres Zusammenleben auf begrenztem Raum. Stellen Sie sich beispielsweise ein Event in einem vollbesetzten Stadion vor. Tauschen sie nun die Menschen gegen die uns bekanntesten intelligentesten Tiere aus. Was wird in diesem Stadion passieren, wenn dort 100.000 Krähen, Schimpansen oder Wanderratten über mehrere Stunden zusammengepackt sind? Nur unser gemeinsamer Glaube an Geschichten, wie etwa die Würde des Individuums, Religion und vieles mehr, führen dazu, dass ein solches Event friedlich verlaufen kann.

Noch ein Beispiel, warum die Fähigkeit der Abstraktion aus evolutionsbiologischer Sicht so außergewöhnlich erfolgreich ist:

Stellen Sie sich ein Pferd vor, hinter dem sich ein tiefer Abgrund befindet. Sie nähern sich dem Pferd langsam und vertrauensvoll von vorne, halten dabei aber eine brennende Fackel hinter dem Rücken. Kurz bevor Sie das Pferd erreichen, zücken Sie die Fackel ganz plötzlich und halten sie vor das Pferd. Was wird passieren? Das Pferd wird das Feuer instinktiv als Gefahr erkennen und sich ebenso instinktiv in die Gegenrichtung, also nach hinten, bewegen. Es wird in den Abgrund stürzen und sterben. Hätte es das Feuer gesehen und nur eine Sekunde innegehalten, um die Gesamtsituation zu ›beurteilen‹, wäre es nach rechts oder links geflüchtet und hätte überlebt. Dieses Innehalten erfordert aber eine Art mentalen Zwischenraum zwischen affektiven und effektiven Prozessen – eben einen Abstraktionsraum.

Heilkunde der Frühzeit

Praktiken frühzeitlicher Heilphilosophien finden sich auch heute noch in vielen Naturvölkern. Bei physikalisch verursachten Beschwerden (z. B. Knochenbruch nach Unfall) werden gewöhnlich spezielle Heiler konsultiert, wohingegen man bei ›ganzheitlichen‹ Beschwerden einzelner Mitglieder, der ganzen Sippe, oder auch die Sippe betreffende Ereignisse (z. B. Ernte) Schamanen konsultiert. Diese sind nicht selbst erwählt, sondern geben sich ihrer Gemeinschaft bereits als Kinder durch die Art der von ihnen erzählten Träume und Geschichten zu erkennen und werden von ihr zur schamanistischen Ausbildung berufen. Wie für alle Mitglieder der Gemeinschaft bilden physikalische und die metaphysikalische Wirklichkeit für die Schamanen eine unteilbare Einheit. Geist, Welt, Seele, Tod, Leben, Mensch, Gott, Stein, Pflanze, Tier, Natur, Wolke, Regen, existieren nicht isoliert. Nichts kann zu dieser Einheit ›addiert‹, oder von ihr ›subtrahiert‹ werden, alles transformiert und verwandelt sich stets als qualitative Einheit.

Reflexion

Ein ›echter‹ Schamane erwählt sich also nie selbst zum Schamanen. Dies ist ein Phänomen des modernen Individualismus. Folglich kennen die frühen Menschen die Vorstellung nicht, dass ein Mensch einen anderen Menschen behandelt. Ideen wie Nächstenliebe, Altruismus, aber auch Schamanen-Patienten-Verhältnis etc. kämen ihnen nicht in den Sinn. Schamanen behandeln nicht, sie vermitteln zwischen den Welten, oder besser gesagt: Sie gleichen innerhalb einer Zwei-Welten-Einheit aus.

Zwar ist es uns modernen Menschen möglich, diese Idee kognitiv zu verstehen (sonst könnte ich auch nicht darüber schreiben), ein derartiges inneres Einheits-Seins-Erleben findet aber nur in kognitiven Ausnahmesituationen wie etwa in tiefer Meditation, bei starker Dehydration, unter Einfluss von Drogen oder in lebensbedrohlichen Situationen statt.

Eine weitere Besonderheit der schamanistischen Heilphilosophien liegt in der Tatsache, dass in ihren Erklärungsmodellen alle Ursachen metaphysisch sind (zumeist unzufriedene Ahnen, Götter, Geister, Dämonen etc.). Dadurch entsteht eine ›Dysbalance‹ in der Zwei-Welten-Einheit. Um diese wieder auszugleichen, muss eine Vermittlung stattfinden, bei denen die Schamanen eine zentrale Rolle spielen. In häufig geheimen Ritualen, die über Generationen weitergegeben und unkritisch übernommen werden, tauchen sie in eine Zwischenwelt ein, um von dort aus ausgleichend (heilend) zu wirken. Häufig werden dabei mit den Wesen der metaphysischen Wirklichkeit Lösungen ausgehandelt, die zumeist aus Respektsbekundungen oder Besänftigungen in Form von Opfergaben bestehen. Gelingt der Handel, ist das Gleichgewicht innerhalb der Einheit wieder hergestellt und die individuellen oder gemeinschaftlichen Symptome in der physikalischen Wirklichkeit verschwinden (Fieber, Hunger, Unfrieden etc.). Nur in seltenen Fällen geht es nicht um Vermittlung, sondern um ein Wirken gegen bösartige Wesenheiten.

Reflexion

Die Popularität des Bildes eines eher ›schwarzen Schamanismus‹ in der Westlichen Welt liegt an unserer krankheitsorientierten Prägung, bei der es im Kern um das Bekämpfen von etwas ›Bösen‹ geht. Folglich identifizieren wir uns eher mit dem schwarzen Schamanismus, wodurch er sich besser verkauft. Dies führt dazu dass wir die überragende Bedeutung der Vermittlung im Schamanismus häufig übersehen.

Reflexion

Da die Ursachen in der metaphysischen Welt beheimatet sind, gibt es für Schamanen keinen Grund, die physikalische Wirklichkeit zu ergründen. Fehlende naturwissenschaftliche Kenntnisse erklären sich damit nicht aufgrund einer wie auch immer gearteten Rückständigkeit, sondern aus der Tatsache, dass dieses Wissen innerhalb schamanistischer Heiltraditionen (und nur diese Sichtweise ist hier relevant) schlicht keinen Sinn macht. Gleichermaßen könnte man behaupten, die Ablehnung reduktionistisch geprägter Mediziner gegenüber Metaphysik gehe auf geistige Rückständigkeit zurück. (Diese Behauptung ist natürlich gleichermaßen falsch, denn innerhalb der Weltsicht überzeugter Reduktionisten wäre es einfach unlogisch und somit unsinnig, sich mit metaphysischen Themen zu befassen.)

Zusammenfassung

Der frühe Mensch ist also ganz durch sein Einheitserleben der Welt geprägt. Er besitzt kein Ich-Bewusstsein und ›Geschichten‹ werden nicht als intersubjektive, sondern ausschließlich als kollektive Realitäten wahrgenommen und interpretiert. Die Natur ist in dieser Wahrnehmung weder Freund noch Feind, der Blick auf sie somit wertfrei.

In schamanistischen Heilphilosophien werden Schamanen von der Gemeinschaft bestimmt. Im Erklärungsmodell schamanistischer Medizin sind alle Symptome das Ergebnis metaphysischer Ursachen, die zu einer Dysbalance in der Zwei-Welten-Einheit führen. Entsprechend wirken Schamanen überwiegend vermittelnd zwischen den Wesen der physischen und metaphysischen Welt.

2.  Altertum

Lange Zeit deutete man die Sesshaftwerdung des Menschen als Beweis der Überlegenheit des menschlichen Verstandes über die Natur. Diese Interpretation stammt vor allem aus dem 19. Jahrhundert, in dem der gelehrte Mensch sich selbst aufgrund der Verwendung des rationalen Verstandes als Gipfel der Schöpfung betrachtete. Diese Sichtweise hat sich inzwischen geändert und man vermutet, dass es die Errichtung religiöser Bauwerke waren, die sekundär eine Sesshaftwerdung notwendig machten. Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist momentan die Fundstätte von Göbekli Tepe im anatolischen Zargos-Gebirge. Hier entstand vor ca. 15.000 Jahren eine riesige über Jahrhunderte zunehmend wachsende Kultstätte. Deren Errichtung und Erweiterung konnte nicht durch eine einzige Gemeinschaft geleistet werden. Um die gewaltige Bauleistung zu vollbringen, war die Kooperation vieler Gemeinschaften über mehrere Generationen nötig, was zur Sesshaftwerdung zwang. Arbeitsteilungen bei der Produktion wurden ebenso notwendig, wie eine vom Nomadentum unabhängige Versorgung mit Nahrung. Man vermutet, dass die Menschen im Zuge dieser sich über Jahrzehnte hinziehenden Bauprojekte möglicherweise bereits in rudimentär vorhandenes Wissen über Ackerbau und Viehzucht kultivierten.

Die Sesshaftwerdung brachte auch erhebliche Nachteile mit sich. So war beispielsweise die gewöhnlich Ernährung nomadischer Völker ausgesprochen abwechslungsreich, wohingegen die Agrikultur jener Zeit wesentlich einseitiger war. Gleichzeitig ist der Ertrag bei der Jagd unter normalen Bedingungen wesentlich besser als bei Ackerbau und Viehzucht. War in nomadischen Gemeinschaften der vereinzelte Unfall das Hauptrisiko, so entstanden in den sesshaften Gemeinschaften nun bisher unbekannte Krankheiten. Diese konnten innerhalb sesshafter Gemeinschaften endemisch werden, sich in umliegende Siedlungen verbreiten und so zu Epidemien führen. Auch die Gefahr des Hungers stieg, denn durch das Verlernen der nomadischen Beweglichkeit konnten die sesshaften Menschen vor allem bei raschen klimatischen Veränderungen nicht adäquat reagieren. Der Kampf untereinander um Ressourcen wurde in diesen Fällen unausweichlich. In nomadischen Gemeinschaften wurde zudem alles innerhalb der Sippe oder des Clans geteilt. Jeder, der dazu in der Lage war, beteiligte sich an der Jagd und dem Sammeln. Alle beherrschten die nötigen Handgriffe zur Herstellung der leicht gebauten Behausungen und einfachen Werkzeuge. Es gab nur eine Maxime: Wer der Gemeinschaft schadet, wird ausgeschlossen – was den sicheren Tod bedeutete.

Reflexion

Die Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, sitzt biologisch tief in uns und könnte begründen, warum wir Dinge tun, die wir eigentlich nicht tun wollen – nur um in der Gruppe zu bleiben. Damit würde sich erklären, warum Mobbing für die Betroffenen keine harmlose Sache ist, sondern ein Gefühl allerhöchster existenzieller Bedrohung auslöst.

Durch den Agrarbetrieb wurden Nahrungsmittel nun redistributiv, d. h. anstatt das Erbeutete oder Gesammelte unmittelbar zu teilen, wurden Weizen und Fleisch produziert, zentral gesammelt und wieder neu ausgegeben; Grund und Boden teilte man bestimmten Vertretern der Sippe zu; handwerkliche und religiöse Tätigkeiten waren nun bestimmten Persönlichkeiten vorbehalten; Stände und Berufe entstanden ebenso, wie die Vorstellung von Eigentum; man errichtete feste Behausungen, Kultstätten und Funktionsräume z. B. für die Lagerung von Nahrungsmitteln; neue Werkzeuge für Bau, Lagerung und Verarbeitung von Materialien mussten erdacht und hergestellt werden. All dies war Ergebnis der Abstraktionsfähigkeit des Menschen. Und all dies sollte seinerseits darauf zurück wirken und eine sich immer weiter beschleunigende Entwicklungsspirale in Gang setzen.

Auch die ehemals paritätischen Geschlechterrollen veränderten sich. Aufgrund der großen Gruppen und der zunehmenden Immobilität von Gemeinschaften mussten in Notzeiten gewaltsam Ressourcen von anderen Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft oder von benachbarten oder fremden Gemeinschaften beschafft werden. Da sich hierzu rohe Gewalt und somit der männliche Körperbau am besten eignet, wird vermutet, dass dort auch die Wurzeln patriarchalischer Gesellschaftsordnungen zu finden sind.

Etwa 1.500 Jahre nach den Entwicklungen im Zargos-Gebirge kam es auch in Oberägypten und im Bereich des heutigen Ostchinas zur zunehmenden Sesshaftwerdung des Menschen. Ein Prozess, der ohne die Fähigkeit des Homo sapiens intersubjektive Realitäten erschaffen und an sie glauben zu können undenkbar gewesen wäre. Und ein Prozess, der sich aus evolutionsbiologischer Sicht (bisher) als erstaunlich erfolgreich erwiesen hat, denn nie zuvor konnte der Mensch Ressourcen in solchen Mengen sichern. Steigt die Quantität der Nahrung, steigt auch die Geburtenrate – selbst wenn die Qualität darunter leidet. Migrationen waren zwangsläufig die Folge und aus dem Zargos-Gebirge wachsen immer neue Siedlungen entlang der beiden Flüsse Euphrat und Tigris in Richtung Süden. Die alten Kulturen der Akkader, Sumerer, Assyrer und Babylonier entstehen in diesem mesopotamischen3 Raum. Ähnliche Entwicklungen wie die vom Zargos-Gebirge ausgehende gab es auch in anderen Gebieten der Erde. Im oberägyptischen Raum erfolgte die Migration entlang des Nils, im indischen Raum entlang des Indus und später Ganges und im ostchinesischen Raum entlang des Gelben Flusses.

Im südlichen Mesopotamien entstanden vor etwa 6.000 Jahren die ersten uns bekannten Städte der Menschheit. Sie beherbergten schon damals bis zu 50.000 Einwohner und verfügten über eine komplexe Wasserversorgung, sowie ein ausgefeiltes Stände- und Verwaltungssystem. In den folgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden wurden alte Handelspfade zwischen diesen frühen Kulturen immer stärker ausgebaut, die zu immer großflächigeren Handelsnetzwerken führten. Die Handelswege dienten aber nicht nur dem Transport von Waren. Auch Menschen wurden gehandelt, Kriege über sie geführt und Geschichten verbreiteten sich.

Vor etwa 5.000 Jahren tauchten in den frühen Städten Mesopotamiens mit der Keilschrift auch die erste uns bekannte rein abstrakte Zeichenschrift auf. Dabei befassten die in Ton gebrannten Fundstücke aus der frühen Periode sich fast nur mit Themen des Handels und der Verwaltung. Dies lässt schlussfolgern, dass die abstrakte Schriftform zunächst ausschließlich zu diesem Zweck entwickelt wurde (auch die ersten Formen der Mathematik stammen aus jener Zeit). Wieder macht die Fähigkeit zur Abstraktion einen gewaltigen Sprung.

Etwa ein Jahrtausend später sollte das Seefahrer- und Handelsvolk der Phönizier an der Ostküste des Mittelmeers die erste Schrift entwickeln, bei der abstrakte Symbole nicht mehr auf Objekte hindeuteten (Piktogramme), sondern nur noch einzelne phonetische Laute bezeichneten. Ihr phonetisch orientiertes Alphabet sollte Grundlage vieler antiker Schriften werden. Auch unser heutiges lateinisches Alphabet geht darauf zurück. Das phönizische Alphabet und die sich aus ihm entwickelnden Schriften erwiesen sich als hocheffizient in Bezug auf Fragen rund um Handel und Verwaltung. Wesentlich umfangreicher vernetzte Handelsbeziehungen sowie gesellschaftliche, religiöse und militärische Organisationsformen waren die Folge. Gesetzes- und Vertragstexte, Ständeregeln, aber auch Reglementierungen im priester-ärztlichen Kontext werden immer komplexer. Nicht zufällig erschien um 1.000 v. Chr. mit dem Judentum auch die erste Schriftreligion, deren zentraler Bezugstext mit seinen zahlreichen Gesetzen zum Zentrum der Glaubensidentität wird.

So entstanden in dem historisch als ›fruchtbarer Halbmond‹ bekannten Gebiet jene Hochkulturen Mesopotamiens, Altägyptens und im Bereich des östlichen Mittelmeerraums, die heute als Fundament der modernen westlichen Welt gelten. Hervorstechende Eigenschaften dieser Kulturen sind ein sich immer stärker ausprägendes Ich-Bewusstsein, die zunehmende Selbstwahrnehmung der Menschen als eigenständig denkende Lebewesen, wachsende Rationalität, umfassendere Systematisierung der Lebenswelt und zunehmende kulturelle Komplexität. All dies steht bis heute in einer untrennbaren Wechselbeziehung zueinander und hat eine sich immer weiter beschleunigende Entwicklungsspirale in Gang gesetzt.

Priester-ärztliche Medizin des Altertums

Die einfachen schamanistischen Rituale des frühen Menschen wurden in den städtischen Gesellschaften des fruchtbaren Halbmonds in jener Zeit ebenfalls rationaler und komplexer. Dies zeigt sich auch in einer zunehmenden Verschriftlichung, Systematisierung und Hierarchisierung sowohl der rituellen und medizinischen Inhalte, wie auch bzgl. der Organisation des an der Gesellschaftsspitze stehenden Standes der Priester-Ärzte. Die seit der schamanistischen Medizin bestehende enge Verbindung therapeutischer Fähigkeiten mit spirituellen bzw. außergewöhnlichen Fähigkeiten und die damit begründete gesellschaftliche Sonderstellung wurde also beibehalten.

Auch verstanden sich die Priester-Ärzte noch als Vermittler innerhalb der Zwei-Welten-Einheit.

Was sich änderte war allerdings das Verfahren der Berufung. Priester-Ärzte wurden nicht mehr durch die Gemeinschaft erkannt und bestimmt, sondern ererbten ihre Position oder wurden von anderen Persönlichkeiten an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchien ernannt. Darüber hinaus finden sich um 3.000 v. Chr. die ersten umfangreichen Beschreibungen von Behandlungen, bei denen sich die Ursachen basierend auf rationalen Überlegungen überwiegend auf die physikalische Wirklichkeit bezogen. Hierzu zählte beispielsweise die Entfernung einer eintrübenden Linse beim Grauen Star mittels einer kleinen Lanzette.

Zusammenfassung

War die Frühzeit des Menschen noch ganzheitlich in die Welt eingewoben, begann mit der Sesshaftwerdung eine zunehmende Entwicklung des systematisierenden Verstandes. In ihm war die Informationsverarbeitung vor allem durch die Fähigkeiten von Trennung, Analyse und Ordnung gekennzeichnet. Entscheidungen, die zuvor auf Basis instinktiver Eingebung, traditioneller Überlieferung, persönlicher Erfahrung und metaphysischer Zeichen getroffen wurden, basierten nun immer stärker auf der rationalen Verarbeitung von Beobachtungen. Berufe, Stände, Schrifttum, Eigentum, Gesetze, Arbeitsteilung etc. und nicht zuletzt ein zunehmendes Ich-Bewusstsein des Menschen entwickelten sich und begründeten die ersten großen Zivilisationen der westlichen Welt.

Die schamanistische Medizin wandelte sich in Mesopotamien und Ägypten zur priester-ärztlichen Medizin, die zwar noch stark schamanistisch geprägt war, nun aber bereits erste Ansätze rationaler Medizin aufwies.

3.  Antike

3.1  Philosophie

Etwa 1.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung waren an der Ostküste des Mittelmeers wohlhabende Handelszentren entstanden. Sie bildeten Knotenpunkte beim Warenverkehr zwischen Indien, Vorderasien, Persien, Ägypten, dem Mittelmeerraum und Nordeuropa. Als Sammelzentren für Rohstoffe eigneten sie sich darüber hinaus ideal zu deren Veredelung. Aufgrund des enormen Wohlstands der dadurch in den Handelszentren entstand, waren sie immer wieder Ziel von Eroberungsfeldzügen. Da sie aber große Summen an Steuern zahlten, genossen sie von ihren Herrschern zugleich deren Schutz, sowie eine große Unabhängigkeit in Bezug auf Entscheidungen, die Handel und Politik innerhalb der Städte betrafen. Interne Fragen wurden also überwiegend durch Adels- und Kaufmannsschichten geklärt, die über die betreffenden Städte herrschten. Dadurch entstanden dezentrale Verbände wohlhabender Städte, die schließlich gänzlich unabhängig von den sie umgebenden großen Königreiche waren und ihre Selbstständigkeit durch die Finanzierung eigener Streitmächte sicherten. Hier ragten in der frühen Antike zwei Städtebünde im östlichen Mittelmeerraum heraus: das vor ca. 1.000 v. Chr. auftauchende Seefahrervolk der Phönizier und der etwa um 700 v. Chr. aus der mykenischen Kultur entstandene ionische Städtebund. Letzterer umfasste das südliche Griechenland, Sizilien und den Küstenbereich des süditalienischen Festlandes.4 Dort führte die maßgeblich durch Handel und Verwaltung geförderte Rationalität zu ersten rudimentären demokratischen Strukturen sowie zur Entwicklung des Geldwesens. Letzteres sollte zunehmend den Tauschhandel bzw. ältere Zahlungsmittel, wie etwa Getreide ersetzen.

In den Handelszentren trafen darüber hinaus viele Kulturen, mit unterschiedlichen Göttervorstellungen, Weltentstehungsmythen und Weltsichten im toleranten Nebeneinander aufeinander. Wer nun aber wissen wollte, wie die Welt wirklich beschaffen ist, musste allerdings erkennen, dass man es schlichtweg nicht wusste. Die vielen unterschiedlichen Geschichten waren der schlagende Beweis. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu machen, die Wirklichkeit eigenständig zu erforschen und zu reflektieren. Und so tauchten vor ca. 2.500 Jahren im Einflussbereich der beiden eben genannten Städtebünde Menschen auf, die mit der Suche nach der wahren Beschaffenheit der Wirklichkeit das eigene Denken entdecken sollten. Der Verstand war es, der ihnen als einzig angemessenes Mittel erschien, um zu wahren Erkenntnissen über die Wirklichkeit zu kommen. Und aufgrund ihrer Liebe zum Wissen(-Wollen) nannten sie sich selbst Philosophen.5

Philosophen

Was genau diesen Schritt zum rationalen Ergründen der Wirklichkeit ausgelöst hat, kann man heute nicht mehr sicher nachvollziehen. Vielleicht war es die zunehmende Orientierung an der physikalischen Wirklichkeit im Rahmen der ökonomischen Entwicklung der Handelsnetze und ihrer Städte, vielleicht die für einen erfolgreichen Geschäftssinn notwendige natürliche Vorsicht und Skepsis gegenüber beliebigen ›Spekulationen‹, sicherlich die in uns natürlicherweise angelegte Neugier auf die Welt und höchstwahrscheinlich alles zusammen und noch viel mehr. Wie dem auch sei, in jener Zeit fanden sich in Kleinasien und Süditalien erste schriftliche Überlieferungen von Menschen, die begannen, rationale Erklärungen neben das zeitgenössische, von Mythen und Göttern geprägte Weltbild zu stellen. Ihre Einsichten basierten auf mystischen6 Erfahrungen und sinnlichen Beobachtungen sowie rationalem Erschließen des Erlebten und Beobachteten. So hofften viele Philosophen eine Rückanbindung an das ›goldene Zeitalter‹ des Wissens zu erleben.7

Philosophieren

Diese Erkenntnisse erschließen sich dem Menschen über seinen Verstand, mit dem er das Beobachtete und erlebte in Mustern erkennen und dahinter liegende Naturgesetze entschlüsseln kann. Mystik und Rationalität schienen dabei in der Zeit der ursprünglichen Philosophie noch eng ineinander verzahnt. So besaßen viele frühe Philosophieschulen noch einen esoterischen Kern, in dem Eingeweihte offensichtlich Bewusstseinsexperimente und mystische Rituale durchführten. Ein Unterschied zu Religionen im üblichen Sinn lag aber in der Tatsache, dass man das Beobachtete oder Erlebte nicht als Bestätigung bestehender religiöser Wahrheiten deutete, sondern es zum besseren Weltverständnis im Austausch rational zu ergründen versuchte. Es ging also um das Ideal der Wahrheitssuche und nicht der Wahrheitsbestätigung.

Im Zentrum dieses Strebens stand für viele Philosophen die Frage nach einem gelungenen Leben (Eudamonia). Es ging also nicht nur darum, die Welt in ihren Teilen und Verbindungen rational zu entschlüsseln, sondern auch in ihrer Bedeutung für die Diätetik8 des Menschen zu ergründen und zu bewerten. Philosophie bildete damit eine Einheit aus natur- und geisteswissenschaftlichem Denken.

Bereits früh philosophierte man über alle grundlegenden Fragen der Menschheit. Wie ist die Welt beschaffen? Was ist der Mensch? Gibt es Wahrheit? Was ist Geist? Wie hängen Leib und Seele zusammen? Wer bin ich? etc. Damit wurde das rationale Fundament der modernen westlichen Welt begründet. Vielleicht noch wichtiger: je mehr die Philosophen der Überzeugung waren, man könne die Geheimnisse der Wirklichkeit mit dem Verstand analytisch erschließen, umso stärker wuchs die Bewusstheit für ein denkendes ›Ich‹, das quasi ›von außen‹ auf die Welt blickt. Das mit der Sesshaftwerdung stärker werdende Ich-Bewusstsein erfährt hier eine immense Beschleunigung. Damit wurde das ›Ich‹ selbst zu einer Art eigenständiges metaphysisches Wesen, wie es bisher nur Geister, Dämonen, Ahnen und Götter waren. Das eigenständige Beobachten, Erleben und Nachdenken, mit anderen Worten das Philosophieren spielte somit wahrscheinlich eine wichtige Rolle für das Ich-Bewusstsein und damit auch Selbstbewusstsein des Menschen.

Jeder kann Philosophieren

Philosophieren wurde nicht als ›heilige Gabe‹ betrachtet, das nur Auserwählten vorbehalten war. Tatsächlich ist es in jedem neugierigen Kind (und welches Kind ist das nicht) natürlicherweise angelegt, um sich im Laufe der Reifung des Bewusstseins jenseits normativer Pädagogik von selbst als eigenständige Lebensform zu entwickeln.9 In dieser Lebensform oder Lebenshaltung des Philosophierens findet ein unentwegtes Wechselspiel zwischen folgenden Aspekten statt:

NEUGIER, BEKENNTNIS ZUM NICHT-WISSEN, STAUNEN

Erkennen, Wissen und Verstehen setzt nicht nur das unbedingte Interesse an der Sache voraus. Es bedarf auch der Fähigkeit, das eigene Unwissen im Anblick des Unbekannten zu erkennen und anzuerkennen. Nur dann ist es möglich, sich von neuen Erkenntnissen überraschen und ins Staunen bringen zu lassen. Im Umkehrschluss kann nur neue Erkenntnisse gewinnen, wer sich die kindliche Fähigkeit des Staunens bewahrt.

INFORMATIONEN SAMMELN

Hier geht es um alles, was unser Organismus aufnehmen und verarbeiten kann. Das Sammeln empirischer Messdaten, das Abrufen im Gedächtnis gespeicherter Informationen, oder auch das Wahrnehmen qualitativen Erlebens (›empfinden‹, ›schauen‹) sind zentrale Mechanismen beim Sammeln der Informationen.

Reflexion

Anders als die Philosophie fokussiert moderne Naturwissenschaft ausschließlich auf objektiv erfassbare, d. h. empirische Daten. Dies geht auf die Überzeugung zurück, dass die Sinne optischen Täuschungen und damit subjektiven Verzerrungen (Bias) unterliegen können und Empfindungen rein spekulativ sind. Da die antike Philosophie Physik und Metaphysik gleichrangig betrachtete, wurden qualitative und quantitative Informationen gleichrangig besprochen.

EIGENSTÄNDIGES REFLEKTIEREN

Alles gesammelte theoretische Wissen des untersuchten Gegenstands wird auf die zuvor gemachten Beobachtungen bezogen, also quasi ›zurückgebeugt‹ (lat: reflectere). Ziel der Reflexion, also des ›Nach-Denkens‹ ist es, Muster zu erkennen, denn diese verweisen auf dahinter verborgene, möglicherweise unumstößliche Gesetzmäßigkeiten (Naturgesetze, Wahrheiten). Dabei gibt es unterschiedliche Methoden. Entweder man schließt von allgemeinen Beobachtungen auf Einzelfälle (Deduktion) oder man schließt umgekehrt von Einzelfällen auf Allgemeines (Induktion). Auch das ›Erfahren‹ als eine Art wissender Empfindung ist möglich (Intuition). Häufig vermischen sich die Methoden assoziativ.

ERKENNTNISGEWINN

Bei intensiver Reflexion eines Sachverhalts kann sich während, aber auch zwischen den Reflexionsphasen plötzlich eine neue Erkenntnis ergeben (Geistesblitz, Einfall, Idee etc.). Eine neue Erkenntnis ohne vorherige Reflexion ist im philosophischen Weltbild nicht vorstellbar.

HYPOTHESE UND/ODER EXPERIMENT

Da man dem Ideal der Wahrheit folgt und man wissen will, wie es wirklich ist (Ideal der Wahrheitssuche), ist es wichtig, jede neue Erkenntnis nicht nur selbst zu überprüfen, sondern sie auch öffentlich überprüfbar zu machen. Hierin liegt ein wesentliches Kriterium der Unterscheidung zu herkömmlichen Religionen.

(SELBST)KRITISCHES ÜBERPRÜFEN

Damit eine möglichst umfassende öffentliche Überprüfung erfolgen kann, muss ein allgemein verständlicher Zugang geschaffen werden. Hierzu dienen klare logische Argumente, mathematische Beweisführungen, sowie möglichst exakte Beschreibungen von Experimenten, die jederzeit von möglichst vielen Menschen in allen Schritten nachvollzogen bzw. nachgemacht werden können. Zudem weiß der Philosoph, dass persönliche Motive und Neigungen die eigene Wahrnehmung und Beurteilung verzerren können. So versucht er diese Verzerrung durch umfassende Selbstreflexion zu minimieren und zudem öffentlich zu bekennen.10

Reflexion

Das Ideal der Wahrheitssuche und der selbst eingeforderten kritischen Überprüfung der eigenen Erkenntnisse unterscheidet die Philosophie (und damit auch die später aus ihr entstehenden Naturwissenschaften) von Religionen und esoterischen Strömungen. Letztere gründen auf der Verkündung von Wahrheiten, die nicht überprüfbar sind (Kerndogma: Das ist so!). Alles ist zweifelsfrei, entzieht sich naturgemäß jeglicher öffentlichen Überprüfung und ist somit ‚immun‘ sowohl gegenüber Angriffen, als auch jeglicher Weiterentwicklung. Der Vorteil liegt auf der Hand: Ein bedingungsloser Glaube an eine verkündete und unumstößliche Wahrheit vermittelt das Gefühl von Geborgenheit, Identität und Orientierung.

BEDEUTUNG GEMEINSAM REFLEKTIEREN

Alles Wissen kann für den einzelnen Menschen, eine Gemeinschaft, eine Kultur bzw. die gesamte Menschheit Folgen haben. Diese im Vorfeld zu identifizieren und zu besprechen, ist wesentlicher Teil der Philosophie, denn eine ihrer Maximen ist die Suche nach einer gelungenen Lebensführung (Eudamonia). Im Idealfall lassen sich aus solch ethischen Überlegungen praktische moralische Regeln bzgl. einer guten Lebensführung (Diätetik) begründen.11

GESAMT-KUNSTHANDWERK

Philosophieren ist im Grunde eine ununterbrochene Suche nach Wahrheit und damit ein kontinuierlicher Prozess, in dem durch beständige Wahrnehmungen und Reflexion ständig Anpassungsbewegungen zwischen Subjekt und Objekt stattfinden. Durch diese kontinuierliche Transformation ist das Philosophieren nicht nur ein Handwerk, bei dem Regeln und Techniken erlernt und in der Wirklichkeit umgesetzt, sondern ein Kunsthandwerk, bei dem Subjekt und Objekt stets in einem untrennbaren kreativen Prozess verwoben sind. Ein Kunsthandwerk das beständig in der Wirklichkeit ein- und ausgeübt wird und somit immer anwendungsorientiert ist.

Schon früh erkannten die Philosophen, dass die Sprache im kritischen Austausch die Quelle für Missverständnisse darstellte. Nicht jeder versteht beispielsweise unter dem Begriff ›Gesundheit‹ das gleiche. Wie soll man sich sinnvoll über Erkenntnisse die Gesundheit betreffend austauschen, wenn jeder eine andere Vorstellung von Gesundheit hat? Um dies zu erreichen, entwickelten die Philosophen bestimmte sprachliche Formen und Regeln, innerhalb derer philosophische Diskurse stattfinden konnten. Hierzu zählte etwa die Art und Weise der Gesprächsführung (Dialektik), aber auch die Redekunst bzw. verständliche Sprache (Rhetorik), sowie ein bestimmtes Regelwerk innerhalb der Sprachgestaltung (Grammatik). Auch allgemeingültige Definitionen und Mathematik nahmen eine zentrale Stellung ein, minimierten sie doch die Gefahren persönlicher Spekulationen und Rechthabereien.

Reflexion

Ein Gedankenspiel: Sie leben vor 3.000 Jahren ohne jegliche naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Sie sind Arzt und beobachten eine kleine Hautverletzung. Was tun? Aus der Tradition heraus versorgen Sie die Wunde wahrscheinlich mit pflanzlichen Mitteln und einem kleinen Verband aus Blättern. Wäre die Wunde größer, würden Sie dem Betroffenen vielleicht auch kleine Opfergaben empfehlen, um den Gesundungsprozess zu fördern. Nun fällt Ihnen aber ein Muster auf: Kleinere Wunden heilen häufig auch ganz ohne ihr zutun oder spirituelle Handlungen. Das macht Sie nachdenklich und Sie fragen: Wer macht Heilung eigentlich? Ein bestimmter Gott kann es eigentlich nicht sein, denn Sie haben auf Ihren ausgiebigen Studienreisen nach Ägypten gesehen, dass Heilung stattfindet, auch wenn andere Götter angebetet werden. Und Sie haben Heilungen erlebt, bei denen überhaupt keine Götter im Spiel waren. Nun gehören Sie zu den wenigen Menschen jener Zeit, die Lesen können. Sie recherchieren zu diesem Thema und werden nicht fündig. Sie schließen aus all dem Beobachteten und Recherchierten, dass es eigentlich keine Antwort gibt, und öffnen nun Ihren Geist im Bewusstsein eines ›suchenden Nicht-Wissers‹. Sie grübeln tagelang. Nichts passiert. Plötzlich haben Sie eine Eingebung: Nicht Götter oder Menschen heilen, sondern die Natur besitzt völlig eigenständig die Kraft zur Heilung. Welch geradezu gotteslästerlicher Gedanke. Aber der Geistesblitz trifft Sie so sehr, dass Sie das Gefühl haben einen kurzen Moment der Anbindung an das ›goldene Zeitalter‹ zu erleben, in dem der Mensch noch alles wusste. Und Ihre Beobachtungen bestätigen diese Idee. Im assoziativen Spiel Ihrer Gedanken tauchen sintflutartig immer neue Fragen auf, so als wäre in Ihrer geistigen Welt eine Tür aufgestoßen worden: Was ist das für eine Kraft, die heilt? Wie macht sie das? Wann macht sie das? Warum macht sie das? Welchen Gesetzen folgt sie? Warum gibt es dann menschliche Heiler? etc. Und Sie fragen sich: Ist meine Erkenntnis überhaupt wahr? Sie entschließen sich, kleine Wunden grundsätzlich nicht mehr zu versorgen, und stellen fest, dass fast alle davon heilen, allerdings nicht so schnell wie mit dem Kräuterverband. Sie schließen, dass die Natur tatsächlich die Kraft zum Heilen besitzt, diese sich aber besser entfalten kann, wenn für bestimmte Rahmenbedingungen gesorgt wird. So experimentieren Sie weiter und erproben Ihre Idee solange, bis Sie diese mit anderen Philosophen-Ärzten teilen. Nun beginnt die öffentliche Überprüfung und ihre Beobachtungen werden größtenteils bestätigt. Eine neue Erkenntnis verbreitet sich innerhalb der Welt der antiken Philosophen-Ärzte: Es gibt eine Kraft in der Natur, die unter normalen Bedingungen kleine Wunden heilen und deren Entfaltung man unterstützen kann. Damit bringt Ihr Geistesblitz der Menschheit letztlich mehr, als jede unerklärliche Heilgabe, denn diese stirbt mit den Menschen, die sie besitzen. Ihr Wissen kann hingegen weitergegeben werden.

Persönlichkeiten der antiken Philosophie

Nachfolgend eine skizzenhafte Auswahl antiker Philosophen und ihrer Gedanken, die für ein besseres Verständnis der Osteopathie als Ganzes im Kontext der historisch reflektierten Osteopathie relevant sind.

Thales v. Milet (624–548 v. Chr.), Heraklit (520–460 v. Chr.) u. a. zählen zu den vorsokratischen Philosophen. Sie betrachteten Naturphänomene (wie etwa Erdbeben) nicht mehr nur als einzelne Ereignisse, sondern in ihrer Gesamtheit (das Erdbeben ›an sich‹). Diese Denkweise eröffnete völlig neue Methoden, um die Naturphänomene zu erschließen. Von diesen frühen Philosophen sind zumeist nur kurze Schriftfragmente erhalten, oft nur Weisheitssprüche, wie etwa Panta rhei (Alles fließt) oder Gnothi seauton (Erkenne dich selbst).12

Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.) gilt als Begründer der methodischen Philosophie. Eines seiner Hauptziele war es, dem Menschen durch Nachdenken Einsicht, Ethik und Vernunft zugänglich zu machen. Hierzu entwickelte er die Maeieutik (›Hebammenkunst‹). Im Dialog wird dabei durch geschickte Fragestellung ein Sachverhalt systematisch erarbeitet, wobei der Befragte durch eigenständige Reflexionen auf den zu vermittelnden Sachverhalt kommt. Das pädagogische Gegenstück hierzu ist das unmittelbare vermitteln von Lehrstoff (Dozieren).

Sokrates erkannte auch, dass durch beständiges (Nach)fragen häufig ein Punkt erreicht wird, an dem der Gefragte nicht mehr weiter weiß (wir kennen das von den unaufhörlichen Warum-Fragen der Kinder). An diesem Punkt kann man Scheinwissen vortäuschen, dogmatisch werden (Das ist so!), sich persönlich gegen den Fragenden wenden oder – und das ist die sokratische Erkenntnis – das eigene Unwissen (an)erkennen. ›Ich weiß nicht!‹ beinhaltet die Einsicht: Ich weiß, dass ich (noch) nicht weiß. Damit nimmt man die Position des selbstbewussten Nicht-Wissenden ein, die einzige Position, in der man in der Lage ist, etwas Neues hinzuzulernen und damit geistig zu wachsen (Tut man so, als wüsste man alles, kann man nichts dazulernen).13

Reflexion

Für die therapeutische Praxis ist dieser Punkt wichtig, denn die häufigste Frage von Patienten lautet »Was habe ich?«. Bei einem Patienten, der seinen Kopf unter dem Arm trägt, fällt die Antwort nicht schwer. Bei den vielen Patienten, die heute an komplexen und chronisch-funktionellen Beschwerden leiden, sieht die Sache anders aus. Eine schnelle und gut geprüfte Antwort ist hier so gut wie unmöglich – schon gar nicht während der ersten Konsultation. Ein selbstbewusstes »Das kann ich Ihnen (noch) nicht sicher sagen!« wäre in diesem Fall nicht nur ehrlich und authentisch, sondern schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, umfassende Informationen auf dem Weg zu einer vernünftigen und richtigen Diagnose aufzunehmen. ›Bedient‹ man Patienten unter dem Druck der gesellschaftlich geprägten therapeutischen Rolle als ›All-Wissender‹ mit einer schnellen Antwort, mag dies möglicherweise im ersten Moment für beide Seiten erleichternd wirken, damit verbaut man sich aber die Möglichkeit einer offenen Interpretation wahrgenommener Phänomene am Patienten. Warum? Weil jede Wahrnehmung in die bereits gegebene Antwort hineininterpretiert wird, damit man mit der schnellen (und damit beeindruckenden) Diagnose auf jeden Fall recht.

Das Zugeben von Nicht-Wissen in dieser Situation mag im ersten Moment verunsichern. Sie können aber davon ausgehen, dass die meisten Menschen tief in sich genau um die komplexe Wirklichkeit wissen und Ehrlichkeit langfristig schätzen werden. Patienten, die dies nicht respektieren, ignorieren häufig, dass der Hauptanteil der Schaffung normaler Rahmenbedingungen für gute Heilprozesse insbesondere funktionell-chronischer Beschwerden fast immer beim Patienten selber liegt. Sie wollen gesund gemacht werden – eine Erwartung, die der Beobachtung natürlicher Heilmechanismen grundsätzlich widerspricht. Das mag gut sein für den therapeutischen Geldbeutel, ist aber schlecht für die therapeutische Psyche.

Sie sehen: Selbst diese 2.500 Jahre alte sokratische Erkenntnis hat bis heute seine Relevanz nicht verloren.

Auf dem Fundament der ersten Philosophen errichteten ihre Nachfolger das eindrucksvolle Gebäude der antiken Philosophie, dessen Grundgerüst das rationale Denken der westlichen Welt nachhaltig prägen sollte. Aus der Vielzahl dieser Philosophen möchte ich zwei der wohl bedeutendsten kurz vorstellen:

Platon (428/427–348/347 v. Chr.) arbeitete ausführlich die Idee der Existenz zweier Welten aus und gehört damit zu den maßgeblichen Begründern des Dualismus. In ihm existiert eine geistige (metaphysische) Sphäre der ewigen Ideen, welche alle Dinge als Idee ›an sich‹ und damit als Ideal beinhalten. Dieses Ideal ist das eigentliche Formprinzip (archaios). Aus der geistigen Sphäre fließen die Ideale in die Welt der Stoffe und zeigen sich dort in vielen unterschiedlichen Formerscheinungen. Die wandelbaren Formerscheinungen bilden die Physis eines Ideals. Physis beinhaltet im antiken Verständnis somit sämtliche bekannten und unbekannten Möglichkeiten, wie ein Ideal in der stofflichen Welt erscheinen kann. Einfach ausgedrückt: Das Formprinzip Tasse (die Tasse ›an sich‹, die ideale Tasse) kann in unendlich vielen Formen als Stoff Tasse erscheinen.

Reflexion

Platons Ideenwelt klingt ungewohnt, ist aber für die hippokratische Medizin jener Zeit von größter Relevanz. Dies soll am Beispiel der Begriffe Physis und etwas später Anamnesis gezeigt werden.

Physis

»Physis ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein Synonym für den menschlichen Körper.«14

Entsprechend definiert sich Physiotherapie als […]

»[…] eine Form spezifischen Trainings und der äußerlichen Anwendung von Heilmitteln, mit der vor allem die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden soll.«15

Und unter Physiologie versteht man […]

»[…] die Lehre von den normalen, insbesondere biophysikalischen, Lebensvorgängen […]; sie bezieht das Zusammenwirken aller physikalischen, chemischen und biochemischen Vorgänge im gesamten Organismus in ihre Betrachtung ein.«16

Nun liest man bei Physis etwas weiter unten:

»In Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft ist ›Physis‹ ein Fachterminus, der meist mit ›Natur‹, ›natürliche Beschaffenheit‹, ›Naturbeschaffenheit‹ oder ›Körperbeschaffenheit‹ übersetzt wird.«17

Hierzu eine historische Betrachtung:

Naturwissenschaft ist die bei Weitem jüngste der drei genannten Disziplinen. In der Folgezeit spaltete sie sich zusammen mit der Physik zunehmend aus der Philosophie ab. Der in der christlichen Dogmatik als ›weltliche Beschaffenheit‹, im Sinne ›irdischer Beschaffenheit‹ verstandene Physis-Begriff wurde in ›körperliche Beschaffenheit‹ umgedeutet (die damalige Physik befasste sich ausschließlich mit der Untersuchung mechanischer Körper).

Aber auch bei der ›irdische Beschaffenheit‹ handelte es sich bereits um eine Uminterpretation: In der griechischen Antike, in der Physis ca. 700– 800 v. Chr. erstmals von Homer erwähnt wurde, verstand man unter diesem Begriff ursprünglich ›natürliche Beschaffenheit‹. In der Antike fasste man den Naturbegriff weitaus komplexer auf, als dies heute der Fall ist. Für die damaligen Philosophen-Ärzte (antike Ärzte waren primär Philosophen) war Natur das,

»[…] was die Bestimmung und den Zweck des Seienden ausmacht. Sie betrifft sowohl die den Dingen innewohnende Kraft (Dynamis, Energeia) als auch den diesen zugehörigen Ort und die damit verbundene Bewegung.«18

Physis ist also nicht mit physikalischer Struktur (›körperliche Beschaffenheit‹) gleichzusetzen, sondern bezeichnet auch alle in ihr liegenden Entwicklungspotentiale, Zwecke, Bewegungen etc.

Die Physis des Menschen erscheint daher auch in vielfältigen Formen, die sich in körperlichen, geistigen und darüber hinausgehenden Phänomenen ausdrücken. So ist der Mensch in dieser antiken Philosophie-Medizin eine synchrone Einheit aus sich unentwegt wandelnden multidimensional vernetzten Ausdrucksformen. Dynamik und Potenzial dieser Ausdrucksformen hängen dabei von unveränderlichen Gegebenheiten, veränderbaren Rahmenbedingungen und nicht zuletzt auch wesentlich von der inneren Haltung des betroffenen Menschen ab.

Physiotherapie ist in diesem antiken Sinn keine Behandlung des Körpers (altgr. soma und eben nicht physis!), sondern eine auf allen Ebenen greifende ressourcenorientierte Therapie, die das Potenzial der Möglichkeiten und Veränderungen im Blick hat. Und Physiologie ist in diesem Sinn nicht die Lehre körperlicher Vorgänge, sondern das theoretische Wissen über die Wandlungsprozesse auf den verschiedenen den Menschen bestimmenden Ebenen.

Reflexion

Zurück zur Welt der Ideen und der Stoffe. Hier ein Beispiel, wie man sich diese Welten leicht vorstellen kann:

Nehmen Sie einfach etwas in die Hand und betrachten Sie es. Was ist das? Eine Tasse, ein Stift, ein Buch, ein Glas etc. Jetzt führen Sie Ihre Hand hinter den Rücken, so dass Sie den Gegenstand nicht mehr sehen. Eine mögliche Formerscheinung von Tasse, Stift etc., also der Stoff Tasse, Stift etc. ist jetzt weg. Die grundsätzliche Idee der Tasse, des Stiftes etc. ›an sich‹, d. h. das grundlegende Formprinzip, bleibt aber nach wie vor im Bewusstsein, also geistig erhalten. Der Stoff ist weg, die ewige Idee Stift bleibt.

Im dualistischen Modell Platos existiert in der reinen und ewigen Ideenwelt auch der Mensch als idealer und damit ewiger Mensch. Wird ein Mensch geboren, fließt aus dem geistigen Formprinzip Mensch die ›vernünftige‹ Seele in den Körper ein. Sie behält die Verbindung zur Welt der Ideale. Darüber hinaus verliert der irdische Mensch aber den Zugang zu ihr und kann nur über philosophisch gewonnene Erkenntnisse Zugang zu ihr finden.19 Jede Erkenntnis oder Idee ist somit nichts Neues, sondern ein Wiedererkennen bzw. ein Rückerinnern an die ewige Ideenwelt.

In jedem Menschen spiegelt sich also unabhängig von seinem Denken und Handeln das Ideal des Menschen ›an sich‹ in seiner Seele. Dies begründet auch die philosophische Haltung von der grundsätzlichen Ehrfurcht vor dem anderen Menschen. Diese Einsicht wird sich später in der urchristlichen Lehre der Nächstenliebe auch und vor allem im Sinne der Feindesliebe widerspiegeln. Er verschwindet dort aber bereits unter dem Einfluss der kirchlichen Dogmatik, die sich auf Zitate aus den Evangelien, wie etwa »An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!«20 beruft.

Da für Plato die zeitlich begrenzten und wandelbaren Formerscheinungen aus einer hierarchisch übergeordneten geistigen Ideenwelt stammen, bleibt seiner Ansicht nach der geistige Anteil des Menschen, also die vernünftige Seele, nach dem Tod des stofflichen Anteils, weiter erhalten. Durch diese Hierarchie begründet Platon seine Hypothese der Unsterblichkeit der Seele.

Platos bedeutendster Schüler, Aristoteles