Hitler der Eroberer - Rudolf Olden - E-Book

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Rudolf Olden

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Oldens Abhandlung ist die erste im Ausland erschienene Hitler-Biographie; sie kam 1935 erstmals in Amsterdam heraus. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Rudolf Olden

Hitler der Eroberer

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Vorwort von Werner Berthold

Inhalt

Verboten und verbrannt/ Exil [...]VorwortI. KindheitII. DeklassiertIII. Politik im AsylIV. Heim ins Reich!V. Die Geburt des PolitikersVI. Wer ist's?VII. Der PutschVIII. Auseinandersetzung mit der ReichswehrIX. „Mein Kampf”X. Phönix aus der AscheXI. AufstiegXII. Legalität?XIII. Die Große PolitikXIV. In die MachtXV. Der Reichstag brenntXVI. Der 30. JuniXVII. Herr, vernichte die Nationen!

Verboten und verbrannt/ Exil

Vorwort

Die Exilgefährten haben Oldens Hitler-Biographie gelobt. So Heinrich Mann an Rudolf Olden am 10. Januar 1936: „Hoffentlich können wir uns am 26. Januar in Paris sehen; gern hätte ich ihnen gesagt, wie glänzend und noch mehr als das: wie voll von Wissen und Anschauung Ihr Buch ist.” Egon Erwin Kisch schreibt im Nachwort zu einem Brief in PEN-Angelegenheiten am 22. Mai 1937: „Privat möchte ich hinzufügen, daß ich oft mit herzlicher Zuneigung an Sie denke und das besonders intensiv tat, als ich Ihren Hitler und Ihren Hindenburg las.” Kurt Hiller nennt in seinem Nachruf am 27. September 1940 Oldens Werk „die gediegenste Monographie, die diesem Gegenstand bisher gewidmet worden ist”.[1]

Heute sind Autor und Buch so gut wie vergessen. Das Interesse von Öffentlichkeit wie Geschichtswissenschaft für Hitler hat seit 1945 nicht abgenommen. Zu einer Neuauflage der Hitler-Biographie Oldens kam es dennoch nicht. Nur ein Kapitel, das sechzehnte, über den 30. Juni 1934, also Hitlers Aktion gegen Röhm, wurde abgedruckt – in Michael Winklers Text- und Dokumentenband „Deutsche Literatur im Exil 1933 - 1945”, Stuttgart 1977.

Auch in der Exilzeit wurde das Buch kein geschäftlicher Erfolg. Am 21. März 1940 teilte Olden Alfred Wolfenstein brieflich mit: „Den Hitler hat Landshoff verramscht. Aber ich weiß nicht an wen. Wo mögen die restlichen Exemplare hingekommen sein?” Ursache mochte dafür vor allem sein, daß etwa zur gleichen Zeit – 1936/1937 – Konrad Heidens Hitler-Biographie erschienen war, das herausragende Werk eines Autors, der Hitler und den Nationalsozialismus seit ihren Anfängen in München kritisch beobacht hatte. Es war eine große Leistung der deutschen Emigration, daß sie zwei gewichtige Werke über den „Führer” vorlegen konnte; der kleine den Exilautoren zur Verfügung stehende Markt aber konnte nicht beiden genug Aufnahmefähigkeit bieten. Allein der als Kenner des Gebietes bereits ausgewiesene Heiden und sein Verleger Oprecht verbuchten, an den Zeitumständen gemessen, einen allerdings bedeutenden Erfolg. Der Erstausgabe des ersten Bandes folgte bald das 18. bis 20. Tausend.[2] Mit seiner ebenfalls 1935 erschienenen Biographie „Hindenburg oder Der Geist der Preußischen Armee” hatte Rudolf Olden übrigens gleichermaßen Pech. Etwa gleichzeitig erschien bei Querido, Amsterdam, Emil Ludwigs „Hindenburg und die Sage von der Deutschen Republik”. Verlagschef Fritz H. Landshoff konnte selbstverständlich nicht noch ein zweites Buch über Hindenburg – dazu im selben Jahresprogramm – herausbringen. Oldens „Hitler” war bei Querido erschienen; die Hindenburg-Biographie wurde vom Verlag Europäischer Merkur, Paris, veröffentlicht.

Immerhin: schon 1936 erschienen englische Übersetzungen des Hitler-Buches Oldens unter dem Titel „Hitler the Pawn” bei Gollancz in London und „Hitler” bei Covici, Friede in New York. Auch im „Left Book Club” sollte eine Ausgabe herauskommen: sie ist aber nicht nachweisbar.

 

Vergessen das Werk, vergessen der Autor. Wer aber war dieser Rudolf Olden? Nur zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft haben ausgereicht, den Namen eines der frühesten, entschiedenen Gegner Hitlers nahezu auszulöschen, eines bewußten Repräsentanten der Republik von Weimar, besser: der Idee dieser Republik. Damals kannte man ihn. Wie sehr er als Denker, als engagierter Journalist und Anwalt, aber auch wegen der Ausstrahlungskraft, des Charmes seiner Persönlichkeit geachtet, geschätzt wurde, sollte sich in der Notzeit des Exils erweisen, als es darum ging, einen neuen deutschen PEN-Club aufzubauen und, ungeachtet der Parteigrenzen, in ihm die vertriebenen Schriftsteller zu sammeln. Ohne juristische Akte, Gründungsversammlung, Statuten, Wahlen u. dgl., ergab es sich wie von selbst, daß gerade dieser Rudolf Olden als stillschweigend legitimierter Sekretär – unterstützt vom Präsidenten Heinrich Mann – die Gruppe unangefochten bis zu seiner Internierung im Sommer 1940 lenken konnte. Kurt Hiller, der seine (zahlreichen) Gegner mit ätzender Schärfe zu beurteilen und verurteilen pflegte, hat Olden in seiner schon erwähnten Gedenkrede im Onchan Internment Camp, Isle of Man, geradezu liebevoll, aber, aus kritischer Sympathie, auch differenziert charakterisiert: „Er war kein Parteipolitiker; er war ein allem Dogmatikerstarrsinn und freilich auch aller Ideeninbrunst ferner, leicht skeptischer Freund des Anstands, der persönlichen Freiheit, der Menschlichkeit. Seine Skepsis lag, in ihrer Tönung, zwischen der des Bohémiens, der des relativistischen Denkresignanten und der des Weltmanns. […] Er liebte allen auf Menschlichkeit abzielenden Aktivismus, als geschworener Feind des Zwangs, der Vergewaltigung, der Tyrannei, der Barbarei; aber er konnte sich nicht entschließen, selber Mittätiger, Mitträger eines Aktivismus zu werden. Er war als politischer Schriftsteller mehr kontemplativ und ironisch als aktiv, mehr Zergliederer als Forderer und Fahnenschwinger. […] Er war kein Autor für Fanatiker. er war einer der letzten honorigen Freisinnigen Deutschlands. Das ist viel!”[3]

 

Rudolf Olden war liberaler Demokrat und Pazifist, war es aber nicht von Anfang an. Es scheint eher, daß er vorerst – etwa bis in sein dreißigstes Lebensjahr hinein – problemlos, unreflektiert seine Rolle als Angehöriger der Oberschicht spielte. Eine Photographie aus dem Jahre 1918 zeigt ihn als Oberleutnant der Kavallerie mit Monokel. Aber: dem Gesicht fehlt soldatische Härte, es wirkt eher weich, fragend … Zu dieser Zeit muß sich, bewirkt vom Fronterlebnis, die Wandlung zum Pazifisten vollzogen haben. In seiner künftigen Auseinandersetzung mit dem Militarismus wußte er aus existentiellem Erleben, wovon er sprach.

Einige Anmerkungen zur Biographie: Rudolf Olden wird am 14. Januar 1885 in Stettin als Sohn des Schriftstellers und Schauspielers Hans Olden (früher Oppenheim) und der Schauspielerin Rosa Stein geboren. Nach der Scheidung der Eltern bleibt Rudolf mit den Geschwistern Balder, dem späteren Schriftsteller, und Ilse, der späteren Gräfin Seilern, bei der Mutter. Man lebt in großbürgerlichen Verhältnissen, die die Schwester der Mutter, Hedwig Fürstin zu Liechtenstein, ermöglicht, und wechselt häufig den Wohnort. Bruder Balder erzählt später, im Exil, in der Zeitschrift „Freies Deutschland”, Mexico: „Er war mit fünfzehn Jahren ein vollendeter Herr; kein Stäubchen an seinem stets gebügelten Anzug, von einer Höflichkeit, die eisig werden konnte, schlank, hochgewachsen, aristokratisch in jedem Gestus”.[4] Die Biographie scheint exemplarisch: Jurastudium, Verbindungsstudent, Kriegsteilnehmer, Kavallerieoffizier … Dann folgt, wie gesagt, der Bruch. Etwa zur gleichen Zeit, in der Hitler, seiner Aussage in „Mein Kampf” zufolge, in Pasewalk den Entschluß gefaßt haben will, Politiker zu werden, wird sein vier Jahre älterer späterer Gegner Olden Demokrat und Pazifist. Er arbeitet in Wien als Journalist am pazifistischen „Friede”, am „Neuen Tag” und am „Tag” und freundet sich u.a. mit Alfred Polgar, Richard A. Bermann, mit Egon Erwin Kisch, Karl Otten und Joseph Roth an. Mit Hugo Bettauer gibt er 1924 eine Zeitschrift „Er und Sie. Wochenzeitschrift für Lebenskultur und Erotik” heraus. Beide Herausgeber müssen sich in einem Strafprozeß verantworten: man wirft ihnen vor, sie wollten die öffentlichen Sitten verderben; sie werden jedoch freigesprochen. Mitte der zwanziger Jahre geht Olden nach Berlin. Theodor Wolff stellt ihn als politischen Leitartikler beim „Berliner Tageblatt” ein. Bald wird er zum zweiten Mann des angesehenen Blattes. Er schreibt vor allem über Politik in Deutschland, darunter, vordringlich, über die heraufkommende, bedrohlich anwachsende nationalsozialistische Bewegung und über die der Demokratie gefährliche Einflußnahme der Reichswehr auf die Politik. Olden publiziert auch im „Tagebuch” und in der „Weltbühne”; er verfaßt neben politischen Leitartikeln und Kommentaren Glossen und Buchbesprechungen.

 

Vielleicht erinnert man sich heute noch am ehesten an Olden als Strafverteidiger am Berliner Kammergericht. Er verteidigt Carl von Ossietzky – zusammen mit Max Alsberg, Alfred Apfel und Kurt Rosenfeld – im „Weltbühnenprozeß”. Er setzt sich für die Neuaufnahme des Prozesses gegen Jakubowski ein mit dem Ziel, den zu Unrecht wegen Kindesmords zum Tode verurteilten und hingerichteten ehemaligen russischen Kriegsgefangenen und Landarbeiter zu rehabilitieren. Auch bekämpft er 1932 das drohende Verbot des Filmes „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt”, dessen Drehbuch Slatan Dudow mit Bertolt Brecht und Ernst Ottwalt geschrieben hatte.

Nach Hitlers Machtübernahme veranstaltet Olden am 19. Februar 1933 noch den Kongreß „Das Freie Wort” in der Kroll-Oper, Berlin. Nur durch rechtzeitige Flucht entgeht er nach dem Reichstagsbrand drohender Verhaftung. Er lebt einige Monate in der Tschechoslowakei und schreibt hier „Hitler der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende”, eine anonym erschienene Broschüre, mit der Wieland Herzfeldes ins Exil nach Prag übergesiedelter Malik-Verlag seine Produktion wieder aufnimmt. Von nun an ist Oldens publizistische Tätigkeit ganz dem Versuch gewidmet, die Fragen „Wie konnte es geschehen?” und „Was tun?” zu beantworten. In Paris gibt er 1934 eine Dokumentation „Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933” im Auftrag des Comité des Délégations Juives heraus. Im gleichen Jahr erscheint die Broschüre „Warum versagten die Marxisten?”, in der er mit den beiden großen Arbeiterparteien abrechnet: „Wären Sozialdemokraten und Kommunisten Marxisten in dem Sinn gewesen, daß sie dem strengen Drang nach Erkenntnis und Wahrheit folgten, den er (Marx) ihnen verkündet und vorgelebt hat, der jüngste Abschnitt der deutschen Geschichte hätte nicht so verlaufen können, wie er verlaufen ist.” Seit etwa Ende 1933 lebt Olden mit Unterbrechungen in London, dann, seit 1935, in Oxford. Kurze Zeit nimmt er als leitender Redakteur der von Hubertus Prinz zu Löwenstein herausgegebenen Wochenzeitung „Das Reich”, Saarbrücken, am Kampf um das Saargebiet teil. Später beteiligt er sich an den Vorbereitungen zur Gründung einer deutschen Volksfront. Oldens Tätigkeit als PEN-Sekretär wurde bereits erwähnt. Auf dem XII. Internationalen PEN-Kongreß in Edinburgh und Glasgow 1934 warnt er, offizieller deutscher Delegierter neben Ernst Toller, in einer leidenschaftlichen Rede vor Schrecken und Gefahren des NS-Regimes. 1937 bis 1939 hält er Vorlesungen an der Oxford University (Balliol College) und an der London School of Economics, so über die Geschichte des Liberalismus in Deutschland von 1808 bis 1933 und über die Geschichte des Deutschen Reiches von 1871 bis 1918. Rudolf Olden arbeitet an vielen Exilzeitschriften mit, besonders aber an „Das Neue Tage-Buch” und am „Pariser Tageblatt” sowie an der „Pariser Tageszeitung”. All dies bringt ihm finanziell nicht viel ein. Dem einst so Verwöhnten geht es nicht gut. Am 5. August 1938 schreibt er an den Prinzen Löwenstein: „Alles was ich anfasse, wird schlecht bezahlt.” Dennoch entzieht er sich, aus einem schon ungewöhnlichen Pflichtgefühl heraus, nicht ehrenamtlichen Tätigkeiten. Das Amt als Sekretär der deutschen Gruppe des PEN behält er bis kurz vor seinem Tode bei, auch als es immer mehr darum geht, gefährdete Exilschriftsteller aus den von Hitler bedrohten oder schon besetzten Gebieten zu retten. Er unterstützt Hubertus Prinz zu Löwenstein, den Generalsekretär der Hilfsorganisation American Guild for German Cultural Freedom, als Gutachter bei Anträgen auf Gewährung von Unterhaltsbeihilfen und als Preisrichter bei einem literarischen Preisausschreiben.

Am 2. Dezember 1936, laut „Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger” vom 3. Dezember, wird Rudolf Olden, gleichzeitig mit Thomas Mann, aus dem Deutschen Reich ausgebürgert. In einem Schreiben der Preußischen Geheimen Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, vom 15. Februar 1936 an das Auswärtige Amt, wird auch Oldens Hitler-Biographie zur Begründung herangezogen: „Zum vorgenannten Verfahren teile ich noch mit, daß inzwischen von Olden ein neues Buch im Querido-Verlag Amsterdam unter dem Titel ‚Hitler‘ erschienen ist. Das Buch stellt diesmal eine Sammlung aller lügenhaften Meldungen dar, die bisher im deutschfeindlichen Auslands- und Emigrantenschrifttum über den Führer und Reichskanzler veröffentlicht worden sind. Der Inhalt dieser Hetzschrift entspricht in weitem Umfang dem vor kurzem veröffentlichten und bereits verbotenen Buche über den Führer. Das Buch ‚Hitler‘ ist inzwischen polizeilich beschlagnahmt und eingezogen. […][5]

 

Bei dem „bereits verbotenen Buche” handelt es sich um „Hitler der Eroberer”. In diesem Bändchen wird das Hauptthema des späteren umfassenden Werkes schon angeschlagen: Hitler, so sagt Olden, hat die Macht nicht erobert; sie wurde ihm präsentiert. Deutschland ist preisgegeben, verraten worden. Das Umschlagbild, von John Heartfield nach einer Photographie gestaltet, zeigt eine symbolische Szene: Hitler steht, in tiefer Verbeugung, vor dem Reichspräsidenten Hindenburg, der die Marschallsuniform der alten Armee trägt. Der Führer der NSDAP – im Cut, nicht in Braun – steht, der Befehle gewärtig, vor dem Repräsentanten der Kaste der Junker und der kaiserlichen Offiziere. Die Hitler-Biographie von 1935 sollte, wie aus einer Vorbemerkung zu Oldens Aufsatz „Die Familie Adolf Hitlers” in „Das Neue Tage-Buch” vom 14. Dezember 1935 hervorgeht, „Hitler, Agent der Macht” heißen. Aus Gründen, die wir nicht kennen, fiel der präzisierende Untertitel, der den Hauptaspekt des Buches deutlich herausgestellt hätte, fort. Nur der Titel der englischen Übersetzung, die bei Gollancz in London erschien, erfuhr eine Erweiterung: „Hitler the Pawn”. Bauer im Schachspiel der Großen, Mächtigen zu sein – das ist die Rolle, die ihm die Geschichte zugewiesen hat. Es ist zu bedauern, daß die deutsche Originalfassung ohne Untertitel erschienen ist und damit vielleicht zu weit gesteckte Erwartungen hervorrufen mag. Eine umfassende Biographie, die dem Leben Hitler allseitig nachzugehen versuchte, bietet das Werk nicht. Olden interessiert letztlich ein Aspekt, für ihn allerdings der wichtigste, wesentliche, eben die Aufgabe eines Agenten, die Hitler im Mächtespiel der deutschen Szene der Jahre 1919 bis 1934 wahrgenommen hat. Sein Buch, die Zeitanalyse eines vertriebenen deutschen Demokraten, ist geschrieben als Beitrag zur Aufklärung über die Ursachen der eigenen Niederlage, – als Beitrag aber auch zum Gegenangriff auf den zeitweiligen Sieger. Dann aber geht es um Erkenntnis von Machtrelationen. Der Hauptangriff muß sich gegen die eigentlichen Inhaber der Macht, die Hitler ermöglicht haben, richten. Wo sind sie zu suchen? Wessen Agent, präzis gesagt, war Hitler? Theoretisch hat sich Olden – auch bei anderer Gelegenheit – mit dem Problem nicht auseinandergesetzt. Als Journalist schien er der Anschauung zu bedürfen. Aus Augenscheinnahme entwickelten sich seine Ansichten. Theoretisieren lag ihm nicht. Seiner brillanten Sprache mochte dies förderlich sein. Der Leser aber vermißt eine wenigstens knappe Erörterung seiner Vorstellungen vom deutschen Faschismus und der ihn bewegenden Kräfte. Eine Erklärung – eine Aufzählung zumindest der maßgebenden politischen Faktoren – scheint sich auf Seite 147 der Biographie zu finden. Im Zusammenhang der Zurückweisung der Vorstellungen von einer zionistischen Verschwörung heißt es: „Aber es gab in Deutschland Verschworene, die solidarisch zusammengefaßt werden konnten, weil ihre Interessen vereinbar waren: Armee, Junkertum, Großindustrie. Materielle und persönliche Motive verbanden die drei mächtigen Gruppen seit langem, Zölle und Heiraten, Steuern und Karrieren, Stahl, Kohle und Roggen. Der Begriff ‚herrschende Klasse‘ hatte sehr konkrete Merkmale gefunden, und ihre Einheit wurde, so oft man sich zankte, immer wieder hergestellt. Aber zum ersten Mal hatte sie ein gemeinsames Organ bekommen; das war der Alldeutsche Verband. So viele ostentativ von seinem Radikalismus abrückten, – von hier aus wurde zielbewußt Politik und öffentliche Meinung gemacht, quer durch getrennte Lager, Ämter und Parteien.” Es scheint, als stehe Olden mit solcher Ansicht marxistischer Imperialismusinterpretation nahe. Vom Marxismus hat er sicher gelernt; seine Theorie jedoch blieb ihm fremd: „Man darf sich die Geschichtsschreibung nicht so leicht machen, wie es Schriftsteller tun, die ‚das Kapital’ diesselbe Rolle spielen lassen, die bei den Antisemiten die ‚Weisen von Zion’ übernehmen.” „Nein, auch die Kapitalisten tragen in ‚ihrer Brust ein fühlend Herz’, auch sie sind keine Maschinen ihres Geldinteresses, sie haben eine Auswahl an politischen Wegen und wählen sie nach ihren Empfindungen und Leidenschaften.” (Seiten 186–188) So führt der Blick auf marxistische Faschismustheorien beim Bemühen, Oldens Auffassungen zu erläutern, nicht weiter. Aber auch das Bild von der alldeutschen Verschwörung – einem Phänomen ja der Zeit des ersten Weltkrieges – ist auf die politische Konstellation in der Nachkriegszeit nur bedingt anwendbar. Olden weiß dies. Im Buch wird über ein geplantes Zusammenwirken von Großgrundbesitz, Armee und Kapital sowie eine gemeinsame Verbindung mit Hitler nichts gesagt. Das Verhältnis des Agenten zu seinen Auftraggebern ist kompliziert, voller Spontaneität. Olden schildert einmal, wie Hitler sich ihnen, einzelnen Gruppen, anbietet: „er drängt sich zwischen die Mächtigen und ihren Anhang, wie ein Agent sich zwischen Kaufleute drängt, die ein Geschäft miteinander abschließen wollen. Er fängt damit an, sie auseinanderzureden. Dann verspricht er ihnen, sie wieder zusammenzubringen, – wenn sie ihn beteiligen. Er ist nichts anderes als Agent der Macht. Aber er fördert ihr Geschäft wirklich und ist die Prozente wert, die man ihm bewilligt.” (Seite 200f.)

 

Sein eigentlicher, ersehnter Partner aber, der einzige, den er achtet, ja verehrt, ist die bewaffnete Macht, die Reichswehr. Rudolf Olden sieht die Geschichte Hitlers als „die Geschichte seiner Auseinandersetzung mit der Reichswehr” (Seite 224). Dieser Auseinandersetzung mit einem Sektor der „herrschenden Klasse” ist letzthin das Buch gewidmet. Olden hat die NSDAP einmal das Ergebnis von zwei Faktoren genannt: Reichswehr und Propaganda. Unter dem Begriff „Propaganda” ist die gewiß beispiellose Fähigkeit Hitlers zu subsumieren, von Krieg und Wirtschaftskrisen deklassierte und verunsicherte Massen, Massen ohne demokratische und aufklärerische Tradition, zu mobilisieren, sein Vermögen, sie mit Parolen verschwommener nationaler und sozialer Mystik zu faszinieren, zu bewegen. Für die Reichswehr aber besaß, einer Bemerkung General von Lossows zufolge, Hitlers Bewegung „werbende Kraft […] für die nationale Einstellung der Arbeiterschaft” (Seite 128). So wird sie zur „Propaganda-Abteilung der Reichswehr”. Zwei innenpolitische Mächte verbinden sich zu gemeinsamem Ziel. Auch Konrad Helden spricht von den zwei großen Körpern, „die nebeneinander wachsend, oft einander feindselig, schließlich dennoch einander stützend und ergänzend, in illegaler, gesetzesfeindlicher und revolutionärer Arbeit den republikanischen Staat der Weimarer Verfassung zerbrachen, eine neue Macht errichteten und diese als Beute miteinander teilten”.[6] Ein Satz, der beinah auch von Rudolf Olden geschrieben sein könnte! Beinahe! Die Unterscheidung: Heiden spricht von zwei gleichberechtigten Kräften; Oldens Hitler hingegen, der sich dem Stärkeren als „Agent” anbietet, bleibt, bei allen Auseinandersetzungen, Zweiter. Dies behält auch nach der Machtergreifung Gültigkeit! Die Wehrmacht, wie die Truppe nun heißt, wird aus der NS-Totalität ausgenommen. Ihr zuliebe zerschlägt Hitler 1934 die SA. Von ihrem guten Willen aber hängt auch das Fortbestehen seines Reiches ab: „Würde die Wehrmacht eines Tages Hitler und seine Zunft nicht mehr ertragen wollen, so wäre er schnell beseitigt.” (Seite 350)

 

Oldens Buch erscheint 1935. Drei Jahre später erlebt die Wehrmacht das Revirement vom 4. Februar 1938. Souverän, ohne Widerstand, ohne jeden erkennbaren Widerspruch übernimmt Hitler selbst den Oberbefehl. Die Machtfrage „Wer wen?”, wenn sie nach Hindenburgs Tod 1934 zwischen Truppe und Hitler überhaupt noch gestellt war, ist endgültig beantwortet. Olden trägt der Entwicklung Rechnung. In einem Beitrag „Wiedergeburt durch die Armee” in „Das Neue Tage-Buch” vom 18. November 1939, der sich mit Hermann Rauschnings Buch „Die Revolution des Nihilismus”, 1938, kritisch auseinandersetzt – Rauschning hofft auf eine Erhebung der Armee aus konservativem Geist – stellt er fest, daß nun Hitler der Sieger ist. Der Agent ist zum Herrn, zum Feldherrn geworden.

Absurd allerdings erscheint es ihm, von der Truppe, die Hitler erst ermöglicht hat, Rettung zu erwarten, von einer Armee, die sich, wie er meint, nur im sozialen Niveau ihrer Träger von den Nazis unterscheide.

 

Olden hat nur die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft in seinem Buch berücksichtigen können - nicht die 1938 einsetzende Annexionspolitik, die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, die Schrecken des Völkermords. Hat er all dies geahnt? Am Ende fragt er: „Was ist von ihm zu erwarten?” Die Antwort: Alles. Hitler ist nicht kalkulierbar, denn „er ist, wie sein Reich, nur Exekutive. Und sonst? Nehmt das Wort wörtlich: ‚Es ist nichts dahinter.‘“ (Seite 362) Er ist der ihm – dem Humanisten Olden – gegenüber ganz andere, Fremde, der den Geist haßt, ihn verabscheut. Es gehört zur Faszination dieses Buches zu sehen, wie Olden seinen Gegenstand gründlich in Augenschein nimmt, ihn als erfahrener Journalist bei seinen Auftritten beobachtet, Hitlers Buch, seine Reden studiert und seziert, um die merkwürdige Gestalt aus einer anderen Welt begreifbar, faßbar zu machen.

 

Gewiß, wer sich umfassend über Hitler und seine Zeit orientieren will, wird sich auch mit den großen Biographien, die in der Nachkriegszeit erschienen sind, beschäftigen müssen.[7] Oldens Buch ist dennoch nicht überholt. Manche Fakten und Interpretationen sind zu korrigieren. Von hohem Interesse bleibt jedoch die Auseinandersetzung eines der besten deutschen Linksliberalen mit seinem Antipoden, eine Auseinandersetzung, die für Teile der deutschen Emigration repräsentativ gewesen sein dürfte.

 

Gern wüßte man, wie Olden selbst nach Hitlers Untergang die Biographie umgestaltet oder ergänzt hätte. Es kam nicht dazu. Auch im Exil war Olden vor Hitler nicht sicher. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Sache der Westmächte im Krieg propagandistisch zu unterstützen und statt dessen als „feindlicher Ausländer” von den Engländern (für kurze Zeit) interniert worden war, folgte er einem Ruf nach New York an die New School for Social Research. Sein Schiff die „City of Benares” wurde in der Nacht vom 16. zum 17. September 1940 von einem deutschen Unterseeboot – U 48 – torpediert; Olden und seine Frau Ika wurden nicht gerettet.

 

Werner Berthold

I.Kapitel: Kindheit

Adolf Hitler ist geboren am 20. April 1889 in Braunau am Inn. Er wuchs in Passau auf, wo Inn und Donau zusammenfließen, später bei und in Lambach und in der Gegend von Linz an der Donau. Braunau, Lambach und Linz liegen in Oberösterreich, Passau unmittelbar an der oberösterreichischen Grenze. Oberösterreich ist ein Teil des Erzherzogtums Österreich und ein Juwel in der römisch-deutschen Krone.

Wälder, Berge und Felder, klare Bäche und starke Flüsse, Schlösser, Klöster, Flecken und Städte, gelehrter Klerus, uralter Adel, stattliches Patriziat, reiches Bauerntum, – kein Land könnte glücklicher mit den Elementen eines harmonischen Gleichgewichts ausgestattet sein. Gotik, Renaissance und die Barocke haben ihren Glanz darüber ausgeschüttet. Wenn Österreich überhaupt ein durch Natur und Kultur reiches Land ist, Oberösterreich ist es doppelt. Es ist melodiös wie die Musik Mozarts, zärtlich und stark, lieblich und kräftig. „Himmlisches Oberösterreich” rief sein großer Dichter Adalbert Stifter, als er, Wien freiwillig verlassend, in die Heimat zurückkehrte.

 

Aber durchaus nicht alle Bewohner Oberösterreichs sind Bekenner des Glücks, das ihre Heimat ihnen gab. Während alles für die Zufriedenheit der Menschen angelegt zu sein scheint, war und ist ein Teil von ihnen höchst unzufrieden mit dem Schicksal, das sie hier geboren werden ließ. Sie wollen keine Oberösterreicher, überhaupt keine Österreicher sein. Die Zwiebeltürme und goldenen Altäre ihrer Kirchen, die reichgeformten Pestsäulen und St. Georgsbrunnen, der majestätische Fluß der Donau zwischen Auen und Hügeln, der Blick auf die Schneegipfel, – alles mißfällt ihnen, was Gott ihnen gab. Weder die katholische Religion, noch die Staatsverfassung, die kaiserliche der Habsburger wie die republikanische, steht ihnen zu Gesicht. Die Süße und Lieblichkeit, die ihrer Umgebung innewohnt, verabscheuen sie ebenso wie die behutsame Ausgeglichenheit der Umgangsformen, die Klerus und kaiserliche Beamtenschaft sorglich gepflegt haben. Sie sehnen sich von der südlichen Fülle weg zur nordischen Kargheit, von der Wärme des österreichischen Wesens zur preußischen Strenge.

Die Sehnsucht von Tollen? Vielleicht. Aber Gefühle sind nicht an der Vernunft zu messen. Und wann hätte nicht Macht und Gewalt, wie abstoßend, so auch anziehend gewirkt.

Die seltsame Hinneigung begann, als 1866 Preußen das kaiserliche Österreich aufs Haupt schlug. Sie setzte sich stürmisch fort, als dasselbe Preußen 1870 und 71 die französischen Heere vor sich her trieb, als vor der Hauptstadt des besiegten Feindes das neue Deutsche Reich proklamiert wurde, während Österreich mißtrauisch bei Seite stand. Damals fanden sich österreichische Menschen zusammen, die sich Deutschnationale nannten und großpreußisch empfanden. Sie fühlten sich gedemütigt, weil sie nicht dabei waren, wo so viel kriegerischer Ruhm erworben wurde. „Als pommerscher Gardegrenadier bei St. Privat gefallen zu sein,” seufzte einer von ihnen, dünke ihm weit seliger, als in Wien zu leben. Daß sie ausgeschlossen waren von der neuen deutschen Einheit, fürchteten sie, erweise ihren minderen Wert. Das Minderwertigkeitsgefühl erfüllte vor allem viele Akademiker. Es griff nicht nach oben und ebensowenig in die Massen der Arbeiter und Bauern. Aber es zersetzte den Mittelstand.

 

Adolf Hitlers Vater war österreichischer Beamter, er kam aus dem Waldviertel, einer rauhen und armen Gegend nördlich von Wien. Ein „offizieller” Stammbaum des Führers, den die nationalsozialistische Presse veröffentlicht hat, nennt seinen Vater einen Bauern. Das ist Schönmalerei, die der Mode und Leidenschaft für „Blut und Boden” dienen soll.

Ein parteitreuer Familienforscher hat einen Müller aus ihm gemacht. Hitler selbst berichtet in seinem berühmten Buch „Mein Kampf”, das zum Teil eine Autobiographie ist, sein Vater sei der Sohn eines armen Kleinhäuslers gewesen.

Er hieß auch nicht Hitler, sondern Alois Schicklgruber oder Schücklgruber. Die Schreibweise ist verschieden. Erst 1876, als Vierzigjähriger änderte er seinen Namen. Alte Leute in Braunau, die sich seiner noch als Schücklgruber erinnern, behaupten, es sei wegen einer Erbschaft geschehen, die von einer Verwandten des Namens Hitler stammte. Aber klar ist die Sache trotz manchen Nachforschungen nicht geworden.

Die Einzigen, die sie klären könnten, sind Adolf Hitler und seine Geschwister. Sie wollen nicht.

Ob der k.k. Zollamtsoffizial Hitler oder Schicklgruber hieß, ist, auch für ihn, gleichgültig. Der eine Name ist so gut wie der andere. Daß Schicklgruber einen sehr spezifisch österreichischen und ländlichen Klang hat, während Hitler eher ein Allerweltsname ist, ohne charakteristische Färbung, das bedeutet für den kleinen Beamten nichts.

Anders allerdings für den mächtigen Politiker und Parteidiktator. Die Tatsache der Namensänderung war bis kurz vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler unbekannt. Zwar pilgerten schon begeisterte Anhänger zu dem Haus in Braunau, in dem er zur Welt kam. Aber noch war niemand auf den Gedanken gekommen, weiter aufwärts in der Ahnenreihe des Führers zu forschen, als ein findiger wiener Journalist das Faktum in einer liberalen Zeitung veröffentlichte.

Die wiener Nationalsozialisten hörten die Komik heraus, die in dem umständlichen bäurischen Wortgebilde liegt und hielten die Mitteilung für eine jüdische Lüge und Verhöhnung ihres Abgotts. Zwei jugendliche Parteigenossen überfielen den Redakteur mit Knüppeln im Café Rebhuhn, in dem er nach Tisch zu sitzen pflegte. Der Zwischenfall hatte keine weiteren Folgen, als daß die Namensänderung nun durch alle Zeitungen ging. Nur die nationalsozialistischen Blätter teilten sie ihren Lesern nicht mit.

 

Die Wirkung der wiener Zeitungssensation läßt die Frage aufwerfen, was aus der politischen Karriere des deutschen Führers geworden wäre, hätte sein Vater nicht den ungewöhnlichen Akt der Namensänderung vorgenommen und hätte nicht Adolf Hitler sondern Adolf Schücklgruber versucht, sich zum Vorkämpfer des deutschen Nationalismus aufzuwerfen. Liegt hier einer der kleinsten Umstände vor, die eine lange bedeutsame Kausalitätsreihe ablenken und das Schicksal eines Volks, des Erdteils, der Welt bestimmen?

Es fällt schwer, an die Gewichtigkeit so kurioser Zufälle zu glauben. Aber ist es nicht grotesk, sich vorzustellen, daß ein Mensch namens Schücklgruber auf den feierlichen Sitzen thronen könnte, die früher einmal von den Hohenzollern und von Bismarck eingenommen wurden? Grotesk gerade dann, wenn er vielleicht mehr eine repräsentative Figur sein sollte, als man gemeinhin annimmt? Aber wer Hitler kennt, kann gewiß sein, daß er selbst zeitig genug einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden hätte. Er trat seine Laufbahn an als „der unbekannte Soldat des Weltkriegs”. Ein Pseudonym hätte nicht schlecht zu der Rolle gepaßt. Anfangs wich er auch den Photographen aus, es gab keine Bilder von ihm. Das geheimnisvolle Dunkel um seine Person wäre um so interessanter gewesen, hätte er einen nom de guerre geführt.

Als Hitler die Diktatur errichtet hatte, spielte sein Name noch einmal eine Rolle. Es stellte sich heraus, daß mehrere jüdische Familien im Osten Europas Hitler heißen. Einige von diesen Hitlers, Hietlers und Hütlers, die keine Gemeinsamkeit mit dem Judenverfolger teilen wollten, kamen bei ihren Behörden um die Genehmigung der Namensänderung ein. Das bot eingefleischten Judenriechern, in diesem Fall jüdischen, nicht antisemitischen, Gelegenheit, die „arische” Abstammung Adolf Hitlers anzuzweifeln und den Nachweis zu versuchen, daß er einer der jüdischen Hitler-Familien entstamme. Aber Niemand, weder von den Faschisten noch Antifaschisten, hat darauf geachtet. Und offenbar mit Recht.

Glühender Judenhaß ist, wie man weiß, kein Charakterzug, der die Zugehörigkeit zum jüdischen Stamm ausschließt. Auch ist es unmöglich, nach dem Äußeren eines Menschen einen Zuschuß jüdischen Bluts zu erkennen. Dagegen läßt es die besondere Artung von Hitlers Intellekt als widersinnig empfinden, daß er, selbst zum kleinsten Teil, jüdischer Abkunft sein sollte. Stammbäume und Ahnenreihen sind nicht geeignet, die Abstammung eines Menschen mit Gewißheit zu bestimmen. Das sicherste Merkmal ist noch immer der Geist, und sein Maßstab ist das Gefühl. Die Öffentlichkeit, und vor allem die jüdische Öffentlichkeit, wollte nichts davon hören, daß der Schriftsteller und Redner Adolf Hitler auch nur ein Viertel -oder Achtel-jude sein könnte.

 

Wir wissen nur wenig von den Eltern des deutschen Diktators. Es ist merkwürdig, wie vage und unbestimmt fast Alles ist, was über die private Sphäre Adolf Hitlers erzählt und gedruckt wird. Vom Namen angefangen steht nichts so recht fest, vieles bleibt dunkel, anderes ist künstlich verfinstert. Seine eigenen Memoiren sind als Geschichtsquelle noch unsicherer, als es politische Kampfschriften im Allgemeinen sind.

Daß er selbst nicht bestrebt war, seine Anfänge in helles Licht zu setzen, kann nicht wundernehmen. Schon früh fühlte er seine Berufung zu Höherem. Er kannte oder empfand die Nützlichkeit der Tradition, daß ein Prophet aus der Niederung der Armut zu kommen hat, aber daß die Niedrigkeit keine häßlichen, abstoßenden Züge tragen darf. Da mußte es das Beste sein, möglichst wenig mitzuteilen. Verschwiegenheit fällt auf bei dem Mann, der sonst in Schrift und Rede die breiteste Ausführlichkeit bevorzugt. Aber sie ist verständlich und ein Zeichen seiner außerordentlichen Begabung. Seltsam aber ist es, daß nicht mehr Zeugen aus jener nicht so lang zurückliegenden Zeit sich aus eigenem Antrieb äußern, nachdem der Mann, den sie „arm und höchst gering” gekannt haben, groß und mächtig geworden ist. Doch auch das wird seine Ursachen haben.

Aber kehren wir zu Alois – erst Schücklgruber oder Schicklgruber, dann Hitler, – dem Vater zurück. Der arme Dorfjunge aus dem Waldviertel war schon mit dreizehn Jahren von zu Hause weggewandert, hatte erst das Schusterhandwerk gelernt, es schließlich aber erreicht, ein Mitglied des kaiserlichen Zolldienstes zu werden. Dreiundzwanzig Jahre, erzählt sein Sohn, habe er gebraucht, bis er den Vorsatz, den er als Siebzehnjähriger faßte, durchführen konnte. Danach ist es nur möglich, daß Alois inzwischen aktiv beim Militär diente. Anders kann das späte Einrücken in den Beamtenberuf nicht erklärt werden. Auch waren die unteren Staatsstellungen im allgemeinen langgedienten Unteroffizieren reserviert.

Der Sohn sagt von der Soldatenzeit des Vaters kein Wort. Er verschweigt auch seinen Rang und Titel als Beamter. Wahrscheinlich kam ihm ihre Geringfügigkeit trivial vor, er wollte der Phantasie seiner Leser keine Zügel anlegen. Er spricht von der sehr durchschnittlichen Laufbahn stets als von dem Ergebnis außerordentlicher Tatkraft und Anstrengung.

 

Adolf Hitler stellt das Familienverhältnis seines Vaterhauses in der einfachsten Form vor: Vater, Mutter, Sohn. Die vielfältige Literatur, die sich mit dem Leben des deutschen Diktators beschäftigt, nationalsozialistische wie kritische, deutsche und ausländische, hat die Version ohne Nachprüfung übernommen. Einige Schriftsteller haben der Deutung des Charakters ihres Helden seine Stellung als einziges Kind in der Familie zu Grunde gelegt. Wir sagen nicht, daß ihre Charakterdeutung falsch war. Nur die Tatsachen sind anders. Sie werden hier zum ersten Mal mit einiger Vollständigkeit mitgeteilt. Man sieht aus ihnen, daß das Familienleben des Vaters kompliziert und für einen armen kleinen Beamten recht ungewöhnlich war.

Alois Schücklgruber-Hitler war dreimal verheiratet. Die Ehe mit der ersten Frau Anna, die als Mädchen den Namen Glasl-Hörer trug, muß unglücklich gewesen sein, sie wurde geschieden. „Scheidung” bedeutete in Österreich, wo katholisches Eherecht gilt, keine Trennung des Ehebandes, sondern nur die Erlaubnis des Gerichts für die Eheleute, die eheliche Gemeinschaft aufzugeben.

Während das Eheband mit der ersten Gattin noch bestand, wurde Vater Hitler ein Sohn geboren, der älteste, nach dem Vater Alois genannt. Von ihm weiß man wenig. Hitler hat im Jahr 1935 in dem Gespräch mit einem englischen Major Henessey, in dem er sich über Österreich beklagte, vorwurfsvoll erwähnt, die österreichische Regierung habe seinen Bruder ins Gefängnis geworfen. Er wollte damit sagen, so verstand Henessey, der Bruder sei, eben als Bruder des deutschen Führers, politisch verfolgt worden. Tatsache ist, daß Alois mehrfach wegen gewöhnlicher Delikte bestraft worden ist. Er hat Österreich verlassen und lebt auch nicht in Deutschland. Er gilt als verschollen.

 

Im April 1883 stirbt des Vaters erste Frau in Braunau am Inn, derselben Stadt, in der er als Zollamtsoffizial stationiert ist. Genau einen Monat später heiratet er wieder, diesmal eine geborene Matzelsberger. Zwei weitere Monate später kommt eine Tochter zur Welt, Angela. Sie ist es, die heute Adolf Hitlers Haushalt in Berchtesgaden vorsteht. Ihre Tochter, ebenfalls Angela genannt, Hitlers Nichte, lebte später bei dem Onkel in München. 1931 starb sie dort durch eigene Hand.

Alois wie Angela sind in Wien geboren. Offenbar ist auch der erste Sohn ein Kind der zweiten Frau, mit der der Offizial sich so schnell legitim verbindet, daß die Tochter gleich als ehelich in die Standesregister eingetragen werden kann. Der älteste, ungeratene Sproß ist wohl durch die nachfolgende Ehe mit der Mutter legitimiert.

Schon im August 1884 stirbt die zweite Frau, und zehn Monate darauf heiratet der Vater ein drittes Mal, diesmal Klara Pölzl, die Mutter des deutschen Staatsoberhaupts.

Zwei seiner englischen Biographen haben erzählt, Klara Pölzl sei eine Tschechin gewesen und habe nie gelernt, die deutsche Sprache zu beherrschen. Es ist zu vermuten, daß der zweite die Nachricht vom ersten übernommen, und daß der erste einem böswilligen Gerücht aufgesessen ist. Der Name wie die Herkunft der Frau Hitler, – sie ist eine Häuslerstochter aus Spital in Niederösterreich, – lassen die Meldung der englischen Schriftsteller als unglaubhaft erscheinen.

 

Klara Hitler geborene Pölzl gibt am zwanzigsten April 1889 in Braunau einem Sohn, Adolf, dem späteren Diktator, das Leben. Sie schenkt ihrem Gatten danach noch zwei Kinder, Edmund, der im März 1894 in Passau geboren wird, und Paula, die 1896 in Fischham, einem Dorf in Oberösterreich, zur Welt kommt.

 

Von Edmund wissen wir nichts. Unwahrscheinlich, daß etwa Hitler ihn meinte, als er dem Major Henessey von seinem Bruder sprach. Es ist in Österreich nichts davon bekannt, daß er eingesperrt war.

Aber bestimmt ist Paula, die Jüngste, die Schwester, von der Hitler in dem gleichen Gespräch, – das, wie die Reichsregierung nachmals erklärte, keineswegs zur Veröffentlichung bestimmt war, von Henessey aber im Londoner Sunday Dispatch publiziert wurde, – vorwurfsvoll sagte, die österreichische Regierung sei „hinter ihr her”. Die Wahrheit ist, daß Paula im Jahr 1933 einen Zusammenstoß mit der Behörde ihres Landes hatte. Sie hatte sich unfreundlich über das dem Nationalsozialismus feindliche Regime geäußert: es sei eine „Schweinerei”, was sie allerdings bestritt, und es begehe „Terrorakte”, was sie zugab. Sie sagte dann auch mit zuversichtlichem Stolz: „Mein Bruder wird die entsprechenden Maßnahmen treffen.” Die Regierung, die ebenso wie die deutsche, diktatorische Vollmachten besitzt, hätte gewiß einen anderen, der solche Ausdrücke gebraucht, für ein paar Wochen in Arrest geschickt. Mit der Schwester des mächtigen Regierungschefs verfuhr sie glimpflich und ließ es bei einer Verwarnung bewenden. Paula Hitler lebt noch jetzt, unangefochten, in Wien.

Im Alter von sechsundfünfzig Jahren wurde der Vater als Oberoffizial verabschiedet. Er muß, wie oft pensionierte Beamte, voll Unruhe gewesen sein. Denn schnell nacheinander wohnte nun die Familie in Hafeld an der Traun, in Lambach und endlich im Dorf Leonding bei Linz. Vom Prunk des lambacher Chorherrenstifts will Hitler die ersten starken Eindrücke menschlicher Größe empfangen haben. Damals habe er Abt werden wollen. In seinem Buch spricht er von einem „Gut”, das der Vater „bewirtschaftet” habe. „Er kehrte so im Kreislaufe eines langen, arbeitsreichen Lebens wieder zum Ursprung seiner Väter zurück”, sagt „Mein Kampf” pathetisch. Das ist wieder eine Konzession an den Blut- und Bodenglauben, dem die Partei huldigt, und es ist auch ein Schuß Großtuerei dabei. Es war ein Häuschen mit einem Garten, das die Familie in Leonding bewohnte.

 

Sehr wohl soll sich Vater Hitler in Pension nicht gefühlt haben. Nachbarn erzählen heute noch, daß er ein wenig umgänglicher alter Mann gewesen sei. Er hatte auch als Verabschiedeter den typischen Beamtenstolz und verlangte, daß man ihn Herr und mit seinem Titel anredete. Die Bauern und Häusler sagen Du zu einander. Zum Spott gaben sie dem Ortsfremden die Ehren, die er verlangte. In ein gutes Verhältnis kam er nicht zu seiner Umgebung.

Dafür hatte er im eigenen Haus eine familiäre Diktatur errichtet. Die Frau sah zu ihm auf, für die Kinder hatte er eine harte Hand. Besonders Adolf verstand er nicht. Er tyrannisierte ihn. Sollte der Junge kommen, so pfiff der alte Unteroffizier auf zwei Fingern. In seinem Buch spricht Hitler fast immer von dem „Herrn Vater”. Das mag von dem Wunsche herrühren, alles zu erhöhen, was mit der eigenen Person zusammenhängt. So wie er die niedrige Stellung, die der Vater in der Staatshierarchie einnahm, nie beim Namen nennt. Aber es zeigt auch Mangel an Vertrautheit. Gelegentlich sagt er, die Mutter habe er geliebt, den Vater verehrt.

Was die politische Haltung des Zollamtsoffizials anging, so erzählt man in Braunau, er sei schwarzgelb und klerikal gewesen, ohne sich übrigens weiter um Politik zu kümmern. In Leonding aber erschien er den Leuten freisinnig und deutschnational, dabei doch kaisertreu. Es ist leicht möglich, daß die Entfernung vom Amt ihn so verwandelt hat. Auch eine äußerliche Verwandlung spricht dafür. In Braunau trug er noch den „Kaiserbart”, den Franz Joseph populär gemacht hatte; in Leonding war nur der Schnurrbart stehen geblieben.

 

Am Anfang ging alles gut mit Adolf. Er berichtet, er habe leicht gelernt, sei viel mit Kameraden herumgetollt und habe „mehr oder minder eindringliche Auseinandersetzungen” mit ihnen gehabt.

„Ich war ein kleiner Rädelsführer geworden”, schreibt er kokett.

Daß er hier die Wahrheit sagt, dafür besitzen wir einen untrüglichen Beweis. Das ist ein Schulbild, eine Photographie, das die Klasse zeigt, in der ersten Reihe der Lehrer, um ihn und hinter ihm die vierzig Jungen übereinander aufgebaut. In der Mitte der obersten Reihe steht der kleine Adolf.

Die Arme unternehmend übereinander geschlagen, den Kopf in den Nacken geworfen, sieht er dem Photographen spöttisch lächelnd ins Objektiv. Die Geste ist ganz anders als die der Kameraden und als Kinder sie sonst bei einer so feierlichen Gelegenheit einzunehmen pflegen. Es ist etwas Überlegenes oder Überhebliches in der Haltung und im Ausdruck. Übermütig, keck, dabei nicht ganz selbstsicher, so wie ein Bub, der meint, er habe Schläge zu erwarten, aber entschlossen ist, sich nichts daraus zu machen. Der Pädagog, der ihn sähe, würde bedenklich sein, was wohl aus der allzu guten Stimmung werden wird.

Es dauerte auch nur kurze Zeit, so wurde nichts Gutes draus.

 

In der Volksschule, hat der Lehrer erzählt, lernte Adolf leicht, dachte aber an alles andere lieber, als an seine Aufgaben. Der Vater hat ihn oft dafür gestraft. Ganz richtig kam er eigentlich den Leuten nicht vor. Im Dorf redete man, er sei mondsüchtig.

Dann aber kam es schlimmer.

Hitler selbst berichtet von einem schweren Konflikt, den er mit dem „Herrn Vater” gehabt habe. Der habe verlangt, er solle Beamter werden. Er selbst aber sei entschlossen gewesen, Maler zu werden, Kunstmaler, wie er nach münchner Mundart schreibt. Der Vater habe erklärt, das werde er nie zulassen. Und er selbst habe gedroht, nicht mehr lernen zu wollen, wenn man ihm nicht den Willen tue.

Das ist eine unwahrscheinliche Geschichte. Der Vater war wohl nicht gerade ein aufgeschlossener Kopf, aber so borniert kann auch der verbohrteste Kommißkopf nicht sein, daß er mit einem Jungen von elf einen häuslichen Krieg um die Berufswahl führt. Und in dieses Jahr wäre, nach Hitlers Darstellung, der Konflikt zu verlegen. Allerdings muß man auch seine Zeitangaben bezweifeln.

Zwei Umstände mögen die läppische Geschichte erklären.

Einmal war Hitler gerade, als er sein Buch verfaßte, in einen schweren Streit mit der Staatsautorität gekommen, der sich in einem persönlichen Gegensatz zu einem hohen bayrischen Beamten zuspitzte. Ist Hitler Diktator, so wird der hohe Beamte den Tod dafür erleiden. Jetzt bot die Autobiographie einen erwünschten Anlaß, die Verachtung des Beamtentums kräftig zum Ausdruck zu bringen, indem sie schon der eigenen Kindheit zugeschrieben wird.

Dann aber war da eine leidige Tatsache, die auf eine würdige und ernste Weise zu erklären nicht so leicht war: der kleine Adolf hörte mit zwölf Jahren auf zu lernen. Er war gerade erst in die Realschule aufgenommen worden. Das war gewiß kein leichter Entschluß für den armen Häusler und Pensionisten, denn es kostete Geld, und der Junge würde erst spät zum Verdienen kommen. Und nun zeigte es sich, daß das Opfer unnütz war. Die Eltern wenden alles Erdenkliche an, um die Schullaufbahn des Sohnes zu retten. Er bleibt schon in der ersten Klasse der Realschule sitzen und muß sie wiederholen. Nach der dritten aber geht es in Linz nicht mehr. Ortsveränderung soll helfen. Die vierte Klasse absolviert Adolf in Steyr, einer anderen kleinen Stadt in Oberösterreich. Dann ist es mit der Schule zu Ende.

Hören wir, wie Hitler zwanzig Jahre später die bedrohliche Situation schildert. Er habe, sagt er in seinem Buch, die Drohung, nicht mehr zu lernen, in die Wirklichkeit umgesetzt. „Ich glaubte, daß, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben doch mich meinem erträumten Glück würde zugehen lassen. Ich weiß nicht, ob diese Rechnung gestimmt hätte. Sicher war zunächst nur mein ersichtlicher Mißerfolg in der Schule.”

 

Damit geht der Autobiograph von dem peinlichen Thema ab. „Was mich freute, lernte ich,” fährt er fort, „vor allem aber auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde.” Der Leser muß danach denken, der Junge habe in der Zeichenstunde, vielleicht auch in der Naturkunde exzelliert. Nein. Der Bericht geht weiter: „Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in der Weltgeschichte.”

Geschichte lehrte an der linzer Realschule ein deutschnationaler Professor, einer jener Akademiker, die ihre österreichische Heimat verachteten und das preußische Wesen verehrten. Das erste Buch, das auf den kleinen Hitler Eindruck machte, war eine illustrierte Geschichte des deutsch-französischen Kriegs gewesen, das einzige Buch, wie ein leondinger Mitbürger behauptet, das der Zollamtsoffizial besaß. Nun kam dazu der deutschnationale Geschichtsunterricht, die Schulagitation gegen Tschechen und Südslawen, Kornblumen und „Heil”-Grüße, die ganze völkische Atmosphäre der Kleinstadt-Mittelklasse. „Ich wurde Nationalist,” erzählt Hitler, „freilich auch damals schon zum jungen Revolutionär.”

Es ist nicht selten und auch hier so, daß der aufmerksame Leser autobiographischer Darstellungen ohne große Mühe zu erkennen vermag, was Wahrheit und was Dichtung ist. Der großgewordene Adolf hilft nach Schülerart dem Kleinen mit einem Schwindel über eine schlimme Lage hinweg. „Heiße Liebe zu meiner deutsch-österreichischen Heimat”, „tiefer Haß gegen den österreichischen Staat”, „helle Verachtung und Empörung zugleich” gegen das kaiserliche Haus Habsburg müssen dazu dienen, möglichst wenig davon zu sprechen, daß Adolf und die Schule in einen unversöhnlichen Gegensatz geraten sind.

 

Der Rückblickende sagt noch einmal: „Ich wollte Maler werden und um keine Macht der Welt Beamter.”

Allerdings scheint es schon damals nicht ganz sicher mit der Neigung zum Malen gewesen zu sein. Geschraubt und zweideutig erzählt das Buch: „Eigentümlich war es nur, daß mit steigenden Jahren sich immer mehr Interesse für Baukunst einstellte. Ich hielt dies damals für die selbstverständliche Ergänzung meiner malerischen Befähigung und freute mich nur innerlich über diese Erweiterung meines künstlerischen Rahmens.”

Da stirbt der Vater. „Ein Schlaganfall traf den sonst noch so rüstigen Herren … Die Mutter fühlte sich wohl verpflichtet, gemäß dem Wunsche des Vaters, meine Erziehung weiter zu leiten, d.h. also mich für die Beamtenlaufbahn studieren zu lassen. Ich selber war mehr als je entschlossen, unter keinen Umständen Beamter zu werden…” Zwar ist die Realschule keineswegs eine Ausbildungsstätte für zukünftige Beamte. Gerade im Gegenteil, hier werden die Knaben hingeschickt, die Kaufleute, Architekten, Ingenieure werden sollen. Aber wo die Tatsachen nicht passen, haben sie sich zu beugen. „In eben dem Maß nun, in dem die Mittelschule sich in Lehrstoff und Ausbildung von meinem Ideal entfernte, wurde ich innerlich gleichgültiger.”

 

Dem Fünfunddreißigjährigen, der schon ein viel bewunderter politischer Führer ist, fällt es gar zu schwer, einfach zu sagen, daß er als Junge nicht lernte. Von der Repetition und von dem Schulwechsel schweigt er. Nur die Schulakten verraten das Geheimnis. Er sieht sich noch einmal nach einem Ausweg um, und der bietet sich zwanglos dem Schriftsteller, der auch ein Stück Dichter ist: „Da kam mir plötzlich eine Krankheit zur Hilfe”, – sie kommt dem Erzähler, nicht dem Schüler zu Hilfe, – „und entschied in wenigen Wochen über meine Zukunft und die dauernde Streitfrage des väterlichen Hauses. Mein schweres Lungenleiden ließ einen Arzt der Mutter auf das dringendste anraten, mich später einmal unter keinen Umständen in ein Bureau zu geben. Der Besuch der Realschule mußte ebenfalls auf mindestens ein Jahr eingestellt werden. Was ich so lange im Stillen ersehnt, für was ich immer gestritten hatte, war nun durch dieses Ereignis mit einem Male fast von selber zur Wirklichkeit geworden. Unter dem Eindruck meiner Erkrankung willigte die Mutter endlich ein, mich später aus der Realschule nehmen zu wollen und die Akademie besuchen zu lassen …. Zwei Jahre später machte der Tod der Mutter all den schönen Plänen ein jähes Ende…”

 

Man sieht unschwer, daß in der Schilderung kaum ein Wort mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Wirklichkeit ist armselig und beschämend. Der sie darstellt, ist nicht Künstler oder Weiser genug, um gerade die Armseligkeit zur Vertiefung des Stoffs und zur eigenen Erhöhung zu benützen. Man denke daran, was in ähnlicher Lage Jean Jacques Rousseau aus der Armut und dem Elend seiner Kindheit gemacht hat. Aber es ist blasphemisch, die „Confessions” zum Vergleich mit „Mein Kampf” heranzuziehen. Der Autor der nationalsozialistischen Bibel hat nur das Bestreben, das Versagen der eigenen Kindheit und die Ärmlichkeit des Elternhauses zu verleugnen. Er ist bestrebt, seinen bürgerlichen Idealen gemäß, das Niveau seiner Herkunft sozial zu heben. Es ist ein kleinlicher Ehrgeiz, der ihn zu einer Fülle von kleinlichen Unwahrheiten verleitet.

Ein „schweres Lungenleiden”? Aber die einzige Folge des schweren Lungenleidens ist, daß der Patient endgültig und für immer die Schule schwänzt. Nie wieder ist von dem schweren Lungenleiden auch nur mit einem Wort die Rede. Aber ebensowenig von der Realschule, die doch der Arzt nur für ein Jahr verboten haben soll.

 

Der Bub lernt nicht. Die Mutter ist blutarm, noch viel ärmer als vorher, nachdem aus der schmalen Beamtenpension des Vaters die schmalere Witwenpension geworden ist. Wenn der Junge doch nicht zum Lernen taugt, ist es besser, er bleibt einfach zu Hause.

Eine so dürftige Wahrheit ist aber für Den nicht angenehm zu schildern, der sich aus Unterhaltungsromanen eine Wunschwelt romantischer und glänzender Lebensumstände gebildet, der seitdem auch das Behagen des Wohlstands kennen gelernt hat.

Also muß es der Befehl des Herrn Vaters und dann sein Vermächtnis sein, daß der Sohn dem Staat dienen soll, wie die feinen Bürgerknaben. Bis der eiserne Entschluß des jungen Künstlers das Herz der Mutter erweicht und sie nachgibt. Das könnte von der Marlitt oder von der Courths-Mahler „ersonnen” sein. Wenn die gedrückte Kleinbürgerwitwe wirklich gewußt hätte, was das eigentlich ist: ein Maler und eine Akademie, so hätte sie jetzt erst recht darum besorgt sein müssen, daß der Sohn die Realschule absolviert, die gegebene Vorbereitung für das Akademiestudium. Ein Freiplatz dort und ein Stipendium, – anders konnte der Sohn die Laufbahn nicht einmal beginnen. Aber das sind Dinge, die nur mit glänzenden Zeugnissen zu erreichen sind.

Wem der Blick nicht vernebelt ist, der sieht überall die Wirklichkeit durch den undichten Schaum der Worte schimmern. Wir müssen versuchen, zu erkennen, was die Wahrheit ist, was hinter dem romantischen Gemälde verborgen worden ist.

 

Das ist nun nicht mehr schwer. Der Acht- und Neunjährige war noch ein vergnügtes und übermütiges Kind, ein „kleiner Rädelsführer”. Der Elfjährige aber ist schon im Konflikt mit der Umwelt, genügt den Ansprüchen nicht, die das Leben an ihn stellt, ist unlustig, verstimmt. Unlust und Unfähigkeit steigern sich schnell. Mit der harten Hand des Vaters, der plötzlich stirbt, fällt ein wichtiger Antrieb weg. Die Aufgaben der höheren Schule mögen zu viel für den geringen Intellekt des Kindes gewesen sein, dem keine häusliche Hilfe zur Seite stand. Sollte er doch Dinge erlernen, von denen weder Vater noch Mutter etwas wußten. Die ersten Zeichen der Pubertät traten verwirrend hinzu. Der Knabe hat sich nun völlig gewandelt, er ist menschenscheu geworden, untätig, mürrisch und trübselig. Er baut sich eine Traumwelt auf, deren Kulissen er aus der einzigen geistigen Anregung herholt, die er aufgenommen hat: aus dem Geschichtsunterricht, den ein deutschnationaler Lehrer erteilt hat.

Da stirbt auch die Mutter. Es sind keine Mittel da. Das Anwesen reicht, um Schulden und Begräbniskosten zu decken. Wie der Vormund der Waisen, der Landwirt Josef Mayrhofer, der noch heute in Leonding lebt, erzählt hat, blieb ein geringer Rest übrig, dessen Zinsen für jedes der Kinder siebzehn Kronen, etwa dreieinhalb Golddollar betrugen.

 

„Not und harte Wirklichkeit zwangen mich nun, einen schnellen Entschluß zu fassen,” erzählt „Mein Kampf”. Der junge Hitler übersiedelte nach Wien.

Merkwürdigerweise kann man nicht ohne Schwierigkeiten den Zeitpunkt der Übersiedlung feststellen. Das Erinnerungsbuch hat gerade für diese Zeit alle Daten in Nebel gehüllt. Es finden sich dort die verschiedensten einander widersprechenden Angaben. Einmal heißt es, Adolf habe seinen Vater „mit dem dreizehnten Lebensjahr” verloren. Zwei Jahre später sei die Mutter gestorben. Danach wäre also Hitler vierzehn oder fünfzehn Jahre alt gewesen, als er nach Wien fuhr.

In „Mein Kampf” aber finden wir gleich danach eine andere Zeitbezeichnung. Da schreibt Hitler, er sei „in den letzten Lebensmonaten” der Mutter, „noch nicht dreizehn Jahre alt”, zwei Wochen lang zu Besuch in Wien gewesen. Demnach also wäre er dreizehn Jahre alt gewesen, als die Mutter starb und er Linz verließ.

Nur wenig später aber nennt Hitler seinen Aufenthalt in Wien „Fünf Jahre Elend und Jammer” und gibt weiter an: „Im Frühjahr 1912 kam ich endgültig nach München.” Daraus wäre allein der Schluß zulässig, daß die Übersiedlung nach Wien 1907 stattfand, als Hitler achtzehn Jahre zählte.

In seinem münchener Hochverratsprozeß wieder sagt er: „Ich kam als siebzehnjähriger Mensch nach Wien”.

 

Die Historiker des Nationalsozialismus müßten sich vergeblich den Kopf zerbrechen, wenn es nicht eine Meldepflicht im alten Österreich gegeben hätte. Aber die wiener Polizei ist eine ordentliche und gründliche bureaukratische Maschine, der man vertrauen kann. Nach ihren Akten war Adolf Hitler aus Braunau am Inn von 1907 bis Anfang 1913 in Wien gemeldet.

Aber 1907 ist offenbar das Datum des früheren Besuchs, den Hitler in der Hauptstadt machte. Denn die Mutter starb erst am 21. Dezember 1908. Da wir nun nicht nur aus Hitlers Erinnerungen, sondern auch von dem Vormund der Hitlerschen Kinder wissen, daß Adolf erst nach dem Tod der Mutter nach Wien zog, so steht es fest, daß der Führer fast zwanzig Jahre alt gewesen ist, als er nach Wien ging.

Fügen wir noch hinzu, daß der Vater nicht, wie „Mein Kampf” glauben machen will, zwei Jahre vor der Mutter, sondern 1903, fünf Jahre vor ihrem Tod gestorben ist, so haben wir alle Ungenauigkeiten oder Unrichtigkeiten gesammelt, die das Erinnerungsbuch für die Periode zwischen Schule und Wien enthält; alle, die sich nachweisen lassen.

Man möge mir nicht vorwerfen, daß ich meine Leser allzulang mit philologischer Akribie aufgehalten habe. Die manchmal mühsame Nachforschung und Nachrechnung war notwendig, ja wichtig. Sie zeigt, wie eigentümlich, verschwommen, subjektiv das Verhältnis des Führers zur Wahrheit und Wirklichkeit ist. Als er sein Buch schrieb, war er schon ein berühmter Politiker, der den Anspruch auf eine hohe Stellung im Staat und in der Geschichte erhob. Er mußte damit rechnen, daß Bücher über ihn geschrieben werden würden und daß die Historiker sich angelegentlich mit seinem Leben beschäftigen würden. Ja, es war damals schon „Das Volksbuch vom Hitler” aus der Feder eines begeisterten Bewunderers erschienen. Aber er arrangiert die Daten aus seinem Leben ganz unbedenklich und ohne die Besorgnis, daß sie einmal nachgeprüft werden würden. Er glaubt, was er sagt, und nimmt von vornherein an, daß auch die andern es glauben werden. Erstaunlich, wie recht er damit hat. In der ganzen nationalsozialistischen Literatur kehrt immer das Bild von dem halbwüchsigen Knaben wieder, der mit einem Bündel Kleider auf dem wiener Bahnhof steht. Oppositionelle und ausländische Biographen sind ihr gefolgt. So lernen es die Kinder in den Schulen des Dritten Reichs. Aber es war ein ganz ausgewachsener zwanzigjähriger Mann, der dort ankam.

 

Warum Hitler gerade diese Periode so gewaltsam entstellt hat? Es läßt sich erklären. Er ist vierzehn alt, als der Vater stirbt. Es kommt das erfolglose Schuljahr in Steyr. Und dann sind es noch vier Jahre und ein halbes, bis die Mutter stirbt und die bequeme Zuflucht in Linz ein Ende nimmt. Es werden wohl Versuche einer Berufswahl in diesen Jahren unternommen. Aber sonst sind es leere nutzlose Jahre, die für das Heldenleben eines Parteiführers nicht ergiebig beschrieben werden können.

Viereinhalb Jahre, in denen es dem Zureden der Mutter nicht gelingt, den Jungen eine Lehre auslernen zu lassen, mit ein bißchen Skizzenmalerei, ein seltener Theaterbesuch als Glanzpunkt. So muß man sich die Zeit wohl vorstellen. Aber das Bekenntnisbuch heißt ja „Mein Kampf”, und diese Periode ist dem bürgerlich-romantischen Konflikt zwischen dem väterlichen Vorurteil und dem Künstler-Ehrgeiz des Sohnes gewidmet. Da mußten also die leeren Jahre dem begeisterten Leser wegeskamotiert werden. Das ist bisher, trotz allen Widersprüchen in der Schilderung, erstaunlich gut gelungen.

Nun aber auch die Mutter tot und der kleine Haushalt aufgelöst ist, muß etwas geschehen.

„Einen Koffer mit Kleidern und Wäsche in den Händen, mit einem unerschütterlichen Willen im Herzen fuhr ich so nach Wien … ich wollte ‚etwas’ werden…”

Der „unerschütterliche Willen”, das ist eine Phrase aus dem nationalsozialistischen Sprachschatz. Aber welcher junge Mensch träumte nicht davon, ein großer Mann zu werden? Mehr als jeder Andere Der, der früh vereinsamt ist, den die Welt schon zurückgestoßen hat. Je weniger er den geringen Anforderungen genügt hat, desto glanzvoller erhoffte er künftige Leistungen. Je mehr ihm der kleine Erfolg versagt blieb, desto größer ersehnt er den späteren. Wenn gar jeder Plan, jeder Ansatz einer Laufbahn fehlt, so sind die Möglichkeiten des Wunsches gerade deshalb unbegrenzt.

Ob sie allerdings so ungeheuer, so phantastisch waren, wie die Wirklichkeit sie erfüllt hat?

II. Kapitel: Deklassiert

Die wiener Jahre sollen, behauptet „Mein Kampf”, mit einer schweren Enttäuschung begonnen haben. Noch vor dem Tod der Mutter, also als Neunzehnjähriger, ließ sich Hitler in der Akademie prüfen und wurde abgewiesen. Er habe, sagt er, „mit stolzer Zuversicht” auf das Ergebnis der Prüfung gewartet und die Ablehnung habe ihn „wie ein jäher Schlag aus heiterem Himmel” getroffen. „Als ich mich dem Rektor vorstellen ließ und die Bitte um Erklärung der Gründe wegen meiner Nichtaufnahme in die allgemeine Malerschule der Akademie vorbrachte, versicherte mir der Herr, daß aus meinen mitgebrachten Zeichnungen einwandfrei meine Nichteignung zum Maler hervorgehe, sondern meine Fähigkeit doch ersichtlich auf dem Gebiet der Architektur liege…”

Sehr wahrscheinlich ist das Ganze nicht. Das alte Österreich war ein Land der Examina, und schon für die Zulassung zur Aufnahmeprüfung auf eine Hochschule – und das war die Akademie – mußten die Aspiranten abgeschlossene Mittelschulbildung nachweisen. Fehlte die normale Vorbildung, so mußte die Begabung des Anwärters als außerordentlich anerkannt werden, ein seltener Fall. Die Protokolle der Akademie weisen keinen Prüfling Hitler auf. Möglich immerhin, daß er einmal Zeichnungen einreichte und daß das betrübliche Ereignis in der Erinnerung feierlichere Formen angenommen hat.

Er will nun einen neuen Lebensplan beschlossen haben: „Der frühere Trotz war wieder gekommen und mein Ziel endgültig ins Auge gefaßt. Ich wollte Baumeister werden, und Widerstände sind nicht da, daß man vor ihnen kapituliert, sondern daß man sie bricht.” Er selbst spricht später kaum noch von dem „endgültigen” Entschluß. Es kommt anders.

 

Lassen wir ihn selbst erzählen: „Fünf Jahre Elend und Jammer,” heißt es in „Mein Kampf”, „sind im Namen dieser Phäakenstadt für mich enthalten. Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen mußte; mein wahrhaft kärgliches Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen.”

Hitler wendet jetzt das umgekehrte Prinzip wie im ersten Kapitel seiner Lebensbeschreibung an. Während er die anständige Enge der Häuslerfamilie in behagliche, womöglich großbürgerliche Umstände umzudichten versuchte, erkennt er sehr wohl den pathetischen Gehalt der Not. Er macht sie zu dem Piedestal, von dem seine spätere Größe sich umso stärker abhebt.

„Was damals mir als Härte des Schicksals erschien, preise ich heute als Weisheit der Vorsehung. Indem mich die Göttin der Not in ihre Arme nahm und mich oft zu zerbrechen drohte, wuchs der Wille zum Widerstand, und endlich blieb der Wille Sieger.”

Dieses Motiv kehrt in der an Tatsachen dürftigen Darstellung mehrmals wieder: „Das danke ich der damaligen Zeit, daß ich hart geworden bin und hart sein kann. Und mehr als dieses preise ich sie dafür, daß sie mich losriß von der Hohlheit des gemächlichen Lebens, daß sie das Muttersöhnchen aus den weichen Daunen zog, daß sie den Widerstrebenden hineinwarf in die Welt des Elends und der Armut und ihn so Die kennen lernen ließ, für die er später kämpfen sollte.”

Er ist inzwischen Führer einer „Arbeiter”-Partei geworden und will sich durch die Erlebnisse der Jugend Denen empfehlen, um die er wirbt. „Kaum in einer deutschen Stadt war die soziale Frage besser zu studieren, als in Wien. Aber man täusche sich nicht. Dieses ‚Studieren’ kann nicht von oben herunter geschehen. Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.”

 

Der historischen Genauigkeit wegen muß festgestellt werden, daß Hitlers wiener Aufenthalt nur vier Jahre dauerte, vom Anfang des Jahres 1909 bis zu Anfang 1913. In diesen Jahren müssen wir zwei Perioden unterscheiden. Er selbst macht einen Trennungsstrich: Erst Hilfsarbeiter. Dann „kleiner Zeichner und Aquarellist”.

Die Tatsache, daß der Beherrscher Deutschlands einmal Arbeiter war, ist auch im Dritten Reich noch von großer Bedeutung. Der Prophet muß aus der Tiefe aufgestiegen sein, – die uralte Regel ist in der Zeit der Industrialisierung und des Marxismus abgewandelt in die Forderung, daß er Arbeiter gewesen sein muß. Wenn Hitler den Bau einer seiner riesigen Autostraßen eröffnet, wenn er einen Grundstein legt oder ein Arbeitslager besucht, so erinnert er die schlechtbezahlten Volksgenossen daran: „Auch ich war einmal einer von Euch …!”

Aber wie war es eigentlich? Wie lang hat die Periode „Hilfsarbeiter” gedauert? Das läßt Hitler selbst im Dunkel. Die absichtsvolle Vernebelung der Zeitspannen reicht auch hierher. Wir müssen noch einmal nachprüfen.

Am 21. Dezember 1908 ist die Mutter gestorben. Ein paar Wochen muß es danach gedauert haben, bis er reiste. Schon im August 1909 aber werden wir ihn in einer Situation treffen, die weitab von Arbeit liegt. Er selbst teilt mit, daß er mehrere Arbeitsstellen hatte und daß zwischen ihnen Episoden freiwilliger Arbeitslosigkeit lagen. Er kann also nur wenige Monate, vielleicht nur Wochen wirklich in Arbeit gestanden haben.

Das ist eine Überraschung. Bei Freund und Feind galt es bisher als sicher, daß der Führer einmal Arbeiter war. Aber kann man, wie die Dinge liegen, ernstlich davon sprechen? Arbeiter sein ist ein Beruf. Hitler ist über einen dilettantischen Versuch nicht herausgekommen.

 

Hören wir ihn selbst: „Es wurde mir damals meist nicht sehr schwer, Arbeit an sich zu finden, da ich ja nicht gelernter Handwerker war, sondern nur als sogenannter Hilfsarbeiter versuchen mußte, mir das tägliche Brot zu schaffen.”

Ein Hilfsarbeiter, der so gut wie immer Arbeit hat, dabei so jung ist, wie es Hitler war, und für niemanden zu sorgen hat, das muß Arbeitern der Nachkriegszeit mit ihrer Dauerkrise als eine beneidenswerte Existenz erscheinen. „Daß es da irgend eine Arbeit immer gibt, lernte ich bald kennen…”

Damals also drückte den jungen Hitler nicht die materielle Not, es war seelische Not. Es geschah ihm etwas, das niemand leicht trägt, das aber den ehrgeizigen Träumer furchtbar erschütterte: er wurde deklassiert.

„Das Leben, das ich bis dorthin im väterlichen Hause geführt hatte, unterschied sich eben wenig oder in nichts von dem all der anderen. Sorgenlos konnte ich den neuen Tag erwarten…” Seltsam, wie in Hitlers Buch immer wieder, allen Bemühungen zur Verstellung zum Trotz, die Wahrheit durchbricht, auch seine wahre Gesinnung. Das sorgenlose Leben ist das Leben „all der anderen”. In einem viel höheren Maß, als es seiner Herkunft entspricht, sind seine Begriffe, seine Ideale bürgerlich.

„Die Unsicherheit des täglichen Brotverdienstes erschien mir in kurzer Zeit als eine der schwersten Schattenseiten des neuen Lebens.” Es soll natürlich nicht behauptet werden, Sicherheit gehöre nicht zu den Wünschen der Arbeiterschaft. Im Gegenteil, Hitler trifft ins Schwarze damit, wenn er hier, wie es in seiner schiefen Sprache heißt, „eine der schwersten Schattenseiten” des Lebens feststellt.

 

Schlimmer aber als die Unsicherheit ist ein anderes für den jungen Hitler. Er will kein Arbeiter sein. Er kann die Arbeiter nicht ausstehen. Warum? Gleich am Anfang der Schilderung seiner wiener Jahre sagt er das selbst viel besser, als ein anderer es könnte: „Die Umgebung meiner Jugend setzte sich zusammen aus den Kreisen kleinen Bürgertums, also aus einer Welt, die zu dem reinen Handarbeiter nur sehr wenig Beziehungen besitzt. Denn so sonderbar es auch auf den ersten Blick scheinen mag, so ist doch gerade die Kluft zwischen diesen durchaus wirtschaftlich nicht glänzend gestellten Schichten und dem Arbeiter der Faust oft tiefer, als man denkt. Der Grund dieser, sagen wir fast Feindschaft liegt in der Furcht einer Gesellschaftsgruppe, die sich erst ganz kurze Zeit aus dem Niveau der Handarbeiter herausgehoben hat, wieder zurückzusinken in den alten, wenig geachteten Stand oder wenigstens noch zu ihm gerechnet zu werden.”

Er kommt aus der Schicht, die ein Soziologe als „die Feldwebelklasse” gekennzeichnet hat. Und es ist vollkommen richtig, daß es für Unteroffiziere die ärgste Kränkung ist, zur Mannschaft, zu den „Gemeinen” gezählt zu werden.