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Beschreibung

»Eine teilweise atemberaubende Untersuchung.« Frankfurter Rundschau  Wie viel personelle Kontinuität gab es nach 1945 in dem neu zu organisierenden deutschen Staat? Fast alle Juristen, Ärzte, Unternehmer, Journalisten und Offiziere, die dem NS-Regime in wichtigen Positionen gedient hatten, konnten in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen. Die Biografien von Hermann Josef Abs, Hans Filbinger, Reinhard Gehlen, Hans Globke, Werner Höfer, Erich Manstein, Josef Neckermann und vielen anderen verdeutlichen, in welchem Maße die entstehende Demokratie von Männern mit Vergangenheit geprägt wurde. Ein spannendes Lehrstück politischen Verhaltens zwischen Strafe und Reintegration, Kontrolle und Unterwanderung, Reform und Restauration. 

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Hitlers Eliten nach 1945

Herausgegeben von Norbert Frei

in Zusammenarbeit mitTobias Freimüller, Marc von Miquel,Tim Schanetzky, Jens Scholten,Matthias Weiß

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2014

© 2014 Norbert Frei (Hg.)

Originalausgabe 2001 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main

2003 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-42552-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34045-8

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Vorwort

Mediziner: Operation Volkskörper

Der Nürnberger Ärzteprozeß und die Selbstinterpretation der Ärzteschaft

Lernprozesse: Die medizinische Wissenschaft und der Abschied von der Rassenhygiene

NS-»Euthanasie« vor Gericht

Die Ärzteschaft und die Rückkehr der Erinnerung

»Nürnberg« und die alliierten Prozesse

Unternehmer: Profiteure des Unrechts

Verhaftungen, Sachzwänge und Zugeständnisse: Die Nachkriegsjahre

Währungsreform, Koreakrieg und Wirtschaftswunder: Die Renaissance der »Macher«

Steile Karrieren und verdrängte Vergangenheiten: Ankunft in der Republik

Kein später Sieg der Moral: Raubgold, Zwangsarbeit und Entschädigung

Die Entnazifizierung der »Volksgemeinschaft«

Offiziere: Im Geiste unbesiegt

Nach der Niederlage: überflüssig

Saubere Krieger vor Gericht

Die Vorzeichen ändern sich

Vom Grundgesetz zur Wiederbewaffnung

Klösterliche Leitlinien für den Aufbau der neuen Armee

Traditionalisten auf dem Vormarsch

Kann, soll, darf: Die Suche nach Tradition

Spurensuche: Das Ende des Beschweigens

Amnestie und Integration in der Bundesrepublik

Juristen: Richter in eigener Sache

Politische Säuberung und personelle Kontinuität: Der Aufbau der Justiz unter alliierter Aufsicht

Strafverfolgung oder Straffreiheit? Der Nürnberger Juristenprozeß und die Selbstamnestierung der westdeutschen Justiz

Der Skandal: Die »Blutrichter«-Kampagne der DDR und die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«

Korrektur oder Kontinuität? Der politische Konflikt um die belasteten Juristen

NS-Prozesse und Verjährungsdebatten in den sechziger Jahren

Der letzte Versuch: Das Volksgerichtshof-Verfahren

Kalter Krieg, Antikommunismus und die Vergangenheit

Journalisten: Worte als Taten

Die Lizenzzeit: Eine neue Presse für Deutschland

Öffentlichkeit, Presse und Nation in der Adenauer-Zeit

Konservatismus für die Massengesellschaft

Krise und Kritik

Kritik und Vergangenheit

Vergangenheit und Populismus

Abkehr vom Kollegenrabatt

»Unbewältigte Vergangenheit« und kritische Öffentlichkeit

Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz

Die Zäsur der Säuberung oder: Warum es nicht einfach weiterging

Die Restauration der fünfziger Jahre oder: Wie es dann doch weiterging

Kritik der »unbewältigten Vergangenheit« oder: Wie sich die Dinge änderten

Anmerkungen

Mediziner: Operation Volkskörper

Unternehmer: Profiteure des Unrechts

Die Entnazifizierung der »Volksgemeinschaft«

Offiziere: Im Geiste unbesiegt

Amnestie und Integration in der Bundesrepublik

Juristen: Richter in eigener Sache

Kalter Krieg, Antikommunismus und die NS-Vergangenheit

Journalisten: Worte als Taten

Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz

Literatur

Abkürzungen

Register

Die Autoren

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Herausgeber]

Vorwort

Thomas Fischer

Hitlers Eliten nach 1945 – unter diesem Titel strahlten Das Erste, Phoenix und zahlreiche Dritte Programme der ARD eine sechsteilige zeitgeschichtliche Fernsehdokumentation aus, die vom Südwestrundfunk produziert wurde. Norbert Frei, wissenschaftlicher Berater der Sendereihe, legt dazu dieses Begleitbuch vor, das den Stoff der Filme aufnimmt, ihn erweitert und vertieft.

Sendungen und Buch betrachten nicht nur die hochrangigen NS-Parteimitglieder und weltanschaulichen Überzeugungstäter, sondern lenken den Blick auf die Führungskräfte in zentralen Bereichen des NS-Staates: die Funktionseliten im Justizapparat, in den Wirtschaftsunternehmen, im Militär, im Gesundheitswesen, in der Presse.

Berichtet wird von Menschen, hauptsächlich von Männern, die mehr als andere nach beruflichem Erfolg strebten: Sie wollten Karriere machen, Teil der Funktionselite sein. Deshalb entschlossen sie sich, Hitler und seinem politischen Projekt »Nationalsozialismus« zuzuarbeiten. Die meisten wurden dabei früher oder später Parteigenossen, viele wurden auch Mitglied der einen oder anderen NS-Organisation, nicht selten der SS. Das half in jedem Fall der Karriere. Einige hielten aber auch Distanz zur Partei – und stimmten zugleich manchen Kernzielen Hitlers zu: dem Kampf gegen das »Versailler Diktat«, gegen den Bolschewismus, gegen die Juden. Auchsie erreichten häufig ihr Ziel und gelangten an die Hebel der Macht.

Das Knüpfen von Beziehungsnetzen war dafür eine geradezu unabdingbare Voraussetzung. Denn je länger die NS-Herrschaft dauerte, desto größer wurde die Zahl der politischen Organisationen, Sondereinrichtungen und Spezialisten »zur besonderen Verwendung«. Um sich in diesem wildwachsenden Dschungel von Zuständigkeiten behaupten zu können, wurde es für die Akteure zunehmend wichtig, die rasch wechselnden politischen und militärischen Konstellationen im Auge zu behalten und sich zu Moderatoren, Botschaftern, Anwälten ganz unterschiedlicher Einzelinteressen und Interessengruppen zu machen. Das brachte ihnen vielfältige nützliche Kontakte und Einflußmöglichkeiten ein, ließ sie aber auch zu Mitwissernund Mitverantwortlichen in einem System werden, das, wie der englische Wirtschaftshistoriker Harold James formulierte, »die Unmenschlichkeit zur täglichen Routine« machte.

1945 tat sich zunächst für fast alle, die mit dem Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten, ein Abgrund auf. Sie mußten zur Kenntnis nehmen, daß nicht nur der von ihnen mitgetragene Staat militärisch besiegt, politisch erledigt und moralisch völlig diskreditiert war, sondern daß auch sie selbst sich in einer existentiellen Krise befanden. Viele mußten in alliierten Prozessen als Angeklagte oder Zeugen Fragen nach ihrer persönlichen Verantwortung für den Terror und die Verbrechen der vergangenen Jahre beantworten. Viele stürzten dabei ab – insbesondere jene, die zur politischen Führungselite gehört hatten. Kein NS-Politiker von Bedeutung konnte nach 1945 auf die politische Bühne zurückkehren. Einige nahmen sich das Leben, andere flüchteten über vorbereitete »Rattenlinien« ins Ausland oder verschafften sich mit Hilfe der Gestapo noch im Mai 1945 eine neue Identität. Nicht wenige wurden verurteilt, manche zum Tode. Die Mehrheit aber fühlte sich nicht verantwortlich und vertraute darauf, bald wieder benötigt zu werden.

So beispielsweise Reinhard Gehlen, bis 1945 Hitlers Spionagechef für den Krieg im Osten. Er, dessen einziger Ehrgeiz es von Kindheit an gewesen war, die heißbegehrten roten Streifen eines Generalstabsoffiziers zu tragen, war noch am 9. April 1945 von Hitler wegen wiederholt düsterer Lagebeurteilungen entlassen worden. Aber er hatte sich darauf vorbereitet. Bereits seit Oktober 1944 hatte er mit einigen Vertrauten unter größter Geheimhaltung wichtige Akten gesammelt und vergraben. Nun setzte er sich in aller Stille in die bayrischen Alpen ab und wartete mit ein paar Getreuen in einer Berghütte am Spitzingsee auf das Ende des Krieges. Am 22. Mai 1945 stellte ersich den Amerikanern. Sein Kalkül, daß diese seine Dienste in Anspruch nehmen würden, ging nach einigen Wochen der Ungewißheit auf. Unter amerikanischer Leitung baute er die »Organisation Gehlen« auf und wurde 1956 Geheimdienstchef der Bundesrepublik.

Ähnlich erging es Professor Julius Hallervorden. Der Hirnforscher erhielt am 14. Juni 1945 in Dillingen Besuch von seinem Kollegen Leo Alexander, der im Auftrag der amerikanischen Anklagebehörde im Nürnberger Prozeß medizinische Menschenversuche recherchierte. Hallervorden präsentierte ihm seine aus Berlin ausgelagerte Gehirnsammlung von Euthanasieopfern in der Hoffnung auf eine gedeihliche Zusammenarbeit. Im Tagebuch notierte Alexander, wie ihm Hallervorden den Besitz der Sammlung erklärte: »Ich habe da so was gehört, daß das gemacht werden soll, und da bin ich denn zu denen hingegangen und habe ihnen gesagt, nu Menschenskinder, wenn ihr nu die alle umbringt, dann nehmt doch wenigstens mal die Gehirne heraus, so daß das Material verwertet wird. Die fragen dann, nu, wie viele können Sie untersuchen, da sage ich ihnen, eine unbegrenzte Menge – je mehr, desto lieber…« Leo Alexander zeigte sich nicht begeistert von Hallervordens Vorschlag, die Präparate für gemeinsame Forschungszwecke zu nutzen. Er veröffentlichte seine Notizen und brachte den Professor damit in Bedrängnis. Trotz dieser »Rufschädigung« konnte der aber problemlos seine Karriere fortsetzen: am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Gießen.

Was auch heute, nach fast sechs Jahrzehnten, noch immer empört, ist die Tatsache, daß nicht nur einige hundert, sondern einige hunderttausend für Unrecht und Unmenschlichkeit mitverantwortliche Angehörige der Funktionseliten nach 1945 tatsächlich ihre »zweite Chance« erhielten: die meisten in der Bundesrepublik, eher wenige in der DDR, wo linientreue Kader die Führungspositionen besetzten. Erschreckend ist auch die Zählebigkeit einiger Legenden, die vor allem von den Funktionseliten bereits während der ersten NS-Prozesse in Umlauf gesetzt wurden: Beispielsweise die Behauptung, es sei lediglich eine kleine Clique von fanatischen Parteiführern gewesen, die mit Hilfe von SS und Gestapo über das Volk geherrscht habe und deren Befehlen auch die Funktionseliten hilflos ausgeliefert gewesen seien. Solche durchsichtigen Ausreden dienten dem Zweck, Verantwortung abzuwälzen, zweite Karrieren zu legitimieren und eine Aufarbeitung der Vergangenheit zu unterlaufen.

Doch wenn auch viele der alten Eliten bald wieder über Macht und Einfluß verfügten: Ihre Position war potentiell angreifbar geworden. Die politische und moralische Verantwortung für die Vergehen und Verbrechen des nationalsozialistischen Staates ließ sich nicht abschütteln. Trotz kollektiven Beschweigens und Vertuschens erfüllte sich die Hoffnung auf das große Vergessen nicht. Im Gegenteil: Je mehr die NS-Zeit zur Geschichte wurde, desto länger wurden die Schatten der Vergangenheit. Sie erreichten nach und nach auch jene, die sich zunächst in Sicherheit wähnten.

Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre führte die DDR eine Fülle belastender Materialien gegen viele hundert Mitglieder der neuen-alten Funktionselite in der Bundesrepublik ins Feld. Eine Reihe von Broschüren, schließlich ein ganzes Braunbuch, brachte zahlreiche Prominente aus Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Militär und Presse in arge Bedrängnis – und manche zu Fall. Aber auch in der Bundesrepublik selbst wuchs nun das Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Auschwitz-Prozeß seit 1963 ließ vor allem die junge Generation kritisch nach den Handlungsspielräumen fragen, die die Funktionseliten im NS-Staat gehabt hatten. Und wenigstens einige der Befragten stellten sich jetzt öffentlich ihrer Vergangenheit.

Zum Beispiel Henri Nannen – im Krieg in einer Propagandakompanie, dann Chefredakteur des Stern. Er hatte 1939 Hitler als den »Führer« gepriesen, der »unser Volk wieder fest gegründet hat auf den unerschütterlichen Grund der Herkunft und des Blutes, aus dem letzten Endes auch die Kunst ihre Nahrung empfängt.« Nachdem er die Autorenschaft für solche Sätze lange geleugnet hatte und wie viele andere von den Verbrechen nichts gewußt haben wollte, schrieb Nannen am 1. Dezember 1979: »Wer sich nicht Augen undOhren zuhielt und das Gehirn abschaltete, dem blieb nicht verborgen, daß hier das perfekteste Verbrechen seinen Weg nahm. Wir hätten es wissen müssen, wenn wir es nur hätten wissen wollen.Wer Soldat im Osten war, dem konnten die Judenerschießungen, die Massengräber und beim Rückzug die ausgebuddelten und verbrannten Leichenberge nicht verborgen bleiben. Ich jedenfalls, ich habe gewußt, daß im Namen Deutschlands wehrlose Menschen vernichtet wurden, wie man Ungeziefer vernichtet. Und ohne Scham habe ich die Uniform eines Offiziers der deutschen Luftwaffe getragen. Ja, ich wußte es und war zu feige, mich dagegen aufzulehnen.«

Das lange Schweigen, Vertuschen und Schönfärben der Vergangenheit durch die Führungseliten und ihr fehlender Wille, für mitverschuldetes Unrecht einzustehen, hat die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik innen- und außenpolitisch stark belastet und die Herausbildung einer demokratischen Gesellschaft beträchtlich verzögert. Ein stärkerer Druck der politischen Nachkriegselite auf den Justizapparat hätte sicherlich die juristische und politische Aufarbeitung der Vergangenheit vorantreiben und den Austausch der belasteten durch unbelastete Führungskräfte beschleunigen können. Vielleicht wären der Bundesrepublik dadurch die großen gesellschaftlichen Konflikte der sechziger und siebziger Jahre erspart geblieben.

Mediziner: Operation Volkskörper

Tobias Freimüller

Die deutschen Mediziner hatten 1945 allen Grund, optimistisch in die ungewisse Zukunft zu blicken, denn wie auch immer sich die Dinge entwickeln würden: Ärzte würden immer gebraucht. Und die Ärzteschaft war sich noch weniger als andere gesellschaftliche Eliten einer Schuld bewußt. Zu Verbrechern waren doch nur wenige geworden: jene, die in Konzentrationslagern oder in den sogenannten »Euthanasie«-Anstalten gemordet hatten. Die große Mehrheit der Ärzte dagegen hatte, so schien es, ihren Beruf fernab der Politik ausgeübt. Doch zugleich wußte jeder, der es wissen wollte: Zwischen Medizin und Nationalsozialismus hatte es enge Verbindungen und weitgehende Übereinstimmungen gegeben. Die Reinigung des »deutschen Volkskörpers«, die Ausgrenzung und Vernichtung alles »Minderwertigen« – dieses Projekt hatten das Regime und viele Ärzte bis zuletzt gemeinsam vorangetrieben. Und wer einmal die grauen Busse gesehen hatte, in denen Behinderte und psychisch Kranke abtransportiert worden waren, der konnte sich auch eine ganz konkrete Vorstellung davon machen, daß Mediziner ihr Berufsethos nicht nur verraten, sondern es geradezu auf den Kopf gestellt hatten. Sie hatten gemordet, statt zu heilen.

Der Nürnberger Ärzteprozeß und die Selbstinterpretation der Ärzteschaft

Die Frage nach individueller Schuld und Verstrickung stellte sich für die Ärzte in ganz unterschiedlicher Weise. Die meisten Hausärzte, die in ihrem Praxisalltag zwischen 1933 und 1945 kaum eine Veränderung erlebt zu haben meinten, sahen in der Regel keinen Anlaß zu selbstkritischer Reflexion – um so weniger, als rasch deutlich wurde, daß ihr Berufsstand nach wie vor ein ungebrochen hohes öffentliches Ansehen und Vertrauen genoß.

Für die medizinische Elite an Forschungsinstituten und Universitäten stellte sich die Situation anders dar. Nicht nur galt es, einen wissenschaftlichen Rückstand gegenüber dem Ausland aufzuholen, den man selbst durch internationale Abschottung und die Beschäftigung mit Auslesemedizin und »Rassenhygiene« verursacht hatte, man mußte auch das Vakuum kompensieren, das die ausgegrenzten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Kollegen hinterlassen hatten. Und man mußte sich von bislang erwünschten, nun aber politisch und gesellschaftlich diskreditierten Vorstellungen verabschieden: vom Ziel der Auslese der Besten und der Vernichtung der »Minderwertigen« ebenso wie von allen vermeintlich medizinischen Definitionen höher- und minderwertigen Lebens. Die Distanzierung von diesen selektionistischen Vorstellungen bedeutete aber immer auch die Revision einer langen berufsständischen und ganz persönlichen Tradition, in der das Jahr 1933 eben keinen tiefen Bruch bedeutet hatte. An welchem Punkt hatte man die Grenze zwischen Heilen und Töten überschritten? Es konnte doch nicht alles falsch gewesen sein, was man von seinen akademischen Lehrern übernommen und dann in der Weimarer Republik und schließlich im NS-Staat selbst vertreten hatte. Wie weit mußte man nun umdenken? Wer hatte sich disqualifiziert? Wer hatte noch eine Chance?

Die Selbstgleichschaltung der Ärzteverbände 1933

Folgendes Telegramm sandte der Leiter des Ärztevereinsbundes und Leiter des Hartmannbundes, Alfons Stauder, anläßlich des Zusammentritts des Reichstages am 22. März 1933 an Adolf Hitler: »Die ärztlichen Spitzenverbände Deutschlands begrüßen freudigst den entschlossenen Willen der Reichsregierung der nationalen Erhebung, eine wahre Volksgemeinschaft aller Stände, Berufe und Klassen aufzubauen und stellen sich freudigst in den Dienst dieser großen vaterländischen Aufgabe mit dem Gelöbnis treuester Pflichterfüllung als Diener der Volksgesundheit.«

Quelle: Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft, Köln 1997, S.144

Die Nationalsozialisten konnten 1933 kaum Schritt halten, so schnell vollzog die deutsche Ärzteschaft ihre Selbstgleichschaltung. Die Standesvertretungen ordneten sich dem neuen Regime unter, die Ärzteverbände begannen mit der Ausgrenzung jüdischer Kollegen, noch bevor dies verlangt worden war, und nicht weniger als 45 Prozent der deutschen Ärzte wurden Mitglieder der NSDAP. 26 Prozent traten der SA bei (zum Vergleich: etwa elf Prozent der Lehrer waren in der SA) und neun Prozent der SS (Lehrer: 0,4 Prozent). Eine ganze Medizinergeneration versprach sich, angesichts der katastrophalen Arbeitsmarktsituation, von der zentralistischen NS-Gesundheitspolitik eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage und war auch empfänglich für die nationalsozialistische Vision einer selektionistischen Gesundheitspolitik, die die Starken und »Erbgesunden« fördern und die Schwachen und Minderwertigen aussondern sollte. Eine kostenminimierende Kollektivmedizin sollte den »Volkskörper« als Ganzes in den Blick nehmen und ihn von kranken Organen oder Gliedern befreien. Für die Bevölkerung galt die Pflicht zur Gesundheit, und der Arzt wurde zum »Arzt am Volkskörper«. Nicht jeder Mediziner konnte dieser Vision etwas abgewinnen – allzu vielen aber erschien eine obrigkeitsstaatlich geplante und von Experten autoritär durchgesetzte Gesundheitspolitik als das Gebot der Stunde.

Solche Gedanken wurden freilich nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgesprochen, und auch dann nur im privaten Raum. Die offiziellen Standesorgane der Ärzteschaft waren mit praktischen Fragen befaßt. Die lokalen und regionalen Ärztekammern der Westzonen meldeten schon in der politisch offenen Situation der unmittelbaren Nachkriegsmonate ihre Interessen an und nahmen Stellung zur alliierten Säuberungspolitik, bevor sie ihre eigene Reorganisation vorantrieben und sich 1947 zur Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern (aus der 1955 die Bundesärztekammer hervorgehen sollte) zusammenschlossen. Schließlich ging es darum, die wichtigste Geschäftsgrundlage der Medizin aufrecht zu erhalten: das Vertrauen der Patienten. Um das traditionell sehr hohe Ansehen der Ärzte in der Bevölkerung zu wahren, mußte unter allen Umständen vermieden werden, die Rolle der Medizin im Dritten Reich allzu deutlich hervortreten zu lassen.

»Arbeit am Volkskörper«: MassensterilisationenDer erste große Schritt hin zu einer spezifisch nationalsozialistischen Medizin war ab 1934 die Zwangssterilisation von mehr als 300000 Menschen auf der Grundlage des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933. Das Gesetz basierte auf einem Entwurf von 1932, enthielt nun aber Zwangsmaßnahmen: Alle Angehörigen und Institutionen des Gesundheitswesens waren verpflichtet, Erbkranke bei neu eingerichteten »Erbgesundheitsgerichten« anzuzeigen. Zudem wurde die erbbiologische Erfassung der Bevölkerung vorangetrieben: Schon in den zwanziger Jahren war vielerorts mit der Sammlung von Krankendaten begonnen worden, die nach 1933 den Grundstock einer geplanten »Reichssippenkartei« bildeten. In Hamburg waren 1939 im Rahmen dieser erbbiologischen Bestandsaufnahme schon zwei Drittel der Einwohner registriert. Dieses Vorgehen öffnete der Verfolgung mißliebiger Minderheiten Tür und Tor: Registriert und sterilisiert wurden nicht allein Erbkranke; auch Kriminelle, Prostituierte und »Asoziale« wurden Opfer dieser »negativen Eugenik«.

In der Entnazifizierungsfrage agierten die Ärztefunktionäre erfolgreich. Bis zur Einführung geregelter Spruchkammerverfahren 1946 stritten sie erfolgreich dafür, daß Berufsverbote nur bei Belastungen verhängt wurden, die über die bloße Mitgliedschaft in der NSDAP hinausgingen. Das Interesse der Besatzungsmächte, die gesundheitliche Versorgung im besiegten Deutschland nicht zusammenbrechen zu lassen, tat ein übriges: Selbst Ärzte, denen die Berufsausübung zunächst verboten worden war, erhielten von den Ärztekammern vorläufige Lizenzen, die ihnen das Praktizieren wieder erlaubten. Seit Beginn der Spruchkammerverfahren konnten entnazifizierte ehemalige Parteigenossen ohnehin ihren Beruf wieder ausüben, was sich auch in der Personalpolitik der Ärztekammern niederschlug: Ärztekammerpräsident Ernst Fromm (ab 1955) war Mitglied der SA, sein Nachfolger Hans-Joachim Sewering (ab 1973) Mitglied der SS gewesen. Der erste Hauptgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft, Carl Haedenkamp, bot das Bild eines Funktionärs, der seiner Zunft in gleich drei aufeinanderfolgenden politischen Systemen effizient diente.

Mit dem Ärzteprozeß, dem ersten der Nürnberger Nachfolgeprozesse, drohte der Ärzteschaft 1946 ein Ereignis von unkalkulierbarer öffentlicher Wirkung. Der Hauptkriegsverbrecherprozeß hatte gezeigt, wie konsequent die Besatzungsmächte mit NS-Prominenz umgingen und was für ein öffentliches Echo ein solches Verfahren auslösen konnte. Dieser Bedrohung mußte standespolitisch entgegengewirkt werden, selbstvergewissernd nach innen, abwiegelnd nach außen. Deshalb beschlossen die regionalen Ärztekammern noch vor ihrer Fusion zur Arbeitsgemeinschaft am 2. November 1946, eine Beobachterkommission nach Nürnberg zu entsenden, die den Prozeß verfolgen und anschließend in der medizinischen Fachpresse eine Dokumentation publizieren sollte. Carl Oelemann, Vorsitzender der Ärztekammer Groß-Hessens, bat den jungen Heidelberger Privatdozenten und ausgewiesenen NS-Gegner Alexander Mitscherlich, die Kommission zu leiten – wohl auch, weil sich kein renommierter älterer Kollege dafür fand.

Mitscherlich erklärte sich unter der Bedingung bereit, daß alle medizinischen Hochschulfakultäten seiner Entsendung zustimmten, was auch geschah. Allerdings verband sich mit der Zustimmung die klare Erwartung, daß Mitscherlichs Dokumentation beweisen würde, was man sich von dem Prozeß versprach. Die Göttinger Fakultät beispielsweise war sich sicher, »daß durch den bevorstehenden Prozeß in Nürnberg gegen deutsche Ärzte geklärt wird, daß nur eine verschwindend kleine Zahl von Ärzten, die in eigener Verantwortung handelten, sich schuldig gemacht hat und dementsprechend bestraft werden muß, daß aber die deutsche Ärzteschaft als solche entsprechend ihrer Tradition und ihrer inneren Überzeugung frei von Schuld und nicht mit Vorwürfen zu belasten ist«1.

Carl Haedenkamp – ein Lebenslauf

Seit 1922 Geschäftsführer des Hartmannbundes, Leipzig

1923–1939 Schriftleiter der Ärztlichen Mitteilungen bzw. des Deutschen Ärzteblatts

1924–1928 Reichstagsabgeordneter der DNVP

1933 Aktive Rolle bei der »Gleichschaltung« der Ärzteschaft; Beauftragter des Reichsärzteführers Gerhard Wagner zur Überwachung der »Ausschaltung« jüdischer und sozialistischer Ärzte

1934 Mitglied in der NSDAP

1939 Konflikt mit dem neuen Reichsärzteführer Leonardo Conti

1946 Geschäftsführer des Nordwestdeutschen Ärztekammerausschusses

1947–1955 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern

1949–1955 Geschäftsführender Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Ärztetages

1948–1955 Hauptgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaften der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen

1954 Großes Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für seine »Verdienste um die Gesunderhaltung des deutschen Volkes«

Für Mitscherlich hingegen stand das Ergebnis seiner Beobachtungen keineswegs bereits fest. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, durch die »Vermittlung zeitgenössischer Geschichte«2 die Ärzteschaft zur Auseinandersetzung mit den ethischen Grundlagen ihres Berufes zu befähigen. Mitscherlich reiste mit dem Medizinstudenten Fred Mielke, der Ärztin Alice Gräfin von Platen-Hallermund und drei weiteren Kollegen nach Nürnberg, wo man tagsüber der Verhandlung beiwohnte und abends versuchte, Ordnung in die Flut der Prozeßdokumente zu bringen und eine Auswahl für die geplante Publikation zu treffen.

Am 25. Oktober 1946 nahm der Militärgerichtshof in Nürnberg die Anklageschrift »gegen Karl Brandt und andere« entgegen, am 21.November wurde der Prozeß eröffnet. Knapp eineinhalb Jahre nach Kriegsende war das Material für ein zweisprachig zu führendes Verfahren gegen 23 Angeklagte beisammen, in das die Anklage nicht weniger als 32Zeugen, 570 eidesstattliche Erklärungen, Berichte und Dokumente einbringen sollte. Die Verteidigung führte 30 Zeugen und 901 Beweisstücke ein. Angesichts dieser Dimension und der kurzen Vorbereitungszeit kann es nicht verwundern, daß die Auswahl der Angeklagten aus heutiger Sicht zum Teil als willkürlich erscheint: Viele andere hätten mit gleichem Recht auf die Anklagebank gehört, doch diejenigen, die dort saßen, waren deshalb nicht die falschen. Einige potentielle Angeklagte standen auch deshalb in Nürnberg nicht vor Gericht, weil die BesatzungsmächteWissenschaftler abwarben, die ihnen für die Fortentwicklung ihrer Luftfahrttechnik und Luftfahrtmedizin interessant erschienen.

Von den 23 Angeklagten waren 20 Ärzte, drei hohe Beamte. Der Schwerpunkt der Anklage lag auf den Menschenversuchen und der KZ-Medizin: 14 von 16 Anklagepunkten bezogen sich auf diesen Bereich. Daneben traten die Komplexe der Sterilisationen und der »Euthanasie« in den Hintergrund. Wegen der »Euthanasie«-Morde angeklagt wurden nur Viktor Brack, stellvertretender Leiter der Kanzlei des Führers, sowie der Hauptangeklagte Karl Brandt, seit 1934 Begleitarzt Hitlers und später als Reichskommissar für das Sanitär- und Gesundheitswesen mächtigster Mediziner des NS-Staates mit unumschränkten Vollmachten.

Die Verteidigung stützte sich vor allem auf zwei Argumente: Hinsichtlich der Menschenversuche machte sie die besonderen Umstände der Kriegssituation geltend, denen die Angeklagten hätten Rechnung tragen müssen. Die wehrmedizinischen Versuche hätten dem Wohl der im Felde stehenden Soldaten und der Verhütung von Infektionskrankheiten gedient; man sei stets davon ausgegangen, daß sich die Versuchspersonen freiwillig zur Verfügung gestellt hätten oder daß es sich um ohnehin zum Tode verurteilte Verbrecher gehandelt habe. Zudem wurde auf die lange Tradition von Humanexperimenten – nicht nur in Deutschland – verwiesen. Und auch die »Euthanasie« rückte die Verteidigung in eine bis in die Antike reichende Tradition: Schon immer seien doch Patienten von unheilbarem Leid erlöst worden. Hitlers Ermächtigungsschreiben sei zudem als gesetzliche Grundlage zu verstehen, die wissenschaftliche Arbeit frei von NS-Ideologie gewesen. Daß mit Karl Brandt ein Arzt an der Spitze der Angeklagten stand, der nicht nur bei Hitler, sondern auch in seiner Zunft großes Ansehen genossen hatte, machte diese Differenzierung zwischen Ideologie und Wissenschaft allerdings nicht plausibler.

Das Argument der langen Tradition von Experimenten an Menschen war tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Das Gericht konnte die angeklagten Mediziner deshalb nicht einfach als perverse Sadisten klassifizieren. Es handelte sich immerhin um einige der angesehensten deutschen Wissenschaftler, die darauf beharrten, bei ihren Experimenten habe es sich um seriöse, mit wissenschaftlicher Zielsetzung durchgeführte Versuche gehandelt. Das Gericht war also gezwungen, erst einmal die ethischen Grundlagen der zu fällenden Urteile zu formulieren.

Die Richter kamen schließlich zu dem Ergebnis, daß Menschenversuche mit der ärztlichen Ethik vereinbar seien, sofern sie bestimmten Voraussetzungen genügen: Zentral sei, daß die Versuche dem Wohle der Menschheit dienten und die Erkenntnisse auf anderem Wege nicht erreichbar seien. Die Versuchspersonen müßten über die möglichen Folgen aufgeklärt und fähig sein, frei von Zwang ihre Zustimmung zu geben. Ergebnisse aus Tierversuchen müßten ebenso vorliegen wie grundlegende Kenntnisse über das Wesen der fraglichen Krankheit. Unnötige körperliche und psychische Schmerzen seien zu vermeiden, und schließlich dürfe kein Versuch durchgeführt werden, der den Tod oder irreparable Gesundheitsschäden der Betroffenen nach sich ziehe. Jeder Versuch müsse von wissenschaftlich geschultem Personal nach wissenschaftlichen Prinzipien durchgeführt werden, und die Versuchspersonen müßten jederzeit die Möglichkeit haben, den Versuch abzubrechen.

Vom »Gnadentod« zum MassenmordDie euphemistisch »Euthanasie« genannte Tötung von behinderten Kindern und psychisch Kranken bildete den entscheidenden Schritt zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Nachdem ein betroffenes Elternpaar ein entsprechendes Gesuch an Hitler gerichtet hatte, wurde 1939 mit dem Mord an behinderten Kindern begonnen (»Kindereuthanasie«). Federführend war die Kanzlei des Führers. Ärzte und Hebammen waren verpflichtet, jedes »mißgestaltete Neugeborene« dem »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« auf Meldebögen zu benennen, auf deren Grundlage drei Gutachter die Tötungsentscheidung trafen. Die Opfer wurden in sogenannten »Kinderfachabteilungen« in Krankenhäusern und Heilanstalten medikamentös getötet, nachdem sie dort eine Weile verwahrt worden waren, um den Eindruck zu vermitteln, sie erführen eine medizinische Behandlung.

Auf ähnlicher Täuschung beruhte der Mord an »unheilbar Kranken«, die »Aktion T4« (so bezeichnet nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem Sitz der »Euthanasie«-Zentrale). Mit einem auf den Tag des Kriegsbeginns rückdatierten Schreiben hatte Hitler seinen Kanzleichef Philipp Bouhler und seinen Begleitarzt Karl Brandt ermächtigt, »die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann«. T4-Gutachter entschieden fortan anhand der in den psychiatrischen Anstalten ausgefüllten Meldebögen über das Schicksal der Patienten. Die Opfer wurden in sogenannte Zwischenanstalten verbracht, um nach einiger Zeit in einer von sechs speziellen Tötungsanstalten zunächst durch Injektionen, später durch Gas ermordet zu werden. Anstaltsärzte erfanden leidlich plausible Todesursachen, die den Angehörigen mitgeteilt wurden. Das funktionierte nicht ohne Pannen: Zuweilen erhielten Hinterbliebene zwei Urnen statt einer, oder ein Patient, dem der Blinddarm vor Jahren entfernt worden war, war angeblich an einer Blinddarmentzündung gestorben. Auch die angestrebte Geheimhaltung funktionierte nicht. In der Bevölkerung, besonders in der Umgebung der Tötungsanstalten, regte sich Protest, der vor allem von kirchlichen Stellen artikuliert wurde. Deshalb, aber auch, weil die anvisierte Gesamtzahl von 70000 Opfern erreicht war, wurde die Aktion im August 1941 offiziell gestoppt.

Doch das Morden ging weiter. Die Anstaltsärzte »arbeiteten« nun in eigener Regie und griffen dabei auf medizinisch anmutende Methoden zurück: Statt durch Gas wurden die Patienten durch Injektionen oder mittels Elektroschock getötet; mancherorts ließ man die Kranken auch einfach verhungern. Dieser »wilden Euthanasie« fielen etwa 50000 Menschen zum Opfer.

Mit der »Aktion 14f13« (benannt nach dem Aktenzeichen in den Unterlagen der Konzentrationslagerinspektion) begann der Mord an Konzentrationslagerinsassen, der 1943 etwa 10000 bis 20000 Opfer forderte. KZ-Lagerärzte erfaßten mit Hilfe verkürzter Meldebögen die Todeskandidaten, die von T4-Gutachtern vor Ort gleich gruppenweise »begutachtet« und in T4-Anstalten getötet wurden. Mit der »Aktion 14f13« weitete sich das »Euthanasie«-Programm auf Juden, Zigeuner, Polen und andere Opfergruppen aus. Die medizinische Begründung war vollends zur Farce geworden, die Ärzte verzichteten jedoch meist nicht darauf, sich durch weiße Kittel als solche zu präsentieren.

Ab Mitte 1943 wurden im Rahmen der bislang noch wenig erforschten »Aktion Brandt« auch Bewohner anderer Anstalten, zum Beispiel von Altersheimen, in die Tötungen einbezogen. Die »Aktion Reinhardt« bedeutete den endgültigen Übergang zum organisierten Massenmord in den Vernichtungslagern: T4-Experten und T4-Technik wurden zur Errichtung der ersten Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka bereitgestellt. Am Ende des Weges der Medizin im Dritten Reich standen Ärzte an der Selektionsrampe der Vernichtungslager.

Dieser Kriterienkatalog wird seither als »Nürnberger Kodex« bezeichnet. Bei der deutschen Ärzteschaft hat er zunächst allerdings keine nennenswerte Resonanz gefunden, und im Ausland sind später immer wieder Fälle bekanntgeworden, in denen Ärzte Patienten zu zweifelhaften Experimenten herangezogen haben – unter Mißachtung der in Nürnberg formulierten Grundsätze.

Die Frage, ob die durch die Menschenversuche in Konzentrationslagern gewonnenen Erkenntnisse überhaupt in zukünftige Forschungen Eingang finden dürften, blieb lange Zeit undiskutiert. Faktisch wurden Präparate, die von Opfern der NS-Medizin gewonnen worden waren, an vielen Universitäten in Forschung und Lehre wie selbstverständlich weiter verwendet.

Trotz der Probleme, die aus dem Präzedenzcharakter des Nürnberger Verfahrens resultierten, blieb die Prozeßführung objektiv und souverän. Mitscherlichs Kommission befand: »So mußten wir die Geduld und Unvoreingenommenheit des Gerichtshofes bewundern. Hier wurde jedenfalls blinder Haß nicht mit blinder Rache vergolten, vielmehr in einer ernsten Bemühung die Distanz für Reflexion geschaffen.«3 Und an anderer Stelle lobte Mitscherlich: »Die Prozeßführung ist außerordentlich sorgfältig. Geduld und unparteiliche Haltung der Richter, die der Verteidigung jede mögliche Freiheit gewähren, wird jedem Teilnehmer der Verhandlungen Bewunderung abnötigen.«4

Am 20. August 1947 endete der Nürnberger Ärzteprozeß. Sieben Angeklagte wurden zum Tode, sieben zu lebenslangen, zwei zu begrenzten Freiheitsstrafen verurteilt; weitere sieben wurden freigesprochen. Die zum Tode Verurteilten wurden am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet. Die zu Zeitstrafen Verurteilten wurden zwischen Februar 1951 und November 1952 begnadigt, schließlich kamen auch die Lebenslänglichen nach und nach frei.

MenschenversucheDie Konzentrationslager boten Medizinern eine von jeglichen ethischen und strafrechtlichen Normen befreite »Forschungssituation«. Unter dem Etikett »wehrwissenschaftlicher« Erfordernisse und des Kampfes gegen Infektionskrankheiten führten Ärzte aus moralisch entfesseltem Experimentierinteresse und individuellem Karrierestreben wissenschaftlich wertlose, bestialische Experimente an den Lagerinsassen durch. Einige Beispiele:

Im Konzentrationslager Dachau unternahm Sigmund Rascher »terminale Versuche« zur Erforschung der Auswirkungen von Unterkühlung, aber auch der »Rettung aus großen Höhen« (die Versuchspersonen wurden in Unterdruckkammern zu Tode gebracht). Der Tod der Versuchspersonen war eingeplant und zwecks späterer Sektion auch erwünscht. Hauptsächlich im Lager Buchenwald, aber auch in Kriegsgefangenenlagern an der Ostfront, experimentierte man mit Impfstoffen gegen Fleckfieber, indem man die Versuchspersonen zunächst infizierte, um dann die Wirkung der Gegenmittel zu testen. Prof. Karl Gebhardt war federführend bei einer Versuchsreihe im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, bei der die Opfer mit Gasbranderregern und anderen Bakterien infiziert und dann mit Sulfonamiden »behandelt« wurden. In den Lagern Sachsenhausen und Natzweiler experimentierte man mit chemischen Kampfstoffen, um taugliche Gegenmittel zu finden. Prof. August Hirt sammelte an der Reichsuniversität Straßburg Schädel von »jüdisch-bolschewistischen Kommissaren«. Gefangene aus Auschwitz wurden eigens dafür im Lager Natzweiler getötet und skelettiert.

Ein erster Zwischenbericht der Mitscherlich-Kommission erschien 1947 als Broschüre unter dem Titel Das Diktat der Menschenverachtung; der ursprüngliche Plan, die Ergebnisse in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW) zu veröffentlichen, war an der Ablehnung der Redaktion gescheitert. Die Auflagenhöhe der Broschüre von 25000 Exemplaren orientierte sich an der Auflagenzahl der DMW, da man mit einem identischen Leserkreis rechnete. Doch die Zeitschrift erwähnte die Broschüre mit keinem Wort. Auch in den Tageszeitungen war die Resonanz gering. Unter Medizinern zirkulierte die Schrift zwar, aber die Reaktionen der Ärzteschaft warenwenig freundlich. Mitscherlich sah sich wütenden Attacken ausgesetzt: »Es war kein Geringerer als der Berliner Chirurgie-Ordinarius Sauerbruch, der mich als unbotmäßigen Privatdozenten scharf attackierte«, erinnerte sich Mitscherlich in seinen Memoiren. »Er und andere, zum Beispiel der internistische Papst Rein in Göttingen… unterstellten mir, ich hätte Tatsachen verfälscht. Dabei hatten wir nichts anderes getan, als Gerichtsakten, in denen die Beziehungen der genannten Größen zu ehemaligen Machthabern sichtbar wurden, wortgetreu zu veröffentlichen.… Meine medizinischen Kollegen haben mich damals nicht nur als Vaterlandsverräter beschimpft, sondern auch verschiedentlich versucht, mich beruflich zu diffamieren und zu schädigen. Das Verhalten der Kapazitäten grenzte an Rufmord.«5

Neben Friedrich Hermann Rein und Ferdinand Sauerbruch versuchte auch der Berliner Pharmakologe Wolfgang Heubner, seine Rolle im Nationalsozialismus in ein anderes Licht zu rücken und Mitscherlich zur Änderung bestimmter Textpassagen zu zwingen. Über diese persönlich motivierten Entlastungsversuche hinaus entwickelte sich zwischen Rein und Mitscherlich aber auch eine in der Göttinger Universitäts-Zeitung ausgetragene tieferreichende Diskussion. Rein bestritt eine Schuld der Wissenschaft mit dem Argument, die Angeklagten hätten sich gerade durch ihre Taten außerhalb der Wissenschaft gestellt. Mitscherlich dagegen verwies auf die entscheidende Frage: Wie hatten ausgewiesene medizinische Experten und anerkannte Wissenschaftler zu Verbrechern werden können?

Als Mitscherlichs Mitarbeiter Fred Mielke 1948 auf dem Ärztetag in Stuttgart über den Prozeßverlauf berichtete, erklärte er, die Zahl der an Medizinverbrechen unmittelbar Beteiligten sei »verschwindend gering«. Verglichen mit den etwa 90000 in Deutschland tätigen Ärzten handele es sich um »etwa 300 bis 400 Ärzte, wenn man hoch schätzt«6. Wie auch immer Mielke auf diese Zahl gekommen sein mochte – sie eignete sich hervorragend, eine vermeintlich klar identifizierbare Gruppe verbrecherischer Einzeltäter der übergroßen Mehrzahl unschuldiger Mediziner gegenüberzustellen, und gemessen an den 23Angeklagten des Ärzteprozesses war die Zahl ja nicht einmal gering. Der Blick auf die vielfältigen Übereinstimmungen zwischen Medizin und NS-Regime, die Verstrickung der Ärzteschaft als Berufsgruppe, wurde durch diese Zahlendebatte jedoch völlig verstellt – aus der Sicht der Ärztekammern exakt das erwünschte Ergebnis.

Als 1949 die abschließende Publikation der Kommission in einer Auflage von 10000 Exemplaren unter dem Titel Wissenschaft ohne Menschlichkeit erschien, resümierten die Standesvertreter in einem Vorwort dann auch zufrieden, es sei nun erwiesen, »daß nur ein verschwindend geringer Teil der Standesangehörigen die Gebote der Menschlichkeit und der ärztlichen Sitte verletzt hat. Diese wenigen Personen waren entweder SS-Ärzte und hohe Staatsbeamte oder Sanitätsoffiziere.… Von etwa 90000 in Deutschland tätigen Ärzten haben etwa 350 Medizinverbrechen begangen.… Die Masse der deutschen Ärzte hat unter der Diktatur des Nationalsozialismus ihre Pflichten getreu den Forderungen des Hippokratischen Eides erfüllt, von den Vorgängen nichts gewußt und mit ihnen nicht im Zusammenhang gestanden. Der Prozeßverlauf hat ferner einwandfrei bewiesen, daß die ärztlichen Berufskörperschaften völlig unbeteiligt waren.«7

Mitscherlich machte sich nach den Erfahrungen mit der ersten Publikation jetzt keine Illusionen mehr über die Bereitschaft der Deutschen im allgemeinen und der Ärzteschaft im besonderen, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er veröffentliche das Buch, so hieß es in seinem Vorwort, in dem Bewußtsein, daß die Ergebnisse »kaum noch vom Bedürfnis einer großen, auf Rechenschaft drängenden Öffentlichkeit erwartet werden«8. Und er betonte, die Herausgeber sähen ihre Aufgabe nicht darin, »irgend jemanden in den Augen seiner Mitmenschen anklägerisch zu belasten, so allerdings auch nicht darin, anderen, die in diesen Dokumenten nicht genannt sind, die billige Möglichkeit zu schaffen, sich als Nichtbetroffene fühlen zu dürfen«9.

Ein Buch verschwindetMitscherlichs Buch vermochte der Verdrängung schwerlich entgegenzuwirken, denn es erreichte seine Leser nicht. 1960 erinnerte sich Mitscherlich: »Im Gegensatz zum Diktat der Menschenverachtung blieb jetzt die Wirkung völlig aus. Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, keine Rezensionen, keine Zuschriften aus dem Leserkreis; unter den Menschen, mit denen wir in den nächsten zehn Jahren zusammentrafen, keiner, der das Buch kannte. Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre.« Um das Schicksal des Buches herrscht bis heute Unklarheit. Mitscherlich vermutete, es sei von den Ärztekammern nicht wie geplant an die Kollegenschaft verteilt worden. Zudem habe die Verbandsspitze die Buchhandelsauflage »in toto aufgekauft«, denn alle Exemplare seien »kurz nach dem Erscheinen aus den Buchläden« verschwunden und hätten somit »nicht in die Hände unerwünschter Leser« geraten können10. Von standesoffizieller Seite wurde dagegen stets behauptet, die mangelnde Verbreitung des Buches sei auf das geringe Interesse der Ärzte zurückzuführen. Als jedoch die World Medical Association 1949 von den deutschen Medizinern als Vorbedingung der Aufnahme in den Weltbund ein Schuldbekenntnis forderte, wurde ausgerechnet die Mitscherlich-Publikation als Indiz dafür gewertet, daß man sich intensiv mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt habe. So konnte die deutsche Ärzteschaft auch ohne Schuldbekenntnis 1951 in den Schoß der internationalen Ärzteschaft zurückkehren.

Sein Pessimismus war berechtigt. Die Zahl 350 war von nun an für 40 Jahre das einzige, was der Ärzteschaft zu ihrer NS-Vergangenheit einfiel. Jenseits der vermeintlich 350 Schuldigen strahlte die Medizinerzunft im Gewand der Unschuld – und im weißen Kittel der 65 Arztfilme, die allein zwischen 1946 und 1959 gedreht wurden.

Der Nürnberger Ärzteprozeß beendete Mitscherlichs medizinische Karriere, bevor sie begonnen hatte. Zwar erlangte er in den sechziger Jahren durch sein Buch über Die Unfähigkeit zu trauern, das er zusammen mit seiner Frau publizierte, große Bekanntheit und großen Einfluß in der Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, und er wurde zum Mentor der bundesdeutschen Psychoanalyse. Einen adäquaten Platz innerhalb der medizinischen Wissenschaft aber, gar einen Lehrstuhl, erhielt Mitscherlich nie. Er wurde 1958 Extraordinarius an der Heidelberger Universität und 1966 auf einen Lehrstuhl an die Universität Frankfurt berufen – von der philosophischen Fakultät. Zeitlebens blieb Mitscherlich einer der »bestgehaßten Männer der deutschen Medizin«11. Noch 1973 torpedierten seine Standesgenossen einen Auftritt Mitscherlichs vor dem Deutschen Internistenkongreß, den er mit einem Festvortrag eröffnen sollte. Der Organisator Hermann Bergmann mußte ihm mitteilen, die Internisten hätten mit geschlossenem Auszug aus dem Saal gedroht, wenn Mitscherlich zu ihnen spreche.

Erst als Mitscherlichs Report 1960 als Fischer-Taschenbuch unter dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit erschien, fand die Publikation auch ein nennenswertes Echo in der Öffentlichkeit; das Buch erreichte bis 1996 eine Gesamtauflage von 119000 Exemplaren. In dieser Neuausgabe bezog Mitscherlich auch Stellung zu der ominösen Zahl350: »Natürlich kann man eine einfache Rechnung aufstellen. Von ungefähr 90000 damals in Deutschland tätigen Ärzten haben etwa 350Medizinverbrechen begangen. Das bleibt noch eine stattliche Zahl, vor allem, wenn man an das Ausmaß der Verbrechen denkt.… Doch das trifft nicht den Kern. Dreihundertfünfzig waren unmittelbare Verbrecher – aber es war ein Apparat da, der sie in die Chance brachte, sich zu verwandeln.«12

Lernprozesse: Die medizinische Wissenschaft und der Abschied von der Rassenhygiene

Zu dem Apparat, von dem Mitscherlich sprach, gehörten vor allem die Vertreter der medizinischen Wissenschaft. Als 1949 die NS-Vergangenheit aus Sicht der Ärzteverbände so erfolgreich »bewältigt« war, saßen diese mehrheitlich noch immer – oder schon wieder – in ihren Forschungsinstituten und Universitäten.

Ein Beispiel dafür sind die Vorgänge in der medizinischen Fakultät der Universität Hamburg: Dort hatte man sich 1945 nur kurzzeitig bemüht, schwer belastete Kollegen hinauszudrängen. Prominentestes Opfer dieser spontanen Selbstentnazifizierung war der Dekan und Professor für Psychiatrie, Hans Bürger-Prinz, der im Sommer 1945 seinen Hut nehmen mußte, aber bereits 1947 wieder auf seinen Lehrstuhl zurückkehren konnte. In der Zwischenzeit hatte sich gezeigt, daß nicht einmal die englischen Besatzer ein Interesse daran hatten, die Fakultät konsequent zu säubern. Der aus NS-Haft entflohene und von den Briten zum Rektor ernannte Rudolf Degwitz, der dies als einziger gefordert hatte, wanderte im Sommer 1948 schließlich resigniert – und mit dem gesamten medizinischen Establishment Hamburgs zerstritten – in die USA aus. Die von der Rektorenkonferenz der britischen Zone beschlossene Linie, vorrangig Emigranten und NS-Verfolgte zu berufen, wurde weitgehend ignoriert. In Hamburg hatten im Oktober 1949 alle planmäßigen Professoren der medizinischen Fakultät ihr Amt wieder inne. Bis 1952 waren auch alle Privatdozenten rehabilitiert, unter ihnen SS-Angehörige und Beteiligte an Menschenversuchen. Wären eine Reihe weiterer Mediziner, die sich zeitweise in Berufungsverfahren befanden – wie der Kinderarzt Werner Catel und der Psychiater Werner Villinger –, tatsächlich nach Hamburg gekommen, dann wäre der Fakultät »ein Lehrkörper beschert worden, der in Sachen rassenhygienischer Potenz die des Lehrkörpers in der Nazi-Zeit bei weitem übertroffen hätte«13.

Nachfolgekandidaten

Werner Villinger war Kandidat für die Nachfolge von Bürger-Prinz. Er war schon ab 1932 Professor für Psychiatrie in Hamburg gewesen und als solcher entschiedener Befürworter einer rassenhygienisch ausgerichteten Psychiatrie. Bereits 1927 hatte er als ärztlicher Abteilungsleiter des Hamburger Jugendamtes erbbiologische Erfassungen an Jugendlichen durchgeführt, was in der Hansestadt nach 1933 eine besonders schnelle und weitgehende Identifizierung von Angehörigen mißliebiger Minderheiten ermöglichte. Von 1934 bis 1939 war Villinger in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel tätig, wo es unter seiner Regie zu regelrechten Massensterilisierungen kam. 1940 bis 1945 hatte Villinger an der Universität Breslau einen Lehrstuhl für Psychiatrie innegehabt und parallel dazu als T4-Gutachter gearbeitet. 1946 wurde er nach Marburg berufen – und lehnte den Ruf nach Hamburg ab.

Einer der Nachfolgekandidaten für den ausgewanderten Rektor Degwitz war Werner Catel – der Mann, der neun Jahre zuvor den Anstoß für die »Kindereuthanasie« gegeben hatte, als er den Elterneines auf seiner Leipziger Station liegenden Kindes riet, ein Tötungsgesuch an Hitler zu richten. Catel, Mitglied im »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« und einer der drei Obergutachter der »Euthanasie«-Aktion, amtierte seit 1947 als Direktor einer Kinderheilstätte im Taunus. 1947 als »überzeugter Antifaschist« entnazifiziert, mußte er sich 1948 in Hamburg einem Gerichtsverfahren stellen, das ausgerechnet Rudolf Degwitz, für dessen frei gewordenes Amt sich Catelinteressierte, mit angeregt hatte. Das Hamburger Landgericht lehnte es aber ab, die Hauptverhandlung zu eröffnen, denn die Tötungen seien zwar rechtswidrig gewesen, die Beteiligten hätten jedoch kein Unrechtsbewußtsein gehabt. Ferner sei man nicht der Meinung, »daß die Vernichtung geistig völlig Toter und ›leerer Menschenhülsen‹… absolut und a priori unmoralisch ist«14.

Immer neues Grauen beim Anblick der MonstrenWerner Catel wurde 1954 zum Professor für Kinderheilkunde an die Kieler Universität berufen, obwohl die Universität und auch die Kieler Landesregierung über seine Vergangenheit informiert waren. Erst 1960 – in der Folge der Aufdeckung des maßgeblichen »Euthanasie«-Organisators Werner Heyde (s. dazu S.50ff.) – wurde Catel die Emeritierung nahegelegt. Catel hat eine Beteiligung an der »Euthanasie« stets bestritten, andererseits unverblümt für die Tötung behinderter Kinder geworben. So trat er auch nach seiner Emeritierung in einem Spiegel-Interview vom August 1964 für die Tötung von Kindern ein, bei denen keine »seelischen Regungen« festgestellt werden können.

Spiegel: »Wie untersuchen Sie denn sechs oder acht Monate alte Kinder auf seelische Regungen?«

Catel:»Es gibt da viele Indizien, die Auskunft geben können, nicht müssen. Ob das Kind nach der Flasche greift, ob es lächelt, wie sein Reflexverhalten ist.«

Spiegel: »Manche Kinder sind Früh-, andere sind Spätentwickler. Wie stellt man fest, ob das Kind im untermenschlichen Stadium verharren wird?«

Catel:»Glauben Sie mir, es ist in jedem Fall möglich, diese seelenlosen Wesen vom werdenden Menschen zu unterscheiden.«

Nach der elterlichen Einwilligung sollte, Catel zufolge, die letztgültige Entscheidung von einem Gremium getroffen werden, das er sich so vorstellte: »Der zuständige Amtsarzt, mindestens zwei ärztliche Spezialisten… Ferner sollten ein Jurist und ein Theologe dabeisein. Schließlich muß eine Frau, eine Mutter, dazugehören.« Sorgen machte sich Catel vor allem um die Eltern behinderter Kinder: »Jeder Arzt, der sich in der Praxis mit unheilbaren Idioten befassen muß, weiß von den bis zur Zerstörung reichenden Konfliktsituationen in den Ehen. Er kennt das immer neue Grauen beim Anblick der Monstren.«

Die Universität Kiel rühmte Catel nach seinem Tod 1980, er habe »in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder beigetragen«. Sein Plan aber, die Universität zur Auslobung eines »Werner-Catel-Preises« und der Gründung einer »Werner-Catel-Stiftung« zu bewegen, indem er ihr eine halbe Million Mark hinterließ, scheiterte an empörten Reaktionen der Öffentlichkeit.

Problematischer als für Professoren einer normalen medizinischen Fakultät wie in Hamburg stellte sich die Lage für diejenigen Wissenschaftler dar, die sich in einem offenkundig disqualifizierten Bereich der NS-Medizin profiliert hatten: der »Rassenhygiene«. Eines der wichtigsten Zentren dieser Disziplin war das 1927 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. Hier waren einige von Deutschlands führenden Rassenhygienikern versammelt gewesen: neben Institutsdirektor Eugen Fischer auch Hans Nachtsheim, Fritz Lenz und Otmar Freiherr von Verschuer, der Fischer 1942 als Institutsdirektor folgte, nachdem er zwischenzeitlich in Frankfurt tätig gewesen war. Während Fischer in der Nachkriegszeit unbehelligt seine Pension verzehrte, waren seine jüngeren Kollegen auf eine neue Karriere aus. Sie gelang allen, wenn auch unterschiedlich schnell.

Die größten Probleme hatte dabei Verschuer. Er war in vieler Hinsicht ein typischer Vertreter der Weimarer Medizinelite: deutschnational, antidemokratisch, aristokratisch, elitär und autoritär. Ein Nationalsozialist sei er nicht gewesen, sagte Verschuer nach 1945. Und in der Tat: Im Gegensatz etwa zu seinem Frankfurter Nachfolger Heinrich Wilhelm Kranz, einem »Rassenkundler« mit steiler NS-Karriere, der die Arbeit des Instituts ausdrücklich dem »biologischen Endsieg« gewidmet hatte, erschien Verschuer eher als ein traditioneller deutscher Professor. Dazu trug sein aristokratischer Habitus ebenso bei wie seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche und sein relativ später Eintritt in die NSDAP (1941).

1945 hatte Verschuer auf eigene Faust große Teile des Institutsmaterials mit Lastwagen in sein hessisches Heimatdorf Solz bei Bebra bringen lassen und wartete dort auf eine Möglichkeit, seine Karriere fortsetzen zu können. Das Schicksal seiner ehemaligen Berliner Kollegen verhieß Gutes: Hans Nachtsheim, der als einer der wenigen nicht völlig nazifizierten Rassenhygieniker galt, wurde 1946 auf einen Genetik-Lehrstuhl der Berliner Humboldt-Universität berufen, von wo er nach scharfen Kontroversen mit den Sowjets um die Lehre des sowjetischen Genetikers Lyssenko 1949 an die Freie Universität wechselte. Fritz Lenz erhielt mit Hilfe eines entlastenden Zeugnisses Nachtsheims 1946 einen Ruf nach Göttingen. Nachtsheim hatte seinen Persilschein aber allein aus ständischem Solidaritätsgefühl ausgestellt, nicht aus innerer Überzeugung. So schrieb er Lenz, er könne ihn »von der Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus auf Grund Ihrer eigenen Äußerungen nicht freisprechen«. Auch habe er es »als unklug« empfunden, »daß Sie sich bei der gegebenen Situation bald nach dem Zusammenbruch um einen Lehrstuhl in Göttingen bewarben«. Auch ausländische Kollegen seien der Meinung, den »führenden Persönlichkeiten dieses Instituts müsse der Prozeß gemacht werden, ihre Schuld sei tausendmal größer als die irgendeines idiotischen SS-Mannes«. Nachtsheims Rat: »Es muß erst mit den Jahren Gras über alles wachsen.«15

Verschuer hatte bereits im Frühjahr 1945 wieder Hoffnung schöpfen können. Sein ehemaliger Fakultätskollege Bernhard de Rudder, dem ein distanziertes Verhältnis gegenüber dem Nationalsozialismus nachgesagt wurde und der nun Dekan der Frankfurter Medizinischen Fakultät war, hatte Verschuer mitgeteilt, er habe »die stille Hoffnung, daß wir Sie eines Tags als Erbbiologen (ohne Rassenhygiene alten Stils) wieder hierher kriegen«. Das Fach solle allerdings, überlegte de Rudder, fortan »Genetik« heißen, da die Bezeichnung »Rassenhygiene« die Amerikaner »geradezu aufreize«. Für Verschuer war dies, wie er es in seiner Antwort ausdrückte, »eine schöne Musik«. Der mittlerweile an Lenz ergangene Ruf ermutigte ihn nun noch mehr. Im Oktober 1945 schrieb er an de Rudder: »Wenn Lenz ohne Bedenken akzeptiert worden ist, so müßte ich ja direkt mit positiven Vorzeichen gerufen werden.«16

Parallel zu den offensiven Bemühungen um die Fortsetzung ihrer Karriere mühten sich Verschuer, dessen ehemaliger Mitarbeiter Karl Diehl und de Rudder im privaten Briefwechsel aber auch um Selbstvergewisserung und Standortbestimmung. Dieses Nachdenken über die NS-Zeit und die eigene Rolle blieb jedoch immer abstrakt und verharrte im Ungefähren. Der Nationalsozialismus schien wie ein Unwetter über Deutschland und über die Wissenschaft gekommen zu sein. Die Verantwortung für das Geschehene trugen nicht Personen – schon gar nicht man selbst –, verantwortlich waren die Verirrungen eines vermeintlich technisierten und entmenschlichten Zeitalters. Insbesondere die Abkehr des modernen Menschen vom Christentum identifizierten die Korrespondenzpartner als Grundübel. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis forderte Verschuer politische Abstinenz, den Rückzug in einen wissenschaftlichen Elfenbeinturm (»sei es als Wissenschaftler, Künstler oder auch als Mönch oder Nonne«) und eine christliche Fundierung der Wissenschaft.

Immerhin sahen Verschuer und seine Kollegen in jenen Orientierungsversuchen unmittelbar nach Kriegsende die Dinge relativ klar. Die Tatsache, daß sie in den vergangenen Jahren alles andere als politische Abstinenz an den Tag gelegt, sondern den NS-Staat aktiv mitgestaltet hatten, kam privat ebenso zur Sprache wie die begangenen Fehler: »Nicht, als ob ich an dem Grundsätzlichen, das ich bisher vertreten und gefordert habe, etwas zu ändern hätte, aber doch in dem Sinne, als es nunmehr möglich ist, die mißbräuchliche Anwendung meiner Wissenschaft nicht nur dadurch zu kritisieren, daß man vieles verschweigt und nur das unterstreicht, was man für richtig hält, sondern indem man aus den begangenen Fehlern die Lehren zieht.« Das darwinistische Ausleseprinzip wollte Verschuer als erstes über Bord werfen: »Also setzen wir den Hebel an der ganz anderen Seite an! – Also Bankerott der Eugenik – werden Sie vielleicht denken, wenn Sie solche Meinungen, gerade von mir vertreten, hören. Ja, Bankerott aller ›Züchtungs‹-Phantastereien!«17

RassenhygieneAusgangspunkt der »Rassenhygiene« waren die Evolutionstheorie Darwins und die bereits auf den Menschen bezogene Vererbungslehre seines Vetters Francis Galton, der auch den Begriff »Eugenik« geprägt hatte. Galton verstand darunter »die Wissenschaft von der Verbesserung des Erbgutes, nicht nur durch umsichtige Paarung, sondern auch durch all die Einflüsse, die den geeigneteren Linien eine bessere Chance geben« – also durch gesteuerte Zuchtwahl. Eugenische Planspiele waren kein deutsches Spezifikum, vielmehr war die Sterilisierung Krimineller, Geisteskranker und unheilbar Erbkranker in den zwanziger Jahren in vielen europäischen Ländern und in 25 US-Bundesstaaten gesetzlich geregelt. Doch in Deutschland resultierte aus der Forschung nach der Vererbbarkeit von Merkmalen, die man als typisch für eine bestimmte »Rasse« erkannt zu haben glaubte, derUnterbau für einen vorgeblich wissenschaftlich legitimierten Rassismus. Durch die Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungsgesetze zu Beginn des Jahrhunderts erlebte die »Rassenhygiene«, unter deren Etikett die Erbbiologie und die traditionell vergleichende Anthropologie zusehends verschwammen, einen weiteren Bedeutungszuwachs.

Insbesondere der Leipziger Jurist Karl Binding und der Freiburger Psychiater Alfred Hoche – beides renommierte Wissenschaftler – beeinflußten mit ihrem 1920 erschienenen Buch Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihre Form eine ganze Generation von Medizinern und Juristen. Binding und Hoche definierten das Leben unheilbar Geisteskranker als »absolut zwecklos« und entwickelten eine therapeutisch verstandene medizinische Vision der Tötung von »geistig Toten« und »leeren Menschenhülsen«. Die Tötung dieser »Ballastexistenzen« sei einer »sonstigen Tötung nicht gleichzusetzen, sondern [stelle] einen erlaubten nützlichen Akt« dar.

Mit diesen Einsichten und der Verwandlung der zuvor politischen in eine christliche Wertbindung war die Vergangenheit für Verschuer dann aber auch bewältigt. Eine derart geläuterte Wissenschaft sei für die Zukunft gerüstet, er selbst geradezu prädestiniert für die notwendige Kurskorrektur: »Bei objektiver Betrachtung müßte man mich ungeschoren lassen, ja, im Gegenteil: Die Besatzungsmächte sollten ein Interesse daran haben, daß die Korrektur der Irrlehren des Nationalsozialismus in der Rassenfrage und die Mißbräuche, die vorgekommen sind, von deutscher wissenschaftlicher Seite selbst richtiggestellt und korrigiert werden. Nur so kann man hoffen, daß die richtige Auffassung in diesen Dingen sich durchsetzt und damit die so notwendige Klärung eintritt. Erfolgt solch eine Kritik und Korrektur durch einen jüdischen oder politischen Emigranten, so wird ihm in Deutschland nicht viel Glauben geschenkt werden. Dagegen glaube ich, in weitesten Kreisen des deutschen Volkes auf meinem Gebiet soviel Autorität zu besitzen, daß sie meiner Darstellung Glauben schenken werden.«18

Der ZwillingsforscherOtmar Freiherr von Verschuer (1896–1969) war nach dem Medizinstudium 1923 Assistent von Wilhelm Weitz in Tübingen geworden, der ihm sein späteres Spezialgebiet nahebrachte, die erbbiologische Zwillingsforschung. 1927 ging Verschuer an das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut. Im NS-Staat boten sich für ihn hervorragende Karrierechancen, für die er auch vereinzelte Zweifel an der wissenschaftlichen Beweisbarkeit nationalsozialistischer Rassentheorien zurückstellte. 1935 wechselte er an das neue »Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene« an der Universität Frankfurt und wurde zugleich Professor an der dortigen Medizinischen Fakultät. Verschuer sah sich nun als »Erbarzt«. Nicht nur gab er eine gleichnamige Zeitschrift heraus und stellte seinem Standardwerk Erbpathologie das programmatische Kapitel »Der Erbarzt im völkischen Staat« voran; er füllte auch die drei selbstdefinierten Funktionen eines Erbarztes aus: In Frankfurt wurde erstens erbbiologisch geforscht – dafür wurden u.a. persönliche Daten von Erbkranken aus dem Frankfurter Raum gesammelt –, zweitens wurden die Erkenntnisse in universitären Lehrveranstaltungen, öffentlichen Vorträgen und populärwissenschaftlichen Publikationen verbreitet, und drittens wurden (als praktische Anwendung) in einer dem Institut angeschlossenen »Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege« jährlich etwa 1000 Personen wegen Ehestandsdarlehen, Ehetauglichkeitszeugnissen und Begutachtungen zur Sterilisation untersucht, wobei das stetig wachsende Erbarchiv, in dem 1938 bereits 250000 Menschen erfaßt waren, als Grundlage diente. Das weite Betätigungsfeld Verschuers zeigt, welche wissenschafts-, bevölkerungs- und gesellschaftspolitische Definitionsmacht seine Arbeit im NS-Staat gewonnen hatte. Derart profiliert, kehrte Verschuer 1942 als Institutsdirektor an das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut zurück.

Im Februar 1946 stand Verschuer an der Spitze der Frankfurter Berufungsliste, doch dann taten sich überraschend Probleme auf: Robert Havemann, der kommissarische Leiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wandte sich empört gegen die drohende Berufung. So schrieb er an den zuständigen amerikanischen Major Sculitz, Verschuer sei schwer belastet, SS-Männer wie Josef Mengele hätten an seinem Institut gearbeitet, und Verschuer selbst habe »durch seine schrankenlose Unterstützung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Rassenlehre und Rassenpolitik mit zu den prominenten und aktivsten Vertretern des Faschismus unter den Wissenschaftlern«19 gehört. Dieser Brief wirbelte viel Staub auf. Die Presse wurde aufmerksam, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sperrte Verschuer alle Bezüge, seine Berufung drohte zu scheitern.

Der schwerwiegendste der erhobenen Vorwürfe war, daß Verschuer mit seinem Assistenten Mengele in engem Kontakt gestanden hatte, während dieser Lagerarzt in Auschwitz war, zumindest aber über dessen dortige Tätigkeit informiert gewesen sei. Und in der Tat spricht alles dafür, daß Verschuers Behauptung, nicht gewußt zu haben, welchen Charakter die »Lazarettätigkeit« Mengeles hatte, eine glatte Lüge war. Beweisbar war und ist das nicht, denn die betreffenden Unterlagen waren und blieben verschwunden.

Verschuer wähnte sich als Opfer eines Komplotts seiner ehemaligen Berliner Kollegen, die ihm das Institutsmaterial neideten – um so mehr, als die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine Kommission gebildet hatte, der neben Havemann auch Nachtsheim angehörte. Auf der Grundlage der Veröffentlichungen des Belasteten wollten sich dessen Kollegen »ein Gesamtbild Verschuers als Wissenschaftler im Lichte des Zeitgeschehens und insbesondere im Hinblick auf seine Einstellung und sein Verhalten zum Nationalsozialismus und dessen Lehren«20 machen und sich mit den in der Presse erhobenen Vorwürfen auseinandersetzen. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß lediglich einige Zitate Verschuers Distanz zum Nationalsozialismus belegten, seine Schriften aber ansonsten auf weitgehende Zustimmung deuteten. Verschuer habe »seine wahre wissenschaftliche Erkenntnis geopfert, um sich den Beifall und die Gunst der damaligen Machthaber zu sichern – ein Vorwurf, der schwerer wiegt als der eines, wenn auch irregeleiteten, Fanatismus«. Er habe wissen müssen, daß Mengele seine Blutproben nicht von freiwilligen Spendern gewonnen haben konnte; deshalb, so die Kommission, habe sein Handeln »selbstverständlichen Forderungen menschlicher und wissenschaftlicher Ethik« widersprochen. Die Schlußfolgerung lautete, daß »ein Institut mit eugenischen Zielen niemals Menschen anvertraut werden dürfte, deren restlose Objektivität und deren unbedingtes Eintreten für das wahre Wohl unseres Volkes nicht gesichert erscheint. Charakterlosigkeiten, wie sie in der oben genannten Rede zum Ausdruck kommen, sind weder rein menschlich, noch erst vom wissenschaftlichen Standpunkt aus tragbar.«

Der AssistentJosef Mengele hatte 1936 in Verschuers Frankfurter Institut promoviert. Verschuer wollte seinen Lieblingsassistenten nach Berlin mitnehmen, doch Mengele meldete sich zur Waffen-SS und kam erst im Januar 1943 nach einer Verwundung in die Reichshauptstadt. Wenig später ließ er sich, wiederum freiwillig, nach Auschwitz versetzen, wo er sich nicht nur als allgegenwärtiger Selektionsarzt profilierte, sondern auch eigenverantwortlich Experimente – vor allem an Zwillingen – vornahm. Mengeles Ziel: die Habilitation. Vieles spricht dafür, daß seine Arbeit in Auschwitz in Abstimmung mit Verschuer erfolgte. Verschuer waren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mehrere Projekte genehmigt worden, die augenfällig mit Mengeles Tätigkeit in Auschwitz zusammenhingen. Verschuer berichtete über den Fortgang seines Projektes »Spezifische Eiweißkörper«: »Mit Genehmigung des Reichsführers SS werden anthropologische Untersuchungen an den verschiedenen Rassegruppen dieses Konzentrationslagers durchgeführt und die Blutproben zur Bearbeitung an mein Laboratorium geschickt.« Im Januar 1945 meldete er der DFG, er habe »von über 200 Personen verschiedenster rassischer Zugehörigkeit« Blutproben erhalten. Mengele unterstützte auch Verschuers Assistentin Karin Magnussen, die an einem weiteren Projekt zur »Vererbung von Augenfarben« arbeitete. Ihr sandte er die Augen einer Zigeunerin mit Heterochromasie (Verschiedenfarbigkeit) – und die ihrer Kinder.