Hochbegabung bei Erwachsenen - Manon Garcia - E-Book

Hochbegabung bei Erwachsenen E-Book

Manon Garcia

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Beschreibung

Vorurteile und Mythen über Genies und Wunderkinder halten sich hartnäckig. Aber was ist, wenn Sie feststellen, dass Sie selbst hochbegabt sind? Es kann und darf doch nicht sein, dass man hochbegabt ist, ohne den üblichen Vorstellungen zu entsprechen. Und wenn die Hochbegabung feststeht - wie lernen Sie, damit zu leben? Viele erwachsene Hochbegabte haben zunächst mehr Fragen als Antworten, sind eher unsicher als zuversichtlich und die Hochbegabung erscheint ihnen eher als Qual denn als Glück. Der Ratgeber von Manon García gibt Antworten und motiviert, die Hochbegabung anzunehmen und zu leben. Detailinformation: Der Ratgeber "Hochbegabung bei Erwachsenen" orientiert sich an den spät erkannten Hochbegabten. Er greift Probleme spät erkannter Hochbegabter auf, erklärt Besonderheiten und gibt Tipps für das Leben mit der Hochbegabung. Durch die grundsätzlichen Ausführungen über die Hochbegabung ist das Buch ebenfalls für Eltern mit hochbegabten Kindern geeignet. 5., überarbeitete Auflage

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Manon García

Manon García war längst erwachsen, als ein Test ihre Hochbegabung bescheinigte. Endlich hatte ihr Anderssein und Andersfühlen einen Namen. Endlich konnte sie sich die vielen Ungereimtheiten in ihrem Leben erklären; die Erleichterung war groß. Doch das Wissen, dass sie 37 Jahre lang Chancen vergeben und Potenzial nicht genutzt hatte, war auch ein Schock. Erst fuhren die Gefühle Achterbahn, anschließend krempelte sie ihr Leben um – und lernte, ihre Hochbegabung zu leben. Heute gibt Manon García dieses Wissen als Autorin und Coach an andere Hochbegabte weiter.

www.manongarcia.de

www.autorin.manongarcia.de

www.coaching.manongarcia.de

www.hochbegabung.manongarcia.de

www.facebook.com/hochbegabt.oder.hochsensibel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Wieso, weshalb, warum?

Rund um den IQ-Test – ein Erfahrungsbericht

1.1. Auf dem Weg zum Testergebnis

1.2. Eine Zahl – und nichts ist mehr, wie es war

1.3. Mit der Hochbegabung neue Ziele setzen und durchstarten

1.4. Der Test verändert den Menschen nicht

1.5. Wut auf die Vergangenheit

1.6. Verpassten Chancen hinterhertrauern

1.7. Mit der Hochbegabung leben

Hochbegabung – was heißt das?

2.1. Definition und Erklärung von Hochbegabung

2.2. Leistung und Erfolg – ein anderer Blickwinkel

2.3. Leistungsmotivation – ohne Motivation keine Leistung

2.4. Hirnforschung – größere Zusammenhänge verstehen

2.5. Leistungsexzellenz – Gründe für die Entwicklung zum Experten

2.6. Underachiever – wie Hochbegabte zu Minderleistern werden

2.7. Lernmotivation – erfolgreich lernen durch die richtige Motivation

Wie wir wurden, was wir sind

3.1. Einflüsse, die sich vor der Geburt auf die Entwicklung auswirken

3.2. Einflüsse auf die Entwicklung nach der Geburt

3.3. Bezugspartner – das Umfeld beeinflusst die Entwicklung

3.4. Auswirkungen des Schulsystems auf Hochbegabte

3.5. Die Bedeutung des gesellschaftlichen Umgangs

3.6. Mögliche Folgen einer Nicht- oder Späterkennung

3.7. Eine mögliche Fehlentwicklung am Beispiel der Entwicklungsstufen

Umgang mit der Hochbegabung

4.1. Hochbegabt: outen oder nicht?

4.2. Hochbegabung als Ausrede bei allen Problemen?

4.3. Den Körper und die Gefühle bewusst wahrnehmen und deuten

4.4. Begabungsforschung – welche Maßnahmen unterstützen die Begabung?

4.5. Förderprogramme und Fördermöglichkeiten für Hochbegabte

4.6. Virtuelle Vernetzung und gegenseitiger Austausch

4.7. Anlaufstellen für Hochbegabte und Informationen über den Intelligenztest

Mit der Hochbegabung leben

5.1. Hochbegabt und unzufrieden? Wege und Möglichkeiten zur Veränderung

5.2. Authentizität und Hochbegabung schließen sich nicht aus

5.3. Erfolgsintelligenz – Erfolg als Zusammenwirken von Denken, Fühlen und Handeln

5.4. Lernstrategien – das Lernen lernen

5.5. Kinderträume helfen dabei, die Ziele zu erreichen

5.6. Stärken erkennen und ausleben, Schwächen bewusst ignorieren

5.7. Narzissmus – was ein Fehlen an Selbstliebe bedeutet

Anhänge

6.1. Über die Autorin

6.2. "Der Eisenofen" – Ein Märchen der Gebrüder Grimm

6.3. Literaturverzeichnis

6.4. Register (Personen- und Sachregister)

6.5. Endnoten

Vorwort: Wieso, weshalb, warum?

Vorurteile und Mythen zur Hochbegabung halten sich hartnäckig. Wer in Erwägung zieht, hochbegabt zu sein, vergleicht sich mit diesen gängigen Vorurteilen und muss meist erkennen, dass er ihnen nicht entspricht – weshalb er dann nicht weiter über Hochbegabung nachdenkt, auch wenn er noch so oft im Leben aneckt und „nicht kompatibel“ scheint. Dabei kann es der Schlüssel zu einem anderen Leben sein, wenn bei Erwachsenen eine Hochbegabung festgestellt wird. Denn wer erfährt, was Hochbegabung wirklich ist, warum er wurde, wie er ist, dass er nicht falsch oder dumm ist, erfährt auch, dass jeder Hochbegabte anders ist und nur selten den landläufigen Vorstellungen entspricht. Wer zudem lernt, sich mit seinen Stärken, Eigenheiten und Schwächen anzufreunden und mit ihnen zu leben, wird sich in der Gesellschaft wohler fühlen. Aber für ein authentisches Leben mit der Hochbegabung muss diese erst erkannt werden.

Erwachsene erfahren von ihrer Hochbegabung oft durch Zufall. Sei es, weil die Kinder hochbegabt sind und die Eltern Parallelen zu sich selbst erkennen, weil im Zuge von Depressionen, Burn-out und ähnlichen Erkrankungen ein Test absolviert wird oder weil bei manchen Studiengängen Intelligenztests obligatorisch sind. Die Auseinandersetzung mit der Hochbegabung hat schon vielen geholfen, aus der Außenseiterrolle herauszutreten und sich zu akzeptieren. Sie leben nicht mehr in Alarmbereitschaft, müssen sich nicht mehr ständig beweisen oder erklären, sondern können ein Leben nach ihren Vorstellungen leben.

Durch meine Tätigkeit als "Matheärztin" beschäftigte ich mich mit der Förderung intelligenter und hochbegabter Schüler. Zu den hochbegabten Schülern musste ich mir das Wissen erst aneignen, denn ich wusste nichts über Hochbegabung. Ich hatte enorme Vorurteile, wobei Hochbegabte alles andere als gut wegkamen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema führte dazu, dass ich vermehrt Albträume hatte. Immer öfter erinnerte ich Szenen aus meiner Schulzeit, die ein seltsames, ungutes Gefühl bei mir erzeugten. Schließlich absolvierte ich einen Intelligenztest. Das Ergebnis: hochbegabt. Nun stand ich vor meinem Leben und verstand es nicht mehr. Ich wusste nicht, warum ich so schlecht in der Schule gewesen war, warum ich nicht leichter durchs Leben kam, warum ich mich mit vielen Dingen schwer tat – und ich fing wieder an, mir Vorwürfe zu machen. Ich informierte mich über das Thema und analysierte, warum ich keine „Albertine Einstein“ war, warum ich nicht mit drei Jahren lesen konnte oder wenigstens als Erwachsene durchstartete und vor allem, warum ich im Leben aneckte.

Ich recherchierte und fand: ein Buch. Ein einziges Buch über erwachsene Hochbegabte, in dem sie sich über ihr Leben Gedanken machen. Lediglich ein Buch für Leser, die jedoch nicht nur Porträts lesen, sondern auch herausfinden wollen, warum niemand sie „entdeckt“ hat, warum sie nicht selber in diese Richtung dachten und was sie jetzt ändern könnten. Mein Entschluss formte sich, eigene Erfahrungen und das recherchierte Wissen niederzuschreiben, um anderen Hochbegabten zu helfen.

Der Ratgeber "Hochbegabung bei Erwachsenen" orientiert sich an den spät erkannten Hochbegabten. Er greift Probleme spät erkannter Hochbegabter auf, erklärt Besonderheiten und gibt Tipps für das Leben mit der Hochbegabung. Durch die grundsätzlichen Ausführungen über die Hochbegabung ist das Buch ebenfalls für Eltern mit hochbegabten Kindern geeignet.

In diesem Buch zeige ich, warum es sein kann, dass ein hochbegabter Mensch nicht erkannt wird; warum er in der Kindheit gefordert und gefördert werden muss; warum Selbstliebe eine genauso große Rolle spielt wie Leistungsmotivation (Bestreben sich besonders anzustrengen). Eine Begabung kann sich nur entwickeln, wenn das Umfeld des Hochbegabten die Grundlagen für diese Entwicklung legt. Fehlt diese Unterstützung, werden Hochbegabte heranwachsen, die keiner als solche erkennt. Es kann wie ein Erdbeben sein, wenn ein Erwachsener erfährt, dass er hochbegabt ist. Trotzdem ist diese Erschütterung besser, als weiterhin als Außenseiter zu leben und nicht zu wissen, warum. Natürlich sind nicht alle Hochbegabte Außenseiter, und nicht jeder hat Probleme. Viele arrangieren sich und werden akzeptiert, kommen im Leben gut zurecht. Aber für die, die nach Lösungen suchen, bietet dieser Ratgeber einen Ansatz, ihr Leben zu ändern.

Viele Menschen, bei denen eine Hochbegabung erkannt wurde, werden von einem Gefühlschaos überwältigt. Sie hinterfragen ihre Identität und verzweifeln an Fragen, auf die sie keine Antwort haben und bekommen. Nach dem Testergebnis scheint nichts mehr so zu sein, wie es war. Erreichtes und Erfolge werden ebenso hinterfragt wie Misserfolge. Vielleicht stellen Sie sich ähnliche Fragen?

Sind meine Erfolge überhaupt noch als solche einzuordnen?

Hätte ich nicht viel mehr leisten müssen?

Wieso hat keiner meine Hochbegabung entdeckt?

Warum war ich so schlecht in der Schule?

Warum habe ich nicht studiert oder promoviert?

Warum verstehe ich dann so oft nur "Bahnhof"?

Wieso bin ich kein Überflieger?

Das Buch „Hochbegabung bei Erwachsenen“ nähert sich dem Thema in fünf Schritten. Im Kapitel "Rund um den IQ-Test – ein Erfahrungsbericht" zeige ich, wie ich das Testergebnis erfuhr und damit umging. Dies ist meine Geschichte, sie ist jedoch durchaus exemplarisch für das Erkennen der Hochbegabung im Erwachsenenalter.

Im Kapitel "Hochbegabung – was heißt das?" werden verschiedene Begrifflichkeiten erklärt. Wie lässt sich Hochbegabung definieren? Wie werden Leistungen und Erfolge von Hochbegabten bewertet? Warum ist die Motivation für Leistungen notwendig? Wie werden aus Hochbegabten Minderleister? Warum spielt beim erfolgreichen Lernen wiederum die Motivation eine wichtige Rolle?

Im Kapitel "Wie wir wurden, was wir sind" werden die unterschiedlichen Einflüsse geschildert, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung und Identität auswirken. Wer versteht, warum er wurde, wer er ist, kann sein Leben ändern und eher nach seinen Wünschen gestalten.

Wie mit der Hochbegabung umgegangen werden kann, erfahren Sie im Kapitel "Umgang mit der Hochbegabung", und im letzten Kapitel, "Mit der Hochbegabung leben", gehe ich unter anderem auf Authentizität sowie auf Lernstrategien ein.

Zweifel und Ängste sind bei spät erkannten Hochbegabten teilweise stark ausgeprägt. Eine Identifikation mit der Hochbegabung ist wichtig, um Informationen auf sich zu übertragen, um sich ernst zu nehmen und sein Selbstbild zu verbessern. Erst wenn Hochbegabte sich selbst akzeptieren, werden sie auch von ihrer Umwelt akzeptiert. Andersherum funktioniert es (leider) nicht. Die Stärke eines Menschen kommt von innen, und innere Stärke wird nicht am Lob der anderen gemessen. Innere Stärke wird durch das Eigenlob aufgebaut, welches viele (spät erkannte) Hochbegabte erst Schritt für Schritt erlernen müssen.

Manon García

1. Rund um den IQ-Test – ein Erfahrungsbericht

1.1. Auf dem Weg zum Testergebnis

Der Straßenverkehr war stärker als erwartet, ich kam nicht gut durch. Auch die Grünphase schien immer auszufallen, an fast jeder Ampel musste ich warten. Für den Termin um 15.00 Uhr war ich spät dran. Dieses Treffen könnte mein Leben verändern, entsprechend aufgeregt war ich. Ich fluchte, weil ich nicht vorankam, und klopfte nervös auf das Lenkrad. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, bei diesem wichtigen Ereignis überpünktlich zu sein.

An diesem Tag erfahre ich das Ergebnis meines IQ-Tests. Ich war überrascht, dass ich dieser Zahl dermaßen entgegenfieberte. Ich konnte nicht hochbegabt sein, wie auch! Ich war schlecht in der Schule gewesen und musste mich für die mittelmäßigen Noten auch noch anstrengen. Es gab Phasen, in denen meine Versetzung gefährdet war. Also, warum war ich aufgeregt?

Insgeheim hoffte ich, hochbegabt zu sein. Ja, ich hoffte, dass ich hochbegabt war. Aber was würde sich dadurch ändern? Mir fiel nichts ein. Ich wollte hochbegabt sein, wusste aber nicht, warum. Das irritierte mich. Ich hatte ein Gefühl von "Ich habe es gewusst" oder "Da seht ihr es". Bei dem Gedanken, hochbegabt zu sein, fühlte ich mich groß; ja, man könnte sagen, dass ich innerlich wuchs, als ob ich diese Bestätigung mein Leben lang gebraucht hätte. Keiner hatte mir etwas zugetraut, keiner hatte mir bescheinigt, dass ich etwas gut beherrschte. Im Gegenteil, es gab bloß den erhobenen Zeigefinger: "Das kannst du nicht" und "Das kannst du auch nicht", "Daran musst du noch arbeiten" und "Das ist schlecht". Ich hatte in meinem Leben immer das Gefühl, dass etwas fehlte zum großen Ganzen, ob es in der Schule, beim Sport oder auf Arbeit war. Ich dachte im Nachhinein oft: Hättest du das gewusst, dann ... Bei dem Gedanken, hochbegabt zu sein, fühlte ich ein angenehmes Kribbeln im Bauch und ärgerte mich gleichzeitig, dass ich so empfand. Das Teufelchen auf meiner Schulter sprach: "Es ist totaler Quatsch! Das Ergebnis ist noch nicht mal da, und du denkst an die Zeit danach!"

Zweimal abbiegen, und ich würde da sein. Ich hatte nur noch eine Minute. Wie ich es hasste! Immer kam ich zu spät! Dabei war diese Hetzerei für mich das Schlimmste, was es gab. Das Gefühl, nicht in Ruhe am verabredeten Ort anzukommen, machte mich verrückt. Meine Fähigkeit, unter Stress extrem viel zu schaffen, war zwar enorm, aber ich wollte diese Leistungen ohne Stress erreichen. Denn um unter Stress meine Ziele zu erreichen, musste ich immer über 100 % geben.

Ich parkte das Auto und sprintete los. Zu allem Überfluss fing es an zu regnen. Pitschnass, verschwitzt und außer Atem lief ich hektisch durch das Gebäude. Es war nichts ausgeschildert. Meine Aufregung steigerte sich durch die Sucherei. Ich schaute in die Räume, bei denen die Türen offen standen. Nichts. Es blieben drei verschlossene Türen, an denen ich verstohlen lauschte. Obwohl ich Panik hatte, dass mir gleich jemand auf die Schulter klopfen und mich fragen würde, was ich denn hier tat, musste ich herausfinden, wo die Psychologin mit dem Testergebnis wartete. Als ich im hinteren Flur stand, hörte ich Stimmen. Ich klopfte zaghaft, öffnete die Tür und sah, dass sich die Psychologin in einem Gespräch befand. Erleichtert schloss ich die Tür. Ich hatte noch Zeit. Im Flur setzte ich mich hin und wartete. Meine Aufregung steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Auf dem Weg hierher hatte ich meine Aufregung teilweise ausschalten können, aber jetzt saß ich da und wartete auf mein Testergebnis. Es fühlte sich an, als wäre die Frau vor mir mindestens eine Stunde überfällig. Ein Blick auf die Uhr verriet das Gegenteil: Es waren erst fünf Minuten vergangen.

Die Enttäuschung würde gewaltig sein, wenn ich nicht hochbegabt war. Ich wollte hochbegabt sein, unbedingt! Mittlerweile würde ich alles andere als persönliche Niederlage empfinden. Ich überlegte, wie ich mich unauffällig verhalten könnte, damit man mir im Falle des Falles meine Gefühle nicht ansah. Ich wollte nicht zu aufgeregt wirken, meine Vorfreude nicht zeigen – und meine Enttäuschung natürlich auch nicht. Ein Intelligenzquotient sagte eigentlich nichts aus. Wenn ich mich zu überschwänglich freute, könnte der Eindruck entstehen, dass ich das Ergebnis überbewertete. Ich schaute auf die Uhr. Sieben Minuten waren vergangen.

Die Tür ging auf. Die beiden Frauen verabschiedeten sich, und ich ging mit der Psychologin in einen kleinen Raum. Wir befanden uns in einer Grundschule, sodass die Stühle und Tische entsprechend klein waren. Wie eine Riesin saß ich auf dem Stuhl. Als ich mir das bildlich vorstellte, musste ich lachen – und konnte endlich etwas entspannen. Doch jede Zelle in mir war für das Ergebnis vorbereitet, jeder Muskel angespannt – für die Erleichterung oder für die Flucht, wenn ich nicht hochbegabt sein sollte. Keine Sekunde länger würde ich dann in diesem Raum bleiben.

Während die Psychologin die Unterlagen heraussuchte, wurde mir bewusst, dass ich seitdem ich den Test absolvierte davon ausging, hochbegabt zu sein – obwohl ich vorher nie daran gedacht hatte. Beim ersten Treffen hatte die Psychologin gefragt, wie ich mich einschätzen würde. Ich wusste, dass ich intelligent war, aber hochbegabt? Nein, das kam nicht in Frage! Hochbegabt? Nein, eher alle anderen, aber nicht ich. Es gab so viele Menschen, die viel wussten, die immer gut waren oder die viel Allgemeinwissen hatten, aber ich … was konnte ich denn? Ich konnte mir autodidaktisch etwas aneignen, jedoch erst in den letzten Jahren. Zu Schulzeiten hatte ich ein Sieb im Kopf. Interessierte mich etwas, arbeitete und lernte ich konzentriert, behielt Fakten und Daten, welche ich mit anderen Informationen kombinierte. Meine Transferleistungen waren enorm, darauf war ich auch ein bisschen stolz. Aber ich merkte mir nur Dinge, die keinen interessierten. Wissen, das andere hören wollten oder das für Arbeiten und Prüfungen wichtig war, vergaß ich. Während des Studiums gab es Studenten, die für gute Noten kaum lernen mussten oder ein ausgeprägtes Allgemeinwissen besaßen. Manche hatten ein fotografisches Gedächtnis. Und ich? Was konnte ich? Eigentlich war ich nirgends richtig gut. Und ich wollte hochbegabt sein?

Ich schaute die Psychologin gleichmütig an, obwohl ich kurz vorm Platzen war. Die Psychologin blickte mich an und fragte: "Was denkst du?" Ich dachte, warum erzählt sie mir nicht einfach das Ergebnis, warum spannt sie mich so auf die Folter? Aber ich bewahrte die Fassung, verhielt mich, wie ich glaubte, mich verhalten zu müssen und antwortete: "Ich glaube nicht, dass ich hochbegabt bin." Was sollte ich auch sonst sagen? Die Psychologin lächelte: "Du bist hochbegabt."

Da war es. Etwas in mir platzte. Es war eine Explosion! Doch das Glück ging nur bis zu meiner Haut. Nach außen blieb ich ruhig und gelassen. Ich lächelte und tat überrascht. Und das war ich auch. Ich wunderte mich selbst über mein abgeklärtes Verhalten, da ich doch von innen heraus zu verbrennen drohte! Immer wieder hatte man mir gesagt, dass man sich nicht mit Erfolgen brüsten, dass man sich still freuen sollte. Das setzte ich nun grandios um. Wir redeten über unwichtige Dinge – dabei wollte ich hinausrennen, wollte schreien, laut schreien! Dieses schöne Gefühl musste rausgeschrien werden! Wie lange würde diese Fassade noch halten? Ich dachte unentwegt daran zu schreien und saß zugleich in dem Raum und unterhielt mich über Tests, über die Reaktionen und über andere Dinge. Ich verstand kein Wort, ich spürte nur noch diese Explosion in mir, dieses unbändige Gefühl, welches raus wollte. Ich nickte automatisch und wollte allein sein mit diesem Glücksgefühl.

Irgendwann war das Gespräch zu Ende. Langsam fuhr ich nach Hause – und wusste mit meinem Glück nichts anzufangen. Was bedeutete das neue Wissen für mich? Was würde sich verändern, würde sich überhaupt etwas ändern? Ich versuchte, dieses intensive Gefühl so lange wie möglich zu genießen. Es verflog viel zu schnell. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand 100 Millionen geschenkt, aber in einer Währung, mit der ich nicht einkaufen konnte.

Das ist eine von vielen möglichen Reaktionen, wenn Erwachsene erfahren, dass sie hochbegabt sind. Die Reaktion auf das Testergebnis lässt sich nach Heinz-Detlef Scheer in sechs Phasen unterteilen:

Überraschung

Euphorie

Ernüchterung

Aggression

Trauer

Versöhnung

i

Diese Phasen können auftreten, werden aber nicht notwendig alle durchlaufen, manchmal lassen sie sich auch nicht eindeutig voneinander trennen. In diesem Kapitel sind die Erfahrungen der Autorin beschrieben. Wenn Sie weitere Erlebnisberichte lesen möchten, seien Ihnen folgende Bücher empfohlen: Andrea Brackmann, "Ganz normal hochbegabt: Leben als hochbegabter Erwachsener" und Katharina Fietze, "Kluge Mädchen: Frauen entdecken ihre Hochbegabung".

1.2. Eine Zahl – und nichts ist mehr, wie es war

Nachdem sich meine Aufregung gelegt hatte, ging ich an alle offenen Punkte heran. Ich überlegte, wieso ich überhaupt einen Test gemacht hatte – schließlich glaubte ich zuvor nicht, dass ich hochbegabt sein könnte. Warum hatte ich es riskiert, womöglich zu erfahren, dass ich einen unterirdischen IQ besaß? Niemand hatte mich entdeckt, und mir wurde auch nicht geraten, einen Test zu absolvieren, sondern ich spürte einen regelrechten Zwang, diesen Test durchzuführen.

Während meiner Tätigkeit als "Matheärztin" in meinem Lerninstitut hatte ich Möglichkeiten gesucht, die Schüler bestmöglich zu fördern. Ich erarbeitete einen Mathematik-Kurs für "kluge Köpfe". Hier sollten sich alle Interessierten, Begabten, Intelligenten und auch Hochbegabten austoben können, ich wollte keinen ausgrenzen, jeder sollte teilnehmen dürfen. Ich selbst hätte in meiner Schulzeit gern Zusatzaufgaben bekommen, diese waren aber den "guten" Schülern vorbehalten. Die Enttäuschung über diese Ausgrenzung wollte ich nicht weitergeben. Deshalb fasste ich die Zielgruppe für mein Angebot so weit wie möglich. Ich ging davon aus, dass Interessierte das Potenzial hatten, sonst würden sie nicht freiwillig in ihrer Freizeit an einem Mathe-Kurs teilnehmen.

Ich kannte mich mit dem Thema Hochbegabung nicht aus, ich kannte auch keine. Was sage ich? Ich mochte Hochbegabte nicht. In meiner Kindheit hatte ich mitbekommen, dass über Eltern von hochbegabten Schülern geschimpft wurde – diese Eltern wären zu ehrgeizig, und den Kindern würde die Kindheit genommen. Hochbegabte Kinder, die Klassen übersprangen, wurden bedauert, weil sie sich in der neuen Klasse zurechtfinden mussten und weil daraus eine Belastung entstünde – sie wären nur noch am Lernen und hätten keine Freizeit mehr. Grauenvoll sei das, so wurde es mir beigebracht. Es wurde gar nicht in Erwägung gezogen, dass der Ehrgeiz nicht von den Eltern, sondern von den Kindern ausgehen könnte und dass diese sich freuten, wenn sie gefordert wurden.

Eltern, die ihrem Kind die Möglichkeit boten, sich in Kursen und Seminaren zu informieren, die für ältere Kinder gedacht waren, kamen schlecht weg. Gleich, in welchem Zusammenhang ich auf Hochbegabung traf, die Hochbegabung hatte immer einen negativen Beigeschmack. Hinzu kam bei mir der Neid auf Schüler, die gefördert wurden. So liebte ich Mathematik, und als ich mitbekam, dass ein Schüler von meinem Lieblingslehrer für zu Hause Extraaufgaben bekam, wollte ich mich auch daran versuchen. Der Lehrer sagte mir, dass ich dafür nicht gut genug wäre. Der andere Schüler hätte gute Noten und bräuchte die Aufgaben, und sie wären nicht für alle gedacht. So lernte ich in der Schule, dass ich nicht gut genug war.

Ich informierte mich also vor Beginn des Kurses umfassend und las sämtliche Texte zum Thema hochbegabte Kinder und Jugendliche. Als ich damit begann, spürte ich, dass sich mein Bauch einschaltete. Jedes Mal, wenn ich ein Buch oder eine Broschüre nahm, hatte ich ein unbehagliches Gefühl. Beim Lesen spulten sich Szenen aus meiner Kindheit und Schulzeit ab, diese Bilder kannte ich nicht und ich wunderte sich, woher sie kamen.

Dieses Thema beschäftigte mich sehr. Aber ich wäre damals nicht darauf gekommen, dass ich hochbegabt sein könnte. Eigene Probleme und Anpassungsschwierigkeiten erklärte ich mir damit, dass diese nicht explizit bei Hochbegabten auftraten, sondern auch bei normal begabten Kindern vorkommen konnten. Das Thema Hochbegabung ließ mich nicht los. Ich vereinbarte Treffen mit Hochbegabtenvereinen und fühlte mich zugehörig. Als ich dieses Gefühl ansprach, wurde mir gesagt, dass sich nur hochbegabte Menschen mit dieser Thematik auseinandersetzen würden. Diesen Witz fand ich gut.

Das Thema hatte eine Sogwirkung. Je mehr ich las und je mehr ich wusste, desto mehr wollte ich in Erfahrung bringen. Mir wurde bewusst, dass ich diesem Thema viel mehr Platz einräumte als ursprünglich geplant. Ich suchte nach Aufgaben für Hochbegabte und überlegte, wie ich diese Schüler unterrichten würde. Das Projekt "Kluge Köpfe" musste jedoch ein Jahr lang ruhen, und damit war auch das Thema Hochbegabung beiseitegelegt. Zufällig wurde ich nach dieser Zeit auf eine Website für hochbegabte Erwachsene aufmerksam. Tagelang las ich Erfahrungsberichte und saß dabei heulend vor dem Monitor. Natürlich trafen die dort geschilderten Erlebnisse nicht 1:1 auf mich zu, aber das Ausgeschlossensein, die vergebliche Mühe des Anpassens, so vieles kam mir vertraut vor. Die Albträume kamen zurück, und psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen und Schweißausbrüche machten sich bemerkbar. Konnte da ein Zusammenhang sein? Ich gab mich geschlagen und absolvierte einen Intelligenztest.

Ich wollte einen Test mit einem persönlichen Gespräch, nicht nur mit schriftlicher Auswertung. Ich hatte Bedenken, bei dem Test nicht gut abzuschneiden, schließlich war ich in der Schule immer schlecht gewesen. Außerdem zeigte sich eine Prüfungsangst, die ich in dieser Form nicht kannte. Ängste konnte ich an sich gut verdrängen, aber diese Versagensangst ließ sich nicht beiseite schieben. Ich entschied mich also für eine Psychologin, die neben dem Test auch ein Gespräch anbot, welches bei der Auswertung berücksichtigt würde. Diese zusätzliche Möglichkeit zu zeigen, was sie konnte, beruhigte mich. Somit überwand ich meine Angst vor dem Test, erzählte aber niemandem davon, weil ich nicht als Aufschneiderin oder Hochstaplerin abgestempelt werden wollte.

Das Ergebnis kennen Sie: hochbegabt.

1.3. Mit der Hochbegabung Ziele setzen und durchstarten

Ich hatte 37 Jahre mit der Gewissheit gelebt, dass ich faul war, dass ich mir meine Existenz mit den schlechten schulischen Noten versaut, dass ich viele Fehler hatte und nichts wirklich konnte. Außer Fußball spielen und der Eigenschaft, niemals aufzugeben, fiel mir nichts Positives über mich ein. Ich fühlte mich in der Gesellschaft und in meinem Umfeld nie richtig aufgehoben, hatte ursprünglich ganz andere Ideen, bis man mir klarmachte, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und man sich an Regeln zu halten habe.

Eine Regel hieß: Du musst exzellent sein, um bestimmte Berufe zu erlernen. Leider gehörten meine Wunschberufe dazu, sodass ich sie ad acta legte, bevor ich überhaupt beginnen konnte. Ich begrub meine Träume: Journalistin, Schauspielerin, Wissenschaftlerin.

In der Schule kam ich gut mit. Mit den mündlichen Noten konnte ich die schlechten schriftlichen ausgleichen. Trotzdem hatte ich eher durchschnittliche Zeugnisse, war nie oben oder ganz vorn – dafür reichte es nicht. So kam es, dass ich kein Abitur machte, sondern einen Realschulabschluss mit anschließender Fachoberschule. Über den zweiten Bildungsweg konnte ich meine Liebe zur Mathematik aufrechterhalten und Bauingenieurin an der Fachhochschule studieren.

Jahre später stand ich mit dem Testergebnis in der Hand da und verstand die Welt nicht mehr. Die Freude auf der einen Seite konnte die Zweifel auf der anderen nicht besänftigen – und ich fing schon wieder an, mir Vorwürfe zu machen, denn ich glaubte immer noch, dass ich mir mein Leben durch Faulheit versaut hatte.

Dieses Gefühlschaos legte sich nicht, und ich musste etwas tun. Ich wollte analysieren, warum ich im Leben immer aneckte und so viele Schwierigkeiten hatte.

Also suchte ich Bücher, die mir bei der Aufarbeitung und Verarbeitung helfen sollten. Ich fand keine hundert oder tausend, sondern: ein Buch. Ein Buch über hochbegabte Erwachsene, das all meine Fragen beantworten sollte. Doch es diente lediglich der ersten Information, gab nur auf wenige Fragen eine Antwort.

Auch im Hochbegabtenverein Mensa e. V. traf ich auf Hochbegabte, die ratlos vor ebendiesen Fragen standen. Ich entschloss mich, Informationen zu sammeln. Wenn es noch kein Buch gab, das mir helfen konnte, dann würde ich eben eins schreiben. Ich wollte meine Erfahrungen und mein Wissen zu Papier bringen, um mich und anderen Hochbegabten zu helfen.

Da die Gehirnforschung jahrzehntelang vernachlässigt wurde, gab es auf diesem Gebiet nicht viel zum Thema Hochbegabung; doch diese Erkenntnisse erklärten schon viele Abläufe. Neben der Recherchearbeit wollte ich nicht ruhig dasitzen und warten, und so schrieb ich mich bei einer Universität ein, mit dem Diplomabschluss der Fachhochschule hatte ich die Berechtigung für ein Universitätsstudium erlangt. Ich dachte, dass ich mit der Intelligenz mindestens zwei Studiengänge in der Zeit von einem schaffen müsste, und so lernte ich und kam gut voran. Allerdings hatte ich mehr Spaß daran, mir die Inhalte anzueignen als auf die Prüfungen hinzuarbeiten. Wieder waren nicht Transferleistungen gefragt, sondern stures Auswendiglernen – und damit hatte ich ein Problem, seitdem ich denken konnte. Hochbegabte würden doch sicher nicht viel lernen zu müssen, um sich Inhalte zu merken? Aber auf diese Weise kam ich nicht weit, und ich fing an, am Ergebnis des IQ-Tests zu zweifeln. Ich setzte mich so unter Druck, dass ich weniger schaffte als vorher, und hatte das Gefühl, alles falsch zu machen. Vor allem war da der Gedanke, dass durch die späte Entdeckung der Hochbegabung alles vorbei sei und durch die Versäumnisse der ersten Jahrzehnte die Vorteile einer Hochbegabung nicht mehr genutzt werden könnten. Wie viel Wissen hätte ich mir aneignen können, was hätte ich alles studieren können! Dass ich das Verpasste niemals mehr würde aufholen können, machte mich unendlich traurig. Denn dass das Lernen im Alter immer schwieriger wurde, galt wahrscheinlich auch für Hochbegabte. Ich musste mich damit abfinden, dass ich mit der Hochbegabung meine Zukunft beeinflussen, aber nicht mein Leben wieder auf "Start" stellen konnte.

In dieser Zeit lebte ich in einem luftleeren Raum und schwebte vor mich hin. Das Leben lief an mir vorbei. Immer wieder fragte ich mich, warum ich es als Kind nicht geschafft hatte, mir etwas beizubringen, um so auf mich aufmerksam zu machen. Dann hätten doch alle sehen müssen, dass ich hochbegabt war und dass man mit mir anders umgehen musste. Eine angemessene Förderung bekamen Kinder, die sich das Lesen allein beibrachten. Warum hatte ich das nicht fertiggebracht?

Ich erinnerte mich, dass ich als Kind traurig war, wenn die anderen nicht mit mir lernen wollten. Wenn ich wissen wollte, wie ein Kühlschrank funktionierte, interessierte das keinen, und wenn doch, dann wurde mir ein Buch geschenkt, mit dem ich mich allein beschäftigen sollte. Oft saß ich im Zimmer und hatte keine Lust, in diesem Buch zu lesen. Hatte ich trotzdem darin nach einer Antwort gesucht und dann freudestrahlend mein Wissen verkündet, interessierte es wieder keinen, oder die Erwachsenen verstanden nicht, was ich ihnen erzählte. Da keiner da war, den es interessierte, legte ich das Buch irgendwann beiseite. Denn ich verstand nicht alle Informationen und hätte jemanden gebraucht, der mir die Zusammenhänge erklärte und der sich mit dem Thema auseinandersetzte.

Womit sich 30 Jahre später ein Kreis schloss, denn auch in der aktuellen Situation hatte ich viele Fragen, die mir keiner beantworten konnte. Dieses eine Buch über erwachsene Hochbegabte war hilfreich, aber nur für den ersten Moment.

Wie als Kind lebte ich auch jetzt in einer Gesellschaft, zu der ich keinen Zugang bekam. Mir fehlte eine entscheidende Information – eine Bedienungsanleitung für das Leben. Es blieb dunkel im Zimmer, ich fand den Lichtschalter nicht.

Zusätzlich belastete mich das Gefühl, jahrzehntelang ein falsches Leben gelebt zu haben. Ich hatte mir eine äußere Schale zugelegt, um gesellschaftsfähig zu sein. Mit der Kenntnis der Hochbegabung legte ich diese äußere Schale nun ab. Mein ungeschütztes Innenleben kam zum Vorschein. Wenn ich auch nicht wusste, wie dieses Leben funktionierte, so konnte ich doch Antworten auf meine Fragen suchen und mein Leben neu bewerten.

In dieser Zeit fehlten mir gültige Bewertungskriterien.

Was bedeutet es beispielsweise, wenn man komplexe Zusammenhänge schnell erfassen kann?

Wer definiert, was komplex ist?

Wer legt fest, was schnell und was langsam ist?

Wer ist in der Lage, diese Entscheidungen zu treffen?

Ist das von Fall zu Fall unterschiedlich oder gibt es eine Skala, an der das Ergebnis abgelesen werden kann?

Das komplexe Denken ist lediglich eine von vielen Eigenschaften, die Hochbegabten nachgesagt wird – wie ist es mit den anderen Eigenschaften?

Ist das alles eine Ermessenssache?

Wie ein Alien fühlte ich mich zum Beispiel, wenn es um Wissensspiele ging. Die spielte ich für ihr Leben gern, aber nur mit mehreren Lexika und dem Duden, die sich neben mir auf dem Tisch türmten. Bis ich alles sortiert hatte und bereit für die erste Frage war, wollte keiner mehr mit ihr spielen. Aber beim Spielen blieben sonst so viele Fragen offen, die ich am liebsten geklärt hätte – gleich, sofort. Doch meine Mitspieler teilten dieses Interesse nicht, und so verlor entweder ich oder die Mitspieler die Lust am Spielen. Hing das auch mit der Hochbegabung zusammen? Konnte ich damit mein kompliziertes Leben erklären? Oder machte ich es mir zu einfach?

Ich hatte Schwierigkeiten mit vermeintlich leichten Aufgaben, hörte Sätze wie "Mensch, so blöd kann man doch nicht sein" oder "Das weiß man doch". Diese Sätze bekam ich in der Schule, in der Freizeit und in der Familie gesagt. Wie konnte ich hochbegabt sein, wenn jeder mich für dumm hielt?

Erzählte ich etwas, wurde ich oftmals wegen meines vorauseilenden und sprunghaften Denkens kritisiert. Ich nahm an, dass keiner mich verstand, weil ich nicht genug erklärte oder ausholte, denn wenn andere erzählten, verstand ich immer. Nur ich war nicht in der Lage, so zu berichten, dass ich verstanden wurde. Hing das auch mit der Hochbegabung zusammen?

Ich widersetzte mich der Alltagsroutine und weigerte mich grundsätzlich, wenn es hieß: "Das macht man so". Deshalb wurde ich als Querkopf, frech, unsozial und schlecht erzogen beschimpft. Konnte das an der Hochbegabung liegen?

Aufgrund meines starken Gerechtigkeitssinns war ich in der Grundschule und in den ersten Jahren auf dem Gymnasium Klassensprecherin – ansonsten verstand jedoch kaum jemand, warum ich mich aufregte, wenn ich doch nichts ausrichten konnte. Für mich war das kein Grund, tatenlos zuzusehen. Ich trat für die Gerechtigkeit ein, gleich, welche Erfolgsaussichten ich hatte. Es ging für mich ums Prinzip, nicht um das Rechthaben. Ungerechtigkeit sollte sich keiner erlauben, nur weil er in der stärkeren Position war. Hing das auch mit der Hochbegabung zusammen?

1.4. Der Test verändert den Menschen nicht

Hochbegabung bringt Vorteile mit sich – so heißt es. Aus diesem Grunde hatte ich nach Möglichkeiten gesucht, mich auszutauschen, z. B. durch Kontakte zu Gleichgesinnten, zu Hochbegabtenvereinen und zu Coaches, die auf Hochbegabung spezialisiert waren. Es gab nur ein Buch für hochbegabte Erwachsene oder Späterkannte, also las sie Bücher über hochbegabte Kinder und Jugendliche. Ebenso Bücher, die sich allgemein mit dem Thema beschäftigten, beispielsweise "Das Drama des begabten Kindes" von Alice Miller. Die Autorin spricht die Hochbegabung nicht direkt an, doch ihre Bücher handeln von Problemen, die Begabte haben können.

Mein Erfahrungsschatz und das Wissen wuchsen in kleinen Schritten, ich kam voran. Ich kannte meine Fragen und suchte gezielt nach Antworten. Von Gleichgesinnten erfuhr ich, wie andere mit ihrer Hochbegabung und der späten Erkenntnis umgingen. Allerdings beschränkte sich die Information meist darauf, dass sie am selben Punkt standen wie ich, also im luftleeren Raum. Für mich war es zu diesem Zeitpunkt wichtig zu wissen, dass ich nicht die Einzige war, die mit ihrem Testergebnis schlecht zurechtkam. Alles, was ich jemals unternommen, gedacht, gesagt hatte, stellte sich nach dem Test ganz anders dar. Allein die Tatsache, dass ich nicht dumm, sondern anders war, gab mir das Gefühl, doch zu dieser Gesellschaft zu gehören.

Das Wissen um die Hochbegabung veränderte mein Leben. Es musste nicht unbedingt an mir liegen, wenn mich jemanden nicht verstand. Missverständnisse oder Kommunikationsprobleme konnten ihre Ursache auch in der unterschiedlichen Denkweise haben. Die Wertung veränderte sich. Aus "Ich bin dumm" wurde "Ich bin anders", und ich suchte den Fehler nicht mehr nur bei mir. Ich ging nun anders mit mir um, hinterfragte mich und meine Denkweise. Verstand ich etwas nicht, dann ging ich jeden Gedankenschritt durch, analysierte, wo ich den Anschluss verloren hatte, und was ich ändern musste, damit ich verstehen konnte. Danach entschied ich, ob ich überhaupt etwas ändern wollte. Mein Gesamtbild verschob sich, ich musste mein Leben neu zusammenfügen.

Ich hatte Kontakt zu drei Coaches. Bei jedem lernte ich lediglich einen oder zwei Aspekte der Hochbegabung. Aber diese Aspekte halfen mir, meine Unsicherheit und Sicht auf die Dinge neu zu strukturieren. Ich erfuhr, dass Hochbegabte nicht gerne in Schubladen denken oder gesteckt werden. Dass ausgerechnet meine hochbegabten Coaches in solchen dachten, erschreckte mich. Deswegen nahm ich mit, was ich mitnehmen konnte, und ging den weiteren Weg allein, denn mir wurde klar, dass ich ihn selbst finden musste. Es gab immer wieder Menschen, die mich ein Stück weit begleiteten, aber im Grunde genommen war und ist es ein einsamer Weg. Das bedeutet nicht, dass man keinen Partner oder Familie hat, sondern es bezieht sich auf die Frage: "Wer bin ich eigentlich?". Bei dieser Erkenntnis kann einem niemand helfen. Nur wer sich selber liebt und akzeptiert, kann von anderen geliebt werden oder andere lieben.

Ich wollte bewährte Systeme nicht auf mich anwenden, ohne sie zu hinterfragen, zumal diese Systeme nicht unbedingt für und an Hochbegabten erprobt worden waren. Der Gedanke, dass ich meinen eigenen Weg gehen musste, gefiel mir von Tag zu Tag besser. Ich wurde in einer Weise gefordert, die ich nicht kannte. In meinem "alten" Leben hatte ich versucht, in einem System für Normalbegabte zurechtzukommen, und wandte entsprechend die Regeln und Normen dieses Systems an. Ich bediente mich nicht meiner eigenen Normen und Werte, weil diese in dem System nicht verstanden wurden. Ich freute mich jetzt auf Ideen, die hoffentlich bald strömen würden. Sollte ich meine Kreativitätsquelle erst einmal entdeckt haben, würde diese nicht mehr versiegen. Besagte Quelle zu finden war wie ein Abenteuer, auf das ich mich ungemein freute.

Ich betrachtete jede Information genau und zerlegte sie in ihre Einzelteile. So kristallisierte sich ein geeigneter Weg heraus. Trotzdem wäre ich dankbar gewesen, wenn sich bei mir ein Zauberer gemeldet und mir alles erklärt hätte: die Zusammenhänge der Hochbegabung, Antworten und Tipps fürs Leben. Saß ich mal wieder allein und traurig da, stellte ich fest, dass ich etwas erwartete, was mir keiner geben konnte. Mein Leben musste ich selbst gestalten, das konnte sonst keiner für mich tun. Warum erhoffte ich von der Gesellschaft, dass sie eine Lösung für mich fand? Ich war doch in der Vergangenheit mit diesen Lösungen nie zufrieden gewesen. Immer hatte ich