Hochfunktionale Autisten im Beruf - Ina Blodig - E-Book

Hochfunktionale Autisten im Beruf E-Book

Ina Blodig

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Beschreibung

Teamfähigkeit, Flexibilität, Stresstoleranz – Die Bewertungskriterien, nach denen Arbeitgeber Bewerber einstellen und Mitarbeiter beurteilt werden, orientieren sich am Gros der Bevölkerung. Menschen mit Autismus verfügen über diese Eigenschaften nur ansatzweise oder benötigen zielgerichtete Unterstützung. Dabei sind Hochfunktionale Autisten gerade aufgrund ihrer typischen Eigenschaften wie Genauigkeit und Detailliebe wertvolle Mitarbeiter. Es bedarf "nur" einiger sozialer Skills, um auf dem Arbeitsmarkt ihr Können unter Beweis zu stellen. Ina Blodig erläutert in ihrem Buch, welche Schwierigkeiten in der Arbeitswelt auf Menschen mit Hochfunktionalem Autismus/Asperger-Syndrom zukommen können und wie sie diese erfolgreich überwinden. Vom Bewerbungsprozess über die ersten Schritte im neuen Unternehmen bis zum Small Talk in Pausen werden alle Bereiche des beruflichen Alltags thematisiert. Fallbeispiele und Erfahrungsberichte inspirieren zu individuellen Lösungen.

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Ina BlodigHochfunktionale Autisten im BerufNavigationshilfen durch die Arbeitswelt

Über dieses Buch

Teamfähigkeit, Flexibilität, Stresstoleranz – Die Bewertungskriterien, nach denen Arbeitgeber Bewerber einstellen und Mitarbeiter beurteilt werden, orientieren sich am Gros der Bevölkerung. Menschen mit Autismus verfügen über diese Eigenschaften nur ansatzweise oder benötigen zielgerichtete Unterstützung. Dabei sind Hochfunktionale Autisten gerade aufgrund ihrer typischen Eigenschaften wie Genauigkeit und Detailliebe wertvolle Mitarbeiter. Es bedarf »nur« einiger sozialer Skills, um auf dem Arbeitsmarkt ihr Können unter Beweis zu stellen. 

Ina Blodig erläutert in ihrem Buch, welche Schwierigkeiten in der Arbeitswelt auf Menschen mit Hochfunktionalem Autismus / Asperger-Syndrom zukommen können und wie sie diese erfolgreich überwinden. Vom Bewerbungsprozess über die ersten Schritte im neuen Unternehmen bis zum Small Talk in Pausen werden alle Bereiche des beruflichen Alltags thematisiert. Fallbeispiele und Erfahrungsberichte inspirieren zu individuellen Lösungen.

Ina Blodig, Dipl.-Päd., hat die Beratung von Autisten, deren Angehörigen sowie Unternehmen, die Autisten anstellen möchten, zu ihrem Steckenpferd gemacht. Aktuell arbeitet sie als Beraterin bei Specialisterne, einem sozial-innovativen Unternehmen, das Menschen mit Autismus hilft, ihr Potential zu entfalten und sichere Arbeitsplätze zu finden.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2016

Coverfoto: © LaCozza – fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-460-4

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-461-1 (EPUB), 978-3-95571-463-5 (PDF), 978-3-95571-462-8 (MOBI).

Vorwort

Nach wie vor ist für Menschen mit Behinderung der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt deutlich schwieriger als für Menschen ohne Behinderung, und das trotz (guter) schulischer und beruflicher Qualifikationen. Dies belegen auch die aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (vgl. Statistik / Arbeitsmarktberichterstattung 2015). Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die aufgrund ihres Andersseins im Bereich Kommunikation und sozialer Interaktion in der derzeitigen Arbeitswelt mit spezifischen Barrieren konfrontiert werden, kennen diese schwierige Situation aus eigener Erfahrung: In vielen Fällen konnten die Hindernisse trotz intensiver Bemühungen kaum überwunden werden. Die Rückmeldung vieler Betroffener und ihrer Eltern im Rahmen der Autismus-Selbsthilfestrukturen (u. a. in Hessen) zeigt einen deutlichen Bedarf an angepassten Begleitstrukturen. Begleitstrukturen, in denen auch und gerade auf professioneller Seite Wissen und Erfahrung mit der Informationsverarbeitung und sozialen Interaktion von Menschen mit Autismus vorhanden sind.

Vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrung im Rahmen des hessischen Modellprojekts MAASarbeit und ihrer aktuellen Tätigkeit bei SAP im Auftrag von Specialisterne widmet sich Ina Blodig in ihrem Buch systematisch den strukturellen, kommunikations- und einstellungsbedingten Barrieren, mit denen Menschen mit Autismus im Alltag konfrontiert sind. Neben der Frage, wie eine autismussensible bzw. autismusfreundliche Arbeitswelt gestaltet werden kann, ist für sie auch immer relevant, in welcher Weise sich autistische Menschen und ihr berufliches Umfeld aufeinander zubewegen können, sodass sich für alle Beteiligten eine anregende und gelingende Zusammenarbeit entwickeln kann. Die vorhandenen Kompetenzen und Potenziale von Menschen im Autismusspektrum wahrzunehmen, sie anzuerkennen und mit diesen Menschen gemeinsam und auf Augenhöhe passgenaue Tätigkeitsfelder zu entwickeln bringt einen sozialen und wirtschaftlichen Gewinn für alle Akteure mit sich.

Das Buch von Ina Blodig schließt eine Lücke in der bisher vorhandenen deutschsprachigen Literatur zum Thema Autismus und unterstützt damit die Weiterentwicklung des autismusspezifischen Coachings in der Arbeitswelt. Ohne ein solches individuelles Coaching, das kompetent und unbürokratisch eine Brücke schlägt zwischen der Person mit Autismus und dem betrieblichen Umfeld, ist in vielen Fällen eine Überwindung der Barrieren nicht möglich: Hochfunktionaler Autismus ist eine nicht sichtbare Behinderung. Ohne einen „Dolmetscher“, der vor allem in sozialen Situationen autismusspezifisch vermittelt, kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Das Verhalten der Person mit Autismus wird vom Umfeld falsch eingeordnet, gerade in den ersten entscheidenden Kontaktphasen. Beruflich oftmals gut oder sehr gut qualifizierte Menschen mit Autismus müssen als Konsequenz die (verletzende) Erfahrung machen, dass zum Beispiel aus einem abgeschwächten Blickkontakt im Bewerbungsgespräch automatisch auf eine nicht vorhandene Teamfähigkeit geschlossen wird oder dass zurückhaltendes Verhalten in der Probezeit fälschlicherweise zu dem Eindruck führt, der Bewerber hätte kein Interesse an dem jeweiligen Arbeitsfeld.

In der Praxis zeigt Ina Blodig täglich, wie sich solche Missverständnisse in der sozialen Interaktion schnell und einfach, aber auf Grundlage fundierter Autismus-Kenntnisse auflösen lassen und sich dann ein gegenseitiges Verständnis entwickelt. Und diese Praxiserfahrung fließt nun anschaulich in ihr Buch mit ein. In vielen Fällen lautet die Reaktion der Vorgesetzten und Kollegen: „Jetzt kann ich meine Mitarbeiterin / meinen Mitarbeiter besser verstehen. Warum habe ich diese Informationen nicht schon früher bekommen?“ Neben den Betroffenen selbst ist daher das Buch von Frau Blodig auch für sie bestens geeignet. Unterstützt durch autismusspezifisches Coaching haben bereits viele Arbeitgeber den Schritt in eine Zusammenarbeit mit einem Autisten gewagt und schnell die beruflichen und persönlichen Stärken des Arbeitnehmers kennen- und schätzen gelernt.

In diesem Sinn wünsche ich dem vorliegenden Buch eine reichhaltige Verbreitung, damit Barrierefreiheit in der Arbeitswelt für und von Menschen mit Autismus zukünftig immer häufiger realisiert werden kann und sie auf diese Weise ihre Fähigkeiten in verstärkter und inklusiver Weise in die Gesellschaft einbringen können.

PD Dr. Monika Lang, Dipl.-Psych.

Leitung des Instituts für Rehabilitationspsychologie und Autismus IRA Gießen und fachliche Begleitung des Projekts MAASarbeit

Privatdozentin an der Philipps-Universität Marburg, FB. Erziehungswissenschaften

Einleitung

„Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen auch sieben Jahre Psychotherapie aus dir keine Giraffe!“

(Eckhard von Hirschhausen)

In der Beratung und Begleitung von autistischen Menschen durch die Arbeitswelt wird immer wieder deutlich, wie wichtig das Verstehen des Phänomens Autismus auf Arbeitgeberseite ist. Letztendlich ist es nämlich die Unkenntnis, sind es die fehlenden Informationen, die die (berufliche) Integration von Menschen mit Autismus so erschweren. Ich habe dies selbst erfahren, ja, dieser Umstand war gewissermaßen der Grundstein für meinen beruflichen Werdegang.

Die erste Begegnung mit einem autistischen Menschen hatte ich mit 16 Jahren. Im Rahmen eines Schulpraktikums arbeitete ich in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und lernte einen jungen Mann kennen, der die Diagnose „Frühkindlicher Autismus / Kanner-Syndrom“ bekommen hatte. Meine Anleiter erklärten mir, er sei taub und stumm und er lebe in seiner eigenen Welt. Bereits in dem kurzen Zeitraum der drei Praktikumswochen interpretierte ich sein Verhalten völlig konträr: Wenn eine Tür aufging, schaute er hin, er reagierte auf verschiedene auditive Reize, gab in bestimmten, insbesondere freudigen Situationen Geräusche von sich und kommunizierte auf seine eigene Weise. Seine Augen verfolgten das Tun der anderen Gruppenmitglieder, bis er sich wieder den taktilen Reizen, seiner Lieblingsbeschäftigung, hingab. Dabei berührte er bevorzugt mit Nieten besetzte Gürtel und schnippte seine Finger daran.

Meine Vermutung, dass er nicht taub und stumm sei, teilte ich meinen Kollegen mit, die meine Wahrnehmung als „nicht ganz normal“ abtaten. Daraufhin suchte ich nach alternativen Erklärungen für das Verhalten des jungen Mannes und kaufte mir mein erstes Buch zum Thema Autismus. Der unheimliche Fremdling, das autistische Kind von Carl H. Delacato (1985) faszinierte mich und gab mir für die damalige Situation erste Antworten. Ich fand erste Erklärungsansätze, die ich im Laufe meiner beruflichen Laufbahn weiter und in eine ganz andere Richtung entwickelte.

Inzwischen habe ich es zu meinem beruflichen Schwerpunkt gemacht, autistische Menschen und deren Angehörige zu beraten, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Unternehmen zu informieren, die Autisten einstellen möchten. Das alles habe ich nur deshalb so erfolgreich umsetzen können, weil ich mit vielen autistischen Menschen geredet, mich mit ihnen und ihren Lebensentwürfen beschäftigt, sie begleitet und ihnen zugehört habe. Gemeinsam wurden gute und auch schwierige Situationen insbesondere in Bezug auf die berufliche Integration durchlebt. Ebenso gemeinsam und vor allem auf Augenhöhe wurden mitunter erfolgreiche Kompensationsstrategien oder hilfreiche Ansätze entwickelt, um auf individuelle und kreative Weise mehr und neue Optionen auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Die Autisten selbst haben die Aufgabe, den potenziellen Arbeitgebern die Augen dafür zu öffnen, dass „aus einem Pinguin keine Giraffe“ wird, um es einmal mit den Worten von Eckhard von Hirschhausen auszudrücken, dass „Pinguinstärken“ ihr Unternehmen aber ungemein weiterbringen können.

In diesem Buch möchte ich daher nicht nur die Aspekte und Strategien erläutern, die ich in meiner Funktion als Jobcoach für autistische Menschen als hilfreich erlebe und daher meinen Klienten immer wieder vermittele. Es sollen vor allem die „Experten“ zu Wort kommen und ihre individuellen Ansätze für eine erfolgreiche Teilhabe an der Arbeitswelt vorgestellt werden. Mit Experten meine ich hier natürlich die autistischen Menschen selbst. Sie sind es, von denen ich lernen konnte. Und sie sind es, die ihre Erfahrungen weitergeben können, damit auch andere Autisten erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen.

Unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ werden in diesem Buch die verschiedenen arbeitsplatzbezogenen (Problem-)Felder aus Beratersicht vorgestellt und erläutert, was es zu beachten gilt, welche Stolpersteine sich ergeben können und wie man sie erfolgreich umgeht. Darauf folgen dann Beschreibungen und Erfahrungsberichte von den Autisten selbst mit Tipps für den Umgang mit schwierigen (Bewerbungs-, Vorstellungs- und Arbeits-)Situationen, mit Beschreibungen, was hilfreich war und wovon eventuell abzuraten ist.

Dieses Buch verfolgt das Ziel, Wissen zu vermitteln und Erfahrungswerte weiterzugeben, denn Beschreibungen von erfolgreich gelösten Problemsituationen können auch bereichernd für andere Personen sein, die eventuell auf ganz ähnliche Schwierigkeiten stoßen.

Das Spannungsfeld zwischen Arbeitgeber und autistischem Arbeitnehmer gilt es hier darzustellen. Oft tauchen die ersten Hürden bereits bei dem in Deutschland gängigen Bewerbungsverfahren auf mit standardisierten Bewerbungsformularen, Vorstellungsgesprächen mit hohen kommunikativen Anforderungen, einer kurzen Einarbeitungszeit und dem Anspruch, einen lückenlosen Lebenslauf präsentieren zu können. Der Bewerberauswahl wird oft (zu) wenig Zeit gewidmet. Institutionen wie etwa Specialisterne,auticon oder autWorker sowie individuelle Berater sind nötig, um das erforderliche Wissen an Unternehmen heranzutragen und somit die Chancen für autistische Menschen überhaupt erst zu eröffnen.

Das Buch richtet sich an hochfunktionale Autisten, wobei hochfunktional hier nur als Beschreibung und nicht als Diagnose verstanden wird. Das heißt, dass dieses Werk jene Autisten anspricht, die lautsprachlich, schriftlich oder durch Gebärden kommunizieren, die lesen, schreiben, rechnen und alltagspraktische Dinge erledigen können, jedoch Schwierigkeiten haben, (nonverbale) Kommunikation adäquat zu deuten, oder Unterstützung / Aufklärung im sozialen Miteinander am allgemeinen Arbeitsmarkt wünschen (vgl. dazu: http://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/high-functioning-autismus.html).

Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf die allgemeinen Diagnosekriterien wegen der Unschärfen bei der Diagnostik selbst. Vielmehr möchte ich mit diesem Buch auch jene Menschen ansprechen, die sich dem Autismusspektrum nahe fühlen, aber keine offizielle Diagnose haben: Sie werden dazu angehalten, Ihren Spielraum zu nutzen und auszubauen, Ihre Grenzen zu (er-)kennen und den Mut aufzubringen, eben diese – wenn nötig – zu überschreiten. Es geht hier nicht um „Autisten-Dressur“, sondern vielmehr darum, Ihre Wahlmöglichkeiten und Ihr Wohlbefinden zu vergrößern, indem Sie mehr über das soziale Miteinander lernen. Warum handeln Neurotypische, wie sie handeln? Warum ist Small Talk so wichtig für Neurotypische? Diese und andere Fragen werden hier erläutert mit dem Ziel, Ihre Selbstbefähigung zu fördern. Wenn Sie über ausreichend Wissen und Verständnis verfügen, können Sie selbstbestimmt entscheiden, was Sie anpassen oder akzeptieren möchten, und was nicht.

Die Idee zu diesem Buch geht zurück auf die Überlebensstrategien („A survival guide for people with asperger syndrome“) von Marc Segar (Quelle: http://www-users.cs.york.ac.uk/alistair/survival/), hier bezogen auf den deutschen Arbeitsmarkt.

Zusätzlich werden aktuell gültige Theorien aufgegriffen und themenbezogen zur Erklärung herangezogen. Dabei möchte ich aber insbesondere darauf hinweisen, dass es auch einer sozialpsychologischen Sichtweise bedarf, um das Phänomen Autismus zu erklären.

Unabhängig von den neurologischen Erklärungsmodellen bleibt zu beachten, dass Autismus Auswirkungen auf die Interaktion zwischen zwei Personen hat. Bernhard Schmidt, Autor der Reihe Autist und Gesellschaft – Ein zorniger Perspektivenwechsel (2015), bringt das treffend auf den Punkt:

„Betrachtet man Autismus nicht wie bisher isoliert, sondern zusammen mit den Ergebnissen der Sozialpsychologie, dann werden zwei Dinge sehr schnell klar. Erstens: Autismus ist keine Krankheit oder Störung. Und zweitens: Die Probleme von Autisten entstehen in Abhängigkeit vom soziokulturellen Umfeld. Wenn Autisten z. B. in einem buddhistischen Kloster überhaupt auffallen – dann sicher positiv.“

Aus diesem Grund vermeide ich im Folgenden das Wort „Betroffene“ weitestgehend, vielmehr möchte ich den Personenkreis in den Vordergrund rücken und benutze die Beschreibung „Hauptperson“.

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind nicht mehr nur die beruflichen Kompetenzen ausschlaggebend für die berufliche Teilhabe, sondern die „social skills“ sind viel wichtiger geworden. Wer sich gut verkaufen kann, hat Erfolg. Netzwerken und Multitasking sind gefordert. Wer das richtige „Vitamin B“ hat, kommt weiter. Ich möchte hier ganz ausdrücklich auf bestehende gesellschaftliche Missstände hinweisen, denn nur deswegen fallen Autisten aus dem Rahmen. Zusätzlich ist das vorherrschende Unterstützungssystem nicht ausreichend auf die Bedürfnisse von Autisten ausgerichtet und mit individuellen Hilfen sehr zurückhaltend. Die Hauptpersonen sind oftmals auf sich alleine gestellt. Dieses Werk soll sie dazu befähigen, sich ihrer Kompetenzen bewusst zu werden und überzeugend für sich einzutreten. Ich mache die Erfahrung, dass Arbeitgebern viele Kompetenzen verborgen bleiben, und sehe es als meine Aufgabe, über die Kompetenzen von Personen im Autismusspektrum aufzuklären, um eine bessere berufliche Teilhabe zu fördern.

Dieses Werk erhebt nicht den Anspruch auf eine vollständige Abbildung des gesamten Arbeitsmarktes, doch versteht es sich als erste Erklärung und Hilfestellung in der Hoffnung, dass noch weitere solcher Werke in deutscher Sprache entstehen.

Der eingangs zitierte Ausspruch von Eckart von Hirschhausen über das Pinguin-Prinzip ist in diesem Buch als Leitsatz zu verstehen.

Es macht keinen Sinn, sich wie eine Giraffe verhalten zu wollen, wenn man ein Pinguin ist. Damit vergeudet man nur unnötig Energie. Suchen Sie lieber nach geeigneten Möglichkeiten, um als Pinguin glücklich unter Giraffen leben und voneinander profitieren zu können.

Lesen Sie bewusst, eignen Sie sich das erforderliche Wissen an, und vor allem: Geben Sie nicht auf! Gemeinsam können wir Verbesserungen erreichen.

Die Akzeptanz, dass Sie Sie sind und sich dessen bewusst sind, wird Sie auf Ihrem Weg durch die Arbeitswelt begleiten und Ihre Schritte erleichtern. Akzeptanz ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen. Kai, ein 29-jähriger Autist, hält dies in einem Gedicht fest, das ich abschließend hier zitieren möchte:

Ich kann schaun in Dein Gesicht,

und doch es niemals zu mir spricht,

eine Regung ich mag erkennen,

ihre Bedeutung dennoch nicht benennen,

ich bin blind und kann doch sehen,

kannst Du das verstehen?

Meine Augen sehen nicht wie die Deinen,

nichts ist für mich wie es für Dich mag scheinen,

sehe die Welt mit anderen Augen,

kannst Du mir das glauben?

Den Klang Deiner Stimme ich kann hören,

doch müssen mich Worte in meiner Welt nicht stören,

vielleicht sehe ich Dich an,

obwohl ich Deine Worte nicht verstehen kann,

ferne Geräusche, nicht mehr sie sind,

ziehen sacht vorbei wie ein lauer Wind.

Ich weiß, dass dies schwer ist zu verstehen,

hoffe dennoch, dass wir nicht getrennte Wege gehen,

vielleicht kannst Du akzeptieren, wer ich bin,

dass es zu mir gehört – ganz tief drin.

Es – ich habe nie gefunden,

egal wie sehr ich habe mich geschunden,

doch beginne ich zu verstehen,

dass ich damit muss mein Leben gehen,

weiß nun, wer dieser Mensch im Spiegel ist,

denn, zu mir lächelnd, er spricht

ich ...

bin ich ...

1. Zum Umgang mit der Autismus-Diagnose im Bewerbungsprozess

Spätestens wenn Sie Bewerbungen für einen Arbeitsplatz schreiben, kommt die Frage nach adäquater Offenheit und Transparenz auf: „Soll ich mit meiner Diagnose offen umgehen oder soll ich sie lieber verschweigen?“ Auf diese sehr wichtige Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Die in diesem Kapitel folgenden Informationen und persönlichen Erfahrungsberichte können Ihnen aber vielleicht bei der Entscheidungsfindung helfen.

1.1 Klärung des eigenen Standpunktes

„Sag ich’s oder sag ich’s nicht?“

Vor dieser Frage stehen viele diagnostizierte Autisten immer wieder im Leben. Erfolgte die Diagnose zudem noch nach dem typischen Studien- und Ausbildungsalter, fällt die Entscheidung für oder gegen ein Outing besonders schwer. Die „richtige“ Vorgehensweise hängt von der konkreten Situation ab. Dr. Imke Heuer von autWorker1 gibt dazu folgenden Ratschlag:

„Zunächst einmal halte ich für wichtig, für sich selbst zu klären, wie man zu seinem Autismus steht und wie man von den Kollegen behandelt werden möchte. Viele Autisten erleben ihr ‚Anderssein‘ nicht einseitig als Behinderung, sondern sind sich ihrer Stärken und der Ambivalenz autistischer Eigenschaften sehr bewusst. Die mediale Darstellung und öffentliche Wahrnehmung von Autismus ist jedoch noch immer sehr stark von Klischees geprägt. Ob ein Outing sinnvoll oder hinderlich ist, hängt daher auch davon ab, inwieweit das Berufsfeld, an dem man interessiert ist, zu diesen Klischees passt. Dass viele Autisten Stärken und Interessen im technischen und besonders im IT-Bereich haben, ist bekannt. Introvertierte und ‚kauzige‘ Typen werden dort vermutet und teilweise sogar positiv bewertet. Das soziale Risiko bei einem offenen Umgang mit der Diagnose ist dort oft vergleichsweise gering. Ganz anders sieht es dagegen in Bereichen aus, in denen Sprache und Kommunikation im Mittelpunkt stehen. Insbesondere in sozialen Berufen (für die sich entgegen gängiger Vorstellungen viele Autisten und besonders Autistinnen entscheiden) kann ein offener Umgang mit der Diagnose dazu führen, nicht mehr ernst genommen zu werden und keine anspruchsvollen Aufgaben mehr anvertraut zu bekommen.2 Leider gibt es gerade in Deutschland (anders als etwa im englischsprachigen Raum) jenseits des technischen und IT-Bereichs kaum Bewusstsein dafür, dass Menschen mit kommunikativen oder psychischen Einschränkungen oft große soziale Kompetenz haben und kognitiv auf hohem Niveau (berufs-)tätig sein können.

Dennoch würde ich in den meisten Fällen davon abraten, die eigenen Schwierigkeiten und Hürden völlig zu verschweigen. Viele Probleme entstehen dadurch, dass das ‚untypische‘, nonkonformistische Verhalten autistischer Menschen von ihrem Umfeld nicht richtig eingeordnet werden kann und daher negativ interpretiert wird. So entwickelt sich leicht eine negative Eigendynamik. Als hilfreich hat sich eine ‚selektive Offenheit‘ herausgestellt. Beispielsweise könnte man, ohne die Diagnose zu erwähnen, Kollegen oder Vorgesetzte darauf hinweisen, dass man ein größeres Rückzugsbedürfnis als viele andere Menschen hat und es kein böser Wille ist, wenn man etwa nicht an jeder gemeinsamen Mittagspause oder Unternehmung teilnimmt oder eine Veranstaltung früher verlässt. Auch auf Eigenschaften wie ein schlechtes Personengedächtnis oder Probleme, Gesprächen bei vielen Nebengeräuschen zu folgen, Lärmempfindlichkeit oder motorische Unbeholfenheit könnte man aufmerksam machen, ohne Autismus zu thematisieren. Eventuell kann eine solche selektive Offenheit auch in eine schrittweise Aufklärung münden, bei der beispielsweise zunächst nur einzelne Vertraute eingeweiht werden. Ein vorsichtiges Vorgehen halte ich hier aber oft für empfehlenswert, um sich selbst nicht zu schaden.“

Während meiner bisherigen Tätigkeit habe ich viele Menschen kennengelernt, die in eine Beratung „geschickt“ wurden. Eltern oder Angehörige suchten Rat und brachten die Hauptpersonen, um die es letztendlich ging, mit zum Gespräch. Dabei wurde schnell klar, dass sich nicht alle mit ihrer Diagnose auseinandergesetzt oder Strategien für einen sinnvollen Umgang mit der Diagnose entwickelt hatten. Viele beschreiben, dass sie bei einem Facharzt waren und mit einem „Zettel, auf dem Autismus / Asperger stand“, entlassen wurden. In meinen Beratungen ist neben dem Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses immer die Auseinandersetzung mit Autismus im Allgemeinen und im konkret Persönlichen der erste Schritt.

Folgende Fragen sind dabei zu beachten, und im optimalen Fall können Sie diese nach einer Zeit der persönlichen Reflexion gut beantworten:

Was bedeutet Autismus im Allgemeinen?

Was bedeutet es für mich persönlich?

Welche Strategien gibt es, um mit meinen persönlichen Herausforderungen umzugehen?

Wer sollte sinnvollerweise davon erfahren?

Was sind für mich

förderliche

Rahmenbedingungen?

Was sind für mich

hinderliche

Rahmenbedingungen?

Erst nach der Klärung dieser Fragen erlebe ich die Personen, die ich berate, als selbstbewusster und klarer in ihrem Selbstbild, was die Selbstvertretung und Selbstständigkeit deutlich erhöht. So kenne ich einige Personen, die heute selbstsicher sagen: „Ich bin Autist/in!“, und Situationen wie etwa Fortbildungen, die in überfüllten Räumen stattfinden, souverän lösen, indem sie klarstellen: „Ich bin Autistin, für mich ist der Raum zu voll, dadurch kann ich mich nicht konzentrieren. Ich benötige einen separaten Raum.“ Das Akzeptieren der Diagnose ist ein sehr wichtiger erster Schritt, und auch gerade im Hinblick auf die Offenheit im Alltag kann ich Ihnen nur dazu raten, sich zu informieren und sich selbst zu positionieren. Finden Sie für sich selbst einen Weg, mit dem Sie sich wohlfühlen.

Auch die Frage, wie Sie selbst das Phänomen „Autismus“ bezeichnen möchten, ist ein guter erster Ansatz für den richtigen Umgang. Sagen Sie von sich selbst „Ich bin ein Mensch mit einer Autismus-Spektrum-Störung“? Oder sind Sie „Autist“ oder „Aspie“? Es ist Ihre persönliche Entscheidung, ob Sie Ihre Denk- und Handelsweise als „Störung“ ansehen oder als eine Art zu sein. Ich weiß, dass manche Begriffe wie „Störung“ oder „Behinderung“ als unpassend empfunden werden. Doch es kommt ganz darauf an, wie Sie persönlich die Begriffe verwenden. Nutzen Sie sie, um Ihren Anspruch auf Unterstützungsmöglichkeiten (Nachteilsausgleiche, Förderungen) auszudrücken, doch verorten Sie die Begriffe nicht in Ihrer Persönlichkeit. In Deutschland existiert das sogenannte „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“, was bedeutet, dass Sie ohne Etikett keinen Anspruch auf besondere Förderleistungen haben. Doch rate ich immer wieder zu einem differenzierten Umgang mit den Begriffen: Wenn Sie also eine Diagnose bekommen haben, in der der Begriff „Störung“ oder „Behinderung“ verwendet wird, heißt das noch lange nicht, dass Sie gestört oder behindert sind. Im diagnostischen Bereich sind diese pathologischen Begriffe gebräuchlich. Auch der Begriff Behinderung lässt sich sozial konstruieren. Sie sind nicht behindert, sondern Sie werden behindert. Durch gesellschaftliche Normen zum Beispiel oder soziale Konventionen, die Sie nicht zwingend benötigen, werden Sie in Ihrer persönlichen Art und Weise zu sein behindert.

Die folgenden Erfahrungsberichte helfen Ihnen vielleicht, mehr Klarheit über Ihre eigene Perspektive zu gewinnen.

Anja: Verlust und Gewinn

„Die Frage, ob ich mich an meinem Arbeitsplatz überhaupt outen soll, hat mich lange beschäftigt und mir einige Zeit schlaflose Nächte bereitet. Warum? Ich wollte nicht so wirken, als würde ich diese Diagnose als Ausrede für eine Extrabehandlung benutzen wollen.

Wovor ich mich am allermeisten gefürchtet habe: Davor, welche Verluste das für mich bedeuten könnte. Und ich habe diese Verluste auch erlebt. Und sie haben auch – im ersten Moment – geschmerzt. Doch jeder dieser vermeintlichen Verluste ist heute für mich ein Gewinn! Denn ich habe auch das Gegenteil erlebt! Authentizität lohnt sich. Das große Verständnis, die Offenheit, das Interesse und der Support – und das von völlig unerwarteter Stelle. Ich habe dadurch ganz andere Menschen kennengelernt. Erfolgreiche, interessante und intelligente Menschen, die etwas freier im Denken sind als viele, mit denen ich früher zu tun hatte.

Ich habe Menschen getroffen, die andere so annehmen, wie sie sind, und nicht ständig eingreifen, meckern und abwerten. Weniger oberflächliche Menschen. Lustige Menschen, die sich für Frieden und Fröhlichkeit einsetzen. Kreative Menschen, die ihre Visionen leben. Und deswegen war es das alles auch wert. Und ich bin unendlich dankbar dafür.“

Johann Steven: Autor des Buches Autistisch und hochbegabt – aber zu dumm für diese Welt?

„Ich sehe mich selber nicht als der Vorzeigeautist, wie er gerne überall beschrieben wird und von vielen Fachärzten für eine Diagnose zu oft gefordert wird – oder zumindest vor Jahren noch mit gängigsten Diagnosekriterien ‚abgearbeitet‘ wurde. Ich habe in vielen gesellschaftlichen Bereichen massive Probleme, die ich aber aufgrund meiner relativ guten Logik und meiner Lebenserfahrung optimal kompensieren kann.

Ob man sich am Arbeitsplatz oder bei Freunden/in der Familie outen möchte, muss jeder für sich selber entscheiden. Dazu sollten alle Faktoren gut überlegt werden, nämlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Wenn ich keine spürbare Entlastung / Verbesserung durch mein Outing erreiche, würde ich es lassen. Bei mir hat es sich (speziell im privaten Bereich) sehr negativ ausgewirkt, weil ich mich zur damaligen Zeit im Trennungskrieg mit meiner Frau befand und die involvierten Behörden auf mein Outing mit recht heftigen und übertriebenen Sanktionen reagierten und ich über Jahre kein Besuchsrecht zu meinen zwei Jungs bekam. Viele Sozialpädagogen oder Juristen setzen autistische Verhaltensweisen immer negativ gegen die betroffene Person ein. Warum sollten also weniger gebildete Mitmenschen es anders machen?“

Gabriel: Durch Bücher und Filme etwas über sich selbst lernen

„Als ich diagnostiziert wurde, war ich 31 Jahre alt. Ich wusste mit dem Thema Autismus nicht wirklich etwas anzufangen. Auch die Diagnosestelle hat mir kein Aufklärungsgespräch angeboten. Also musste ich mich selbst damit auseinandersetzen. Da mein Studium zu dieser Zeit unterbrochen war, hatte ich Zeit, mich damit zu beschäftigen. Glücklicherweise habe ich eine Psychologin in der Familie, mit der ich das Thema etwas erarbeiten konnte. Darüber hinaus habe ich Bücher, insbesondere Autobiografien, gelesen und Filme (z. B. über Temple Grandin) angeschaut. Die Diagnose war nur eine Bezeichnung. Die unterschiedlichen Bücher und Filme haben mir geholfen, durch unterschiedliche Perspektiven einen Teil des Autismusspektrums kennenzulernen. Zusätzlich konnte ich dadurch erfahren, wo ich mich wiedererkenne, und somit etwas über mich selbst lernen. Auch heute (vier Jahre nach der Diagnose) lerne ich immer noch dazu, insbesondere dadurch, dass ich andere autistische Personen kennenlerne und mit meinem jetzigen Jobcoach neurotypisches Verhalten reflektiere.“

Juliane: Die Zeit, die ich brauche

„Zu Beginn meiner Ausbildung wurden meine drei Kolleginnen und ich relativ zeitnah zu einem Kennenlerngespräch eingeladen, um uns die Möglichkeit zu bieten, die anderen für den Anfang etwas besser kennenzulernen und auch von sich selbst zu erzählen. Da habe ich mich dann aufgrund vorangegangener schulischer Ereignisse, die ich erlebt hatte, bevor ich meine Diagnose auf Asperger bekam, entschieden, offen dazu zu stehen. Und um es kurz zu machen: Bis heute habe ich es nie bereut, in der kleinen Vorstellungsrunde bekannt gegeben zu haben, dass bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Dadurch habe ich vermutlich einige Missverständnisse zwischen mir und meinen Kolleginnen und meiner Ausbildungsleitung vermieden, die vielleicht zustande gekommen wären, hätte ich die Diagnose damals verheimlicht. So aber ist für uns alle vieles leichter. Fragen mich meine Kolleginnen z. B., ob ich die Mittagspause mit ihnen verbringen möchte, und ich sage dann, dass das nett gemeint sei, aber dass ich sie lieber allein zubringen wolle, dann respektieren sie das. Außerdem drängt mich nach einer Frage niemand, sofort auf ‚Teufel komm raus‘ eine Antwort zu geben, sondern sie lassen mir die Zeit, die ich brauche, um angemessen reagieren zu können.“

1.2 Grad der Behinderung

Nach deutschem Recht (Sozialgesetzbuch IX) lässt sich eine Autismusdiagnose mit einem Grad der Behinderung (GdB) anerkennen. Beantragt wird das beim zuständigen Amt für Versorgung und Soziales. Ob Sie einen Grad der Behinderung beantragen möchten, ist eine ganz persönliche Entscheidung. Viele möchten den „Stempel“ nicht, und andere wiederrum möchten einen erleichterten Zugang zu Unterstützungen wie beispielsweise zum Integrationsfachdienst. Der Integrationsfachdienst hat zur Aufgabe, Menschen mit einer sogenannten Behinderung am Arbeitsplatz zu unterstützen und zu beraten. Aber auch andere Unterstützungen sind für behinderte Menschen vorgesehen. Der Inhaber eines Schwerbehindertenausweises (GdB >= 50) hat beispielsweise per Gesetz fünf Tage mehr Urlaub im Jahr und einen zusätzlichen Kündigungsschutz ab dem 7. Monat eines Angestelltenverhältnisses. Ohne die Prüfung durch ein Integrationsamt kann dem schwerbehinderten Arbeitnehmer also nicht gekündigt werden. Zusätzlich steht ihm in großen Unternehmen bei allen Fragen am Arbeitsplatz die Schwerbehindertenvertretung zur Seite. Ich habe in meinen Beratungen bisher noch keine Person kennengelernt, die den Besitz eines Schwerbehindertenausweises nachteilig erlebt hat.

Ist man bereit, die Diagnose Autismus selbstbewusst zu vertreten, kommt das in der Regel auch gut beim Arbeitgeber an. Eine Möglichkeit, über Ihre Persönlichkeit zu berichten, ist die sogenannte „Dritte Seite“ in den Bewerbungsunterlagen.

Arbeitgeber empfinden oftmals Unsicherheit im Umgang mit „behinderten Menschen“, weil sie vielleicht noch nie bewusst (!) mit einem entsprechenden Menschen zu tun hatten. Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass „Behinderung“ so negativ besetzt ist.

„Für mich hat der Schwerbehindertenausweis in der kurzen Zeit, in der ich ihn jetzt habe, nur Vorteile gebracht, z. B. einen Steuerfreibetrag, Vergünstigungen bei Veranstaltungen und der Kündigungsschutz. Ich habe mich aber nicht getraut, vor meiner festen Arbeitsstelle den Ausweis zu beantragen. Meine Angst war zu groß, dass mich dann niemand mehr einstellt. In einer Zeit, in der es sehr viel um ‚höher, schneller, weiter‘ in den Firmen geht, würde ich es auch wieder so machen: Erst einmal einen Job haben und dann später den Antrag auf Schwerbehinderung stellen. Einen Unterschied macht es dagegen, wenn man eine Anstellung im öffentlichen Dienst anstrebt. Hierfür ist ein Schwerbehindertenausweis sogar hilfreich, denn man muss zu den Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, wenn man fachlich passen könnte. Angenommen man bewirbt sich auf IT-Stellen und bringt nicht die exakt geforderten Voraussetzungen mit, dann muss man trotzdem eingeladen werden.“

(Barbara)

„Ich selber habe zurzeit einen vom Versorgungsamt anerkannten Grad der Behinderung von 50, was als sogenannte Schwerbehinderung gilt, nachdem bei mir autistische Züge erkannt wurden. Nachteile aufgrund meiner anerkannten Behinderung konnte ich für mich bis heute dadurch nicht ausmachen – zumindest sind mir keine neuen Nachteile entstanden, die ich nicht auch schon vorher hatte.

Neben den beruflichen Vorteilen sehe ich auch im privaten Bereich eine Menge Vorteile wie etwa ermäßigte Eintrittspreise bei öffentlichen Einrichtungen (Frei- und Hallenbäder, Museen u. v. m.), die ich sehr rege nutze. Hier wird aber mindestens dieser 50 GdB gefordert. Auch ich kann nur jedem raten, diesen ‚Stempel‘ zu beantragen.“

(Johann Steven)

„Zunächst erschien mir der Gedanke an einen Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung beziehungsweise auf einen Schwerbehindertenausweis völlig abwegig. Schwerbehinderte – das waren für mich Menschen mit klar definierten Einschränkungen, sichtbaren Behinderungen oder chronischen Krankheiten. Meine eigenen Schwierigkeiten erschienen mir im Vergleich dazu zu unbedeutend und vor allem auch zu diffus. Schließlich kann ich die meisten Dinge – vieles fällt mir nur schwerer, und ich muss mehr Energie dafür aufwenden als andere Menschen, weil ich es bewusst und gezielt erledigen muss. Erst nach einem Jahr intensiver Auseinandersetzung mit der Diagnose und ihren Konsequenzen kam ich allmählich dazu, mir die Tiefe meiner ‚Andersartigkeit‘ und meiner Schwierigkeiten einzugestehen. Obwohl mir der Schritt nicht leichtfiel und ich mich überwinden musste, meine Ärztin dafür nochmals aufzusuchen, entschloss ich mich schließlich doch, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Mir wurde bewusst, dass die Schutzfunktion gerade in der Arbeitswelt unendlich wertvoll sein könnte. Angesichts der oft langwierigen Antragsverfahren wäre es ohne eine solche ‚offizielle Bescheinigung‘ in einer akuten Problemsituation zumeist unmöglich, rechtzeitig die passende Hilfe – oder auch nur Verständnis – zu erhalten. Schon aus diesem Grund würde ich diagnostizierten Autisten den Antrag im Regelfall empfehlen. Schließlich ist man nicht verpflichtet, den Ausweis bzw. die Behinderung etwa in einem Bewerbungsverfahren anzugeben, wobei man, sofern man darauf verzichtet, natürlich auch keine Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen kann.“

(Imke Heuer)

1.3 Antrag auf Gleichstellung

Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit der sogenannten Gleichstellung. Personen, die bereits einen Grad der Behinderung von 30 oder 40 haben, können einen Antrag auf Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit stellen. Bei einer sogenannten Gleichstellung werden die Personen mit einem GdB von 30 bis 40 vor dem Gesetz gleichgestellt mit Personen, die eine sogenannte Schwerbehinderung haben (GdB >= 50). Bekommen Sie Ihren Arbeitsplatz nicht oder können ihn nicht halten, ist die Gleichstellung eine Unterstützung.

„Als ich mit Asperger diagnostiziert wurde, riet mein damaliger Betreuer mir dazu, einen Antrag auf Schwerbehinderung beim Versorgungsamt zu stellen. Das habe ich getan, und in dem Schreiben vom Versorgungsamt (Grad der Behinderung 30) steht auch, dass ich bei Themen rund um die Arbeitsfindung einen Antrag auf Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit stellen kann. Das habe ich nicht direkt getan, doch jetzt, wo ich in einer Anstellung bin, habe ich mich dafür entschieden, weil ich die Vorteile gern nutzen würde, wie etwa einen besonderen Kündigungsschutz oder die Möglichkeit, auf die firmeninterne Schwerbehindertenvertretung zurückgreifen zu können. Damals waren mir die Vor- und Nachteile nicht so ganz klar. Heute weiß ich, auch wenn ich einen Grad der Behinderung habe, bin ich nicht verpflichtet, das überall mitzuteilen. Ich kann ganz für mich persönlich dosieren, wo ich mein Umfeld über die offizielle Behinderung aufklären möchte und wo nicht.“

(Gabriel)

1.4 Kriterien für einen offenen Umgang

Neben der persönlichen Reflexion, der Klärung des eigenen Standpunktes sowie dem Abwägen der Vor- und Nachteile, die sich mit dem offenen Umgang mit der Diagnose ergeben, spielen auch Faktoren aufseiten des Arbeitgebers eine wichtige Rolle. Die folgenden Kriterien sprechen der Erfahrung nach dafür, die Diagnose direkt im Bewerbungsschreiben anzugeben:

das Unternehmen ist groß, d. h., es beschäftigt über 500 Mitarbeiter;

das Unternehmen hat eine Schwerbehindertenvertretung;

das Unternehmen wirbt mit sozialem Engagement (z. B. Aktionsplan für die Beschäftigung behinderter Menschen oder spezielle Suche nach autistischen Menschen);

Sie haben persönliche Beziehungen zu Entscheidungsträgern im Unternehmen.

Unternehmen unterliegen der sogenannten Beschäftigungspflicht, die besagt, dass (ab einer Mitarbeiterzahl von 20 Personen) zu einem bestimmten Prozentsatz Menschen mit einer sogenannten Schwerbehinderung beschäftigt werden müssen. Kommt das Unternehmen dieser Pflicht nicht oder nur unzureichend nach, muss es die sogenannte Ausgleichsabgabe zahlen. Das heißt, dass insbesondere große Unternehmen eine Schwerbehindertenvertretung haben, die über jede Bewerbung (in der ein Grad der Behinderung angegeben wird) informiert werden muss. Das steigert die Chance, dass Ihre Bewerbung auf jeden Fall durchgelesen wird. Trauen Sie sich, sich bei großen Unternehmen zu bewerben. Recherchieren Sie über die sogenannten Aktionspläne der Unternehmen und beziehen Sie sich in Ihrer Bewerbung darauf. Nutzen Sie Ihre Kontakte oder die Kontakte von Ihnen bekannten Personen. Eventuell arbeitet jemand in diesem Unternehmen und kann Ihnen den Einstieg etwas erleichtern.

Auf Bewerberseite macht es Sinn, dass Sie die Diagnose angeben, wenn

der eigene Lebenslauf lückenhaft ist (aufgrund der Autismusdiagnose oder der daraus resultierenden Herausforderungen),

Sie einen Grad der Behinderung haben,

Sie mit einem Jobcoach zusammenarbeiten,

die Arbeitsagentur / Jobcenter etc. einen Eingliederungszuschuss für Sie bereitstellen kann. (Fragen Sie dazu Ihren Berater.)

Denken Sie daran, dass Arbeitgeber oftmals keine Erfahrungen mit Personen haben, die eine sogenannte Behinderung aufweisen oder einfach „anders“ sind. Arbeitgeber lehnen oftmals die Bewerbungen aufgrund von Unwissenheit und Angst vor Überforderungen ab.

Hilfreich sind in Ihrem Anschreiben daher Formulierungen wie zum Beispiel:

„2005 wurde bei mir das Asperger-Syndrom festgestellt, eine Form von Autismus. Das bedeutet für das Arbeitsumfeld, dass ich manchmal soziale Regeln (bspw.: bei Small Talk oder in Pausen) nicht erkennen kann und somit ungewöhnlich reagiere. Ich bevorzuge es, mich sachlich-fachlichen Themen zu widmen und meine Pause alleine zu verbringen. Das Asperger-Syndrom hat weder Auswirkungen auf meine intellektuellen Fähigkeiten noch auf die Fachlichkeit meiner Arbeit. Bei weiteren Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

So ungefähr könnte ein Satz in einer Bewerbung lauten, um von der Diagnose zu berichten. Wenn Sie einen Berater / Jobcoach an Ihrer Seite haben, geben Sie diesen als Referenz an. Oder bitten Sie ihn, etwa eine Woche nach Bewerbungseingang beim Unternehmen anzurufen. Er wirbt am Telefon nochmals für Sie und klärt gleichzeitig über Eingliederungszuschüsse und Unterstützungsmöglichkeiten für den Arbeitgeber auf. Die Arbeitgeber brauchen an dieser Stelle Zuspruch und Sicherheit.

„Ich habe meine Diagnose im Alter von 27 Jahren erhalten. Lange Zeit haben nur wenige Menschen davon gewusst, und ich habe mich nicht damit auseinandergesetzt. Ich wollte mein Leben alleine regeln, so wie alle anderen Menschen auch. Nachdem aber erneut einige Jahre verstrichen und ich beruflich immer noch nicht ‚auf die Beine kam‘, habe ich den Versuch gewagt und bin offen damit umgegangen. Heute bin ich sehr dankbar dafür, denn sonst würde ich wahrscheinlich immer noch unter Hartz IV leben. Auf diese Weise ‚öffneten sich für mich Türen‘, so kam ich das erste Mal mit der Reha-Abteilung des Jobcenters in Verbindung, die mir von MAASarbeit (spezielles Vermittlungsangebot für autistische Menschen, Anm. d. Autorin) erzählten. Und über MAASarbeit hatte ich endlich einen Job gefunden, der wirklich zu mir passt. Also, denken Sie daran, Ihren Ansprechpartner im Jobcenter oder Arbeitsamt anzusprechen, damit er Sie an die Menschen weiterleiten kann, die Ihnen wirklich weiterhelfen können.“

(Johanna)

„Ich war bei einem kleinen Unternehmen angestellt und konnte immer durch meine Kompetenz überzeugen, sodass ich mittlerweile davon überzeugt bin, dass der offene Umgang mit der Diagnose nichts an der damaligen Situation verändert hätte.