Hochsensibilität. - Brigitte Küster - E-Book

Hochsensibilität. E-Book

Brigitte Küster

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Beschreibung

Die eigene Hochsensibilität.entdecken und entfalten - alles, was Sie dazu brauchen, tragen Sie bereits in sich! Die Grundzutaten unserer Persönlichkeit sind vielfältig: Neugierde, Kreativität, Engagement, Durchhaltevermögen und Feingefühl. Die Rezeptur ist bei jedem Menschen individuell - doch im Zusammenspiel mit unserer Hochsensibilität.ergibt sie ein perfekt abgestimmtes Ergebnis. In diesem Standardwerk stellt Brigitte Küster die Grundlagen, neueste Forschungserkenntnisse, Abgrenzungen zu anderen Phänomenen, aber auch praktische Tipps und Hilfen in gewohnt lebensnaher Weise dar: Lernen Sie Ihren eigenen Charakter besser kennen. Entdecken Sie die Möglichkeiten Ihrer Hochsensibilität. Und entfalten Sie Ihre innere Stärke - für sich und für andere.

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BRIGITTE KÜSTER

Hochsensibilität.

Den eigenen Weg finden

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7551-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5967-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelbild: Illu Hand: juanmagarcia, istock

Autorenfoto: © Asger Jürgensen

Satz: Kathrin Spiegelberg, www.spika-design.de

Inhalt

Über die Autorin

Hochsensibel. Das Buch der Ideen und Möglichkeiten

Vor dem Start

Aufbau und Struktur

Die Grundzutaten

HOCHSENSIBILITÄT VERSTEHENGrundsätzliches und Wissenswertes

Wie alles begann

Was ist Hochsensibilität?

Unterscheidungsmerkmale

Jetzt geht es ans Eingemachte: Hochsensibilität vs. Störungsbilder

Die BIG FIVE oder das Fünf-Faktoren-Modell

HOCHSENSIBILITÄT PERFORMENWeiterführende Gedanken zur Lebensgestaltung

Was ist gelingendes Leben?

Abgrenzen vs. unterscheiden lernen

Dirigent und Dirigentin des eigenen inneren Orchesters werden

Salutogenese

Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl

Resilienz

Schönheit aus Brüchen und Unperfektem

Fehlersensitivität – Anfälligkeit für Fehlleistungen und der Umgang damit

Würde und Sinn

HOCHSENSIBILITÄT UMSETZENAnregungen für Übungen

Die Übungen auf einen Blick

1. Neugier (Wissbegierde und Erkenntnis) fördern

2. Kreativität fördern

3. Atemübungen

4. Mikrooasen

5. Body-Scan

6. Schüchternheit begegnen

7. Kichererbsen-Übung

8. Authentizität stärken

9. Feingefühl kultivieren

10. Vertrauen stärken

11. Abgrenzen (unterscheiden lernen) üben

12. Eigenarbeit mit Ego-States

13. Selbstmitgefühlspause

14. Resilienzstärkung

15. Persönliches Engagement entdecken

16. Exzellenz

17. Kintsugi und Wabi-Sabi

18. Dankbarkeit pflegen

19. Die Akzeptanz Ihrer Hochsensibilität stärken

Übungen kreativ kombinieren und variieren

Nachwort

Anhang

Tests und Fragebögen

Links

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Über die Autorin

Brigitte Küster (Jg. 1965), ehem. Brigitte Schorr, lebt in der Schweiz. Sie ist psychologische Beraterin und Erwachsenenbildnerin und gründete 2010 das »Schweizerische Institut für Hochsensibilität« (IFHS). Sie ist verheiratet und Mutter von zwei jungen Erwachsenen. Ihr großes Anliegen ist es, Menschen zum Erblühen zu bringen, sei es in der Einzelberatung, durch Vorträge oder ihre Bücher.

Hochsensibel. Das Buch der Ideen und Möglichkeiten

Es war an einem Spätsommertag in Zürich. Die Sonne zauberte glitzernde Reflexe auf die Limmat. Ich saß mit meinem Mann in einem meiner Lieblingsrestaurants. Draußen, mit Blick auf den Fluss, ein Kaltgetränk vor uns. Genuss pur. Wir ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen und ich dachte an ein neues Buch.

Jedes Buch ist zuerst einmal ein Gedanke und mich fasziniert der Prozess vom Gedanken zum fertigen Werk, welches man in den Händen halten kann, jedes Mal aufs Neue. Und es ist jedes Mal gleich aufregend, mitzuerleben, wie sich Gedanken materialisieren.

Dort, an diesem schönen sonnigen Tag in Zürich, sprachen wir über Kochen, Essen, Genießen und was das alles mit Hochsensibilität zu tun hat. Mir wurde bewusst, dass die meisten Bücher zum Thema Hochsensibilität beschreiben, wie es sich anfühlt, sehr sensibel zu sein. Dabei gerät häufig, ohne dass die Autoren dies beabsichtigen, eine leicht negative Sichtweise in den Fokus. Obwohl in diesen Büchern zum Thema Hochsensibilität ausdrücklich hervorgehoben wird, dass es sich um eine Gabe, eine Begabung oder zumindest einen neutralen Wesenszug handelt, wird den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, oft ein Übermaß an Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist verständlich, da es zum Menschsein dazugehört, Problemen viel Energie zu widmen. Evolutionsforscher sind der Ansicht, dass es sich dabei um einen Überlebensmechanismus handelt. Vor Urzeiten war es überlebenswichtig, sich Problemen zu stellen, wie etwa: Wo kommt die nächste Mahlzeit her? Wie können wir uns vor wilden Tieren schützen? Wie können wir uns warm halten? Probleme zu erkennen und zu lösen, sicherte das Überleben der Sippe. Forscher haben herausgefunden, dass das menschliche Gehirn stärker auf negative Meldungen, News oder Reize reagiert als auf positive. Und zwar kulturübergreifend!1 Dabei geht leider oft der Blick für das Positive verloren.

Wenn man in dem, was man hört und liest, das eigene Empfinden wiederfindet, fühlt man sich verstanden. Dies ist wie Balsam auf der Seele. Verständnis für Hochsensibilität zu zeigen heißt nun aber nicht, sich auf die Probleme zu fokussieren und ein übergroßes Maß an Energie auf die Schwierigkeiten zu legen, die mit einer hochsensiblen Veranlagung verbunden sein können. Stattdessen möchte ich Hochsensibilität als das anerkennen und darstellen, was es ist: eine Veranlagung unter vielen. Es ist wichtig, anzuerkennen, dass jemand hochsensibel ist, aber eher ungünstig, diesem Wesenszug eine zu große Dominanz einzuräumen.

Darum wünsche ich mir, dass Sie sich in der Tiefe kennenlernen und Ihre Veranlagung zur Hochsensibilität in Beziehung zu anderen Persönlichkeitsanteilen setzen können. Die Art und Weise, wie sich Ihre hochsensible Veranlagung in Ihrem Erwachsenenleben zeigt, ist das Ergebnis eines Zusammenspiels aller Ihrer Anlagen und Eigenschaften.

Machen Sie sich bewusst, dass Sie auch begeisterungsfähig, wissbegierig, innovativ, großzügig und engagiert sind!

Damals in Zürich wurde mir einmal mehr klar, dass es Millionen sensibler Menschen auf dieser Welt gibt, von denen jeder einzelne etwas Großartiges für die Gesellschaft zu leisten vermag, sei es in der Familie, im Freundeskreis, im Verein, in Wirtschaftsunternehmen, in der Gemeinde, im Ehrenamt oder in der Politik. Gleichzeitig fragte ich mich, warum Hochsensible in der breiten Öffentlichkeit so wenig sichtbar sind. Was braucht es, damit sehr sensible Menschen ihre Kraft und ihr Potenzial entfalten können und Empfindsamkeit als eine Stärke angesehen wird?

Dieses Buch habe ich für Sie geschrieben. Für den neugierigen, kreativen, engagierten und hochsensiblen Menschen, der Sie in Ihrem Wesenskern sind. Deshalb ist es mehr als nur die Summe seiner Anregungen und Übungen. Es zeigt Ihnen, wie Sie Ihre hochsensible Veranlagung individuell und kreativ für sich selbst und andere nutzen können, ohne sich ausgenutzt und unverstanden zu fühlen.

Ob streng nach Anleitung oder ganz nach Ihren Bedürfnissen – hier lernen Sie nebenbei, Ihrer Intuition zu vertrauen und die Möglichkeiten Ihrer Hochsensibilität frei zu entfalten. Dabei werden Sie feststellen, dass manche Vorschläge besser zu Ihnen passen als andere.

Ich möchte Sie ermutigen, im Einklang mit sich selbst zu leben und kreativ zu handeln. Alles, was Sie dazu brauchen, tragen Sie bereits in sich! In diesem Buch finden Sie Impulse, wie Sie diese umsetzen und auf eine einfache, gute Weise hochsensibel leben können – verständlich erklärt und mit Übungen, die Sie sofort umsetzen können.

Nachdem ich mich nun schon seit gut 15 Jahren mit Hochsensibilität beschäftige, ist in mir die Gewissheit gereift, dass jeder Mensch lernen kann, Sensibilität als etwas Positives und Nützliches anzuerkennen. Dabei ist aber jeder Mensch anders, hat eigene Vorstellungen, Bedürfnisse und einen ganz eigenen biografischen Hintergrund. Und das ist gut so.

Deswegen ist dieses Buch so aufgebaut, dass die Anregungen und Übungen alle miteinander kombinierbar sind. Wählen Sie diejenigen aus, die für Sie Sinn ergeben und von denen Sie sich angesprochen fühlen. Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf und wandeln Sie die Übungen so ab, dass sie für Sie passen. Werden Sie gut Freund mit Ihrer Hochsensibilität, stellen Sie die Anregungen individuell zusammen und formen Sie so Ihre Persönlichkeit. Es gibt kein Richtig und Falsch – experimentieren Sie, überprüfen, testen und verwerfen Sie; Sie wissen am besten, was zu Ihnen passt.

Könnerschaft und Improvisation entstehen aus fundiertem Wissen, deshalb finden Sie in diesem Buch auch einführende Texte zu Grundlagen und Prinzipien der Hochsensibilität. Die Freude am Entdecken und Ausformen Ihrer Hochsensibilität soll dabei jedoch im Vordergrund stehen.

Seit einigen Jahren ist mir das Kochen wichtig geworden – nicht das Kochen, welches der täglichen Nahrungsaufnahme dient und sozusagen eine Pflicht ist, um die Familie zu ernähren, sondern jenes Kochen, welches mit Handwerk, Geschick, Lust und Freude Lebensmittel zu schmackhaften Gerichten transformiert, mit denen man sich selbst, der Familie und Freunden schöne Genussmomente bereiten kann. So darf es nicht verwundern, dass ich mich für dieses Buch von einigen Kochbüchern habe inspirieren lassen.

Mir begegnen in meiner Arbeit viele Menschen, die sozusagen nach »Rezepten« suchen, wie sie mit ihrer Hochsensibilität umgehen sollen. Selbstverständlich gibt es nicht das eine Rezept, welches für alle Gültigkeit besitzt, aber es gibt Zutaten, die den Geschmack des ganzen Gerichts bestimmen, und andere Beigaben, die man ersetzen oder weglassen kann. Kurz gesagt: Es gibt Grundzutaten und es gibt »Goodies«, die ein Gericht abrunden und ihm eine individuelle Note verleihen.

Um eine Idee davon zu bekommen, wie das »ideale« Rezept Ihrer Persönlichkeitsentwicklung aussieht, benötigen Sie zunächst einmal eine Ahnung von den Grundzutaten, die Ihnen dieses Buch vorstellt. Danach sind Sie in der Lage, selbstständig weitere »Zutaten« zu Ihrer »Küche« hinzuzufügen und mit Ihren Stärken und Wesenszügen zu performen, sodass letztlich Ihre eigene hochsensible »Kochkunst« entsteht.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß, Experimentierfreude und gutes Gelingen dabei!

Herzlichst

Brigitte Küster

Vor dem Start

Den eigenen Weg zu finden funktioniert mit diesem Buch intuitiv. Dennoch möchte ich Ihnen ein paar Tipps geben, wie Sie es benutzen können.

Suchen Sie nach grundsätzlichen Informationen? Möchten Sie wissen, was Hochsensibilität überhaupt ist, welche Kriterien dazu gehören und welche nicht? Dann lesen Sie zunächst das Kapitel »Grundsätzliches und Wissenswertes«.

Wissen Sie schon viel und möchten zusätzliche Anregungen zur hochsensiblen Lebensgestaltung erhalten? Dann beginnen Sie gleich mit den entsprechenden Kapiteln, in denen Sie nach Lust und Laune stöbern können.

Es ist nicht notwendig, das Buch von vorne bis hinten in einem Stück zu lesen (obwohl Sie das natürlich tun können, wenn es Ihre Gründlichkeit von Ihnen verlangt), vielmehr können Sie es auf Ihre Bedürfnisse hin anwenden. Das stellt an sich schon eine Herausforderung dar, weil Sie dafür wissen sollten, was Sie am meisten brauchen. Keine einfache Sache, denn gerade hochsensible Menschen verlernen im Laufe ihres Lebens oft, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen.

Deshalb hier mein Rat: Folgen Sie Ihrer Neugier, stöbern Sie, denken Sie, lassen Sie sich inspirieren!

Aufbau und Struktur

So wie professionelle Restaurantküchen einem bestimmten Aufbau folgen, hat auch dieses Buch eine Struktur.

VERSTEHEN

Im ersten Teil werden grundlegende Fakten vermittelt. Diese Kapitel verhelfen Ihnen zu einem Verständnis von dem, was man unter Hochsensibilität versteht, welche seriösen wissenschaftlichen Studien es dazu gibt und welche Forscher zu diesem Thema tätig sind. Man könnte sagen, hier werden die Grundlagen und die Handhabung der Grundzutaten vermittelt.

Unsere Persönlichkeit entwickelt sich unser Leben lang, ob es uns nun bewusst ist oder nicht. Daher werden andere Persönlichkeitsanteile wie Intro- und Extraversion oder Sensation Seeking ebenfalls in Bezug zur Hochsensibilität gesetzt. Sie lernen die Kriterien der Hochsensibilität kennen und wie sie sich von anderen Phänomenen wie beispielsweise AD(H)S abgrenzen lässt.

PERFORMEN

Unter Performance verstehe ich in diesem Buch die Kunst, mit der hochsensiblen Veranlagung zu jonglieren, zu spielen, zu experimentieren und daraus etwas ganz Eigenständiges zu machen. Deshalb schließt sich an den ersten Teil eine weiterführende Reflexion über die Möglichkeiten der Entfaltung Ihrer hochsensiblen Veranlagung an. Einen Übungsteil mit Anregungen finden Sie im dritten Teil dieses Buches. Außerdem gibt es weiterführende Gedanken zu Gesundheit, Stress und Resilienz, immer in Verbindung zur Veranlagung der Hochsensibilität.

Im Anhang finden Sie Tests und Fragebögen, wertvolle Literaturtipps, Links zu verschiedenen Themen, die im Buch behandelt werden, sowie das Literatur- und Quellenverzeichnis.

UMSETZEN

Im Übungsteil werden Anregungen vorgestellt, die nach Themen geordnet sind. Es gibt Übungen zu den Themen Neugier, Kreativität, Schüchternheit, Abgrenzung, Selbstkompetenz und vieles mehr. Lassen Sie sich inspirieren!

Obwohl sich dieses Buch primär an eine hochsensible Leserschaft richtet, möchte ich betonen, dass Normalsensible ebenso von den Übungen profitieren können, denn was Hochsensiblen guttut, tut auch Normalsensiblen gut.

Die Grund-Übungen können von jedem Menschen zur Formung der eigenen Persönlichkeit eingesetzt werden. Sie sind allgemeingültig. Daneben gibt es zahlreiche Methoden und Techniken, die variiert und nach Belieben miteinander kombiniert werden können.

Die Grundzutaten

Bevor es losgeht, lassen Sie mich wieder eine Analogie zum Kochen herstellen:

In jeder Küche gibt es Grundzutaten, die praktisch immer vorhanden sind. Dazu gehören zum Beispiel Salz, Pfeffer, Öl, Gewürze, Pasta, Reis und vielleicht auch die eine oder andere Tiefkühlpizza (kein schlechtes Gewissen haben, bitte).

Sie können keine Nudeln kochen, wenn Sie keinen Topf haben. Deshalb gehören Töpfe und Pfannen zur Grundausstattung einer Küche, ebenso wie Siebe, Pfannenwender und Besteck. Alle diese Dinge sind uns so selbstverständlich, dass wir kaum darüber nachdenken, sondern einfach in die Schublade greifen und das entsprechende Werkzeug herausholen.

Erinnern Sie sich an Ihre erste eigene Wohnung? Vielleicht sah es bei Ihnen so ähnlich aus wie bei mir: Ich besaß einen Topf (für alles), ein Sieb, eine Pfanne (Durchschnittsgröße), einen Satz Besteck, einen Pfannenwender. Das war’s. Ich kam zurecht – aus heutiger Sicht für mich kaum vorstellbar.

So ist es auch um die Persönlichkeit bestellt. Zunächst legen wir uns das absolut notwendige Rüstzeug zu, welches wir zum Überleben benötigen. Mit der Zeit und steigendem Können kommen immer mehr Utensilien hinzu, Spitzsiebe, Kartoffelpressen, Durchschlagtücher, Auflaufformen, Wärmeschubladen und so weiter.

Ich glaube, dass es Eigenschaften gibt, die zu jeder Grundausstattung eines hochsensiblen Menschen gehören sollten und die man entwickeln kann. Ohne diese Eigenschaften ist es kaum möglich, zur Performance zu gelangen. Dazu zählen:

• Neugierde

• Kreativität

• Engagement

• Durchhaltevermögen

• Feingefühl

NEUGIERDE

Wenn Sie schon länger Mutter oder Vater sind, dann konnten Sie sicher an Ihren Kindern beobachten, wie sie sich anschickten, die Welt zu entdecken. Kaum konnte das Kind laufen, mussten Sie alle Gegenstände außerhalb seiner Reichweite bringen. Wahrscheinlich staunten Sie manchmal nicht schlecht, wie schnell es auf seinen kurzen Beinchen sein konnte, wenn es ein Ziel ins Auge gefasst hatte. Vorzugsweise dürfte es sich von Ihnen wegbewegt haben, denn ein gesundes Kind ist neugierig.

Was bei sehr kleinen Kindern als gesunder Entdeckerdrang angesehen wird, wird mit zunehmendem Alter eher mit Skepsis bis Ablehnung betrachtet. Es gilt nicht als erstrebenswert, neugierig zu sein. Wer kennt sie nicht, die neugierige und deshalb nervige Nachbarin hinter den Gardinen? Deshalb weisen viele Leute die Behauptung, neugierig zu sein, weit von sich.

Tatsächlich wird Neugier in der Wissenschaft und Philosophie ambivalent beschrieben. Bereits der Kirchenlehrer Augustinus (354-430 n.Chr.) drückte aus, dass sich die »Neugier als Wissensdrang tarnt«2. Thomas von Aquin zählte die Neugier zu den Lastern, die Wissbegier aber zu den Tugenden.3 In der Folge wurde es im Laufe der Jahrhunderte immer verpönter, neugierig zu sein, obwohl uns jedes Kind lehrt, dass eine gesunde Neugierde dazu führt, dass wir die Welt entdecken, sie verstehen und begreifen. Ich möchte Sie deshalb dazu inspirieren, die eigene Neugier wiederzuentdecken und als Grundzutat Ihrer Persönlichkeit anzuerkennen, so wie ich es getan habe.

Vor einiger Zeit gab mir eine Klientin den Link zu einem Persönlichkeitsstärkentest, den sie im beruflichen Kontext anwendet. Ich stelle mich in solchen Fällen gerne als »Versuchskaninchen« zur Verfügung, weil ich immer auf der Suche nach Werkzeugen bin, die hochsensiblen Menschen nützlich sein können. Vor dem Test meinte ich, dass ich über eine hohe soziale Kompetenz verfüge, schließlich arbeite ich schon seit zwanzig Jahren mit Klienten und Klientinnen – und an mir selbst, seitdem ich denken kann. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als das Testergebnis mir als hervorstechendstes Merkmal Neugier attestierte, gleich gefolgt von der Liebe zum Lernen. Soziale Kompetenz kam erst auf Platz vier!

Es fiel mir nicht leicht, dieses Ergebnis zu akzeptieren, aber es brachte mich zum Nachdenken. Nach und nach kamen mir immer mehr Beispiele aus meinem Leben in den Sinn, die ich unter dem Begriff Neugierde verorten konnte. Ich lernte, anzuerkennen, dass ich neugierig bin, und in der Kombination mit meiner Liebe zum Lernen habe ich mich damit ausgesöhnt. Neugier in diesem Sinne meint Wissbegierde, und über diese verfüge ich in reichem Maße. Es reizt mich überhaupt nicht, zu erfahren, welches Auto der Nachbar in seiner Garage stehen hat oder wie oft er wilde Partys feiert. Doch es interessiert mich immer, was Menschen bewegt und welche Erfahrungen dazu führen, ob jemand dem Leben positiv oder eher skeptisch gegenübersteht. Ich möchte wissen, wie andere Schwierigkeiten meistern und was sie inspiriert. In diesem Sinne bin ich wirklich sehr neugierig.

Was ich hier mit Neugier meine, ist also die Wissbegierde, die zur Erkenntnis führt. Wenn die Neugier gering ist, dann fehlt es auch an der Motivation, etwas Neues und Originelles zu entwickeln.

Wenn Sie möchten, können Sie in Übung 1 nachschauen, welche Anregungen ich für Sie habe, um Ihre gesunde und angeborene Wissbegier zu stärken und wiederzubeleben, bevor Sie weiterlesen.

KREATIVITÄT

Kreativität ist die Fähigkeit, etwas Neues zu erschaffen. Der Begriff bezeichnet die Eigenschaft eines Menschen, gestalterisch oder schöpferisch tätig zu sein. Damit ist aber nicht nur die bildende Kunst oder Musik gemeint, sondern jeder Prozess, in dem etwas Neues und Originelles entsteht. Es ist zum Beispiel sehr kreativ, wenn Sie in Ihren Vorratsschrank schauen und sich überlegen, was Sie aus den Lebensmitteln kochen oder backen können, die Sie vorfinden. Ebenso zeugt es von Kreativität, im Gespräch neue Wege oder Möglichkeiten in Sprache, Gestik und Mimik zu erforschen, um einem möglichen Konflikt die Spitze zu nehmen.

Kreativ zu sein ist jedem Menschen angeboren. Beobachten Sie einmal ein Kind, das einen Gegenstand erforscht: Es wird ihn in den Mund nehmen, ihn betasten, erschmecken, erfühlen und schauen, was sich mit ihm anstellen lässt, ungeachtet seiner eigentlichen Funktion, von der das Kind ja noch nichts weiß.

Leider wird Menschen im Laufe des Sozialisierungsprozesses diese Kreativität »aberzogen« und in den Bereich der Kunst verwiesen. Das liegt unter anderem daran, dass das Bildungssystem in den westlichen Industrienationen sehr einseitig auf Wissenserwerb ausgerichtet ist. Wenn 1+1=2 ist, bleiben kreative Lösungsansätze auf der Strecke.

Als meine Tochter in der dritten Klasse war, hatten die älteren Schüler und Schülerinnen einmal die Möglichkeit, an einer Unterrichtsstunde in den unteren Klassen teilzunehmen. Meine Tochter besuchte an diesem Tag eine Mathematikstunde in der ersten Klasse. Das Mädchen, neben dem meine Tochter saß, sollte die Aufgabe 2+2 lösen. Sie überlegte nicht lange und rief unbekümmert: »Hm, ach, da schreibe ich jetzt einfach mal 7 hin!« Wir können davon ausgehen, dass das Mädchen diese Art von Kreativität nicht lange beibehalten konnte. Hoffentlich durfte sie ihre Schöpfungskraft dafür auf anderen Gebieten ausleben.

Auch bei meiner Tochter durfte ich erleben, wie kreativ Kinder sein können. Als sie drei oder vier Jahre alt war, liebte sie es, zu malen, und es entstanden viele bunte Bilder. Später im Kindergarten gab es Bilder zum Ausmalen. Sie malte von Anfang an exakt aus, aber bei ihr waren die Pferde rot, grün, gelb und blau, was ich eigentlich sehr schön und kreativ fand – bis eines Tages die Erzieherin meinte, dass das nicht richtig sei, denn es gäbe keine blauen Pferde. Auf meine Frage, warum sie denn keine bunten Pferde malen dürfe, entgegnete mir die Erzieherin: »Kann sie überhaupt realistische Pferde malen?« Ich wusste nichts mehr zu sagen. Im Rückblick betrachtet, denke ich, dass damals etwas mit der Kreativität meiner Tochter passiert ist. Fortan malte sie nur noch »realistisch« und nie mehr bunt.

Es ist sehr schade, dass Kreativität im Bildungssystem nur eine untergeordnete Rolle spielt, denn dadurch ist vielen Erwachsenen nicht bewusst, dass sie eigentlich kreativ sind. Dabei sind Sie dazu geboren, schöpferisch tätig zu sein! Aber die kreative Veranlagung kann verkümmern, wenn sie nicht geübt und gefördert wird.

Kreativ im Umgang mit der hochsensiblen Veranlagung zu sein, bedeutet, alle Aspekte der Empfindungsfähigkeit zu nehmen und eventuell neu zu bewerten. Hochsensible Menschen sind von Natur aus kreativ, denn sie finden oft innovative Lösungen und gestalten ihr Leben (je nach Reifegrad) farbig und differenziert.

Deshalb befasst sich Übung 2 im Übungsteil dieses Buches mit Anregungen für das (Wieder)entdecken Ihrer Kreativität.

ENGAGEMENT

Unter Engagement wird klassisch ein intensiver Einsatz für eine Sache verstanden. Diese Definition beinhaltet verschiedene Aspekte: Da ist zum einen die »Sache«, ein Thema, welchem man sein Engagement widmet. Viele Prominente, von Sportlerinnen über Sänger bis hin zu First Ladies, sind Botschafter für Stiftungen, gemeinnützige Organisationen oder gründen selbst welche zu einem Thema, das für sie Bedeutung hat, wie zum Beispiel der Opernsänger José Carreras, der aufgrund seiner eigenen Erkrankung die Deutsche José Carreras Leukämie-Stiftung e.V. gegründet hat. Zum anderen wird beim Engagement der intensive Einsatz hervorgehoben. Wirkliches Engagement lässt sich nicht so nebenbei betreiben, sondern verlangt oft eine anstrengende, intensive Beschäftigung mit dem Thema und ein besonderes Einlassen darauf. Dementsprechend bezeichnet Engagement auch eine Verpflichtung. Es ist sicher kein Zufall, dass »Verlobung« im Englischen »Engagement« heißt.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Engagement zu den Grundzutaten zähle, ohne die eine Performance im Umgang mit Hochsensibilität nicht möglich ist. Hochsensible neigen durch ihre intensive Wahrnehmung dazu, sich über das normale Maß hinaus für etwas oder jemanden zu engagieren. Sie sehen Handlungsbedarf, bevor andere ihn wahrnehmen. Wenn sie sich einmal für etwas entschieden haben, halten sie außerdem lange daran fest und sind in der Regel ihrem Engagement treu. Idealerweise empfinden sie einen großen Sinngehalt in ihrer Aufgabe. Fehlt dieser Sinn allerdings und haben sie noch nicht das passende Engagement gefunden, welches sie über eine längere Zeit hinweg interessiert, dann fühlen sie sich leer und unzufrieden.

Bevor mich das Thema Hochsensibilität getroffen hat, ging es mir genauso. Alles, was ich bis dahin getan hatte, hat mein Herz nicht berührt. Immer schon hatte ich eine »soziale Ader«, deshalb habe ich mich schon in jungen Jahren im deutschen Kinderschutzbund eingebracht, Briefe im Auftrag von Amnesty International geschrieben, diverse Patenschaften für Kinder in Entwicklungsländern gehabt und mich, als ich mit sechzehn Jahren für ein paar Wochen ins Krankenhaus musste, um sterbende Mitpatientinnen gekümmert. Es ist mein Naturell, dass ich mich kümmere – trotzdem habe ich bei diesen Tätigkeiten nie ein solches Engagement erlebt wie beim Thema Hochsensibilität. Ich lebe dieses Thema mit meiner ganzen Kraft und es ist mir außerordentlich wichtig, Verständnis für die sensiblere Wesensart zu wecken und hochsensible Menschen zu stärken. Das ist meins und dafür stehe ich ein, so gut ich kann. Ich möchte behaupten: Solange Sie nicht dieses Feuer in sich spüren, so lange haben Sie Ihr Engagement noch nicht gefunden.

Aufgrund Ihrer hochsensiblen Veranlagung kann ebenfalls ein solches Engagement für ein Thema entstehen. Wenn Sie sich intensiv mit Ihrer hochsensiblen Veranlagung beschäftigen, können Sie das nicht halbherzig tun. Das Thema verlangt Engagement, eine intensive Beschäftigung mit der Sache. Meines Erachtens liegt darin der Grund dafür, dass viele sehr sensible Menschen mit ihrer Veranlagung nicht zur Performance kommen. Sie bemühen sich zwar darum, die eigene Veranlagung zu akzeptieren, beschäftigen sich aber nur im Stillen damit und scheuen die Konsequenzen, die eine Intensität mit sich bringt. Dabei sind die Voraussetzungen jedem hochsensiblen Menschen gegeben, denn sie empfinden von Natur aus intensiv. Aus dieser Intensität heraus entsteht oft ein Engagement für gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Themen, welches seinesgleichen sucht.

In Übung 15 finden Sie Anregungen und Impulse, wie Sie Ihr persönliches Engagement entdecken und stärken können.

DURCHHALTEVERMÖGEN

Eine weitere Grundzutat ist das Durchhaltevermögen. Neugier, Kreativität und Engagement sind zweifellos wichtig, aber wenn das Durchhaltevermögen fehlt, kommt man mit diesen Eigenschaften nicht weit. Meiner Ansicht nach ist das Durchhaltevermögen das Bindemittel, welches alle Grundzutaten zusammenhält.

Es geht nicht darum, dass Sie an jeder Sache unbedingt bis zum Ende festhalten müssen. Manchmal zeigt sich, dass es besser ist, eine Entscheidung rückgängig zu machen. Mitunter aber kann es für die Formung Ihrer Persönlichkeit notwendig sein, über Phasen der Ungeduld, der Unlust oder des Widerstandes hinweg durchzuhalten. Das gilt für Beziehungen, Arbeitsstellen, größere Projekte (das können auch Handarbeiten sein) oder Vereinsarbeit. Die Kunst ist, zu unterscheiden zwischen dem, was man besser aufgibt, und dem, wo Durchhalten sich lohnt.

Ich kenne Menschen, denen es schwerfällt, ein Buch bis zum Ende zu lesen. Mag sein, sie lesen generell nicht gerne, mag sein, dass ihnen der Inhalt des Buches nicht zusagt oder der Stil sie ärgert. Das allein ist für mich noch kein Indiz für ein schlechtes Durchhaltevermögen. Man muss sich immer anschauen, warum etwas nicht geht. Gravierender ist es beispielsweise, wenn Menschen ihre Berufsausbildung vorzeitig abbrechen. Dann muss man sich fragen, woran das liegt. War die Motivation nicht groß genug oder hat man sich vielleicht etwas anderes vorgestellt?

Hochsensible Menschen verfügen meiner Erfahrung nach über ein gutes Durchhaltevermögen. Das führt aber öfters dazu, dass sie an den falschen Dingen oder Menschen festhalten, über das gesunde Maß hinaus.

Im Übungsteil dieses Buches finden Sie Anregungen, die Ihnen helfen können, sinnvolles Durchhalten von sinnlosem Festhalten zu unterscheiden.

FEINGEFÜHL

Feingefühl ist etwas, was Hochsensiblen gerne zugeschrieben wird – zeichnet sich diese Veranlagung doch durch eine hohe Wahrnehmungsfähigkeit aus. Aber verstärkt wahrzunehmen, muss nicht unbedingt heißen, dass man über Feingefühl verfügt. Feingefühl beinhaltet, auf die Gefühle anderer Personen rücksichtsvoll einzugehen.4 In dem Strudel der mannigfaltigen Wahrnehmungen geht genau dies aber hochsensiblen Menschen manchmal verloren.

Um mit einem Mythos aufzuräumen: Hochsensibel zu sein, bedeutet nicht, in jedem Falle empathisch oder rücksichtsvoll zu sein. Zur Ausbildung des Feingefühls braucht es vor allem Ruhe und Gelassenheit, Dinge, die man sich erarbeiten kann. Wenn ein hochsensibler Mensch unter großer Anspannung steht, ist es für ihn jedoch kaum möglich, rücksichtsvoll auf andere einzugehen. Rücksicht wird dann nur gegen sich selbst angewandt. In solchen Momenten nehmen sich Hochsensible selbst besonders fein wahr und fühlen sich vielleicht schon durch Kleinigkeiten stark verletzt.

Auf der anderen Seite gibt es Hochsensible, die eine offen zur Schau getragene Empathie für alle anderen zeigen, sich selbst dabei aber vergessen. Beide Ausformungen sind nicht nützlich.

Wie Sie Ihr Feingefühl kultivieren können, zeigen Ihnen die Impulse in Übung 9 hinten im Buch.

Nun kennen Sie die »Grundzutaten«, welche für einen gelingenden Umgang mit Ihrer hochsensiblen Veranlagung notwendig sind. Sollten Sie beim Lesen den Eindruck gewonnen haben, dass die eine oder andere »Zutat« bei Ihnen noch ausbaufähig ist, können Sie im entsprechenden Kapitel dieses Buches nachschlagen, den Anregungen folgen und eigene Ideen kreieren.

Bevor man Veränderungen angehen kann, ist es notwendig, sich selbst besser zu verstehen. Deshalb geht es im nächsten Teil um Grundsätzliches und Wissenswertes zum Thema Hochsensibilität.

Hochsensibilität. Verstehen

Grundsätzliches und Wissenswertes

Wie alles begann

Falls Sie erst kürzlich auf das Thema Hochsensibilität gestoßen sind, fängt die Geschichte für Sie erst jetzt an. Für mich begann sie 2008, als mich eine Freundin anrief und mir von einem Buch zum Thema erzählte. Für Elaine Aron, Klinische Psychologin aus San Francisco, mag sie Anfang der 1990er-Jahre begonnen haben, als sie diesen Wesenszug systematisch erforschte und ihr erstes Buch darüber schrieb. Im deutschsprachigen Raum fiel der Startschuss ein paar Jahre später, Anfang des neuen Jahrtausends, als Arons Bücher erstmalig auf Deutsch erschienen. In der Geschichte insgesamt liegt der Startpunkt schon wesentlich früher.

Tatsächlich war bereits den Menschen im Altertum bewusst, dass sich Menschen in ihrer Empfindsamkeit unterscheiden. Entgegen der Meinung vieler Kritiker, Hochsensibilität sei eine Modeerscheinung und ein »Zeitgeistthema«, kann ich aufgrund meiner intensiven Beschäftigung damit sagen, dass es seit jeher sehr sensible Menschen gegeben hat. Allerdings lässt sich beobachten, dass aktuell wohl erstmalig in der Geschichte Hochsensibilität in der breiten Öffentlichkeit sehr viel Aufmerksamkeit erhält und sich viele Menschen mit diesem Begriff identifizieren. Dabei werden durch einseitige Berichterstattung in den Medien und lückenhaftes Allgemeinwissen Missverständnisse geschürt.

Es gibt viele Theorien darüber, weshalb immer mehr Menschen empfindlich auf Reize reagieren. Während Empfindlichkeit im öffentlichen Sprachgebrauch negativ gefärbt ist (»Sei nicht immer so empfindlich«), aber durchaus auch Sensibilität einschließt, geht der Begriff der Empfindsamkeit auf die Zeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück, die man auch als Zeitalter der Empfindsamkeit bezeichnet.5 In der damaligen Auffassung wurde überschwängliches Gefühl nicht als Makel betrachtet, sondern als Merkmal eines sittlichen Menschen. Wie Tom Falkenstein schreibt, gehörte das Kultivieren der Empfindsamkeit zum guten Ton, vor allem bei Männern aus gutem Hause.6 Es ist also nicht falsch, von Empfindlichkeit zu sprechen, wenn wir Hochsensibilität einen. Ich bevorzuge dennoch den Begriff Empfindsamkeit, weil er auch das positive Reagieren auf Reize in den Fokus nimmt.

Zu den angesprochenen Theorien gehört die Auffassung, dass die Böden, auf denen Ackerbau betrieben wird, durch Misswirtschaft (übertriebene Ertragssteigerung durch Düngemittel und den Einsatz von Pestiziden) belastet und ausgelaugt sind und dadurch die Lebensmittel weniger vollwertig sind. Dadurch können Mangelzustände im menschlichen Organismus entstehen, und möglicherweise reagieren hochsensible Menschen darauf besonders stark. Ein Arzt hat mir einmal erläutert, dass das hochsensible Gehirn mit Spitzensportlern zu vergleichen ist und dass es deshalb genauso viel Energie benötigt wie diese.

Aufgrund dieser Zusammenhänge werden Nahrungsmittelergänzungspräparate im Zusammenhang mit Hochsensibilität diskutiert.7 Wie Anne-Barbara Kern schreibt, stellt Nahrungsergänzung alleine aber nicht die Lösung aller Probleme dar. Durch die Mittel wird lediglich die Energie zur Verfügung gestellt, damit das Gehirn leistungsfähiger ist und mentale Techniken wirkungsvoller sind. Kern stellt klar, dass alte Verhaltensmuster dadurch nicht verändert werden und negative Muster sogar durch die erhöhte Energiezufuhr verstärkt oder wiedererweckt werden können.8 Deshalb sollten Nahrungsergänzungsmittel nur unter Beobachtung und Begleitung von Fachpersonen eingenommen werden.

Nicht alles, was empfindlich ist, ist hochsensibel. Die Tendenz, alles, was nur annähernd empfindsam ist, mit Hochsensibilität in einen Topf zu werfen, beobachte ich daher mit Sorge. Vieles wird miteinander vermischt und verwechselt. Durch Halbwissen verbreiten sich unseriöse Ansichten darüber, was Hochsensibilität ist, und es werden Ressentiments geschürt mit Aussagen und Fragen wie: »Sind das diese Mimosen?«, »Für Weicheier ist kein Platz in dieser Welt«, oder: »Sensible Menschen sind nicht belastbar.« Menschen sind weder nur »verletzlich« oder nur »belastbar«, wie es die Berichterstattung in den Medien oft nahelegt.

Deshalb ist viel seriöse Aufklärungsarbeit nötig und dieses Buch möchte seinen Beitrag dazu leisten, indem es Hochsensibilität beschreibt und von anderen Phänomenen abgrenzt.

Was ist Hochsensibilität?

Um diesen Wesenszug zu verstehen, ist es hilfreich, zu wissen, was Hochsensibilität nicht ist. Wie ich oben dargelegt habe, ist Hochsensibilität keine »Modeerscheinung« und kein »Zeitgeistthema«. Ebenso wenig ist es eine Krankheit oder eine Störung, obwohl manche medizinische Fachleute Hochsensibilität als Begleiterscheinung von psychischen Störungen verstehen. Tatsächlich gibt es Störungsbilder, bei denen eine »erhöhte Sensibilität und Erregbarkeit« zu den Diagnosekriterien gehören. Diese treten zum Beispiel nach einem erlittenen Trauma auf (siehe Posttraumatische Belastungsstörung, S. 116). Wenn Sie sich mit dem Thema befassen, werden Sie jedoch erkennen, dass Hochsensibilität viel komplexer ist und die erhöhte Empfindsamkeit nur einen Teil, wenn auch einen beträchtlichen, davon ausmacht.

ERSTE FORSCHUNGSERGEBNISSE ZU EMPFINDSAMKEIT

Wenn Hochsensibilität also keine »Erfindung« unserer Zeit und keine Krankheit ist, was ist es dann? Die Antwort liegt in der Persönlichkeit des Menschen an sich. So verschieden Menschen auch sind, in Aussehen, Sprache, Kultur, Lebensstil und ökonomischem Status, so ähnlich sind sich manche doch in grundlegenden Wesensmerkmalen. Die erhöhte Empfindsamkeit ist so ein Wesensmerkmal, das in der gesamten Menschheit vorkommt.

Diese Erkenntnis veranlasste den amerikanischen Kinderarzt Thomas Boyce dazu, in seiner Eigenschaft als Professor für Pädiatrie und Psychiatrie an der University of California in San Francisco die Temperamentsunterschiede eingehend zu erforschen. In Laboruntersuchungen testete er mit seinem Team die Stressreaktivität von Kindern, indem er ihnen Zitronensaft zu schmecken gab, sie Fragen beantworten ließ, ihnen einen traurigen Film vorführte und sie Zahlenreihen auswendig lernen ließ – alles Aufgaben, bei denen ein Teil der Kinder hohe Aktivierungsstressreaktionen zeigte.9 Dabei kristallisierte sich heraus, dass es sich um einen bestimmten Anteil der Probanden handelte. Etwa 20 Prozent der Kinder reagierten auf diese Weise stark. Weitere Forschungsergebnisse brachten Boyce und sein Team zu dem Schluss, dass es sich um ein Temperamentsmerkmal handelte, von dem ein stets gleichbleibender Prozentsatz (eben das oben erwähnte Fünftel) »betroffen« war.

Das, was wir heute unter Hochsensibilität verstehen, ist also ein Wesenszug, der zu einem bestimmten Prozentsatz in der Menschheit vorkommt. Nicht mehr und nicht weniger. Das Wissen, dass jemand mit diesem Merkmal ausgestattet ist, lässt keine Rückschlüsse darauf zu, ob diese Person Schwierigkeiten im Leben haben oder gar Krankheiten oder Störungen entwickeln wird. Denn auch das fand Boyce heraus: Je nachdem, ob die Kinder in einer liebevollen und förderlichen Umgebung aufwuchsen oder nicht, blühten sie entweder auf und entwickelten sich großartig, oder aber sie hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen und blieben weit hinter ihrem Potenzial zurück. Diese Erkenntnis ist bahnbrechend, denn es gilt als erwiesen, dass es nicht das Temperamentsmerkmal an sich ist, welches über »Gedeih und Verderb« entscheidet, sondern die Umgebungsbedingungen. Die Ansicht, Hochsensible seien von Natur aus verletzlich und nicht belastbar, ist also ein Mythos, der durch diese Untersuchungen widerlegt wird.

WAS ÄNDERT SICH?

Halten wir fest: Hochsensibilität (oder die erhöhte Empfindsamkeit, von der Boyce spricht) ist eine Disposition, eine Veranlagung, welche zu einem bestimmten Prozentsatz in der Menschheit vorkommt und als Wesensmerkmal weder gut noch schlecht, sondern neutral ist. Das bedeutet zweierlei: Einerseits sind die Unterschiede zwischen hochsensiblen und normalsensiblen Menschen real, andererseits stellt die Veranlagung zur Hochsensibilität keine Entschuldigung für ein egozentrisches oder ein extremes Rückzugs- und Schonverhalten dar.

Trotzdem kann es sehr sinnvoll sein, herauszufinden, ob man zu der Personengruppe der empfindsamen Menschen gehört, einerseits, weil man sich selbst dann besser versteht, andererseits, damit man sein zukünftiges Leben mit dieser Veranlagung gestalten kann und nicht länger dagegen ankämpfen muss.