Von empfindsam bis hochsensibel - Brigitte Küster - E-Book

Von empfindsam bis hochsensibel E-Book

Brigitte Küster

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sensibilität als Stärke

Sensibilität ist eine Gabe und bietet ungenutztes Potenzial zur Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings kann der Zugang dazu durch Traumatisierungen und andere Einwirkungen blockiert sein. Deshalb zeigt die psychologische Beraterin Brigitte Küster ganz praktisch Wege auf, um ein gelingendes Leben im Einklang mit dem eigenen Potenzial und der eigenen Sensibilität zu leben. Sie zeigt in ihrem praktischen und ermutigenden Buch, das seinen Lesern Schritte in Richtung Potenzialentfaltung zeigt, wie Menschen in ihre Kraft kommen können. Sie begibt sich auf historische Spurensuche nach den Ursprüngen der Hochsensibilität, erklärt, welche Aspekte der Sensibilität stärken, welche schwächen und wie man sich über die Sensibilität dem eigenen Potenzial annähern und es entfalten kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Sensibilität wird häufig als Belastung empfunden. Aber sie ist auch eine Fähigkeit, die dazu beitragen kann, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wie das funktioniert, zeigt die psychologische Beraterin Brigitte Küster. Praktisch und ermutigend beschreibt sie, wie gerade wegen der eigenen Sensibilität ungenutztes Potenzial entfaltet werden kann. Sie begibt sich auf historische Spurensuche nach den Ursprüngen der Hochsensibilität, erklärt, welche Aspekte der Sensibilität stärkend und welche schwächend wirken und wie man sie für ein zufriedenes und erfülltes Leben nutzen kann. So zeigt sie, dass es möglich ist, sensibel, kraftvoll und dennoch durchsetzungsfähig zu sein, und dass eine empfindsame Veranlagung einen selbst und die Gesellschaft bereichern kann.

Brigitte Küster

Von empfindsam bis hochsensibel

Kraft entwickeln aus ungenutztem Potenzial

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81 673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © plainpicture / Frank Baquet

ISBN 978-3-641-23691-5V001

www.koesel.de

Inhaltsverzeichnis

Dank

Worum es geht

Teil I: Auf Spurensuche

Ein Ausflug in die Geschichte der Sensibilität

Sensibilität, Pflanzen, Tiere und mechanische Reizbarkeit

Die »dunkle Epoche«, Minne und Hildegard von Bingen

Renaissance, Leonardo und sieben Prinzipien

Neugier und Wissbegierde

Das eigene Wissen überprüfen, ergänzen, anpassen und aus Fehlern lernen

Die Sinne schärfen

Unsicherheit und Verwirrung aushalten

Kunst und Wissenschaft verbinden – ganzheitlich denken

Für den Körper sorgen – Anmut und Beweglichkeit pflegen

Alles ist mit allem verbunden – Kohärenz bewirken

Sensibilität in der Literatur des 18. Jahrhunderts

Aufklärung und Empfindsamkeit

Wenn sich Denken und Leben scheinbar widersprechen – Jean-Jacques Rousseau und Alice Miller

Sensibilität als überdauerndes Element in der Menschheitsgeschichte

Teil II: Gibt es »die« Hochsensiblen?

Physiologische Komponenten

Von Empfindungsfähigkeit, Empfindsamkeit und dem Nervensystem

Orchidee oder Löwenzahn?

Empfindsam, empfindlich, hochsensibel

Verschiedene Sensitivitätstypen

Vier Kriterien

Gründliche Informationsverarbeitung

Übererregbarkeit

Emotionale Intensität plus Empathie

Sensorische Empfindlichkeit

Teil III: Was stärkt, was schwächt?

Das rechte Maß finden

Eine Geschichte von der Erschütterung des Urvertrauens und Dampfkochtöpfen

Den eigenen Rhythmus gestalten

Zwei Eidechsen und was empfindsame Menschen daraus lernen können

Vom magischen Denken und vier Fragen

Polarisierung als Ergebnis von traumatischen Erfahrungen

Wieder in Verbindung kommen und Kohärenz erleben

Selbstfürsorge

Sensibilität als Manipulation

Der Unterschied zwischen Selbstfürsorge und Egozentrik

Empfindsamkeit und Scham

Empathie

Emotionale Kompetenz

Gelassenheit

Teil IV: Potenziale und was es braucht, um sie zu entfalten

Was sind Potenziale überhaupt?

Von Menschen genommen, von Menschen gegeben

Im Kerker der Vorstellungen

Sind Sie bereit, den Preis zu zahlen?

Gaben brauchen Aufgaben

Anhang

Glossar

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Anmerkungen

Über die Autorin

Dank

Zuallererst möchte ich Ulrike Hensel danken, ohne die dieses Buch nicht erschienen wäre. Sie ist eine wundervolle und großzügige Kollegin, deren Meinung ich sehr schätze.

Es ist mir ein großes Bedürfnis, Urs Honauer für seine Begleitung zu danken. Sein Glaube an mein Potenzial war unerschütterlich, gerade in den Momenten, in denen ich alles andere als überzeugt davon war. Seine Begabungen haben meine gefördert. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Weiterhin danke ich Ingrid Parlow für ihre stete Bereitschaft, sich mit mir und meinen komplexen Gedanken auseinanderzusetzen, und ich schätze ihre Sorgfältigkeit, ihre Differenziertheit und ihr offenes Ohr für meine Fragen. Ein großer Dank gebührt den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Kösel-Verlages, allen voran Sandra Czech und Vera Baschlakov, die kompetent, strukturiert und wohlwollend den Entstehungsprozess dieses Buches begleitet haben. Letztlich erlebe ich, dass meine Bücher nicht denkbar wären ohne die vielen Menschen, die mit ihrer Sensibilität ringen und deren Begleitung mich ehrfürchtig gemacht hat. Sie haben mich gelehrt, nicht aufzugeben, das Potenzial in Kleinigkeiten zu sehen und immer, immer an die Kraft zu glauben, die in jedem Menschen steckt.

Worum es geht

Was wäre, wenn eine hohe Empfindsamkeit als eine natürliche Spielart des Lebens angesehen würde? Wenn grundsätzlich angenommen würde, dass jeder Wesenszug ein Potenzial in sich trüge, das es zu entdecken gilt? Was wäre, wenn wir einfach einmal annehmen würden, dass jede Veranlagung ihren Sinn hätte und jeder Einzelne einfach so sein könnte, wie er oder sie ist, ohne sich dafür zu schämen oder von anderen abgewertet zu werden? Wenn auch Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft der Sensibilität Beachtung schenkten und ihr einen angemessenen Platz einräumten? Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Sensibilität als Charakterstärke? Jemand, der über ein hohes Maß an Sensibilität verfügt, wird im mitteleuropäischen Raum als wenig belastbar, als nervös bis labil angesehen, als seien Energie und Sensibilität unvereinbar. Wenn Sie die Literatur zum Thema Sensibilität betrachten, fällt Ihnen bestimmt auf, dass die meisten Bücher dieses Phänomen als Stärke deklarieren. Wie kommt es dann, dass viele empfindsame Menschen ihre Veranlagung als Schwäche und Mangel wahrnehmen? Wie ist es möglich, aufgrund hoher Empfindsamkeit sich in einem Zustand immerwährender Vorsicht und Reaktivität zu bewegen? Könnte es nicht auch möglich sein, dass direkt neben diesem Erleben auch ein anderes denkbar wäre? Ein Erleben, das sich auf die positiven Aspekte der Sensibilität fokussiert und eine gesunde Neugier daran hat, dieses Persönlichkeitsmerkmal zu entwickeln?

Und wie verhält es sich mit der Potenzialentfaltung? Dieser Begriff wird in unserer Zeit fast schon inflationär gebraucht. Der gängigen Meinung zufolge besitzt jeder Mensch Potenzial und damit auch die Verpflichtung, etwas daraus zu machen. Selbstoptimierung, Selbstmanagement, Selbstheilung und Selbstcoaching sind zu Schlagwörtern geworden, die eine Art Machbarkeitswahn suggerieren, man müsse sich nur genug anstrengen, um das Optimum aus sich herauszuholen. Selbstverständlich kann jeder Mensch sehr viel dazu beitragen, ein erfülltes Leben zu leben. Zu den Erkenntnissen eines reifen Erwachsenenlebens gehört jedoch auch, dass eben nicht alles in der eigenen Hand liegt und zahlreiche äußere Faktoren unser Leben beeinflussen. Mitunter ist man auf Unterstützung anderer angewiesen.

Vielleicht erleben Sie sich ja gerade als geschwächt. Möglicherweise haben Sie den Eindruck, dass die ganze Welt gegen Sie ist und es Ihnen besser gehen würde, wenn die anderen mehr Rücksicht auf Sie nähmen. Von Alexandra David-Néel, der berühmten französischen Reiseschriftstellerin und Tibetforscherin, stammt die Einsicht, dass man sich selbst sein eigenes Licht und seine eigene Zuflucht sein sollte.1 Ich möchte Sie gerne auf diesem Weg zu sich selbst begleiten, wohl wissend, dass dieser Weg länger oder kürzer, steiniger oder sandiger, unebener oder gerader verlaufen kann.

Es wird leicht übersehen, dass ein Potenzial nicht nur positive Möglichkeiten umfassen, sondern auch destruktive und dunkle Seiten beinhalten kann. Potenzial zu haben bedeutet, beide Richtungen einschlagen zu können, und oft entspringen beide Möglichkeiten derselben Quelle. Ein Potenzial zu haben heißt nicht automatisch, es ausleben zu können. Ist die Entfaltung eines Sensibilitätspotenzials überhaupt möglich? Wenn ja, was ist dazu nötig, und wenn nein, welche Mechanismen verhindern es?

Ich möchte in diesem Buch versuchen, mit Ihnen darüber nachzudenken, wie eine hohe Sensibilität wirklich zur Kraft werden kann und wie es gelingt, das positive Potenzial auszuloten und zur Entfaltung zu bringen. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner langjährigen Praxiserfahrung sowie meiner eigenen persönlichen Entwicklung von einem schüchternen und linkischen, sehr sensiblen kleinen Mädchen über einige Irrungen und Wirrungen zu einer Mutter, psychologischen Beraterin und Autorin. Sollte Ihr Leben auch nur ansatzweise dem meinen gleichen, dann haben Sie wahrscheinlich auch schon oft darüber nachgedacht, wieso es so verlaufen ist, wie Sie es erinnern. Vielleicht fragen Sie sich auch, was Ihre erhöhte Sensibilität mit Ihrem Lebensverlauf zu tun hat. Möglicherweise machen Sie Ihre Veranlagung für ungünstige Entscheidungen oder Wendungen verantwortlich, die Ihr Leben negativ beeinflusst haben. Oder aber Sie sind stolz auf das, was Sie erreicht haben, trotz oder gerade wegen Ihrer Sensibilität.

Vielleicht haben Sie in Ihrer Kindheit eine ähnliche Erfahrung gemacht wie ich. Ich sitze mit zwei Mädchen aus der Nachbarschaft auf den sonnenwarmen Stufen meines Elternhauses. Wir überlegen uns, wie wir den Nachmittag verbringen wollen. Schließlich schlägt eines der Mädchen vor, zu ihm nach Hause zu gehen, und dann passiert es. Mit einem Seitenblick auf mich behauptet es, aber nur ein Mädchen mit nach Hause bringen zu dürfen, mehr erlaube seine Mutter nicht. In diesem Moment wurde mir zweierlei klar. Erstens wusste ich, dass die Entscheidung schon gefallen war. Und zweitens, dass ich keine Chance hatte, daran etwas zu ändern. Sie wollten mich loswerden. Ich kann noch heute spüren, wie ich innerlich förmlich zusammensackte. In Sekundenbruchteilen nahm ich jedoch Verschiedenes gleichzeitig wahr: Ich bemerkte die Lüge, sah die verstohlenen Blicke der Mädchen, hörte den falschen Unterton in der Behauptung des einen, fühlte mich einsam und ausgeschlossen und sagte und tat – nichts. Ich war vier Jahre alt.

Als ich dreißig Jahre später selbst eine kleine Tochter hatte, war ich stets darum besorgt, dass sie Freundinnen hatte und sich nicht ausgeschlossen fühlte (als hätte eine Mutter das in der Hand), denn ich erlebte sie ebenfalls als sehr sensibel. Heute, mit einem Abstand von zwanzig Jahren, blicke ich auf diese Geschichte zurück und weiß, dass ich aufgrund meiner frühen Erfahrungen besonders aufmerksam auf Ausgrenzung reagiere und damit meiner Tochter wahrscheinlich auch an der einen oder anderen Stelle ein eigenes Erleben, eine selbstständige Handlungsoption blockiert habe. Sicherlich habe ich ihr in vielen Situationen helfen können, sie aber – beeinflusst durch meine eigene Geschichte – nicht vollständig in ihrer eigenen Kraft und ihrem Potenzial unterstützt.

Ich bin in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts geboren, gehöre also zu den geburtenstärksten Jahrgängen der Nachkriegszeit, den sogenannten Babyboomern. Als ich eingeschult wurde, waren wir über vierzig Kinder in der Klasse. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass eine Lehrerin uns in den glühendsten Farben ausmalte, wie unser Leben verlaufen würde. Wir würden uns schwertun, eine Lehrstelle zu finden und mit sehr vielen anderen Gleichaltrigen um Studienplätze, Jobs, Wohnungen und andere knappe Ressourcen kämpfen müssen. Sicherlich war es die Absicht der Lehrerin gewesen, unseren Ehrgeiz anzustacheln. Die implizite Botschaft lautete: Nur die Besten gewinnen diesen Wettkampf. Aber mir als empfindsamem Mädchen vermittelte sich, keine Chance zu haben. Mir fuhr die Angst buchstäblich in alle Knochen. Ich war davon überzeugt, mit den anderen nicht mithalten zu können. Ich hatte ja schon die zuvor beschriebene Erfahrung der Ausgrenzung verinnerlicht. Ich erzähle Ihnen davon deshalb so ausführlich, weil ich annehme, dass Angehörige der gleichen Generation ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die bis ins reife Erwachsenenalter oder noch länger nachwirken. Sie verhindern oder erschweren auf diese Weise, dass Menschen ihr ganzes Potenzial ausleben und in ihre Kraft kommen können. Gerade sensible Menschen lassen sich oft von Schreckensszenarien beeinflussen und glauben sofort, dass sie so und nicht anders eintreffen werden.

Was hätte ich damals gebraucht, um mich von diesen vermeintlichen Gespenstern nicht einschüchtern zu lassen? Vielleicht zunächst einmal Zutrauen in meine Empfindungen, sodass ich es gewagt hätte, meinen Bezugspersonen davon zu erzählen. Und dann wäre es schön gewesen, Bestärkung und Ermutigung zu erfahren, als vertrauensförderndes Gegengewicht zu den angsteinflößenden Statements anderer Erwachsener. Das war aber in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts nicht üblich. Noch viel weniger als heute konnte damals kaum jemand mit Sensibilität umgehen. Das war nicht in allen Geschichtsepochen so. Es gibt Zeugnisse dafür, dass Sensibilität bereits im Altertum ein beliebtes Diskussionsthema war und verschiedene Philosophen dazu angeregt wurden, über Temperamentsunterschiede und Sensibilität im Allgemeinen nachzudenken.

Wie konnte es dann geschehen, dass die Eigenschaft der Sensibilität über die Jahrhunderte hinweg so in Misskredit geraten ist, dass heutzutage fast jeder, der sich als sensibel bezeichnet, sofort als weniger belastbar eingestuft wird, obwohl in früheren Zeiten Sensibilität zum guten Ton gehörte?

In den letzten fünfzehn Jahren ist sehr viel über erhöhte Sensibilität geschrieben worden. Ich denke, es ist nicht nötig, noch ein beschreibendes Buch hinzuzufügen. Vielmehr möchte ich einen Schritt weitergehen und das Thema ausdehnen und vertiefen. Könnte es nicht sein, dass es eine Eigenschaft wie Sensibilität und damit verwandte Eigenschaften braucht, um gerade in der heutigen Zeit ein erfülltes Leben zu führen? Könnte nicht in der Veranlagung zur Hochsensibilität auch ein Versprechen liegen, etwas Sinnstiftendes zur Gesellschaft beizutragen? Es wäre doch denkbar, dass sensible Wahrnehmung und Reflexion in der heutigen Zeit ein wichtiger Faktor sein könnten, um ein Gegengewicht gegen den politischen »Rechtsruck« in der Welt zu bieten.

Wie kann es gelingen, sensibel und gleichzeitig durchsetzungsfähig zu sein? Ich verbinde damit die Hoffnung, nachfolgenden Generationen den Weg zu einem erfüllten und kraftvollen Leben zu ebnen, in dem sie erleben dürfen, dass sie in ihrer Empfindsamkeit wichtig sind für die Welt und für ihre Familien.

Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass, egal, wie Ihr Leben als hochsensibler Mensch bis jetzt verlaufen sein mag, es möglich ist, Zugang zu Ihrem eigentlichen Potenzial zu finden. Vielleicht hadern Sie noch mit Ihren Erfahrungen, die Sie als Kind machen mussten. Es ist aber auch möglich, dass Sie bereits damit im Reinen sind und nun nach Wegen suchen, um hochsensiblen Menschen – Kindern und Erwachsenen gleichermaßen – mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Vielleicht haben Sie auch schon einiges zum Thema Hochsensibilität gelesen und möchten sich tief greifender damit auseinandersetzen. Denkbar ist es aber auch, dass das Thema Empfindsamkeit für Sie eine Bedeutung hat, die Sie zwar unterschwellig immer schon gespürt, aber nie verstanden haben.

Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise – eine Reise, auf der ich mit Ihnen meine Gedanken und Erfahrungen teilen will, die über die Jahre in mir und aufgrund meiner Arbeit und meiner persönlichen Entwicklung gereift sind. Es ist ein persönliches Buch, das alle angeht. Denn was wäre, wenn jeder und jede von uns einmal ehrlich sein könnte und sein oder ihr authentisches Selbst zu zeigen wagte? Die Welt ist manchmal ein überwältigender und furchteinflößender Ort. Lassen Sie uns schauen, wie es gelingen kann, Inseln der Zuversicht, der Hoffnung und der Handlungsmöglichkeiten zu kreieren, mit allem, was Sie in sich zur Verfügung haben. Meine Überzeugung ist, dass jeder Mensch, ganz gleich, welche Ausgangslage er hat, mehr Kraft entwickeln kann, als ihm bis jetzt bewusst ist. Da ich diese Erfahrung auch in meinem Leben machen durfte, möchte ich Sie sehr gerne darin unterstützen, mehr Würde, Haltung und Freude in Ihrem Leben zu erfahren, sodass Sie aus dieser Fülle heraus etwas zur Gesellschaft beitragen können. Mit Gerald Hüther bin ich der Meinung, der sinngemäß schrieb, dass eine Eigenschaft oder menschliche Fähigkeit immer dann an Dominanz in einer Gesellschaft gewinnt, wenn diese sie auch braucht.

Es braucht beides, die Empfindsamen und die weniger Empfindsamen, um eine gesunde und vielfältige Gesellschaft zu gestalten. In einer Zeit, in der Menschen in Not im Mittelmeer ertrinken, während sich Politiker darüber streiten, ob und wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen sollen (und Häfen geschlossen werden), während die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, Mobbing, Ausgrenzung und Egoismus die Welt zu beherrschen scheinen und viele Menschen an fehlender Sicherheit leiden, braucht es empfindsame Menschen, die aus ihrer Kraft und Fülle heraus warmherzig und empathisch Einfluss nehmen und gangbare Lösungswege erarbeiten, im Kleinen wie im Großen.

Brigitte Küster

Altstätten, im Herbst 2019

Teil I: Auf Spurensuche

Ein Ausflug in die Geschichte der Sensibilität

Lange Zeit meines Lebens war ich der Meinung, dass mein Dasein nur mir selbst gehörte. Es begann bei meiner Geburt und würde eines – hoffentlich noch fernen – Tages mit mir enden. Erst in meinem reiferen Erwachsenenalter begann ich zu verstehen, dass ich in einer langen Ahnenreihe stehe, obwohl ich fast nichts über meine Familie weiß. Ich begann mich für Geschichte zu interessieren, denn ich bin überzeugt davon, dass wir nicht verstehen können, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen. Damit meine ich nicht, dass wir unseren Stammbaum bis in die hundertste Generation aufsagen können, sondern ein Gefühl des Eingebundenseins in geschichtliche Zusammenhänge. In allen Epochen existierten nämlich Menschen, von denen Sie abstammen, sonst wären Sie heute nicht hier.

Jeder von uns hat eine sehr lange Ahnenreihe – auch wenn wir nicht viel von unseren Vorfahren wissen. Und interessanterweise lassen sich auch Charaktereigenschaften oder Wesenszüge zurückverfolgen. Ich denke, dass die Geschichte der eigenen Empfindsamkeit sich bereichern lässt durch das Wissen darum, wie zu anderen Zeiten und in früheren Epochen über Empfindsamkeit und Sensibilität gedacht wurde.

Ich lade Sie also ein, einen kleinen Ausflug in die Geschichte mit mir zu unternehmen, schließlich habe ich Ihnen eine Reise versprochen – auf geht’s.

Sensibilität, Pflanzen, Tiere und mechanische Reizbarkeit

Als ich mich auf die Spurensuche nach der Sensibilität begab, bin ich reich beschenkt worden durch Menschen, die vor über zweitausend Jahren gelebt haben. Es ist ein tröstlicher Gedanke, in den überlieferten Schriften der griechischen und römischen Philosophen Hinweise darauf zu finden, wie man mit Empfindsamkeit umgehen soll, sodass sie einem nützt und nicht etwa im Wege steht. Die Weisheit in diesen Schriften, durch viel Lebenserfahrung und Nachdenken erworben, berührt mich tief. Marc Aurel zum Beispiel, römischer Kaiser und auch »kaiserlicher Philosoph« genannt, entwarf in seinen Selbstbetrachtungen folgendes Bild: Er verglich den Menschen mit einer Klippe, an der sich die Brandung bricht. Er ermutigte dazu, unerschüttert durchzuhalten, sich weder vom gegenwärtigen Unglück zerbrechen zu lassen noch Zukünftiges zu fürchten. Eine solche Situation sei kein Unglück, sondern eine Chance, Haltung zu zeigen, und damit ein Glücksfall.2

Klingt das nicht wie ein ermutigender Zuruf aus der Vergangenheit? Und ist dies nicht etwas, das vielen sensiblen Menschen heutzutage eine Richtung vorgeben kann, in die sie ihre Gedanken lenken können? Wir können davon ausgehen, dass ein römischer Kaiser zu Zeiten Marc Aurels schon aufgrund seiner Position viele Feinde hatte. Und trotz Lebensbedrohung und seines sicher schwierigen Jobs war er in der Lage, das Gute im Schlechten zu sehen, eine Haltung, die man durchaus üben kann. Marc Aurel gehörte zur Schule der Stoiker, die Denken und Handeln, nicht Schreiben und Reden, in den Vordergrund stellte.3 Es ist ein praktisch orientierter Ansatz, der heutigen Hochsensiblen einen Leitfaden bieten kann.

Ich finde es sehr interessant, dass im Altertum sehr viel über die Unterschiede zwischen den Menschen und über verschiedene Charaktere nachgedacht wurde, obwohl es speziell zur Sensibilität nicht viele schriftliche Belege gibt. Manchmal ist es einfach auch bemerkenswert, wenn etwas nicht erwähnt wird, wie zum Beispiel in den Charakteren von Theophrast. Er beschreibt darin menschliche Ausprägungen wie den ›Redseligen‹, den ›Gerüchtemacher‹, den ›Aufschneider‹, den ›Hochmütigen‹ und noch viele andere mehr, nicht aber den ›Sensiblen‹4. Gleichzeitig wurde aber in den privilegierten Gesellschaftsschichten Sensibilität, Nachdenklichkeit und Differenziertheit durchaus zelebriert. Es gehörte zum guten Ton, anlässlich von Gastmählern differenzierte Diskussionen über philosophische Fragen zu führen. Ein berühmtes Beispiel ist das Gastmahl zu Ehren des Dichters Agathon, bei dem unter anderem Sokrates seine bekannte Rede zur ursprünglichen Verfassung des Menschengeschlechts hielt.5 Bei solchen Gelegenheiten wurde empfindsame Rede sehr geschätzt und ihr ein fester Platz eingeräumt, während es bei anderen Gelegenheiten galt, nicht zu sensibel zu sein.

Schon vor über zweitausend Jahren galt es als wichtig, das Gegenüber in seinen grundlegenden charakterlichen Prägungen zu erkennen, damit der Umgang, die Lehrmethoden und das Verhalten darauf abgestimmt werden konnten. Die Grundidee mutet sehr modern an: Menschen unterscheiden sich in ihren Eigenschaften, und die Lehrmethoden und der Umgang müssen darauf abgestimmt sein, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Kommen wir wieder zur Empfindsamkeit zurück: Das Wissen um die Verschiedenheit der Temperamente galt durchaus nicht nur für den Menschen, sondern für alle Lebewesen. Es beschäftigten sich im Altertum kluge Köpfe ernsthaft mit der Frage, ob zum Beispiel Pflanzen Empfindsamkeit besitzen. Die Beobachtung, dass gewisse Pflanzen sich der Sonne zuneigen, sich morgens öffnen und mittags wieder schließen, war Anlass genug davon auszugehen, dass diese pflanzlichen Organismen über Empfindung verfügen müssten. Man vermutete, dass es dafür einen Sitz, ein Organ geben müsse, das diese Empfindung hervorrufen und steuern könne.

Theophrastos von Eresos (ca. 371 v. Chr. bis 287 v. Chr.) schließlich, Schüler des Aristoteles, griechischer Philosoph und Naturforscher, widerlegte diese Ansicht. Er behauptete, dass Empfindung ohne Bewusstsein nicht möglich sei und Pflanzen nicht über ein derartiges Bewusstsein verfügten. Er war der Meinung, dass allein Menschen zur Sensibilität fähig sind, weil sie als einzige Gattung der Lebewesen über ein Bewusstsein verfügen.

Außerdem unterschied er Sensibilität von einer, wie er es nannte, »mechanischen Reizbarkeit«6.

Heutzutage ist aber das, was unter Empfindsamkeit verstanden wird, auch bei über hundert Tierarten nachgewiesen worden.78910 Jeder Tierbesitzer, der in seinem Leben bereits mehrere Hunde oder Katzen betreut hat, wird wahrscheinlich bestätigen können, dass die Tiere jeweils einen ganz eigenen Charakter hatten. Es gibt Tiere, die lärmempfindlicher sind als andere, die eher scheu auf Menschen oder Artgenossen reagieren, die sich mehr »sichern« müssen, bevor sie an ihren Futternapf gehen, die mit Stresssymptomen auf Umzüge oder Ferienabwesenheiten ihrer Besitzer reagieren, während andere diese Umstände relativ gelassen und unbeschadet hinnehmen.

Die Stoiker im Altertum riefen zur Mäßigung in allen Dingen auf. Eine übermäßige Emotionalität galt als charakterliche und geistige Schwäche, der entgegengesteuert werden musste. Das rechte Maß zu finden ist für hochsensible Menschen tatsächlich ein wichtiges Ziel. Im täglichen Erleben scheinen sie allzu oft zwischen den Extremen hin- und hergerissen zu sein. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – dieses Sprichwort trifft oft auf sehr sensible Menschen zu. Aristoteles beobachtete dies unter seinen Zeitgenossen mit Sorge und legt in seiner Nikomachischen Ethik dar, dass die wahre Tugend in der Mitte zwischen zwei ungünstigen Extremen liege. Es gelte deshalb, nach dieser Mitte zu streben, alles Extreme zu vermeiden und so seinen Charakter zu bilden. Die Fähigkeit zur Mäßigung betrachtete er als etwas, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Mit der Unmäßigkeit sei derjenige unserer Sinne verbunden, der allen Tieren, aber nicht dem Menschen gemeinsam ist.11 Im dritten Teil dieses Buches werde ich noch einmal ausführlicher auf das »rechte Maß« zu sprechen kommen.

Halten wir fest: Das Wissen um die Verschiedenheit der Temperamente ist alt. Heute weiß man, dass eine hohe Empfindsamkeit in vielen Spezies vorkommt.

Es lohnt sich, die Schriften von Aristoteles, Marc Aurel, Platon und Theophrast zu lesen. Viele Denkansätze dieser Philosophen bieten Hilfestellungen zur Charakterformung und können für empfindsame Menschen eine gute Unterstützung sein.

Die »dunkle Epoche«, Minne und Hildegard von Bingen

Das Mittelalter ist ein faszinierender geschichtlicher Zeitraum. Dass sich viele Menschen von dieser Zeit angezogen fühlen, belegen die populären Mittelalterfeste, auf denen man in historischen Gewändern mittelalterliches Handwerk, Speisen und Turniere erleben kann, oder die unzähligen Historienromane, die in dieser Zeit angesiedelt sind. Die Epoche des Mittelalters, die einen Zeitraum zwischen 500 bis 1450 n. Chr. umfasste und eine Brücke schlug zwischen der Antike und der Neuzeit, wird trotzdem gerne auch als die »dunkle Epoche« voller Gewalt, Krieg, Brutalität und Krankheit bezeichnet. Tatsächlich waren humanistische Gelehrte des 15. und 16. Jahrhunderts der Ansicht, dass Kultur und Bildung der Antike im Mittelalter einem dramatischen Verfall ausgesetzt waren.12 Es stimmt schon: Diese tausend Jahre waren geprägt von Folter, Krieg und Pest. Aber darüber hinaus gab es auch institutionalisierte Bereiche, in denen Sensibilität ihren Platz hatte, zum Beispiel bei der Werbung um die Liebste. Es wurde dabei deutlich unterschieden zwischen niederer und hoher Minne. Die niedere Minne war ausgerichtet auf das Begehren und die körperliche Erfüllung der Liebenden, während die hohe Minne das Ideal der Anbetung verfolgte, ohne nach körperlicher Erfüllung zu streben. Diesem Ideal strebten vor allem Adlige und Ritter nach. Ritter trugen bei Turnieren die Farben ihrer Angebeteten, und es gab die Minnesänger, die in epischen Gesängen der Liebe huldigten. Man könnte zu der Ansicht gelangen, dass Sensibilität nur im Bereich der Beziehungen zwischen Mann und Frau gesellschaftlich akzeptiert wurde. Im Gegensatz dazu war der Alltag hart.

Die Bevölkerung war streng hierarchisch gegliedert. Die Landbevölkerung arbeitete hart auf den Feldern, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und die Abgaben an ihre Herren leisten zu können. Es blieb ihnen oftmals nicht viel zum Leben. Die meisten konnten weder lesen noch schreiben, und es war in ihren Lebensentwürfen nicht vorgesehen, dass sie eine höhere Bildung (in der damaligen Zeit hieß das, Latein zu lernen) bekamen oder anstrebten. Ein Bauernsohn wurde Bauer, der Sohn eines Schmieds erlernte das Handwerk von seinem Vater, die Töchter wurden mit den Söhnen anderer Bauern, Schmiede oder Müller verheiratet, jeder und jede füllte ihre Rolle so gut aus, wie er oder sie konnte. Es gab praktisch keine Möglichkeit, aus dem Leben, das durch die Geburt vorgezeichnet war, herauszutreten.

Trotz dieser gesellschaftlich determinierten Enge entstanden die ersten Universitäten Europas, und in den Klöstern wurde das geistige Erbe verwaltet und aufbewahrt. Bücher wurden in den Schreibstuben der Klöster kunstvoll von Hand kopiert, und Bibliotheken stellten einen wertvollen Schatz dar.

Hatten die Angehörigen der niederen Stände kaum Möglichkeiten, aus ihren vorgezeichneten Lebensbahnen auszubrechen, besaßen die Adligen und freien Bürger die Möglichkeit, sich durch die Überschreibung von Land und Besitz in ein Kloster einzukaufen und somit einen geistlichen Weg zu gehen. Oft wurde ein Kind in einer Familie schon bereits bei der Geburt zu diesem Weg bestimmt, so zum Beispiel auch Hildegard von Bingen (1098 bis 1178), die als zehntes Kind ihrer Eltern, Edelfreien, nach dem damals geltenden Grundsatz »ein Zehnter an Gott« dem kirchlichen Leben bestimmt wurde.13 Aus heutiger Sicht mag diese rigide Bestimmung des Lebens wie ein Gefängnis anmuten, aber in der damaligen Zeit waren die Klöster ein Sinnbild für Wohlstand und Gelehrsamkeit. So entwickelte sich Hildegard von Bingen auch zu einer Universalgelehrten, die eine umfangreiche Korrespondenz mit einflussreichen Persönlichkeiten führte, ein eigenes Kloster gründete, Bücher schrieb (die sie einem Schreiber diktierte, weil sie im Lateinischen nicht sattelfest genug war) und die heute als Kirchenlehrerin gilt. Außerdem beschäftigte sie sich mit der Heilwirkung von Pflanzen. Die Kräuterkunde der Hildegard von Bingen erlebt seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance. Ob sie wohl dieses Potenzial hätte entfalten können, wenn sie die Tochter eines Schmieds gewesen wäre?

Am Beispiel von Hildegard von Bingen lässt sich ablesen, welche Eigenschaften beziehungsweise Fähigkeiten ihr zu diesem Bekanntheitsgrad verholfen haben:

Die Fähigkeit, genau zu beobachten.Die Intelligenz, ihre Beobachtungen mit vorhandenen Theorien zu verknüpfen.Ihre Wissbegierde, die ihr half, Wissen aus dem Volk zusammenzutragen und sich weiterführend dazu eigene Gedanken zu machen.

Es sind Fähigkeiten, über die sehr sensible Menschen in der Regel verfügen und die auch die Philosophen des Altertums auszeichneten. Natürlich wäre es reine Spekulation anzunehmen, dass Hildegard von Bingen nach heutigen Maßstäben hochsensibel gewesen ist. Es liegt jedoch meines Erachtens auf der Hand, dass oben genannte Fähigkeiten sensiblen Menschen zu eigen sind, und sie sind notwendig, um das eigene Potenzial heben zu können.

Lassen Sie uns noch ein Stückchen weiter durch die Geschichte reisen, um genauer herauszuarbeiten, welche Fähigkeiten neben der Sensibilität nötig sind, um in Kontakt mit dem eigenen Potenzial zu kommen.

Renaissance, Leonardo und sieben Prinzipien

War das Mittelalter überwiegend geprägt von langen Strecken des Stillstands, geschah in der nun einsetzenden Renaissance ein gigantischer Aufbruch, der beinahe alle Lebensbereiche umfasste. Der Buchdruck wurde erfunden, und 1452–1454 erschien die Gutenberg-Bibel. Das war der Beginn einer Bildung, die für alle Schichten zugänglich war. Bücher wurden erschwinglich und standen somit auch ärmeren Bevölkerungsschichten zur Verfügung. Diese Epoche war geprägt von einer Wiederbelebung des Wissens und der kulturellen Leistungen des Altertums. Generell kann man diese Epoche zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert als eine Zeit des geistigen und kulturellen Erwachens bezeichnen.

Diese Zeit brachte besonders in Italien herausragende Künstler wie unter anderem Alberti, Donatello, Botticelli, Raffael oder Michelangelo hervor. Auch der deutsche Maler Albrecht Dürer und der Schriftsteller William Shakespeare gehören in diese Zeit.

Ein Künstler sticht vor allen anderen durch sein Werk hervor: Die Rede ist von Leonardo da Vinci. Er gilt auch heute noch als das größte Genie aller Zeiten. Dabei war ihm dieser Ruhm nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Er wurde 1452 als uneheliches Kind einer unstandesgemäßen Beziehung zwischen einer Bauerntochter und dem Notar Ser Piero geboren. Bereits ein Jahr nach seiner Geburt waren seine Eltern mit jeweils anderen Partnern verheiratet. Sein leiblicher Vater erkannte ihn aber als Sohn an, und Leonardo wuchs bei ihm auf. Da er aufgrund seiner Herkunft nicht für den Notarberuf infrage kam, früh aber schon eine künstlerische Begabung zeigte, trat er auf Vermittlung seines Vaters in die Werkstatt von Verrocchio, einem bekannten Florentiner Bildhauer, Maler und Goldschmied, ein. Verrocchio erkannte Leonardos Begabung und erteilte ihm, wie es damals üblich war, den Auftrag, Teile seiner Gemälde fertigzustellen. Ein besonders berühmtes Beispiel dafür ist die »Taufe Christi« (1472–1475). Bei diesem Gemälde malte Leonardo den Engel links im Bild. Eine Anekdote dazu: Als Verrocchio diesen Engel sah, soll er voll Erstaunen über dieses Meisterstück gewesen sein und fortan keinen Pinsel mehr angerührt haben.14

Als unehelichem Kind waren ihm die Universitäten verwehrt. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich das, was ihn interessierte, selbst anzueignen. Viel ist darüber gerätselt worden, was Leonardo da Vincis Genie ausmachte. Es gibt in neuerer Zeit Bemühungen, Leonardos Werden und Wirken zu verstehen. Für unser Thema Sensibilität und Potenzialentfaltung ist es von Bedeutung, dass wir die Prinzipien begreifen, aufgrund derer Leonardo sein Werk geschaffen hat. Es lassen sich tatsächlich sieben verschiedene Prinzipien aus Leonardos Leben ableiten, die für unsere heutige Zeit, in der so viel von Potenzialentfaltung die Rede ist, Bedeutung haben. Diese sind:

Neugier und WissbegierdeDas eigene Wissen überprüfen, ergänzen, anpassen und aus Fehlern lernenDie Sinne schärfenUnsicherheit und Verwirrung aushaltenKunst und Wissenschaft verbinden – ganzheitlich denkenFür den Körper sorgen – Anmut und Beweglichkeit pflegenAlles ist mit allem verbunden – Kohärenz bewirken

Um es vorweg zu sagen: Sensibilität alleine reicht oft nicht, um in die Kraft zu kommen und das eigene Potenzial ausschöpfen zu können. Leonardos Prinzipien stellen eine Möglichkeit dar, die Gesamtpersönlichkeit zu schulen und den eigentlichen Wesenskern zur Entfaltung zu bringen.

Schauen wir uns diese Prinzipien im Einzelnen und genauer an. Ich orientiere mich hierbei an dem Buch von Michael J. Gelb Das Leonardo-Prinzip, dem sie entnommen sind. Gleichzeitig unternehme ich den Versuch, diese Prinzipien in einen Zusammenhang mit Hochsensibilität zu bringen.

Neugier und Wissbegierde

Jeder Mensch ist von Natur aus neugierig. Denken Sie an kleine Kinder, die ihren Eltern buchstäblich Löcher in den Bauch fragen und sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufriedengeben. Jedes gesunde Kind zeigt großes Interesse an der Welt und möchte verstehen, wie etwas funktioniert und warum. Wir werden alle mit dieser Neugier auf das Leben geboren, bis sie uns dann im Laufe unserer Sozialisation verloren geht.

Leonardo da Vinci scheint ein Mensch gewesen zu sein, der sich diese Neugier ein Leben lang erhalten konnte. Er wurde nicht müde, sich Fragen zu stellen und den Dingen auf seine eigene Art und Weise auf den Grund zu gehen. Er nahm regen Anteil an der Welt und suchte nach Lösungen für die dringenden Fragen seiner Zeit. Damit war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Seine Entwürfe für Flugmaschinen können als Vorläufer des heutigen Helikopters bezeichnet werden. Er begnügte sich auch nicht damit, eine Pflanze nur aus einer Perspektive zu zeichnen, sondern fertigte mindestens drei Ansichten des Objektes an. Er zielte mit seiner Wissbegierde immer in die Tiefe und gab sich nicht leicht zufrieden.

Diese Art der unstillbaren Neugier, gepaart mit hoher Sensibilität, kann eine große Antriebskraft für das Leben sein. Ich würde Sie gerne dazu einladen, Ihre Neugier neu zu entdecken. Damit meine ich natürlich nicht die verpönte Art, Nachbarn hinterherzuspionieren oder seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Vielmehr ist damit gemeint, dass Sie sich wieder erlauben dürften, Fragen zu stellen wie folgende: Warum und wie funktioniert das? Was könnte man daran verbessern? Welche Gedanken stecken dahinter?

Bei meiner Arbeit mit hochsensiblen Menschen stelle ich immer wieder fest, dass so gut wie alle über diese Art von Wissbegierde verfügen. Sie möchten etwas in der Tiefe erfassen, ob es nun technische Details oder psychologische Mechanismen sind. Das Problem ist nur, dass sie sich eine solche Neugier nicht unbedingt selbst zugestehen. Dabei können, wenn man dieser Wissbegierde folgt, durchaus visionäre Impulse entstehen.

Beschränken Sie sich dabei nicht nur auf das Gebiet, das Sie am meisten interessiert, sondern beschäftigen Sie sich auch mit Bereichen, die Ihnen vielleicht nicht so liegen, sei es Mathematik, Technik oder Psychologie.

Ich möchte Sie vor allem auch dazu ermutigen, Ihre Fragen und Ihre Wissbegierde ernst zu nehmen und nicht daran zu zweifeln, dass Ihre Fragen einen Wert haben, der Sie weiterbringen kann. Beschäftigen Sie sich mit Geschichte, vielleicht mit bestimmten Epochen, denn wir sind alle aus der Geschichte heraus entstanden und unser heutiges Leben ist nicht in Gänze zu verstehen ohne das Bewusstsein für geschichtliche Hintergründe.

Sie sagen, dass Sie dazu keine Zeit haben? Nun, dann räumen Sie sich einen gewissen Zeitraum in Ihrer Agenda für die Neugier und die Beschäftigung mit Ihren Fragen ein. Es gibt genug Zeit für die Dinge, die uns wichtig sind. Manchmal müssen wir bloß die Prioritäten überdenken. Bei der wissbegierigen Neugier geht es aber nicht nur darum, die Dinge im außen – in der Welt und der Gesellschaft – zu verstehen, sondern die Wissbegierde darf sich durchaus auch nach innen richten.

Folgende Fragen sollen Sie dazu inspirieren, die wissbegierige Neugier zu pflegen:

Wissen Sie, wie es sich anfühlt, ganz bei sich zu sein? Versuchen Sie, diesen Zustand zu beschreiben.Überprüfen Sie Ihre Gewohnheiten: Welche behindern die Entfaltung Ihrer Lebensqualität, welche befördern sie?Was können Sie am besten?Gibt es Menschen, die Sie beeindrucken? Wenn ja, weshalb?Was können Sie zum Wohl anderer Menschen und/oder der Gesellschaft im Allgemeinen tun?Was sind Ihre tiefsten Bedürfnisse?Wofür können Sie dankbar sein?Woran soll man sich erinnern, wenn Sie nicht mehr da sind?

Diese Fragen sollen Ihnen ermöglichen, neugierig auf sich selbst zu werden, auf die eigene Wirkung und auf das, was in Ihnen steckt. Zugegeben, sie sind teilweise nicht einfach zu beantworten. Für manche sollten Sie Feedback aus Ihrem Umfeld einholen. Beginnen Sie mit den Menschen, die Ihnen wohlwollend gesonnen sind. Und machen Sie sich jederzeit bewusst, dass jegliches Feedback nur ein Puzzleteil Ihrer Ausstrahlung darstellt und nie das Ganze abbildet. Werden Sie neugierig auf sich selbst und auf Ihre Möglichkeiten. Versuchen Sie dann, diese Neugier als Inspirationsquelle und Antriebskraft zu behalten, die Sie in Ihrer Entwicklung voranbringen wird.

Durch Ihre Wissbegierde gepaart mit Ihrer Sensibilität werden Sie fähig sein, sich mit Themen intensiv zu beschäftigen. Dadurch gelangen Sie zu einer tiefen Erfüllung und können andere Menschen inspirieren.

Mir sind in meiner Arbeit sehr oft hochsensible Menschen begegnet, die geradezu darunter gelitten haben, dass sie so viele Interessen haben. Da bilden sich Hunderte von Papierstapeln (oder elektronischen Dokumenten) zu unterschiedlichen Themen, Projektordner werden angelegt und Notizbücher angefangen. Selbstverständlich ist unsere heutige Zeit von einer viel größeren Informationsflut geprägt, als es die Zeit Leonardos war. Unsere heutige Herausforderung besteht darin, sich nicht zu verzetteln, sondern einem Bereich oder Thema für einen bestimmten Zeitraum den Vorrang zu geben.

Wie Sie schon merken, sind Sie als sensibler Mensch dazu aufgerufen, verschiedene Spannungsfelder auszuhalten: das zwischen Wissbegierde und Verzettelung in zu vielen Themen, das Spannungsfeld, Prioritäten zu setzen, obwohl doch alles gleich interessant und vielversprechend wirkt, und schließlich das Spannungsfeld zwischen der Zeit, die Sie zur Verfügung haben und den zeitlichen Anforderungen der verschiedenen Lebensbereiche, die nicht immer zulassen werden, dass Sie sich ausschließlich mit Ihren Interessensgebieten beschäftigen.

Mir erscheint es sinnvoll, dass Sie sich, sollten Sie sich in diesen Beschreibungen wiederfinden, einmal probeweise einen Wochenplan erstellen, in dem Sie die Zeiten markieren, die Sie für bestimmte Lebensbereiche aufwenden. Zeit ist ein kostbares Gut, und jeder scheint zu wenig davon zu haben. Ich denke, dass es deswegen sinnvoll ist, sich darüber bewusst zu werden, wofür man seine Zeit ausgibt. Erst durch die Erkenntnis darüber kann man auch Korrekturen vornehmen.

Und letztlich möchte ich Sie dazu einladen, sich an Ihrer Neugier und Ihrer Wissbegierde zu freuen, auch wenn das heißt, dass Sie ständig angefangene Projekte irgendwo herumliegen haben und die Themenstapel kein Ende nehmen. Fühlen Sie sich gut aufgehoben in der Tradition Leonardo da Vincis und vergleichen Sie sich nicht mit denjenigen, die ihre Neugier verloren haben.

Das eigene Wissen überprüfen, ergänzen, anpassen und aus Fehlern lernen

Leonardo da Vinci genoss eine praxis- und erfahrungsbasierte Ausbildung. In der Werkstatt Verrocchios lernte er, Farben anzumischen und Leinwände vorzubereiten. Er wurde mit der Perspektive vertraut gemacht, und hinzu kamen noch Beobachtungen zu Pflanzen und anatomische Studien zu Menschen. Sein Leben lang war Leonardo ein Verfechter des Erfahrungswissens und weniger der Theorie. Aufgrund seiner Intelligenz überprüfte er aber auch regelmäßig seine Erfahrungen und hinterfragte sie. Er suchte deswegen den Kontakt zu namhaften Gelehrten seiner Zeit und diskutierte mit ihnen seine Beobachtungen. Er war ein selbstbewusster Autodidakt, der ohne Universitätsstudium mit großen Männern seiner Zeit Umgang pflegte. Sein Leben lang betrachtete er sich als discepolo dell’esperienza, einen Schüler der Erfahrung: Er lehnte jene Wissenschaften ab, die nicht auf Erfahrungswissen fußten, und befürwortete die der Erfahrung aus erster Hand, die durch einen der fünf Sinne vermittelt wird.15

In diesem Prinzip wird eine Unabhängigkeit des Geistes deutlich, wie sie auch sehr vielen hochsensiblen Menschen eigen ist. Sie hinterfragen gern, oft und viel, stellen Autoritäten infrage und sind häufig Wahrheitssucher im besten Sinne des Wortes. Sie spüren sehr genau, wenn sich etwas »richtig« oder »stimmig« anfühlt und eben auch, wenn es sich nicht so verhält.