Hochsensible Menschen im Coaching - Ulrike Hensel - E-Book

Hochsensible Menschen im Coaching E-Book

Ulrike Hensel

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Beschreibung

Wie erkennt man als Coach, ob ein Klient hochsensibel ist? Welche Besonderheiten bringt ein hochsensibler Coachee mit? Circa 20 Prozent der Menschen gehören zu den hochsensiblen Personen (HSP), die ausgesprochen fein wahrnehmen, gründlich nachdenken und intensiv fühlen. Aufgrund ihrer von der Mehrheit abweichenden empfindsamen und empfindlichen Wesensart stehen sie vor einer Vielzahl von Herausforderungen und suchen entsprechend oft Unterstützung und Orientierung in einem Coaching. Das Phänomen Hochsensibilität wird im Buch umfassend erläutert und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Auswirkungen dargestellt. Die Anforderungen von HSP an den Coach und an das Coaching werden ebenso beleuchtet wie ihre typischen Anliegen und Lebensfragen. Coaches erfahren, wie sie HSP erkennen, wie sie sich bestmöglich auf sie einstellen und sie effektiv unterstützen können. Jeder Coach hat es in seiner Praxis – je nach Ausrichtung mehr oder weniger häufig – unter anderem mit HSP zu tun. Grund genug, sich ein Rüstzeug für eine adäquate Begleitung von HSP zuzulegen, selbst wenn keine Spezialisierung auf diese Zielgruppe beabsichtigt ist.

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Seitenzahl: 393

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Über dieses Buch

Etwa 20 Prozent der Menschen gehören zu den hochsensiblen Personen (HSP), die ausgesprochen fein wahrnehmen, gründlich nachdenken und intensiv fühlen. Aufgrund ihrer Wesensart stehen sie vor einer Vielzahl von Herausforderungen und suchen entsprechend oft Unterstützung und Orientierung in einem Coaching.

Das Phänomen Hochsensibilität wird in diesem Buch umfassend erläutert und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Auswirkungen dargestellt. Ulrike Hensel beleuchtet die Anforderungen von HSP an den Coach und an das Coaching ebenso wie deren typische Anliegen und Lebensfragen. Coaches erfahren, wie sie HSP erkennen, wie sie sich bestmöglich auf sie einstellen und sie effektiv unterstützen können.

Ulrike Hensel arbeitet als selbstständiger Coach für Hochsensible in Aidlingen. Ihre eigene Lebenserfahrung als hochsensibler Mensch und ihre langjährige Auseinandersetzung mit Hochsensibilität machen sie zu einer Expertin auf diesem Gebiet.http://coaching-fuer-hochsensible.de

Ulrike HenselHochsensible Menschen im CoachingWas sie ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2015

Coverfoto: © Ulrike Hensel

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2015

Satz & Digitalisierung: satz&sonders GmbH, Münster

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-416-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-453-6 (EPUB), 978-3-95571-454-3 (MOBI), 978-3-95571-455-0 (PDF).

Inhaltsverzeichnis

Einstieg

1. Was HSP ausmacht

1.1 Wahrnehmung mit einem hohen Maß an Sensibilität

1.1.1 Sensibilität

1.1.2 Das Nervensystem

1.1.3 Aus Sinneseindrücken wird Wahrnehmung

1.1.4 Die Sache mit den Wahrnehmungsfiltern

1.1.5 Die hochsensible Art des Wahrnehmens

1.2 Die Geschichte von „High Sensitivity“ und Begriffsklärungen

1.2.1 Elaine Aron als Urheberin des Konzepts „High Sensitivity“

1.2.2 Definition – eine Annäherung

1.2.3 Verwirrende Begriffsvielfalt

1.3 Das Konzept Hochsensibilität: Grundlagen und Forschungsergebnisse

1.3.1 Vorausgehende relevante Erkenntnisse

1.3.2 Parallele zu Tierverhaltensforschung

1.3.3 Studien zu

Sensory Processing Sensitivity

1.3.4 Wissenschaftliche Erklärungsansätze

1.4 Hochsensibilität feststellen

1.4.1 Die Begrenztheit von Tests

1.4.2 Die 27 Fragen von Elaine Aron

1.4.3 Vier Indikatoren nach Elaine Aron

1.4.4 Ein Fragenkatalog, der Aufschluss gibt

1.4.5 Erworbene hohe Empfindlichkeit

1.5 Verschiedenheiten in der Persönlichkeit von HSP

1.5.1 Männer

1.5.2 Extrovertierte

1.5.3 Sensation Seeker

1.5.4 „Scanner“

1.5.5 Hochbegabte

2. Was HSP im Coaching brauchen

2.1 Eine Anpassung des Coachings auf hochsensible Bedürfnisse

2.1.1 Wenn der Coach selbst HSP ist

2.1.2 Wenn der Coach selbst nicht HSP ist

2.1.3 HSP-‍gerechte Umgebungsbedingungen

2.1.4 Sich einstellen auf verschiedene Aspekte des Hochsensibelseins

2.2 Eine differenzierte Aufklärung und Reflexion über Hochsensibilität

2.2.1 Erleichterung nach der Erkenntnis

2.2.2 Zurechtrücken des Selbstbilds

2.2.3 Hochsensible Männer und Frauen

2.3 Einen kompetenten Coach

2.3.1 Was kann Coaching leisten?

2.3.2 Was ist gutes Coaching?

2.3.3 Was macht einen guten Coach aus?

2.3.4 Risiken und Nebenwirkungen für Coachee und Coach

2.4 Einen Coach mit förderlichen Grundhaltungen

2.4.1 Klientenzentrierte Gesprächsführung – Carl R. Rogers

2.4.2 Kommunikationssperren – Thomas Gordon

2.4.3 Beziehungsprinzip Unbedingte Wertschätzung – Carl R. Rogers

2.4.4 Beziehungsprinzip Empathisches Verstehen – Carl R. Rogers

2.4.5 Beziehungsprinzip Kongruenz (Authentizität) – Carl R. Rogers

2.4.6 Gewaltfreie Kommunikation – Marshall B. Rosenberg

2.5 Einen kundigen, verantwortungsvollen Coach

2.5.1 Abgrenzung von Coaching und Therapie

2.5.2 Hochsensibilität und psychische Störungen

2.5.3 Ein Blick auf Angststörungen

2.5.4 Ein Blick auf Affektive Störungen

2.5.5 Ein Blick auf das Burnout-‌Syndrom (keine medizinische Diagnose)

2.5.6 Ein Blick auf Persönlichkeitsstörungen

2.5.7 Ein Blick auf Störungen, die schon in der Kindheit festgestellt werden

3. Was HSP bewegt

3.1 Sich als HSP entdecken und dann?

3.1.1 Entwicklung als HSP

3.1.2 Die 8 Entwicklungsschritte im Einzelnen

3.1.3 Die Sache mit dem Selbstwertgefühl

3.2 Wie Stärken nutzen? Wie mit Schwächen umgehen?

3.2.1 Licht und Schatten im Zusammenhang mit der feinen Wahrnehmung

3.2.2 Licht und Schatten im Zusammenhang mit dem tiefen Denken

3.2.3 Licht und Schatten im Zusammenhang mit dem intensiven Fühlen

3.2.4 Schwächen begreifen als des Guten zu viel

3.3 Wie sein Leben gestalten? Welche Tätigkeit ausüben?

3.3.1 Die herausragende Bedeutung von Beziehungen

3.3.2 HSP in Beziehungen

3.3.3 Ziel: Ein Leben in Balance

3.3.4 Aspekte der Berufstätigkeit

3.4 Wie im grünen Bereich bleiben? Wie Übererregung vermeiden?

3.4.1 Was zu Überreizung führt

3.4.2 Wissenswerte Theorie

3.4.3 Nicht zu viel und nicht zu wenig Stimulation

3.4.4 Anzeichen von Übererregung ernst nehmen

3.4.5 Unterstützung und Begleitung im Coaching

3.4.6 Praxis-‌Tipps zur Regeneration

3.4.7 Wichtiges Regulativ: Alleinzeit

3.5 Wie für sich eintreten? Wie sich abgrenzen?

3.5.1 Die Kunst, (k)ein Egoist zu sein

3.5.2 Abgrenzung gepaart mit Hilfsbereitschaft

3.5.3 Ängste im Zusammenhang mit Abgrenzung

3.5.4 Ein Nein überzeugend mitteilen

3.5.5 Meine Grenzen – deine Grenzen

3.5.6 Bildliche Vorstellungen von Grenzen

3.5.7 Gelebte innere und äußere Abgrenzung

Schluss

Literatur

Anmerkungen

Einstieg

„Verachtet niemandes Empfindlichkeit. Das Empfindungsvermögen eines Menschen ist sein Genie.“

Charles-‌Pierre Baudelaire, französischer Schriftsteller (1821–1867)

In diesem Buch geht es um eine bestimmte Gruppe von Menschen: um hochsensible Menschen. Und es geht darum, wie sie im Coaching geeignete Begleitung und Unterstützung erfahren können. Ich habe mir viel vorgenommen. Ich will Ihnen das Phänomen Hochsensibilität in seinem Facettenreichtum näherbringen, auch häufige Missverständnisse aufklären und Fehlannahmen zurechtrücken, Ihnen jedenfalls ein tiefes Verständnis für Hochsensible ermöglichen, Ihnen umfassend vermitteln: was sie ausmacht (Kapitel 1). Ich will Ihnen aufzeigen, wie Sie sich als Coach auf Hochsensible einstellen und wie Sie ihnen in ihrer Individualität gerecht werden können, andersherum gesagt: was sie im Coaching brauchen (Kapitel 2). Und ich will Ihnen einen Einblick geben in die Schlüsselthemen und Lebensfragen, mit denen sich Hochsensible beschäftigen (fast hätte ich gesagt „herumschlagen“), und wie sie in ihrer persönlichen Entwicklung – auch durch die Unterstützung im Coaching! – weiterkommen können, mit anderen Worten: was sie bewegt (Kapitel 3).

Ich spreche mit diesem Buch ausgebildete und angehende Coaches an, sowohl solche, die selbst hochsensibel sind, als auch solche, die es nicht sind, Coaches mit jedwedem Ausbildungshintergrund und jedwedem Coachingansatz. Dieses Buch vermittelt keine Coaching-‌Methoden und nur sehr bedingt allgemeines Coaching-‌Know-‌how. Die Inhalte können ebenfalls nützlich sein für Trainer und Berater sowie für Personen, die im psychosozialen Bereich tätig sind. Sie alle treffen naturgemäß immer wieder auch auf Hochsensible und profitieren davon, wenn sie Anhaltspunkte für den adäquaten Umgang mit ihnen haben.

Für den Bereich der Therapie gibt es seit 2014 die Übersetzung von Elaine Arons Buch Psychotherapy and the Highly Sensitive Person: Hochsensible Menschen in der Psychotherapie1, ein Buch, das ich sehr empfehle – auch Ihnen als Coach. Denn vieles daraus kann gut aufs Coaching übertragen werden, weshalb ich auch verschiedentlich daraus zitiere. (Selbst wenn Sie das Aron-‌Buch nicht ganz lesen möchten, empfehle ich doch zumindest die Lektüre von Kapitel 1 und 2 und Anhang A, B und C.)

Während des Schreibens dachte ich mehrfach: Eigentlich schade, dass sich mein neues Buch nur an Coaches richtet. Gerade das erste und das dritte Kapitel wären sicherlich in weiten Teilen auch von Nutzen für Hochsensible selbst. Sollten Sie also kein Coach sein, sondern ein am Thema Hochsensibilität interessierter Mensch, hochsensibel oder nicht, legen Sie das Buch nicht weg! Sie werden Aufschlussreiches finden und Passendes für sich herauslesen. Es ist ja so: „Bei jeder Lektüre antwortet der Lesende mit seiner bewussten oder unbewussten Biographie auf das, was er liest.“ (Martin Walser, * 1927)

Ich kann in mehrfacher Hinsicht als Expertin für Hochsensibilität gelten. Seit fast 60 Jahren lebe ich als hochsensibler Mensch, habe mit dieser Wesensart zurechtkommen müssen und mich dabei oftmals sehr schwergetan, denn 50 Jahre lang hatte ich für die Besonderheit meines Wesens keine Bezeichnung, keine Erklärung und auch keine „Gebrauchsanleitung“. Seit nunmehr zehn Jahren weiß ich um den Terminus Hochsensibilität. Die Erkenntnis, dass ich zur Gruppe der Hochsensiblen gehöre, war für mich eine riesige Erleichterung, ja, ich kann sagen, sie bedeutete eine Wende in meinem Leben – zum Positiven! Seitdem setze ich mich intensiv mit dem Thema auseinander, einmal mehr in der Recherchearbeit für meine beiden Bücher, und verbinde es mit dem, was ich sonst noch weiß und kann.

Seit ungefähr fünf Jahren arbeite ich – neben meiner selbstständigen Tätigkeit als Lektorin und Textcoach – als Coach für Hochsensible. Außer in den Coachings erlebe ich hochsensible Menschen in Workshops und in Gesprächskreisen, bei Gruppenleitertreffen, in kollegialen Begegnungen und im Austausch via Mail und Chat. Mittlerweile zählen einige von ihnen zu meinem Freundeskreis. Wie unterschiedlich all diese Menschen sind! Und doch gibt es den gemeinsamen Nenner Hochsensibilität und lassen sich begründete typisierende Aussagen treffen.

„Hochsensible Menschen“ oder auch nur „Hochsensible“ – in meinem ersten Buch Mit viel Feingefühl. Hochsensibilität verstehen und wertschätzen2 habe ich die Worte immer ausgeschrieben, weil ich eigentlich kein Freund von Abkürzungen bin. Diesen Widerstand habe ich zugunsten der Kürze und besseren Handhabbarkeit aufgegeben. Hier nutze ich HSP als gängige Abkürzung für „Highly Sensitive Person“ bzw. „Hochsensible Person“, in der Einzahl und in der Mehrzahl. Und gleich noch mehr zum Sprachgebrauch in diesem Buch: Solange nicht ausdrücklich in einer Aussage das Geschlecht eine Rolle spielt, verwende ich durchweg der Sprachkonvention folgend die grammatisch männliche oder weibliche Form (je nach Wort) für beiderlei Geschlecht. Also sind „der Coach“ und „der Coachee“ zugleich der männliche und der weibliche Coach bzw. Coachee und „die HSP“ ist zugleich die hochsensible Frau und der hochsensible Mann.

HSP haben in ihrem Leben vielfach Abwertungen und Unverständnis erfahren. Sie wurden als Sensibelchen, Mimose, Angsthase, Heulsuse, Prinzessin auf der Erbse usw. usw. bezeichnet und bekamen zuhauf Sätze zu hören wie: „Stell dich nicht so an“, „Du bist viel zu empfindlich!“, „Was hast du jetzt schon wieder?“, „Leg dir doch einfach ein dickeres Fell zu“. Darunter haben sie gelitten. Nun soll es ihnen nicht auch noch im Coaching so gehen, dass sie auf Unverständnis stoßen, verkannt, mit ihren Anliegen nicht ernst genommen und auf unpassende Ziele hin getrimmt werden.

Mit Ihnen als Coach wird das HSP nicht passieren, denn Sie haben sich dem Thema Hochsensibilität zugewandt und sind dabei, sich damit noch vertrauter zu machen. Das gründliche Verständnis des Konzepts Hochsensibilität ist in meinen Augen eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltig hilfreiche Coaching-‌Arbeit mit hochsensiblen Coachees. Und es ist ein Gütemerkmal, das Sie als Coach auszeichnet und von „unkundigen“ Coaches in positiver Weise abhebt. Sie sind mit Ihrem Wissen ein Gewinn für Ihre Coachees. Umgekehrt werden Sie die Freude haben, zu erleben, wie gut es Ihren hochsensiblen Coachees tut, in ihrem besonderen Sosein verstanden und angenommen zu werden.

Vielleicht werden manche Ihrer Coachees überhaupt erst durch Sie darauf gebracht, sich als HSP zu erkennen, und haben somit die Chance, sich selbst und andere besser zu verstehen, ihr Leben zunehmend ihrem Wesen gemäß zu gestalten, besser mit den schwierigen Seiten der Hochsensibilität umgehen zu lernen, mehr von den bereichernden Seiten zu profitieren, sich verstärkt mit ihren Gaben und Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen, mehr inneren Frieden zu finden und mehr im Frieden mit anderen zu leben.

Auch bei Coachinganliegen, die nicht offensichtlich mit Hochsensibilität zusammenhängen, können Sie als Coach die Hochsensibilität mit ihren Licht- und Schattenseiten mit im Blick behalten. Sind die angedachten Lösungsstrategien stimmig für eine HSP? Werden die hochsensiblen Potenziale ausgeschöpft? Werden vorhersehbare Belastungen weitgehend vermieden?

Die Welt ist nicht für HSP gemacht, das kann man wohl mit Fug und Recht sagen. Da möchte mancher Hochsensible es Pippi Langstrumpf gleichtun und sich die Welt am liebsten so machen, wie sie ihm gefällt. Da das ganz so spielerisch leicht dann doch nicht geht, suchen nicht wenige HSP Unterstützung in einem Coaching, um besser mit sich und dem Rest der Welt zurechtzukommen.

Elaine Arons Buch Hochsensible Menschen in der Psychotherapie hat im Original den Untertitel „Improving Outcomes for That Minority of People Who Are the Majority of Clients“ („Bessere Ergebnisse für jene Minderheit, die die Mehrzahl der Klienten darstellt“). Ich gehe davon aus, dass nicht nur unter den Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, der Anteil der Hochsensiblen weitaus höher ist (Aron nennt keine Zahlen), als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht (15–20 %), sondern dass das in ähnlicher Weise auch für Coaching-‌Interessenten gilt.

Die Erklärung dafür, dass HSP sich mehr als andere helfen lassen, könnte man darin vermuten, dass HSP einfach nicht so gut allein mit den Herausforderungen des Lebens zurechtkommen. Das scheint mir aber nur teilweise zutreffend. Vermutlich gibt es noch eine andere Erklärung: Da HSP gründlicher über alles nachdenken, sich selbst mehr reflektieren und ihre Beziehungen zu anderen mehr hinterfragen, wird ihnen tendenziell eher als Nicht-HSP ein Coaching-‌Bedarf bewusst. Sie kommen in der Folge eher als andere auf die Idee, sich Nützliches außerhalb des ihnen aktuell zugänglichen Denkrahmens zu erschließen, fachkundige Beratung und Begleitung in Anspruch zu nehmen.

Es ist mir ein Anliegen, das Thema Hochsensibilität nicht isoliert zu behandeln, sondern mit allgemein menschlichen Themen zu verknüpfen (zum Beispiel: die Bedeutung von Beziehungen). Letztlich sind HSP eben auch nur Menschen! So wesentlich die Erkenntnis über die eigene Hochsensibilität sein mag, so wenig reicht sie aus, um ein zufriedenes und glückliches Leben zu führen. Dazu braucht es insbesondere auch ein Händchen für Kommunikation und eine beziehungsförderliche, friedfertige Haltung. Ich sage: Selbstfindung ist nur die halbe Miete, Beziehungsgestaltung die andere Hälfte. Diesen Blickwinkel werden Sie im gesamten Buch wiederfinden, denn dafür möchte ich sensibilisieren.

Schon immer war ich wissbegierig, bestrebt zu verstehen und dazuzulernen, Zusammenhänge herzustellen. Vielleicht gelingt es mir, Sie mit meiner Begeisterung für Querverbindungen ein wenig anzustecken! Sie werden feststellen, ich bin ein sehr lesefreudiger Mensch und finde da und dort Gedanken, die mir für mein Buchthema relevant erscheinen und die ich deshalb einfüge. Es würde uferlos werden, wäre der Gesamtumfang des Buches nicht begrenzt! Also gebe ich hie und da Tipps zum Weiterlesen, die selbstverständlich ganz subjektiv ausgewählt sind und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Denken und forschen Sie immer weiter und seien Sie skeptisch!

Schon seit Längerem wartet folgendes Zitat darauf, hier am Ende meiner Einleitung zu diesem Buch eingebaut zu werden:

„Wir müssen unbedingt Raum für Zweifel lassen, sonst gibt es keinen Fortschritt, kein Dazulernen. Man kann nichts Neues herausfinden, wenn man nicht vorher eine Frage stellt. Und um zu fragen, bedarf es des Zweifelns.“

Richard P. Feynman, amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger (1918–1988)

Ulrike Hensel Aidlingen, im April 2015

1. Was HSP ausmacht

Sie als Coach brauchen meines Erachtens schon deshalb fundierte und möglichst umfassende Informationen zur Hochsensibilität, weil Sie es ganz sicher oft mit Coachees zu tun haben, die selbst schon viel zum Thema gehört und gelesen und sich darüber Wissen angeeignet haben. Als wie zuverlässig dieses Wissen gelten kann, hängt von den Informationsquellen Ihrer Coachees ab. So, wie ich es mitbekomme, kursieren unter anderem auch etliche Halbwahrheiten und verschiedenartig ideologisch gefärbte Ansichten. Deren Einfluss zu erkennen und gegebenenfalls auch anzusprechen sowie etwaige Fehlannahmen zurechtzurücken, sehe ich als eine der Aufgaben eines Coachs – natürlich insbesondere dann, wenn er sich auf HSP spezialisiert. In jedem Fall halte ich es für hilfreich, wenn der Coach in der Lage ist, zu einer „vernünftigen“ Aufklärung beizutragen und mögliche Fragen seiner Coachees „sachdienlich“ zu beantworten bzw. Hinweise zu geben, wo profunde Antworten zu finden sind. Seien Sie sich bewusst: Die Phase, in der sich jemand als hochsensibel erkennt, ist eine Phase des Umbruchs und Umdenkens. In welche Richtung sich das Selbstbild, das Bild von den Mitmenschen und das Bild von den persönlichen Beziehungen wandeln, hängt sehr davon ab, welcher Input aufgenommen wird und welche Sichtweisen und Interpretationen somit in das eigene Denken integriert werden.

Die knapp gehaltene Überschrift „Was HSP ausmacht“ möchte ich unbedingt gleich zu Anfang relativieren, um einem Schubladendenken und allzu klischeehaften Vorstellungen keinen Vorschub zu leisten. Niemand ist mit dem Merkmal Hochsensibilität auch nur annähernd vollständig charakterisiert und niemand sollte auf dieses Merkmal reduziert werden. Wann immer ich pauschal über „die hochsensiblen Menschen“ spreche, nehme ich eine eigentlich unzulässige Verallgemeinerung vor. Denn jeder Mensch und ebenso jeder hochsensible Mensch ist in erster Linie eine ganz einzigartige Persönlichkeit – ein Original. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, werde ich an vielen Stellen die Wörter „häufig“, „meist“, „in der Regel“ usw. einbauen. Wo derartige Einschränkungen zugunsten eines flüssigeren Schreibstils und einer prägnanteren Aussage weggelassen wurden, denken Sie sie sich bitte hinzu.

Natürlich kann man nicht alle HSP über einen Kamm scheren! Das Merkmal Hochsensibilität ist zwar ein grundlegendes Wesensmerkmal, aber dennoch nur eine von vielen Charaktereigenschaften, die die individuelle Persönlichkeit formen. Zudem haben neben der Veranlagung die gesamte Lebensgeschichte, die Lebensumstände und die Lebensführung des Einzelnen Einfluss auf die Ausprägung der Hochsensibilität; Hochsensibilität kann sich dadurch verstärken oder abschwächen – wohlgemerkt nicht aber verschwinden. Trotz aller Unterschiede und Varianten gibt es jedoch unter den Menschen, die zur Gruppe der Hochsensiblen gehören, so viele Gemeinsamkeiten, dass sinnvoll „Typisches“ beschrieben werden kann.

Den Zusammenhang zwischen der Einzigartigkeit, der Originalität und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus fand ich vortreff­‌lich dargelegt im Buch Vom Typ zum Original des Existenzanalytikers Uwe Böschemeyer: „Ein Original ist etwas Ursprüngliches, etwas Echtes. Ein Original gibt es kein zweites Mal. […] Ein Typ ist kein Original. Ein Typ ist eine Struktur, die nicht nur einmal, sondern viele Male in Erscheinung tritt. Menschen sind Originale, weil in der Tat keiner dem anderen gleicht. Doch Menschen sind auch Typen. Sie haben Eigenschaften und Verhaltensweisen, die auch an anderen zum Vorschein kommen.“3

1.1 Wahrnehmung mit einem hohen Maß an Sensibilität

Bevor ich über Hochsensibilität spreche, scheint es mir angezeigt, zunächst auf Sensibilität zu schauen, also bei einer Gemeinsamkeit zwischen allen Menschen zu beginnen. Dass Hochsensibilität auf eine besondere Beschaffenheit des Nervensystems zurückzuführen ist und sich durch eine besondere Art der Wahrnehmung auszeichnet, scheint mir Grund genug, des Weiteren einen näheren Blick darauf zu werfen, wie Nervensystem, Sinnesorgane und Wahrnehmung überhaupt funktionieren. Meiner Ansicht nach ermöglicht das ein besseres Verständnis für die Besonderheiten bei Hochsensiblen.

Bei der Fülle der bahnbrechenden Erkenntnisse der modernen Neurobiologie möchte man annehmen, dass die Funktionsweise des Nervensystems mittlerweile vollständig erforscht sei. In Wahrheit ist vieles bisher nur teilweise entschlüsselt, Annahmen werden ständig korrigiert und erweitert. Diesen Hinweis in einem TV-‍Interview ausgerechnet aus dem Munde des für seine Arbeiten zur Bewusstseinsforschung bekannten Neurowissenschaftlers António Damásio zu hören, erstaunte mich. Aber so ist es wohl: Je mehr man sich mit einer Materie auskennt, desto besser weiß man um die Grenzen des Wissens.

1.1.1 Sensibilität

Der Begriff Sensibilität wird im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl für die psychische als auch für die physische Sensibilität verwendet; beides hängt auch zusammen. In der psychologischen Bedeutung bezeichnet Sensibilität einerseits die emotionale Verletzlichkeit, andererseits die zur emotionalen Intelligenz gehörende soziale Fähigkeit, anderen Menschen empathisch und feinfühlig zu begegnen.

Dem allgemeinen Lexikonwissen zufolge ist Sensibilität in der physiologischen Bedeutung die Fähigkeit des Körpers, mithilfe von einzelnen oder in Organen zusammengefassten Sinneszellen unterschiedliche Reize wahrzunehmen. Etwas ausführlicher lässt sie sich auch als die Fähigkeit des Nervensystems, adäquate Reize aufzunehmen und in Form einer Wahrnehmung/‌Empfindung zu interpretieren bzw. in Eindrücke, Gefühle und Reflexe umzusetzen beschreiben. Das Nervensystem macht es also möglich, dass Informationen über die Umwelt und den Organismus aufgenommen und verarbeitet und lebensdienliche Reaktionen veranlasst werden. Eine Reaktion ist die Beantwortung eines Reizes, der von außen oder aus dem Organismus selbst kommen kann. Damit Informationen überhaupt empfangen werden können, bedarf es der Reizbarkeit, der Irritabilität – eben der Sensibilität – des Nervensystems.

Selbstverständlich sind im einen wie im anderen Wortsinn alle Menschen sensibel – nur nicht im selben Ausmaß. Bei hochsensiblen Menschen liegt aufgrund der veranlagungsbedingten Konstitution ihres Nervensystems ein sehr hohes Maß an Sensibilität vor, was sie von der Mehrzahl der Menschen unterscheidet. Dabei ist noch anzumerken, dass der Grad der Sensibilität auch nicht bei allen HSP identisch ist, es finden sich Abstufungen von wenig bis hin zu extrem hochsensibel. Wie sehr sich die hohe Sensibilität bemerkbar macht, hängt neben der Veranlagung noch von der gesamten lebensgeschichtlichen Entwicklung ab und schließlich auch von der momentanen Verfassung und der jeweiligen Situation.

Bemerkenswert finde ich die folgende Überlegung: Die Sensibilität des Nervensystems realisiert eine Grundeigenschaft alles Lebendigen. Sie ermöglicht es einem Lebewesen, sich auf verschiedenste Gegebenheiten und Ereignisse in der Umwelt einzustellen, sich von Gefahren fernzuhalten bzw. sie abzuwehren und Nützlichem entgegenzustreben, und ist somit lebensnotwendig. Im Laufe der Evolution scheint es sich für den Erhalt einer Art bewährt zu haben, dass ein kleiner Teil der Gesamtpopulation eine überdurchschnittliche Sensibilität aufweist. Forscher haben mittlerweile bei zahlreichen Tierarten feststellen können, dass circa ein Fünftel der Tiere deutlich sensibler ist als die Mehrheit der Artgenossen (siehe auch 1.3.4: Wissenschaftliche Erklärungsansätze).

Wichtig ist mir zu betonen: Hochsensiblen eine ausgeprägte Sensibilität zuzuschreiben, darf keinesfalls heißen, allen anderen jegliche Sensibilität abzusprechen. Das wäre schlichtweg sachlich falsch. HSP haben Sensibilität nicht für sich „gepachtet“ und sollten auch nicht verleitet werden, sich in arroganter Weise überlegen zu fühlen. Nach allem, was ich mitbekomme, sind HSP sogar leider allzu oft in ihrer Kommunikation alles andere als sensibel im Sinne von einfühlsam und feinfühlig. Die Hochsensibilität, von der in Elaine Arons Konzept die Rede ist, ist also nicht gleichzusetzen mit einem hohen Maß an Empathie, Fürsorglichkeit und Verletzlichkeit – sie umfasst mehr als das (siehe auch 1.4.3: Vier Indikatoren nach Elaine Aron).

1.1.2 Das Nervensystem

Die Grundeinheit des Nervensystems ist eine Nervenzelle (ein Neuron) mit all ihren Fortsätzen, eine Zelle, die auf Erregungsleitung und Erregungsübertragung spezialisiert ist. Die Gesamtheit des Nervengewebes im Organismus bildet das Nervensystem, ein Netzwerk aus Nervenbahnen. Dieses wird unterteilt in das zentrale Nervensystem, zu dem Gehirn und Rückenmark gehören, und das periphere Nervensystem, das alle übrigen Nervenbahnen umfasst.

Über Nervenbahnen werden von den Sinnesorganen aufgenommene Impulse ans Gehirn weitergeleitet und umgekehrt Impulse an verschiedenste Körperregionen, an die Organe und die Gliedmaßen, gegeben. Der Transport von Informationen geschieht, indem die Erregung durch ganz schwache elektrische Signale oder durch biochemische Botenstoffe (Neurotransmitter) von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen wird. Die Reaktionen können bewusst oder unbewusst sein, willkürlich (bestimmte Bewegungen) oder unwillkürlich (Körperfunktionen und Reflexe). Durch sich häufig wiederholende Abläufe sind verschiedene Reaktionsmuster wie Programme im Gedächtnis abgespeichert und werden durch bestimmte Auslöser aktiviert.

Die Nerven stimulierenden Reize unterscheiden sich in ihrer Art, Stärke und Dauer. Sie können von außen kommen oder aus dem eigenen Körper. Außerdem können Gedanken wie auch Gefühle eine nervliche Erregung auslösen. Wie intensiv Reize auf das Nervensystem wirken und wie stark die Reaktion ausfällt, ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden.

Für die Gruppe der HSP gilt: Aufgrund der leichteren Erregbarkeit des Nervensystems ist bei derselben Reizexposition ihr Erregungsniveau höher als bei anderen Menschen. Oder andersherum ausgedrückt: Bei ihnen wird schon durch eine geringere Stimulation ein bestimmtes Erregungsniveau erreicht und damit auch der Punkt, an dem sie sich überreizt fühlen und vielfach auch sichtlich „gereizt“ reagieren. Das Nervensystem von HSP spricht einerseits schon auf so schwache Reize an, die für Nicht-HSP noch unter der Wahrnehmungsschwelle liegen, und wird anderseits von starken Reizen so sehr in Erregung versetzt, dass diese Reize lange nachhallen und das Nervensystem längere Zeit braucht, um sich zu erholen.

1.1.3 Aus Sinneseindrücken wird Wahrnehmung

Sinnesorgane sind komplexe Strukturen zur Wahrnehmung von Reizen von außerhalb und von innerhalb des Körpers. Zur simplen Veranschaulichung kann man sagen, dass die Sinne wie Antennen fungieren, über die wir in vielschichtiger Weise unsere Umwelt und uns selbst erfahren. Über die Sinne nehmen wir Verbindung auf mit der Welt, in der wir leben. Die Sinnesorgane enthalten als wichtigstes Element Sinneszellen, spezialisierte Zellen, die als Rezeptoren für die entsprechenden Reize fungieren. Sinnesrezeptoren sind biologische Sensoren. In der Technik ist ein Sensor, auch Messfühler genannt, ein Bauteil, das bestimmte Eigenschaften seiner Umgebung (z. B. Temperatur, Feuchtigkeit, Schall, Helligkeit) quantitativ oder qualitativ aufnehmen kann.

Üblicherweise werden die Wahrnehmungen aufgezählt, die über die folgenden fünf Sinne erfolgen:

die visuelle Wahrnehmung, das Sehen, mit den Augen (der vorherrschende Sinn angesichts der enormen Zahl der ihm zugeordneten Sinneszellen: ca. 10 Mio.)

die taktile Wahrnehmung, das Tasten und Fühlen, mit der Haut. Berührung kann entweder aktiv sein beim Betasten und Befühlen oder passiv beim Berührtwerden (immerhin noch ca. 1 Mio. Sinneszellen)

die auditive oder akustische Wahrnehmung, das Hören, mit den Ohren (ca. 100 000 Sinneszellen)

die olfaktorische Wahrnehmung, das Riechen, mit der Nase (ebenfalls ca. 100 000 Sinneszellen)

die gustatorische Wahrnehmung, das Schmecken, mit der Zunge und den Schleimhäuten in der Mundhöhle (ca. 1000 Sinneszellen)

Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Sinne zur Wahrnehmung der Außenwelt und zur Eigenwahrnehmung. Dank der Oberflächensensibilität ist über entsprechende Sinnesrezeptoren in der Haut die Wahrnehmung von Temperatur, Druck, Berührung, Vibration und Schmerz möglich. Die Tiefensensibilität (propriozeptive Wahrnehmung) ermöglicht die Wahrnehmung der Stellung des Körpers im Raum und des Körperzustands; hierzu gehören der Lagesinn, der Kraftsinn und Bewegungssinn.

Die Bereiche des Gehirns, die Sinneseindrücke verarbeiten, nennt man sensorische Areale. Sinnesorgane und sensorische Gehirnareale zusammen bilden sensorische Systeme. Die Gesamtheit aller Sinneswahrnehmungsvorgänge bezeichnet man als Sensorik.

Wahrnehmung ergibt sich aus den gesamten sensorischen Informationen, das heißt aus der Empfindung aller Eindrücke von äußeren und inneren Reizen über die verschiedenen Sinne. Das Sinnesorgan Auge zum Beispiel nimmt optische Reize über darauf spezialisierte Rezeptorzellen auf und leitet diesen primären Sinneseindruck über Nervenfasern an den für visuelle Sinnesreize zuständigen Bereich des Gehirns weiter. Parallel dazu nehmen die anderen Sinnesorgane die jeweiligen spezifischen Reize auf und geben die Impulse an die entsprechenden Hirnbereiche weiter.

Im nächsten Schritt werden sämtliche eingehenden Informationen im Gehirn miteinander verbunden und verarbeitet. Das Einordnen und Bewerten geschieht größtenteils unbewusst durch den Abgleich der Sinnesempfindungen mit abgespeicherten Informationen. Einzelinformationen werden dabei zu sinnvollen Gesamteindrücken zusammengeführt, Zusammenhänge hergestellt und Sinngebung erreicht. Erst mit dieser Leistung der Hirnzentren werden die Sinne umgesetzt, beispielsweise mit den Augen wahrgenommene Gegenstände aufgrund von Vorerfahrungen identifiziert.

Bei meiner Recherchearbeit zur Funktion des Nervensystems fand ich in einem Text der Uni Münster einen interessanten Abschnitt über eine Besonderheit einiger Rezeptorzellen, die in der Lage sind, sich an bestimmte Reize zu „adaptieren“:

„Unter ‚Adaptation‘ ist ein Prozess zu verstehen, bei dem ein sensorisches System gegenüber einer kontinuierlichen Reizquelle unempfindlich wird. Viele taktile Rezeptoren, z. B. Hautrezeptoren, adaptieren sich sehr schnell, was ja auch durchaus wünschenswert ist. Anderenfalls würden wir es gar nicht aushalten können, Kleidung auf der Haut zu tragen.“4

Sofort überlegte ich, dass bei HSP auch in Bezug auf diese Adaptation etwas anders sein könnte. Ich selbst würde sagen, dass ich eigentlich ständig die Kleidung auf meiner Haut spüre; deshalb kommen nur ganz bestimmte Materialien, Verarbeitungsweisen und Schnitte infrage, sonst ist mein Wohlbefinden beträchtlich gestört.

Die Ursache der Reizempfindlichkeit bei HSP liegt nicht in den Strukturen der Sinnesorgane, sondern in der Art der neuronalen Verarbeitung der Sinneseindrücke (siehe auch den Abschnitt „Sinnessensibilität“ in Kapitel 1.4).

1.1.4 Die Sache mit den Wahrnehmungsfiltern

Was uns bewusst wird, ist das Ergebnis eines Auswahlvorgangs. Wahrnehmung ist immer gefiltert und damit selektiv. Die Filterung dient der automatischen Unterscheidung von relevanten und irrelevanten Reizen. Unerhebliches wird ausgeblendet, damit das Bewusstsein, das im Vergleich zum Unbewussten eine wesentlich geringere Verarbeitungskapazität hat, funktionsfähig bleibt und nicht überlastet wird.

Man unterscheidet zwischen neurologischen, sozialen und individuellen Filtern der Wahrnehmung. Individuelle Filter sind die Haltungen, Sichtweisen und Fokussierungen, die sich durch persönliche Erfahrungen und Zielsetzungen sowie aktuelle Interessen ausbilden. Soziale Filter bestehen aus den Überzeugungen, die aus der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, einer Sprachgemeinschaft, einer Religionsgemeinschaft, einer Nation resultieren. Wahrnehmung ist daher niemals ein Abbild der Realität, sie ist immer subjektiv, eine persönliche Interpretation der Welt. Sie ist sozusagen eine Konstruktion, die sich der Einzelne aufgrund seiner Sinneseindrücke und dem Abgleich mit der inneren Vorstellungswelt bildet. Man könnte auch sagen: Man sieht/‌hört, was man sehen/‌hören will, wobei das „Wollen“ kein bewusstes Wollen ist.

Neurologische Filter sind die Filter, die durch das Nervensystem vorgegeben sind. Sie sind es, von denen im Zusammenhang mit Hochsensibilität immer wieder die Rede ist. In Artikeln über Hochsensibilität erfreut sich die Formulierung „(Leben) ohne Filter“ immer wieder großer Beliebtheit, zuletzt im Spiegel-‌Online-‌Artikel „Hochsensible Menschen – Das unerträgliche Hämmern des Uhrzeigers“ von Matthias Lauerer vom 1. Dezember 2014.5 Mir ist wichtig, hier etwas richtigzustellen: Selbstverständlich verfügen auch HSP über neurologische Filter; nur sind diese sozusagen durchlässiger als die von Nicht-HSP. Deshalb übersteigen bei ihnen schon deutlich geringere Reize die Wahrnehmungsschwelle und gelangen ins Bewusstsein. Man kann zu Recht auch von einer größeren Reizoffenheit sprechen.

Die Auswirkung: Anders als Nicht-HSP, die Störreize – zum Beispiel Gespräche oder Radio im Hintergrund – nur zu Beginn bewusst wahrnehmen und anschließend weitgehend ausblenden, nachdem sie diese als irrelevant eingestuft haben, bleiben HSP permanent aufmerksamer für derartige Reize aus ihrer Umgebung. Sie sind weit weniger fähig, sie als unbedeutend abzuhaken und zu ignorieren, besonders dann nicht, wenn sie Sprachinformationen beinhalten. Das erschwert natürlich die Konzentration und behindert Erholung. Der wohlmeinende Rat „Hör doch einfach nicht hin“ kann eben nicht einfach umgesetzt werden!

Zu den Reizen aus der Umgebung kommen die aus dem Körperinneren und aus der Welt der Gefühle und der Gedanken hinzu. Was zuträglich ist für die Intuition und die Kreativität, kann zugleich mächtig überfordern: Erinnerungen, Ideen, Assoziationen, Verknüpfungen …

Mitunter bekommen HSP von fachlicher Seite die Diagnose „Reizfilterstörung“, oder sie stellen sich diese selbst. Diese Diagnose ist meines Erachtens mit einiger Skepsis zu betrachten und unbedingt sorgfältig von der HSP-‍typischen hohen Reizempfänglichkeit abzugrenzen.

Psychologen nennen das biologische Prinzip, das Menschen hilft, in der reizerfüllten Umwelt zurechtzukommen, indem sie einen Teil der sie umgebenden Reize ausblenden, ‚latente Hemmung‘. Damit wird „die Fähigkeit eines Individuums, unbewusst solche Reize zu ignorieren, die erfahrungsgemäß keine Verbesserung des eigenen Zustands herbeiführen“, beschrieben.6

Bei manchen Menschen – ich denke, hier gibt es eine Gemeinsamkeit von Hochbegabten und Hochsensiblen und vermutlich auch von Menschen mit „AD(H)S“ – funktioniert diese Wahrnehmungsbeschränkung, die vor Reizüberflutung schützen soll, weniger gut. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits haben diese Menschen durch die Vielzahl der wahrgenommenen Eindrücke umfangreicheres Informationsmaterial für die Gedankenarbeit und können demzufolge mehr Lösungsmöglichkeiten als andere ersinnen. Anderseits sind sie leichter ablenkbar und werden häufig von unwichtigen Außenreizen in der Konzentration gestört.

Mehr lesen

Artikel „Genie und Wahnsinn haben die gleiche biologische Basis“ auf www.wissen­schaft.de.7

1.1.5 Die hochsensible Art des Wahrnehmens

Aufgrund ihrer größeren Reizempfänglichkeit nehmen HSP Licht und optische Eindrücke, Geräusche, Gerüche, Geschmack, Einwirkungen auf die Haut (Druck, Vibration, Wärme, Kälte, Zugluft) intensiver, detaillierter, differenzierter und in einer größeren Bandbreite wahr als Nicht-‌Hochsensible. Mit ihren besonders feinen „Antennen“ registrieren sie oftmals subtile Feinheiten in ihrer Umgebung, die anderen nicht auffallen. Hinzu kommt ein feines Gespür für Befindlichkeiten, Stimmungen und nonverbale Mitteilungen anderer Menschen. HSP haben außerdem die Fähigkeit, schon schwache Signale aus dem eigenen Körper zu bemerken.

Eine große Fülle von Reizen intensiv, nuancenreich und umfangreich wahrnehmen zu können, kann je nach den Umständen und Anforderungen der Situation belastend oder bereichernd sein. Mir gefällt, wie Marianne Skarics in ihrem Buch Sensibel kompetent formuliert, was für ein Geschenk Hochsensibilität sein kann: „Die Welt kann für hochsensible Menschen unglaublich farbenprächtig, facettenreich, sinnerfüllt und in ihrer Gesamtheit ein Kunstwerk sein.“8

Welcher Sinneskanal beim Einzelnen im Vordergrund steht und welche Sinneseindrücke vor allem zu Belästigung oder zu Freunde führen, ist unterschiedlich. Bei mir selbst zum Beispiel steht die Geräuschempfindlichkeit an erster Stelle. In den HSP-‍Gesprächsgruppen berichten die Teilnehmer vorrangig von Beeinträchtigungen durch Geräusche, Lärm und Gerüche. Ich erkläre mir das damit, dass man sich weder die Ohren noch die Nase einfach zuhalten kann. Selbstverständlich sorgen sowohl Klänge als auch Düfte anderseits für genussvolles Erleben.

1.2 Die Geschichte von „High Sensitivity“ und Begriffsklärungen

Das Phänomen Hochsensibilität, das heißt, dass eine Minderheit deutlich sensibler war als die Mehrheit der Bevölkerung, gab es schon immer, nur existierte bis zum Ende des letzten Jahrtausends dafür kein Fachausdruck. Welches Ansehen diese Gruppe von Menschen in der Gemeinschaft genoss, war im Laufe der Epochen unterschiedlich, abhängig vom Zeitgeist; noch heute bestehen darin kulturbedingte Unterschiede.

„Der Beginn der Weisheit ist die Definition der Begriffe“, wusste schon der griechische Philosoph Sokrates (470–399 v. Chr.). Eine intelligente Diskussion setzt voraus, dass ein Einverständnis über die Bedeutung der in ihr verwendeten Begriffe besteht, sonst redet man von vornherein zumindest teilweise aneinander vorbei. Darum räume ich der Definition von Hochsensibilität und der Klärung von Begriffen rund um Hochsensibilität einigen Platz ein. Eine präzise Begriffsbestimmung und ein einheitlicher Gebrauch des Begriffs sind meines Erachtens auch erforderlich, wenn Hochsensibilität auf breiter Basis in der Gesellschaft und in der Wissenschaft (ich denke an Medizin, Neurobiologie, Psychologie, Soziologie) ernst genommen und zum Gegenstand weiterer Forschungen gemacht werden soll. Und ich halte es auch für wichtig, dass Sie als Coach eine gemeinsame Verständnisgrundlage mit Ihren Coachees haben.

1.2.1 Elaine Aron als Urheberin des Konzepts „High Sensitivity“

Dr. Elaine N. Aron, eine US-‍amerikanische klinische Psychologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis, gehört zusammen mit ihrem Mann Dr. Arthur Aron, der ebenfalls Psychologe ist, zu den führenden Wissenschaftlern, die sich mit der Psychologie der Liebe und enger Beziehungen beschäftigt haben. Anfang der 90er-Jahre begann Elaine Aron, sich eingehend mit dem angeborenen Wesensmerkmal hoher Sensibilität auseinanderzusetzen.9

Elaine Aron führte eigene Befragungen und Studien durch und wertete zudem zahlreiche vorliegende Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler aus, die sich ihrer Auffassung nach auf das Persönlichkeitsmerkmal „hohe Sensibilität“ bezogen, wenn auch mit einem anderen Verständnis der Zusammenhänge und anderen Bezeichnungen. Dabei zeigte sich, dass sich immer wieder eine Gruppe von 15 bis 20 Prozent der Menschen herauskristallisiert, zu der Jungen/‌Männer und Mädchen/‌Frauen gleichermaßen gehören, die eine insgesamt deutlich höhere Sensibilität und Reaktivität aufweist als die Mehrheit der Bevölkerung.

Für das Phänomen der hohen Sensibilität als angeborenem Wesenszug (englisch: Trait) prägte Elaine Aron den allgemeinsprachlichen Begriff „High Sensitivity“ (Hochsensibilität) bzw. den wissenschaftlichen Terminus „Sensory Processing Sensitivity“ (Sensibilität in der Sinnesverarbeitung). Die Abkürzung HSP steht im Englischen für „Highly Sensitive People“, im Deutschen für „hochsensible Personen“ bzw. hochsensible Menschen (manchmal auch als HSM abgekürzt).

Es war Elaine Aron ausgesprochen wichtig, eine neutrale Bezeichnung zu finden, die zum Ausdruck bringt, dass hier eine Normvariante in der Konstitution des Nervensystems vorliegt, die einhergeht mit einer größeren Empfänglichkeit gegenüber Reizen, nicht aber eine krankhafte Störung. Hochsensibilität sollte nicht länger falsch verstanden und verwechselt werden mit Gehemmtheit, Schüchternheit, Ängstlichkeit oder gar einer Sozialphobie, auch nicht mit Introvertiertheit und Neurotizismus. Aron wollte aufräumen mit der Voreingenommenheit gegenüber HSP und diesen Aspekt der Persönlichkeit in einem positiveren Licht erscheinen lassen.

Elaine Aron ist selbst hochsensibel und kennt daher aus eigener Erfahrung die Vorzüge und Herausforderungen dieser Eigenschaft. In ihrem Buch Sind Sie hochsensibel? berichtet sie, dass sie diverse Probleme ihrer Kindheit in mehreren Jahren Therapie aufgearbeitet habe, wobei sich ihre Sensibilität zum zentralen Thema entwickelt habe: „Da war mein Gefühl mit einem Makel behaftet zu sein. […] Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage, ins Leben zurückzukehren.“10

Zum Thema Hochsensibilität veröffentlichte sie sowohl wissenschaftliche Arbeiten (zusammen mit ihrem Mann Arthur Aron und später auch anderen Wissenschaftlern) als auch eine Reihe populärer Bücher. Das erste und bekannteste, The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You,11 kam in den USA 1996 heraus, ist mittlerweile über 100 000mal gedruckt und in 14 Sprachen übersetzt worden. In deutscher Sprache erschien es erst im Jahr 2005. Das Arbeitsbuch zu diesem Buch ist 2014 auf Deutsch erschienen. Beide Bücher sind empfehlenswert! Sehr gut finde ich auch Arons Buch Hochsensibilität in der Liebe: Wie Ihre Empfindsamkeit die Partnerschaft bereichern kann.12

Mehr Infos über das Buch The Highly Sensitive Person finden Sie auf der Website von Elaine Aron.13 In einer „Author´s Note“ von 201214 gibt sie eine Reihe wichtiger Ergänzungen zu ihrem Buch und Informationen zum neuesten Stand der Forschung, betont aber zugleich, dass sich an der Gültigkeit der Aussagen in ihrem Buch nichts grundlegend geändert habe. Inzwischen seien ihre Annahmen durch Versuchsreihen, bei denen Hirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie (MRT) aufgezeichnet wurde, bestätigt worden.

Arons Wirken ist es zu verdanken, dass die Erkenntnisse über Hochsensibilität Beachtung in Wissenschaftskreisen gefunden haben. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen in namhaften Fachzeitschriften. Der erste wissenschaftliche Artikel, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Arthur Aron schrieb, erschien 1997 im hoch angesehenen Journal of Personality and Social Psychology.15 Eine umfangreiche Liste von veröffentlichten Forschungsarbeiten zum Thema Hochsensibilität sowohl von Elaine Aron als auch von anderen Forschern finden Sie auf der Website von Elaine Aron.16

In einem Interview in der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE vom April 2012 (Artikel-‌Überschrift „Von Natur aus dünnhäutig“) antwortet Elaine Aron auf die Frage, wo sie sich heute stehen sehe, mehr als 15 Jahre, nachdem sie mit dem Thema Hochsensibilität an die Öffentlichkeit gegangen sei: „Mein Werk ist fast vollbracht. Viele Menschen haben Hochsensibilität verstehen gelernt, andere beginnen damit gerade. Grundlagenforscher finden viel Neues heraus, was meine Arbeit stützt. Das alles zu sehen, empfinde ich als sehr beglückend.“17

1.2.2 Definition – eine Annäherung

Bei meiner Suche nach einer Definition von Hochsensibilität habe ich an vielen Stellen nachgelesen und nachgefragt. Es sieht so aus, als ob es bis jetzt keine klar gefasste und einheitliche Definition gibt. In deutschsprachigen medizinischen und psychologischen Lexika sucht man den Begriff Hochsensibilität vergeblich. Einerseits ist dies verständlich, da es ja weder eine Krankheit noch eine Störung ist, andererseits bedauerlich, da das Wesensmerkmal sowohl in medizinischen Belangen als auch in psychologischer Hinsicht durchaus eine Rolle spielt.

Bei Wikipedia findet man: „Hochsensibilität (deutsche Terminologie uneinheitlich; auch: Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit) ist ein Phänomen, bei dem Betroffene stärker als der Durchschnitt auf Reize reagieren, diese viel eingehender wahrnehmen und verarbeiten. Bis heute existiert jedoch keine eindeutige und anerkannte neurowissenschaftliche Definition des Phänomens, was Hirnforscher auf die noch in den Kinderschuhen steckende High-‌Sensitivity-‌Forschung (HS-‍Forschung) zurückführen.“18

Der Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität e. V. (IFHS) gibt auf der Startseite seiner Website folgende „Blitzinfo“: „Aufgrund besonderer Eigenschaften ihres Nervensystems nehmen Hochsensible mehr und intensiver wahr als andere Menschen. Dies hat manche Vorteile, führt allerdings auch zu früherer Erschöpfung und scheinbar geringerer Belastbarkeit.“19

Laut Elaine Aron handelt es sich bei der Hochsensibilität um ein eigenständiges angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, das bei jedem fünften Menschen anzutreffen ist. „Nach Dr. Arons Definition hat die hochsensible Person (HSP) ein empfindliches Nervensystem, bemerkt Feinheiten in ihrem Umfeld und ist leichter überflutet von einer stark stimulierenden Umgebung.“20

Wenn ich aufgefordert bin, Hochsensibilität zu erklären, fange ich häufig damit an zu sagen, was es alles nicht ist – keine Krankheit, keine psychische Störung, keine Anomalie, nichts Behandlungsbedürftiges, nichts, was es zu überwinden gilt. Ich tue dies in der Hoffnung, damit gängige Vorurteile aus dem Weg zu räumen und Offenheit für eine neutrale Sichtweise herzustellen.

Das Folgende ist meine Zusammenstellung zur Erklärung des Begriffs Hochsensibilität:

Hochsensibilität bezeichnet eine im Vergleich zur Mehrheit der Menschen höhere Empfänglichkeit und Empfindlichkeit gegenüber äußeren und inneren Reizen aufgrund einer veranlagungsbedingten besonderen Konstitution der Reize verarbeitenden neuronalen Systeme. Hochsensibilität gilt als ein beständiges Persönlichkeitsmerkmal von 15 bis 20 Prozent der Menschen, Männern wie Frauen. Kennzeichnend sind eine umfangreiche, nuancenreiche und subtile Wahrnehmung, eine tiefe, komplexe und differenzierte gedankliche Verarbeitung von Informationen, eine hohe Gefühlsintensität und emotionale Reaktivität, eine generelle leichte Übererregbarkeit und ein langes Nachhallen der Eindrücke.

1.2.3 Verwirrende Begriffsvielfalt

Um innerhalb einer Sprachgemeinschaft zu einem möglichst übereinstimmenden Wortverständnis zu kommen, gibt es Festlegungen über die Bedeutung von Wörtern, festgehalten in Wörterbüchern. Diese Vereinbarungen sorgen dafür, dass wir ohne allzu viele Missverständnisse miteinander kommunizieren können. Dennoch ist es so, dass jeder Einzelne mit bestimmten Begriffen ganz individuelle Assoziationen verbindet. Wörter tragen eben nicht nur faktische Bedeutung, sondern sind außerdem mehr oder weniger emotional gefärbt. So ist es auch mit den Begriff­‌lichkeiten zu dem Thema, das uns in diesem Buch beschäftigt.

Von den meisten deutschsprachigen Experten und Autoren, die sich seit der Begründung des Konzepts der Hochsensibilität durch Elaine Aron mit dem Thema befasst haben, wird der Begriff „Hochsensibilität“ verwendet – so auch vom Forschungs- und Informationsverbund Hochsensibilität e. V. (IFHS). Ihnen werden aber auch abweichende Begriffe begegnen, in der Literatur, auf Websites und aus dem Mund Ihrer Coachees: „Hochsensitivität“, „Hochempfindsamkeit“, „Hochempfindlichkeit“, „Hypersensibilität“ und „Überempfindlichkeit“. Gerne möchte ich im Folgenden etwas Klärung in die Begriffsvielfalt bringen.

Selbst in den Büchern von Elaine Aron geht es bunt durcheinander mit den Wörtern „hochsensibel“ und „sensibel“. Gleich im Vorwort von Hochsensible Menschen in der Psychotherapie schreibt sie unter der Überschrift „Terminologie“ zur Erklärung, dass die Begriffe „Hochsensibilität“ und „Sensibilität“ von ihr ohne Bedeutungsunterschied verwendet werden.21

„Hochsensitivität“

Nicht jeder, der „Hochsensitivität“ sagt, wählt diesen Ausdruck bewusst oder will damit etwas Spezielles ausdrücken. Manche Menschen aber schon. In meiner Wahrnehmung sind es vor allem zwei Autorinnen, die „Hochsensitivität“ bzw. „hochsensitiv“ sehr bewusst verwenden und in ihren Ausbildungen weitergeben. Auf sie beide möchte ich exemplarisch eingehen. Zum einen ist das Birgit Trappmann-‌Korr, Autorin und Ausbilderin im Raum Duisburg,22 die in ihrem Buch aus dem Jahr 2010 Hochsensitiv: Einfach anders und trotzdem ganz normal: Leben zwischen Hochbegabung und Reizüberflutung schreibt, sie halte „Hochsensitivität“ für die richtigere Übersetzung des englischen „High Sensitivity“.

Zum anderen beziehe ich mich auf Anne Heintze, Autorin, Coach und Lehrcoach im Raum München, die zwischen Hochsensibilität und Hochsensitivität unterscheidet und beides auf ihre Weise einordnet: „Ich begreife auch Hochsensibilität und Hochsensitivität als Ausdrucksformen der Hochbegabung.“23 Der Titel ihres Buches aus dem Jahr 2013 lautet demgemäß Außergewöhnlich normal: Hochbegabt, hochsensitiv, hochsensibel: Wie Sie Ihr Potential erkennen und entfalten.

Anne Heintze differenziert zwischen Hochsensibilität und Hochsensitivität und sieht darin zwei unterschiedliche Phänomene, die häufig, aber nicht immer gemeinsam auftreten. Zum Begriff Hochsensibilität schreibt sie: „Wer hochsensibel ist, verfügt über feiner ausgeprägte 5 körperliche Sinne als andere. Er oder sie hört, sieht, schmeckt, fühlt und riecht differenzierter. Das führt leicht zu Reizüberflutung, Hochsensible sind ‚zartbesaitet‘. Gleichzeitig sind sie dadurch aber in der Lage, viel feinere Informationen wahrzunehmen und zu interpretieren.“ Über Hochsensitivität heißt es bei ihr: „Wer hochsensitiv ist, muss nicht unbedingt über diese Schärfung der fünf physischen Sinne und nicht über diese Empfindsamkeit verfügen. Stattdessen hat ein Mensch, der hochsensitiv ist, einen ‚sechsten‘ oder ‚siebten‘ Sinn. Hochsensitive sind das, was man ‚hellsichtig‘ oder ‚hellfühlig‘ nennt. Sie sind extrem empathisch, manchmal regelrecht medial. Sie haben Ahnungen, Visionen oder andere Empfindungen aus der ‚nicht-‌alltäglichen Wirklichkeit‘“.24

Ich stimme weder mit Frau Trappmann-‌Korr noch mit Frau Heintze überein. In meinen Augen ist „Hochsensibilität“ die korrekte Übersetzung von „High Sensitivity“ (siehe unten) und für mich sind die herausgearbeiteten Unterschiede, die die Verwendung von zwei Begriffen begründen, verschiedene mögliche Aspekte ein und desselben Phänomens. Die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse besagen ja gerade, dass HSP über keine „schärferen“ Sinne verfügen, sondern der Unterschied lediglich in der Reizverarbeitung liegt.

Warum ich dennoch die Auslegungen wiedergebe? Nun, da sie eine relativ weite Verbreitung gefunden haben, meine ich, Sie sollten eine Vorstellung davon haben, was hochsensible Coachees meinen könnten, wenn sie zu Ihnen kommen und sich betont als „hochsensitiv“ bezeichnen – ja mitunter geradezu vehement auf diesem Ausdruck bestehen. Meine Beobachtung ist, dass einige HSP den Ausdruck „hochsensitiv“ ausgesprochen gerne für sich aufgreifen. Ich vermute, das ist deshalb so, weil ihnen dieses Wort unvorbelastet und positiv erscheint, während sie mit „sensibel“ etwas Negatives verbinden. Vielleicht sind sie in der Vergangenheit unschön als „Sensibelchen“ abgewertet worden und mussten sich allzu oft Vorwürfe in der Art von „Du bist zu sensibel“ anhören.

Ob Sie mit Ihren Coachees in eine Diskussion über Begriff­‌lichkeiten einsteigen, werden Sie von Fall zu Fall entscheiden. Wichtig ist, dahinterzuschauen, was für den Coachee mit den verschiedenen Wörtern verbunden ist. Das kann dann gegebenenfalls auch Gegenstand der Betrachtungen im Coaching werden.

Die Übersetzungsfrage

Als Diplom-‌Übersetzerin habe ich nicht einfach die gängige Übersetzung übernommen, sondern mich selbst eingehend damit befasst. Ich habe Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch zurate gezogen und das englische „sensitive“ nachgeschlagen. Gar nicht überraschend: Eine Eins-‌zu-eins-‌Übersetzung zu „sensitive“ gibt es nicht. Vom Wort her mag die deutsche Übersetzung „sensitiv“ naheliegend erscheinen, dabei handelt es sich jedoch eher um einen sogenannten „falschen Freund“ (False Friend), was bedeutet, dass die Wörter in zwei Sprachen zwar gleich (bzw. ähnlich) geschrieben sind und gleich lauten, nicht aber bedeutungsgleich sind. In speziellen Fällen kann „sensitiv“ zwar die richtige Übersetzung sein, als generell richtig kann sie nicht gelten. Das englische „sensitive“ kann ganz verschieden übersetzt werden: empfindend, fühlend, sensitiv, (über-‍)empfindlich, sensibel, (reiz-)empfindlich, feinnervig, -fühlig; auch leicht beeinflussbar, veränderlich (im ökonomischen Sinne), leicht reagierend (im biologischen Sinne), empfindlich (im technischen Sinne) sowie die Sinne betreffend, sensorisch. Die passende Übersetzung erschließt sich über den jeweiligen Kontext.

Auf der Übersetzungsseite dict.cc im Internet bekommt man die Übersetzungsvarianten in einer Rangfolge angegeben. Für „sensitiv“ steht „sensibel“ an erster Stelle (mit der Zahl 2220 dahinter), gefolgt von empfindlich (1613), einfühlsam (606), feinfühlig (406), empfindsam (396), gefühlvoll (374), verletzlich (344), heikel (342), sensitiv (335) usw.25 Die Erklärung für die Zahlen in Klammern: Sie stehen für die Wichtigkeit der jeweiligen Übersetzung. Die gebräuchlichsten Übersetzungen führen die Liste an.26

Ich komme zu dem Schluss: „Hochsensibilität“, der Ausdruck, der schon in der Übersetzung des Standardwerks von Elaine Aron Sind Sie hochsensibel? 2005 gewählt wurde und von zahlreichen anderen Autoren seither benutzt wird (auch von mir), ist die am besten passende Übersetzung für Elaine Arons Terminus „High Sensitivity“.

„Hochempfindsamkeit“ und „Hochempfindlichkeit“

Außer dem Fremdwort Hochsensibilität begegnen einem häufig die Wörter Hochempfindsamkeit und Hochempfindlichkeit. Zuweilen wird die Frage diskutiert, ob denn nun eine hohe Empfindsamkeit oder eine hohe Empfindlichkeit vorliegt. Was hat es damit auf sich? Wie liegen da die Unterschiede? Und wo ist der Zusammenhang?

Dazu zunächst ein Blick ins deutsche Wörterbuch WAHRIG:

empfindsam: gefühlvoll, zart empfindend, aufnahmefähig für Reize und Eindrücke

empfindlich: empfänglich für Reize, leicht verletzbar, zimperlich, wehleidig, weichlich, leicht zu beleidigen

Ich sehe folgenden unmittelbaren Zusammenhang: Wer sehr empfindsam ist, also aufnahmefähig für Reize, wird in der Folge unweigerlich auch empfindlich sein, also leicht verletzlich. Hochsensible sind in meinen Augen logischerweise also sowohl empfindsam als auch empfindlich. Auf einem anderen Blatt steht, wie der Einzelne mit seiner höheren Empfindlichkeit umgeht und was er an Reaktionen nach außen trägt. Wird eine außergewöhnliche Empfindlichkeit sichtbar bzw. teilt sich die HSP darüber mit, mag das aus Sicht derjenigen, die selbst robuster sind und zudem (ab-‍)wertend durch die Welt gehen, „zimperlich“ und „wehleidig“ erscheinen – zumindest so lange, bis sie die Andersartigkeit der HSP wirklich verstanden haben.

Neben einem wirklich gemeinten Bedeutungsunterschied bei der Verwendung der Begriffe Hochsensibilität, Hochempfindsamkeit oder Hochempfindlichkeit gibt es sicher noch die simple Intention von Autoren, eine zu häufige Wortwiederholung von „Hochsensibilität“ zu vermeiden, was aber leider zu unnötiger Verwirrung führen kann.27 Meine Empfehlung wäre, den Ausdruck „(Hoch-‍)Empfindsamkeit“ allein für die (hohe) Aufnahmefähigkeit für Reize und Eindrücke zu verwenden, nicht als vermeintliches Synonym für das Gesamtphänomen Hochsensibilität. Am ehesten synonym zum Fremdwort Hochsensibilität ist das deutsche Wort Hochempfindlichkeit, wie es zum Beispiel im Buch Zart besaitet von Georg Parlow, dem ersten Buch, das im deutschsprachigen Raum zum Thema Hochsensibilität erschienen ist,28 neben Hochsensibilität häufig verwendet wird.

„Hyper-“ versus „Hoch-“

Auf den Begriff „Hypersensibilität“ stößt man vor allem im psychotherapeutischen Kontext. Hiermit wird ausgedrückt, dass eine Abweichung von einer wie auch immer definierten akzeptierten Norm vorliegt. Eine überdurchschnittliche Sensibilität wird dabei tendenziell als krankhafte Störung betrachtet. „Überempfindlichkeit“ ist dazu die umgangssprachliche Variante, die sich, so mein Eindruck, beharrlich hält. Auch viele HSP verwenden für sich selbst das Wort „hypersensibel“ bzw. „überempfindlich“ und übernehmen damit meist unbewusst die damit einhergehende Negativbewertung. Ich werde dann im Coaching immer hellhörig und schaue, inwieweit und an welcher Stelle es passt, das anzusprechen.

Um die in den Vorsilben „Hyper-“ bzw. „Über-“ implizierte Stigmatisierung und Ausgrenzung zu umgehen, eignet sich bestens die Vorsilbe „Hoch-“, die neutral auszudrücken vermag, dass eine höhere Sensibilität als beim Bevölkerungsdurchschnitt vorliegt.

Besser keine Segmentierung