Hoffnung auf das große Glück - Doris Strobl - E-Book

Hoffnung auf das große Glück E-Book

Doris Strobl

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Beschreibung

Ingolstadt 1916: Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter wächst die kleine Fanny bei ihren Großeltern auf. Den Ersten Weltkrieg erlebt sie als junges Mädchen im Kreis einer Familie, zu der sie doch nie richtig gehört. Als uneheliches Kind ist sie stets auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit und wird doch immer wieder enttäuscht. Trotzdem verliert sie nie die Hoffnung. Geprägt von Entbehrungen und Schicksalsschlägen geht sie als junge Frau ihren eigenen Weg.

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2017

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelbild: © Bundesarchiv, Bild 183-17146-0011

Fotograf: Klein

Lektorat und Bearbeitung: Stefanie Höfling, Wiesbaden

Worum geht es im Buch?

Doris Strobl

Hoffnung auf das große Glück

Das Leben meiner Oma

Ingolstadt 1916: Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter wächst die kleine Fanny bei ihren Großeltern auf. Den Ersten Weltkrieg erlebt sie als junges Mädchen im Kreis einer Familie, zu der sie doch nie richtig gehört. Als uneheliches Kind ist sie stets auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit und wird doch immer wieder enttäuscht. Trotzdem verliert sie nie die Hoffnung. Geprägt von Entbehrungen und Schicksalsschlägen geht sie als junge Frau ihren eigenen Weg.

Vorwort

»Der General kommt«, flüsterte Oma und lächelte.

Man hörte laute Schritte auf dem Gang.

»Klack, klack, klack«, sagte Oma. »Furchtbar, das klingt wie früher bei den Soldaten. Im Krankenhaus sollte man doch wieder gesund werden, oder? Was die Mädchen für Schuhe anhaben! Das weckt unschöne Erinnerungen.«

Die Zimmertür wurde schwungvoll geöffnet, und eine junge Frau kam herein.

Betont fröhlich rief sie: »Mund auf bitte, Tabletten gibt’s!«

Oma zwinkerte mir zu und öffnete den Mund. Die Krankenschwester legte ihr eine Kapsel auf die Zunge. Sie reichte ihr ein Glas Wasser und erklärte mir: »Ich muss so lange stehen bleiben, bis Ihre Oma hinuntergeschluckt hat, manchmal kommt es nämlich vor, dass sie die Pillen wieder ausspuckt.«

Oma würgte ein bisschen, schluckte und ließ sich melodramatisch in ihr Kopfkissen sinken.

»Na sehen Sie, geht doch!«, lobte die Schwester und ging hinaus.

Oma bat um ein Papiertaschentuch und spuckte hinein. »Blöde Pillen«, schimpfte sie.

»Aber Oma«, versuchte ich zu protestieren.

Sie grinste und erklärte mir: »Weißt du Kind, dein Ururgroßvater, also mein Großvater, gab mir einen guten Rat: ›Wenn du alt werden willst, nimm bloß keine Medikamente! Ist alles Gift!‹ Er ist trotz der Hungerzeiten nach dem Krieg achtundachtzig Jahre geworden. Ich bin vierundneunzig und bisher ganz gut ohne Tabletten ausgekommen. Wieso sollte ich jetzt damit anfangen? Außerdem sterbe ich sowieso bald.«

»Ach, Oma«, seufzte ich hilflos.

Sie tätschelte meinen Arm. »Gutes Kind, es ist eine Tatsache, dass es in Kürze so weit ist. Meine Mutter und mein Onkel Gustl haben mir bereits beide einen Besuch abgestattet. Es heißt, dass einen die abholen, nach denen man sich am meisten sehnt.«

»Ich würde dich vermissen«, schniefte ich.

»So ist das Leben.« Oma lächelte leicht. »Den Lauf der Welt kannst du nicht aufhalten. Ich werde dir keine Reichtümer vererben, aber wie ich gut durchs Leben kam, das verrate ich dir. Zufriedenheit ist das höchste Gut. Je mehr man haben will, je mehr man ersehnt, erhofft und wünscht, umso schwieriger wird es. Ich erzähl dir gerne, wie es mir ergangen ist in den letzten vierundneunzig Jahren. Daraus kannst du bestimmt einen Roman machen!«

Oma gab ihre Erinnerungen preis, und ich fand es erstaunlich, wie stark sich manche Momente aus der Vergangenheit in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.

Dieser Roman basiert zum Teil auf wahren Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Geschehnissen und Namensgleichheiten sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt. Meine Oma wohnte zwar in Ingolstadt, aber alle Namen und Ortsangaben sind verändert.

Oma lebte als Fabrikarbeiterin in bescheidenen Verhältnissen. Hatte sie mehr Geld, teilte sie großzügig mit Kindern und Enkeln, oder sie verreiste. Wenn weniger zur Verfügung stand, schränkte sie sich stets klaglos ein. Sie vertraute auf »Gott, unseren Herrn« und »Maria, die Gottesmutter«.

Doch nun soll meine Oma – ich nenne sie in meiner Geschichte Franziska – zu Wort kommen.

Kapitel l

1914

Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen geht zurück ins Jahr 1914. Es war ein heißer Sommermorgen im August in Ingolstadt.

»Na, Fanny, was musterst du mich so eindringlich?«, forschte mein Vater.

»Du siehst aus wie unser König«, wisperte ich ehrfürchtig. Die Eltern fingen an zu lachen.

Vater schmunzelte. »Na, ich denke, dessen Uniform ist prächtiger, und es heften gewiss viel mehr Orden daran. Aber wenn ich eine Fotografie für euch anfertigen lasse, will ich das in meiner Ausgehuniform tun. Es kann sein, dass ich bald in den Krieg ziehen muss, man hört einige Gerüchte. In den ersten Kriegswochen wird es wohl wenig Heimaturlaub geben. Dann schaut ihr das Bild an und denkt an mich.«

Josef, mein kleiner Bruder, stand, abgelenkt durch das Gespräch, fertig angezogen auf dem Küchentisch. Vater hob ihn nun herunter. Mutter reichte mir mein Kleidchen und half mir beim Anziehen.

»Pass auf Josef auf, damit er keinen Unsinn macht«, befahl sie. »Sobald ich angekleidet bin, gehen wir los. Komm mit, Albert«, sagte sie an Vater gewandt, »ich brauche deine Hilfe.«

Er zwinkerte mir zu und trug mir auf: »Ihr zwei bleibt in der Küche und rührt euch nicht vom Fleck!«

Ich nickte und blieb mit Josef zurück.

Vater hatte als Offiziersstellvertreter im Bayerischen Heer eine gehobene Stellung inne und ein gewaltiges gesellschaftliches Prestige. Dennoch musste Mutter sparsam wirtschaften, denn das Gehalt unseres Vaters entsprach in etwa dem eines Handwerkers. Aber wir wohnten kostenfrei in einem kleinen Häuserl nahe der Glacis. Vater bekam außerdem das sogenannte »Brotgeld« und seine Dienstkleidung gestellt. Für die gesamte Familie übernahm die Armee die Kosten für ärztliche Behandlungen. Die Krankenversicherung befand sich erst noch im Aufbau, und die meisten Menschen mussten die Arztrechnungen aus eigener Tasche bezahlen.

»Josef!«, schrie ich und erreichte ihn gerade rechtzeitig, bevor er die Hände in den Kohleneimer steckte. Vater nannte ihn manchmal scherzhaft das »Kind der Liebe«. Ja, er liebte meine Mutter, und ich erinnere mich an ein harmonisches Familienleben. Ich hatte nie das Gefühl, schlechter als Josef behandelt zu werden. Nur wenn ich es versäumte, gut auf ihn aufzupassen, wurde Vater ungehalten. Einmal verlor ich Josef aus den Augen, weil ich mit meinen Freundinnen in ein Spiel vertieft war. Eine Stunde schien er unauffindbar. Ich bekam Vaters Hand schmerzhaft zu spüren. Er versohlte mir den Hintern und meinte, dass ich mir auf diese Art und Weise besser merken würde, was Pflichterfüllung bedeutet.

»Josef, lass das«, schimpfte ich mit ihm und zog ihn vom Kohleneimer weg.

Ich sah, dass er weinerlich das Gesicht verzog, und fragte: »Wo ist dein Degen? Der muss sicherlich mit auf die Fotografie, oder?«

Das Ablenkungsmanöver gelang. Er sauste los, um die Spielzeugwaffe zu suchen.

»Hab ihn gefunden.« Er hielt mir den kleinen Degen hin, den er dieses Jahr unter dem Christbaum vorgefunden hatte. Ich zurrte den Gürtel fest um seinen Bauch. Nachdem er den Degen in den Gürtel geschoben hatte, fing er an, die Waffe aus der Scheide zu ziehen, fuchtelte damit herum und kämpfte gegen einen imaginären Feind. »Nimm das, du französischer Hund!«, krähte er.

Die Eltern traten in die Küche, Mutter setzte mir den Hut auf. Die langen Bänder, die rechts und links herunterhingen, verknotete sie unter meinem Kinn. Sie fertigte eine hübsche große Schleife und stülpte Josef eine Kappe über die blonden Haare.

»Auf geht’s«, rief sie fröhlich.

Viele Jahrzehnte sind inzwischen vergangen. Ich wundere mich darüber, wieso ich ausgerechnet diese Szene in der Küche in Erinnerung behalten habe. Es ist interessant, welche Eindrücke aus unserer frühen Kindheit für immer im Gedächtnis bleiben. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich Mutter, Vater und Josef vor mir. Ich höre ihre Stimmen, als sei es gestern gewesen. Eine Fotografie anfertigen zu lassen, kostete damals eine Menge Geld und galt als absoluter Luxus. Gab das Bildnis seiner Liebsten Vater vielleicht Mut und Halt für den kommenden Kriegseinsatz?

Als wir beim Fotografen Haug in der Milchstraße ankamen, reihten wir uns in eine lange Schlange ein.

»Was für ein großes Schild«, staunte Vater und las: »Sonderpreise für Militär!«

Er entdeckte einige Soldaten seiner Kompanie, die diensteifrig salutierten. Auch sie hatten ihre Frauen und Kinder mitgebracht. Vor der Eingangstüre des Ladens warteten die Kunden. Eine Verkäuferin rief: »Bitte hören Sie auf, zu drängeln, es kommt doch jeder dran! Oder kommen Sie doch morgen wieder!«

»Da hat der Kaiser vielleicht schon den Krieg erklärt, und wir müssen fort«, schrie jemand aus der Menge. »Wer weiß, was das Attentat auf den österreichischen Thronfolger noch nach sich zieht!«

»Es gibt nur eine Antwort«, brüllte ein anderer.

Der Fotograf, ein älterer Herr mit grauen Haaren und Spitzbart, ließ sich von der aufgeheizten Stimmung nicht anstecken. Er gab präzise Anweisungen, wie die Damen und Herren zu sitzen und zu stehen hatten. Ich staunte über das übergroße Hintergrundbild, das einen Wald darstellte. Davor stand ein imposanter Sessel.

»Nehmen Sie Platz, gute Frau«, sagte Herr Haug zu Mutter, als sie mit uns auf die erhöhte Plattform trat.

Ich sollte mich neben Mutter stellen und meine Hand auf die Lehne des Sessels legen. Josef erhielt die Anweisung, sich mit gezogenem Degen vor ihr zu platzieren.

»Brav, da wächst der Soldatennachwuchs heran«, lobte der Fotograf und befahl, während er hinter die auf einem Stativ befestigte Kamera ging: »Bitte stillstehen und freundlich zu mir herschauen, aber nicht übertrieben grinsen oder lachen!«

Es machte einige Male klick, klack, dann rief der Fotograf: »Fertig! Sie werden sehen, das Bild wird ihnen gefallen.«

Als Vater vor der Leinwand stand, wurde der Waldhintergrund mit einem schwarzen Tuch verdeckt. Er bekam den Rat: »Blicken Sie dem Feind forsch in die Augen!«

Eine Woche später brachte Vater die postkartengroßen Fotos, auf stabilen Karton gedruckt, mit nach Hause. Wir staunten, wie schön wir aussahen. Die damals angefertigte Fotografie habe ich gehütet wie einen großen Schatz. Denn es ist das einzige Bild, das ich von meiner Mutter besitze. Es kam ja bald ein unfassbares Unglück über unsere Familie.

Eines Tages hetzte Vater dann mitten am Nachmittag in unser kleines Häusl. »Es ist so weit!«, rief er aufgewühlt. »König Ludwig hat die Mobilmachung des bayerischen Heeres angeordnet. Wir ziehen in den Krieg! Der Marschbefehl für mein Armeekorps kann jederzeit kommen. Bis dahin muss ich in der Kaserne bleiben. Lasst uns jetzt Abschied nehmen, wer weiß, wie schnell und unvermittelt wir ausrücken werden.«

Mutter sah ihn erschrocken an, doch sie fasste sich und meinte: »Dann lagst du richtig mit deiner Vermutung, dass der Habsburger den Tod des Sohnes rächen würde.«

Vater nickte. »Deutschland wird durch den Krieg an Macht und Einfluss gewinnen. Wir sind gut ausgerüstet und haben tapfere Männer in der Armee.«

Tatsächlich erfolgte kurz darauf die Mobilmachung. König Ludwig III. richtete sich mit einem öffentlichen Aufruf an die Bevölkerung. An meine Bayern stand in dicken Lettern über seiner Botschaft, in der er unter anderem schrieb:

Unsere wehrhaften Männer scharen sich erfüllt von Gottvertrauen und Zuversicht um die Fahnen.Bewegten Herzens lassen wir unsere Tapferen ins Feld ziehen. Gott segne unser tapferes Deutsches Heer. Er schütze den Kaiser, unser Vaterland und unser geliebtes Bayern.

Ganz Ingolstadt schien auf den Beinen, als eine Woche später die Soldaten verabschiedet wurden. Aus Angst vor Spionage erfuhren die Armeeangehörigen nicht, wo ihre Einheit zum Einsatz kam. Die festliche, feierliche, heitere, überschwängliche Stimmung dieses Tages war unbeschreiblich. Die Kinder durften von der Schule zu Hause bleiben. Die Kirchenglocken läuteten, als die Regimenter durch die Innenstadt marschierten. Klack, klack, klack.

Wir drückten den Soldaten Blumen in die Hände, die wir extra zu diesem Zweck gepflückt hatten. Sie zogen singend an uns vorbei zum Centralbahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof.

Josef, Mutter und ich liefen neben Vaters Truppeneinheit her. Eine unübersehbare Menschenmenge hatte sich schon am Bahnhof eingefunden. Mutter schärfte mir und Josef ein, nah bei ihr zu bleiben. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, während Pferde, Gewehre und Kanonen verladen wurden.

»Das ist die ›Dicke Bertha‹«, rief Josef ganz aufgeregt, und Vater lobte ihn, dass er mit seinen vier Jahren bereits so gut über Kanonen Bescheid wusste. Die Soldaten stiegen in die Zugabteile, verabschiedet von Ehefrauen, Freundinnen, Kindern und Müttern. Tapfer unterdrückte Mutter die Tränen, wie Vater es ihr vorher eingeschärft hatte. Mein Bruder und ich konnten uns überhaupt nicht vorstellen, wie es zuging im Krieg, aber wir waren traurig, dass Vater wegfuhr.

Unser Lehrer hatte uns im Unterricht erzählt, dass es unbedingt notwendig sei, gegen den Feind zu ziehen. »Ich bin leider zu alt«, sagte er. »Wie sehr beneide ich die jungen Soldaten, die dieses große Abenteuer erleben dürfen!«

Josef klammerte sich an Vater und schrie: »Ich will mit! Ich habe einen Degen!«

»Kannst du die Kreide-Aufschriften auf den Bahnwaggons schon lesen?«, fragte mich Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

»An Weihnachten wieder zu Hause«, sagte er.

»Dann können wir das Christfest zusammen feiern, wenn das alles so schnell geht. Das stimmt doch, oder?« Mutter sah Vater hoffnungsvoll an.

»Selbstverständlich, Betti! Der Kaiser befehligt immerhin 800 000 Mann. Die Heeresleitung ist zuversichtlich, dass wir den Feind überrennen werden. Gemeinsam mit Österreich-Ungarn sind wir unbesiegbar.« Zu Josef und mir sagte er: »Ich möchte von Mutter keine Klagen hören. Ihr werdet schön folgsam und brav sein, hört ihr?«

Wir nickten ehrfurchtsvoll. Dann hieß es, einsteigen. Ich erschrak furchtbar, als die mächtige Dampflok einen Pfiff ausstieß und eine imposante Rauchwolke in die Luft entließ.

Wir winkten mit unseren Taschentüchern, die Männer schwenkten Blumensträußchen und sangen: »Wir traben in die Weite, das Fähnlein weht im Wind.«

Wir liefen den drei Kilometer langen Weg vom Centralbahnhof zurück in die Stadt, als die Pferdebahn vorbeifuhr. »Die Tramway«, schrie Josef aufgeregt.

»Die armen Pferde haben schwer zu schleppen«, stellte ich fest. »Da sitzen sieben Leute drin, und ein furchtbar dicker Mann! Schau Mutter, da sind noch Stehplätze frei!«

Mutter schimpfte mit mir: »Sei nicht immer so vorlaut, das ist unschicklich für ein Mädchen. Die halbe Stunde wirst in die Stadt laufen können. Mit der Pferdebahn fahren! Das ist was für die Reichen. Für uns ist es zu teuer. Danken wir lieber Gott, dass wir gesunde Füße haben.«

Sehnsüchtig sah ich der Pferdetram nach. Sie nahm den Weg über die Donaubrücke und Theresienstraße bis zum Münster. Einige Jahre später sang man dann das Lied von der Ingolstädter Pferdbahn. Immer wenn ich es höre, muss ich an diesen Tag denken und daran, wie gerne ich einmal mitgefahren wäre:

»In Ingolstadt ist es zünftig,da gibt’s a Pferdebahn,da oane Gaul, der ziagt net,der andere ist lahm!Da Kutscher hat an Buckel,die Radl, die sin krumm,und alle fünf Minutenda fliegt der Wagen um.«

Die Pferdebahn wurde bald darauf eingestellt. Ich finde es schade, dass ich nie Gelegenheit hatte, mitzufahren.

Auf halber Strecke trafen wir Großvater, den Vater unserer Mutter. »Vater, wohin gehst du denn?«, fragte sie ihn erstaunt.

Er fuhr sie an: »Bestimmt ned zum Verabschieden von den Kriegshelden! Ich muss zum ›Münchner Hof‹ und dem Wirt seine Stiefel bringen.«

»Jessas, bist du grantig«, gab die Mutter zurück.

»Weil es wahr ist!«, schimpfte er. »Scho wieda a Kriag. Alle jubeln und freu’n sich. Kann vui a den Bach owa geh’n. Ich hoff, es geht guat aus!«

»An Weihnachten wieder zu Hause stand auf den Zugwaggons«, gab ich altklug zum Besten.

Großvater fing an zu lachen, fuhr durch seine grauen Haare und meinte: »Dann schau’n wir mal, Madl, wir werden ja bald wissen, ob das stimmt. Ihr könnt auf mich warten, ich geh mit euch zusammen in die Stadt zurück.«

Josef und ich ließen uns neben der Mutter auf den Grasstreifen sinken. Bald darauf rief uns Großvater: »Betti, Kinder, kommt her, der Wirt lädt uns ein, damit wir auf die tapferen Soldaten anstoßen können.«

»Meinst wirklich?«, fragte Mutter zögerlich.

»Freilich, geh nur mit«, drängte Großvater.

Der Wirt begrüßte uns persönlich und wies uns einen Tisch im Biergarten zu. Nebenan saßen der Lehrer und der Pfarrer und grüßten freundlich herüber. Eine ungewöhnliche Geste, normalerweise beachteten sie lediglich unseren Vater, aber nicht seinen Anhang und den Großvater.

»Hast ordentlich gearbeitet, Schuster«, sagte der Wirt zu Großvater. »Heute muss einfach g’feiert werden! Mein Sohn ist auch einberufen worden. Was wollt ihr trinken?«

Ich musterte die anderen Gäste und sah mich eingeschüchtert um. Ein Wirtshaus oder einen Biergarten hatten wir mit den Eltern noch nie besucht. Ich kannte lediglich die Gassenschänke, bei der ich das Feierabendbier für den Vater holte. An einem kleinen Guckfenster gab ich den mitgebrachten Krug ab, und die Bedienung reichte ihn mir gefüllt heraus.

Zum ersten Mal in meinem Leben trank ich eine Limonade. Sie schmeckte wirklich köstlich, und ich nahm ganz winzige Schlucke, um den Genuss zu verlängern. Großvater und Mutter ließen sich ein Bier schmecken.

»Auf den tapferen Soldaten«, sagte Großvater, als er den Maßkrug hob.

»Ich bete darum, dass er gesund heimkommt«, erwiderte Mutter.

Sie stießen mit ihren tönernen Bierkrügen an, und plötzlich fing Mutter an, bitterlich zu weinen.

»Ach, Vater«, schluchzte sie. »Jetzt hätt ich endlich auch mal ein bisserl Glück g’habt im Leben, und nun zieht mir der Albert hinaus auf’s Feld.«

Wir Kinder schauten erschrocken, und Großvater strich mit der knochigen, abgearbeiteten Hand über den Rücken seiner Tochter.

»Geh, Madl, ned schwarzseh’n. Beten hilft! Glaub mir’s, der kummt scho wieder heim!«

Sie wischte mit einem Taschentuch die Tränen fort und sagte: »Ich weiß, dass du mehr für die Sozialisten bist, die gegen den Krieg sind, aber Albert hält die Entscheidung Kaiser Wilhelms für richtig.«

»Jeder muss es so machen, wie er es verantworten kann«, antwortete der Großvater.

An diesem Abend stellten wir eine brennende Kerze vor Vaters Fotografie. Bevor wir schlafen gingen, beteten wir von nun an gemeinsam: »Gegrüßet seist du, Maria« und »Vater unser«.

»Lieber Gott, beschütze Albert! Lass ihn unverletzt zu seiner Familie zurückkehren. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich an einer Wallfahrt nach Altötting teilnehmen werde«, fügte meine Mutter noch hinzu.

Dazu kam es nicht mehr, denn ein schwerer Schicksalsschlag, der mein Leben gravierend beeinflussen sollte, machte alle Hoffnungen und Pläne zunichte.

Kapitel 2

1916

Mit einem quietschenden Geräusch wurde die Klassenzimmertüre einen Spalt weit geöffnet. Meine Mitschülerinnen und ich schauten neugierig. Lehrer Deinerl war sehr streng und konnte furchtbar schimpfen. Wer traute sich, so früh am Morgen die Schulstunde zu unterbrechen?

»Bitte, Herr Lehrer, auf ein Wort.« Ich erkannte Großvaters heisere, dunkle Stimme.

Irritiert stand Herr Deinerl auf und ging hinaus. Als er zurückkam, sagte er zu mir: »Fanny, pack deine Sachen, du darfst heimgehen.«

Er sah mich eigenartig an. Eilig packte ich die Schulsachen zusammen und steckte sie in den Ranzen.

Großvater schob seine Hand in meine und erklärte: »Deine Mutter hatte einen Unfall. Sie ist im Garnisonslazarett.«

»Ist sie hingefallen?«, fragte ich.

Großvater schüttelte den Kopf. »Sie hat sich verbrannt. Das tut sehr weh. Sie wird wohl eine Weile dortbleiben müssen, wollte dich aber gerne sehen.«

Mein Herz klopfte wild, als wir auf das Lazarett zugingen. Ein Arzt kam uns entgegen und herrschte Großvater missbilligend an: »Das Kind können Sie unmöglich mitnehmen, das ist kein Aufenthaltsort für ein kleines Mädel!«

»Ich weiß«, antwortete Großvater. »Elisabeth Kerner ist ihre Mutter.«

»Verstehe«, knurrte der Mann, der einen weißen Kittel trug, der mit roten Flecken übersät war.

»Ist das Blut?«, wisperte ich Großvater zu. Es sah schauerlich aus, und mir wurde unheimlich. Er nickte. Ich umklammerte Großvaters Hand und drängte mich eng an ihn.

Der Arzt hatte wohl meinen Blick bemerkt und flüsterte Großvater zu: »Heute habe ich bereits derart viele Ampu… durchgeführt …«

Er stockte, musterte mich und knurrte: »Kommen Sie! Und du schaust geradeaus«, befahl er mir. »Gestern sind zahlreiche Frischverwundete angekommen, das ist ein unschöner Anblick. Aber wir müssen leider durch die Halle, es geht nicht anders.«

»Tu brav, was der Herr Professor sagt«, trug mir Großvater auf. Ich nickte eingeschüchtert.

Der Mann im weißen Kittel meinte: »Ich bin kein Professor, sondern der Oberstabsarzt.«

Ich schauerte, als ein Soldat entsetzlich zu schreien begann, und weigerte mich, weiterzugehen. Ich umklammerte Großvaters Hand noch fester und fragte entsetzt: »Was ist mit ihm?«

Der Arzt und Großvater senkten ihre Blicke und ließen die Frage unbeantwortet.

»Wie heißt du, und wie alt bist du?«, wollte der Doktor wissen.

»Ich heiße Franziska, im letzten Monat hatte ich meinen siebten Geburtstag«, wisperte ich.

»Meine Tochter ist so alt wie du«, sagte der Arzt. »Agathe geht in die Volksschule an der Johannesstraße. Du kennst sie bestimmt.«

»Ja«, stellte ich fest und wunderte mich. Die eingebildete, hochnäsige und überhebliche Agathe hatte so einen freundlichen Vater?

»Wo ist die Mutter?«, wisperte ich scheu. Mich ängstigte der Aufenthalt an diesem Ort immer mehr. Die lauten Schreie gingen mir durch Mark und Bein, und ich musste weinen. Wieso hatte man Mutter an so einen furchtbaren Ort gebracht?

»Tragen Sie das Kind doch, dann sind wir schneller, wenn wir den Saal durchqueren«, schlug der Doktor vor.

»Ich tät es gern«, antwortete Großvater. »Aber seit meinem Arbeitsunfall in der Gießerei, bei der ich eine Rückenverletzung erlitten habe, könnte das Hochheben der Kleinen eine Lähmung hervorrufen. Damals hat sich eines der Werkstücke vom Haken gelöst und ist mir auf den unteren Rückenwirbel gekracht.«

»Und dann haben Sie die Schusterwerkstatt aufgemacht?«

Großvater nickte, und ich schniefte laut: »Wo ist Mutter?«

Der Doktor befahl: »Mach die Augen zu, Franziska. Ich bring dich zu deiner Mutter. Ich trag dich schnell durch den Saal.«

Er hob mich hoch, und ich presste beide Hände vors Gesicht, damit ich nicht in Versuchung kam, doch zu blinzeln. Ich hörte schreckliches Stöhnen und Seufzen, und es roch unangenehm. Kurze Zeit später fühlte ich wieder den Boden unter den Füßen.

»So, Franziska, jetzt darfst du schauen«, sagte der Arzt.

Im hinteren Bereich des Lazarettgebäudes herrschte Düsternis. Ich rieb mir die Augen und sah auf einer Pritsche Mutter liegen. Ihr rechter Arm, die Hand und ihr Kopf waren mit Verbänden umwickelt. Die schmutzgraue Decke reichte bis an ihr Kinn.

Eine Ordensfrau von den Barmherzigen Schwestern legte Mutter gerade sanft einen kühlenden Lappen auf die Stirn. Mutter wand sich auf dem Lager und stöhnte.

Großvater flehte: »Bitte, Herr Oberstabsarzt, meine Betti hat Schmerzen, helfen Sie ihr!«

Der Arzt sah mich an, wandte sich etwas ab und flüsterte in Großvaters Ohr: »Ich bin machtlos. Das Morphium und der Äther reichen hinten und vorne nicht. Ich muss alles streng einteilen, wir amputieren teilweise ohne Betäubung. Beten Sie für Ihr Kind. Die großflächigen Brandverletzungen an den Beinen, am Bauch und am Rücken bereiten mir Sorgen. Außerdem hat sie einen schweren Schock erlitten, den man auch nicht unterschätzen darf.«

Mutters Atem rasselte, der Arzt fühlte den Puls und warf der Schwester einen raschen Blick zu. »Holen Sie mich sofort, falls eine Veränderung eintritt«, ordnete er an.

Starr vor Schreck, mit klopfendem Herzen, starrte ich auf meine Mutter. Jetzt nahm ich Großmutter und Tante Lena wahr, die Rosenkränze in den Händen hielten und Gebete murmelten.

Mutter sah fremd aus. Ich bemerkte, dass in dem abgetrennten Teil der Baracke weniger Betten standen als im Hauptsaal. Ab und zu vernahm ich ein leises Stöhnen, dennoch war es wesentlich ruhiger als im vorderen Saal. Erst später erfuhr ich, dass wir uns im Schwerkrankensaal aufgehalten hatten.

Tante Lena wurde auf uns aufmerksam, beendete ihr Gebet und sagte: »Mei, Fanny, armes Madl.«

»Fanny«, stöhnte meine Mutter so gequält, dass mir angst und bange wurde. »Fanny, Mädi, brauchst dich nicht fürchten, komm her zu mir.«

Vorsichtig trat ich näher.

»Du bleibst mit dem Josef bei den Großeltern, bis ich wieder gesund bin. Du musst mir versprechen, dass du so gut wie bisher auf den Josef aufpasst, und dass ihr zwei schön brav seid bei den Großeltern.«

Ich nickte, Sprechen schien mir unmöglich, da ich stark weinen musste. Instinktiv spürte ich den Ernst der Lage. Außerdem hatte ich das Geflüster des Arztes verstanden. Eine abgrundtiefe Verzweiflung überwältigte mich.

»Mutter«, stammelte ich schluchzend. »Mutter, bitte werd schnell g’sund!«

»Du Tschapperl«, stöhnte sie. »Hör auf zu greinen. Bald bin ich wieder daheim, wirst sehen. Du bist mein großes Mäderl, oder? Der Vater wurde benachrichtigt und ist bestimmt bereits auf dem Weg nach Ingolstadt.«

Ich nickte, während die Tränen flossen. Urplötzlich schlugen Mutters Zähne aufeinander, und durch ihre schmale Gestalt lief ein gewaltiges Zittern.

»Schockreaktion«, stellte die Ordensfrau fest. »Ich hole den Arzt!«

»Maria und Josef«, jammerte Großmutter.

Mutter packte mit ihrer unverletzten linken Hand Großmutters Arm und schrie, während ihr Körper auf dem Lager hin- und hergeworfen wurde: »Schwör mir, dass du dich um Fanny kümmerst! Sie hat niemanden sonst auf der weiten Welt! Du musst es mir versprechen!«

Großmutter umfasste das Kreuz des Rosenkranzes und sagte: »Ich schwöre es bei der Heiligen Dreifaltigkeit.«

»Mutter«, hörte ich mich schreien. Ich verstand nichts mehr, spürte nur grauenhafte Angst.

»Ich halt’s nimmer aus, gebt mir etwas gegen die Schmerzen«, wimmerte Mutter.

Die Ordensschwester kam mit dem Arzt. Er warf einen Blick auf Mutter und befahl: »Das Kind muss jetzt auf der Stelle gehen!«

»Fanny«, rief die Mutter erneut. Sie schleuderte den Rosenkranz, der über ihrer einbandagierten Hand lag, auf die Decke.

»Nimm den Rosenkranz, bete für mich«, flehte sie, während ihr ein jämmerliches Wimmern entfuhr und Tränen über ihre Wangen rannen.

»Ich verspreche es«, flüsterte ich. »Bitte komm bald heim.«

Eine Krankenschwester trug mich durch den Lazarettsaal zum Ausgang. Ich nahm nichts mehr wahr, so sehr war ich vom Kummer überwältigt. Alles schien ein großes Rauschen zu sein. Erst als uns an der Ausgangstüre ein Priester mit zwei Ministranten entgegenkam, schreckte ich auf.

»Wissen Sie, wo Frau Kerner liegt, die die Letzte Ölung erhalten soll?«, fragte er.

»Ganz hinten bei den …« Großvater stockte. »Gehen Sie einfach so weit, bis Sie nicht mehr weiterkönnen. Sie ist auf der rechten Seite, meine Frau und meine andere Tochter sind bei ihr.« Er sah dem Pfarrer nach, wischte sich über die Augen und seufzte traurig: »Meine Betti!«

Obwohl ich, für die damalige Zeit als Kind eher ungewöhnlich, sehr viele Fragen stellte, blieb ich diesmal stumm. In diesem Moment wollte ich keine Erklärung, was »letzte Ölung« bedeutete.

Josef, den man bei einer Nachbarin gelassen hatte, stürzte mir entgegen und rief empört: »Ich will auch zu Mutter! Was hat sie denn gesagt? Kommt sie bald heim?«

»Wir müssen etwas Geduld haben«, beschwichtigte Großvater. »Es war schon schwierig genug, die Fanny mit zur Mutter zu nehmen. Dich hätte der Oberstabsarzt an der Türe ganz sicher abgewiesen.«

Später erfuhr ich, dass der Stabsarzt Josef nicht in das Lazarett gelassen hatte. Er befürchtete, dass so ein Erlebnis für ihn belastend sei. Würde er einmal in den Krieg ziehen müssen, fehlte ihm nach solch einem Eindruck vielleicht der nötige Kampfgeist. In der Garnisonsstadt Ingolstadt gab es Ende 1916 drei Lazarette, in denen sowohl Deutsche als auch französische Soldaten versorgt wurden.

Großvater ging mit Josef und mir in die Untere Pfarr, die Moritzkirche. Wir knieten vor dem Altar und beteten für unsere Mutter. Ich erinnerte Gott daran, dass Mutter nach Altötting wallfahren wollte, und versprach ihm, mitzukommen.

Als wir in Großmutters und Großvaters Haus ankamen, setzten wir uns in die Küche. Tante Lenas Kinder, unsere Base und die Vettern beäugten uns neugierig. Sie stellten Großvater viele Fragen, doch er saß stumm da und schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Irgendwann kam Tante Lena nach Hause.

»Wie geht es Mutter?«, frage ich.

»Der Arzt meint, wir müssen bis morgen abwarten«, antwortete sie. »Großmutter bleibt jetzt bei ihr. Ich löse sie später ab, wenn ihr im Bett seid.«

»Auf was denn warten?«, weinte ich.

Tante Lena kochte einen Grießbrei für uns, doch ich konnte keinen einzigen Löffel essen. Josef und ich schliefen in dieser Nacht auf dem Küchenkanapee.

Lange lag ich wach, dann schlief ich wohl doch ein. Ich träumte von wilden Tieren, die Jagd auf mich und Josef machten. Wir liefen und liefen und ich schrie verzweifelt nach Mutter, die uns aber nicht zu Hilfe kam.

Im Morgengrauen hörte ich plötzlich ganz laut meine Mutter rufen: »Mädi!«

»Mutter!«, kreischte ich und weckte dadurch Josef auf.

»Mutter ist tot, tot, tot!«, brüllte ich panisch.

Einige Zeit später kam Großmutter vom Lazarett und sagte uns, dass Mutter sanft entschlafen sei. »Sie ist bei den Engeln im himmlischen Paradies. Von dort aus wird sie für immer auf euch schauen«, versuchte sie, unseren Schmerz zu lindern.

»Ich will sie hier«, jammerte Josef.

Ich fand keine Worte. In mir tobte eine furchtbare Wut darüber, dass Gott meine Mutter zu sich geholt hatte. Ich verstand es nicht und wehrte mich gegen den Gedanken, dass ich sie nie wiedersehen sollte.

Am Abend traf Vater ein. Grau im Gesicht, einen schwarzen Trauerflor um den Uniformärmel gebunden, er würde die Bestattung regeln.

»Wir befinden uns in einem aufreibenden Stellungskrieg«, sagte er zu Großvater. »Mensch und Material sind aufs Äußerste gefordert. Der Gedanke an meine Betti gab mir Kraft und Zuversicht in dieser schweren Zeit. Für wen soll ich jetzt mein Leben verteidigen?«

»Denk doch an deine Kinder«, bat ihn Großmutter. Doch Vater war zu sehr damit beschäftigt, die Trauerzeremonie zu organisieren. Er sprach nur wenige Worte mit Josef und mit mir.

Vater ließ schon am nächsten Tag eine große Todesanzeige ins Ingolstädter Tagblatt setzen:

Gestern morgen um 6 Uhr verschied nach dem Empfang der hl. Sterbesakramente sanft und gottergeben, infolge eines Unglücksfalles, meine heiß geliebte, herzensgute Gattin, treu sorgende Mutter, Tochter, Schwester, Schwägerin, Tante und Patin, die ehrengeachtete Frau Elisabeth Kerner, Offiziers-Stellvertreter-Gattin, im schönsten Alter von 28 Jahren.

die in tiefster Trauer Hinterbliebenen: Albert mit seinen zwei unmündigen Kindern nebst den übrigen Verwandten

Beerdigung: 5. Juni, nachmittags 2 Uhr

Der hl. Seelengottesdienst wird am Grabe bekannt gegeben.

Ich finde es gut, dass man heutzutage feinfühliger mit Kindern umgeht. Damals mussten sich die Kinder wohl viel früher der harten Lebensrealität stellen. Niemand bereitete mich auf die Beerdigung vor.

Jahr für Jahr wurde der Saum meines hübschen Sonntagskleides erweitert. Das Kleid, mit dem ich einst so stolz vor dem Fotografen posierte, trug ich jetzt an diesem trüben Tag, an dem ich mich für immer von meiner Mutter verabschieden musste. Der wolkenverhangene Himmel passte zur verzweifelten Trauer, die ich tief empfand.

Aufgrund des Kriegsverlaufs und der enormen Verluste an den Fronten gab es ein Verbot, schwarze Kleidung zu tragen. Deswegen trugen die meisten Trauergäste genau wie Vater einen Trauerflor. Manche Frauen bedeckten ihr Haupt mit einem dunklen Schleier. Mir hatte man ein schwarzes Flortüchlein um den Hals gebunden.

»Die armen Kinder«, hörte ich eine Dame flüstern, als Josef und ich an Vaters Händen vor dem Leichenhaus standen.

Vater öffnete die Eingangstüre, und meine Großeltern kamen uns entgegen.

»Ach, ich will es nicht glauben«, schluchzte Großmutter und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. Großvater hielt uns die Türe auf und sagte: »Mir ist es ganz arg, dass wir für unsere Betti keinen besseren Sarg bekommen haben.«

»Mir auch«, versicherte ihm Vater, »aber es herrscht so ein Mangel, dass …« Er rang um Fassung, und Großvater raunte: »Geht nur hinein, und nehmt endgültig Abschied.«

Wie in der damaligen Zeit üblich, lag meine Mutter aufgebahrt im offenen Sarg. Sie sah schön und friedlich aus, das Haar zu einem Kranz gesteckt, die Wangen rosig, die Lippen rot. Es sah aus, als ob sie schlafen würde.

»Bitte, Mutter, wach auf«, flehte der weinende Josef.

Mutters Kopf ruhte auf einem weißen Kissen. Die Maiglöckchen, Röschen und Lilien, die man um ihren Kopf drapiert hatte, sorgten für Wohlgeruch. Die helle Sargdecke reichte bis zum Kinn. Die rechte Hand und den Unterarm hatte man mit einem bräunlichen Verband umwickelt. Ich spürte keine Furcht vor dieser Toten, dennoch schien es unmöglich, mit dem Weinen aufzuhören. Plötzlich fiel mir etwas auf, und ich flüsterte: »Warum hält Mutter eine Puppe im Arm?«

Vater rang um Fassung und antwortete mit belegter Stimme: »Das ist dein Bruder Leopold, den Mutter unter ihrem Herzen trug. Er ist mit ihr gestorben. Wir müssen uns damit trösten, dass sie im Himmel wenigstens eines ihrer Kinder bei sich hat.«

Ich wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen, obwohl ich das mit meinem toten Bruder nicht verstand. Mit der Aussage »trug ihn unter dem Herzen« konnte ich nichts anfangen.

Mutter hielt das kleine Bündel mit dem bandagierten Arm umklammert. In der linken, halb geöffneten Hand lag ein hellbraunes Holzkreuz. Vater strich mir übers Haar, und als ich zu ihm aufsah, liefen Tränen über seine Wangen.

»Betti«, seufzte er und streichelte ihr Gesicht. Ich war vollkommen durcheinander, denn ich hatte noch nie einen Mann weinen sehen. So etwas gab es sonst gar nicht.

»Darf ich sie auch anfassen?«, wisperte ich.

Vater schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nein, Fanny, du solltest dir die Erinnerung bewahren, an eine Mutter voller Wärme und Leben.«

Wir beteten »Gegrüßet seist du, Maria« zusammen. Dann kam der unvermeidliche allerletzte Blick auf Mutter, und wir gingen mit Vater hinaus zur Trauergemeinde.

»Sie können den Sarg jetzt zumachen«, gab Vater dem Bestatter die Order.

»Dann ist es ja ganz dunkel, und Mutter und Leopold werden sich fürchten«, jammerte ich.

Hilflos schaute mich mein Vater an, da sagte der Herr Pfarrer, der in unserer Nähe stand: »Fanny, das hast du doch schon im Religionsunterricht gehört, dass der Leib wieder zur Erde zurückkehrt, aber die Seele in den Himmel kommt. Deine Mutter hat die letzte Ölung bekommen, und dein Brüderchen ist getauft worden, also werden sie nun beide beim himmlischen Vater sein.«

»Es ist ungerecht, dass er ausgerechnet meine Mutter geholt hat«, jammerte ich.

»Das ist Gotteslästerung!«, rief der Pfarrer entrüstet und sagte zu meinem Vater: »Das Kind ist vorlaut. Das ist mir bereits im Unterricht aufgefallen.«

Vater und Großmutter wechselten einen raschen Blick. Aber sie schwiegen. Ich fing an zu weinen, und das erbarmte ihn wohl doch. Er strich mir sanft übers Haar und riet leise: »Bete jeden Tag ein Vaterunser für deine Mutter und den Leopold. Jesus Mutter Maria trauerte einst um ihren Sohn, sie versteht die Verzweiflung aller Trauernden. Auch an sie kannst du dich im Gebet wenden.«

Ich nickte, und unter dem Vorwand, aufs Klo zu müssen, entfernte ich mich von der Trauergemeinde. Unbemerkt schlüpfte ich noch mal ins Leichenhaus hinein. Der Friedhofswärter war nirgends zu sehen. So hatte ich noch einen kurzen Moment ganz alleine mit meiner Mutter. Ich streichelte ihr Gesicht, das sich eiskalt anfühlte, und flüsterte: »Komm gut in den Himmel, ich verspreche dir, dass ich jeden Tag für dich bete.«

Erschrocken prallte ich zurück, als Mutters Hand plötzlich schlaff nach unten fiel und das kleine Holzkreuz auf die Sargdecke glitt. Ich überlegte nicht lange, sondern nahm es als Zeichen, dass dies ihr letztes Geschenk an mich sein sollte.

»Danke«, wisperte ich, ergriff mit heftig pochendem Herzen das Kreuz und steckte es in meine Kleidertasche. Das Kreuz gab mir etwas Trost während der nachfolgenden Beerdigung, die meine Kinderseele aufs Tiefste erschütterte.

Der geschlossene Sarg wurde aus dem Leichenhaus herausgetragen. Der Pfarrer und die Ministranten, die den Weihrauchkessel schwenkten, gingen voran. An Vaters Hand folgten Josef und ich. Der Geruch von Weihrauch erinnerte mich jahrelang daran, wie wir unter einem wolkenverhangenen Himmel zu Mutters letzter Ruhestätte schritten. Josef, vom vielen Weinen und der Aufregung völlig erschöpft, stolperte und fiel hin. Er rieb sich jammernd das Knie. Mutters Bruder, Onkel Gustl, nahm ihn auf die Arme und versuchte, ihn dazu zu bringen, leise zu sein. An der Grabstelle angekommen, starrte ich entsetzt auf das tiefe Loch. Da sollte Mutter hinein? Der Pfarrer sprach wie üblich lateinisch und schlug das Kreuzzeichen über dem Sarg, der dann in die Grube hinuntergelassen wurde.

Josef torkelte mit weit aufgerissenen Augen auf mich zu, umklammerte mich und wimmerte: »Fanny, tu doch was, hilf der Mutter!«

Machtlos und schreckensstarr verfolgte ich das Tun der Erwachsenen. Ich spürte panische Angst, als der Pfarrer mit einer kleinen Schaufel Erde aufnahm und auf den Sarg warf. Onkel Gustl hatte sich zwischenzeitlich wieder Josefs angenommen. Ich sah, wie er sich mit dem heftig um sich schlagenden Buben vom Grab entfernte.

»Mutter!, Mutter!, Mutter!«

Josefs klägliche Rufe hallten über den Friedhof, als ich mit Vater an die offene Grabstelle ging. Ich umklammerte das Holzkreuz in meiner Tasche und flüsterte: »Auf Wiedersehen, liebe Mutter.«

Hoffentlich spürt sie nicht, wie tief unten der Sarg ist, dachte ich untröstlich.

Großmutter warf einige Blumen in die Grube und wisperte: »Betti, ich hab’s dir versprochen und halt es auch, ich kümmere mich um dein Mädi.«

Dann ließ sie von der Schaufel etwas Erde auf den Sarg fallen. Nachdem Großvater und Mutters Geschwister Abschied genommen hatten, stellten wir uns nebeneinander und nahmen die Beileidsbekundungen entgegen. Viele Trauergäste waren gekommen, um sich von Mutter zu verabschieden, und alle sprachen gute Worte über sie.

Plötzlich hörte ich ein lautes Krachen. Ich drehte mich um und musste mit ansehen, wie die Friedhofsarbeiter begannen, das Grab zuzuschaufeln.

»Muss das so schnell sein?«, schimpfte Großvater. Die Männer zuckten mit den Schultern und fuhren mit ihrer Arbeit fort.

Ich rang nach Luft und hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich fühlte Todesangst und wollte rufen, dass sie aufhören sollen, ich brachte lediglich ein krächzendes Keuchen zustande.

»Was ist mit dir?«, fragte Großmutter besorgt.

»Sie ist kreidebleich«, rief Tante Lena. »Herrschaftszeiten, Kind! Was ist denn los?« Tante Lena schüttelte mich, und ich umklammerte das Kreuz so fest, dass sich die Kanten in meine Handfläche bohrten. Ich sah silberne und goldene Sterne, hörte ein leises Sirren und Summen und dachte, dass ich nun auch in den Himmel auffahren würde.

»Mutter«, brachte ich schließlich leise hervor, dann kippte ich um.

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