Schicksalstage auf der Enzianhütte - Doris Strobl - E-Book

Schicksalstage auf der Enzianhütte E-Book

Doris Strobl

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Beschreibung

Katrin will nach der Trennung von ihrem Verlobten noch einmal neu anfangen. Sie verlässt ihre Heimat in Österreich und beschließt, eine Bäckerei in Oberbayern zu eröffnen. Bei ihrer ersten Erkundung in den Bergen gerät sie mitten in eine Kuhherde. Aus ihrer brenzligen Lage rettet sie Tobias. Er ist der Besitzer der Enzianhütte, auf der er mit seinem Großvater lebt. Schon bald entwickelt Katrin Gefühle für ihn. Doch auch Tobias hat eine unglückliche Liebe erlebt. Sein Herz ist noch nicht bereit, sich zu öffnen. Zu allem Überfluss droht er auch noch die Hütte zu verlieren, weil ein Skigebiet erschlossen werden soll, das der Gemeinde viel Geld bringen würde. Wird Katrin ihm in dieser schweren Zeit beistehen können?

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: © JFL Photography – Fotolia.com (oben) und Peter Atkins – Fotolia.com (unten)

Lektorat: Iris Erber, Aistersheim

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Worum geht es im Buch?

Doris Strobl

Schicksalstage auf der Enzianhütte

Katrin will nach der Trennung von ihrem Verlobten noch einmal neu anfangen. Sie verlässt ihre Heimat in Österreich und beschließt, eine Bäckerei in Oberbayern zu eröffnen. Bei ihrer ersten Erkundung in den Bergen gerät sie mitten in eine Kuhherde. Aus ihrer brenzligen Lage rettet sie Tobias. Er ist der Besitzer der Enzianhütte, auf der er mit seinem Großvater lebt. Schon bald entwickelt Katrin Gefühle für ihn. Doch auch Tobias hat eine unglückliche Liebe erlebt. Sein Herz ist noch nicht bereit, sich zu öffnen. Zu allem Überfluss könnte er auch noch die Hütte verlieren, weil ein Skigebiet erschlossen werden soll, das der Gemeinde viel Geld bringen würde. Wird Katrin ihm in dieser schweren Zeit beistehen können?

»Aua«, schimpfte Lena. »Pass doch auf! Du bist mir auf den Fuß getreten.«

»Entschuldigung«, antwortete Tobias und wirbelte seine Freundin schwungvoll über die Tanzfläche.

»Nicht so geschwind!«, rief sie mit hochrotem Gesicht.

»Ich kann nix dafür«, schnaufte er. »Ein Zwiefacher gehört so!«

»Mir ist ganz schwindlig«, jammerte sie. Dennoch bewegten sie sich weiter im Rhythmus der Musik, für die ein Akkordeonspieler sorgte.

»Das hätt ich nicht gedacht, dass wir zwei einmal einen Tanzkurs machen«, lachte Tobias. »Ich geb zu, die alten Tänze sind eine Riesengaudi! Ich find’s prima, dass wir uns jeden Freitag Zeit nehmen.«

Lena nickte und sagte süffisant: »Ja schau her, was für eine späte Einsicht! Wie hab ich betteln müssen, dass du mit mir herkommst!«

Tobias schnaubte: »Hast ja recht. Aber glaub mir, es ist hart für mich, dich im Sommer oft wochenlang nicht zu sehen.«

»Passt auf die Schritte auf«, mahnte der Tanzlehrer und zählte: »Eins, zwei, drehen, eins, zwei, Zwischenschritt, Drehung, Drehung, eins und zwei.«

Sie konzentrierten sich auf die Musik. Als das Stück zu Ende war, vernahmen sie den Ruf: »15 Minuten Pause!«

»Gott sei Dank«, seufzte Tobias. »Ich verdurste! Was magst du trinken?«

»Ein Wasser«, bat Lena, und Tobias ging zum Ausschank, um das Gewünschte zu holen. Am Tresen traf er auf seinen Schulfreund Paul.

»Servus, Tobias, wie geht’s dir? Bist noch beim Großvater auf der Hütt’n?«

»Freilich«, bestätigte Tobias erstaunt. »Wo denn sonst?«

»Na ja, man hört so manches«, meinte Paul verschwörerisch.

»Wovon sprichst du, bitte?«, schüttelte Tobias verwundert den Kopf.

»Es ist einer aus der Stadt unterwegs, der versucht, Grundstücke, alte Höfe und Berghütten zu kaufen«, erklärte Paul.

Tobias winkte ab: »Ach, das ist nichts Neues. In regelmäßigen Abständen tauchen Leute auf, die meinen, sie könnten sich alles unter den Nagel reißen.«

Paul warnte: »Ja, trotzdem, seid’s vorsichtig.«

»Danke für den Tipp«, sagte Tobias.

Paul zwinkerte ihm zu und blickte in Richtung Lena: »Wie schaut’s aus? Bekomm ich dieses Jahr noch eine Einladung für eure Hochzeit?«

Tobias lachte: »Gut möglich, aber jetzt muss ich der Lena ihr Mineralwasser bringen, sonst krieg ich Ärger. Du weißt ja, sie ist nicht die Geduldigste.«

Paul grinste amüsiert und rief Tobias nach: »Wenn ich dir deinen Junggesellenabschied organisieren soll, ruf mich an!«

»Ja sag mal, wieso dauert das so lang, ich verdurste ja schon«, schimpfte Lena, nahm das Glas Wasser entgegen und trank in hastigen Schlucken.

»Paul wollte wissen, ob er dieses Jahr auf unserer Hochzeit tanzen kann«, berichtete Tobias.

Lena lachte: »Du weißt, wie ich darüber denke. Sobald die Nikolaushütte überschrieben ist, gehen wir zum Standesamt. Es muss für mich alles seine Richtigkeit haben. Ich komme nur als deine Ehefrau auf die Hütte.«

Zärtlich strich ihr Tobias übers Haar. »Das ist mir klar. Ich will nur den Opa nicht unter Druck setzen. Es ist sein Lebenswerk, aber er hat mir fest versprochen, dass er bald übergeben wird.«

»Ja dann«, sagte Lena gedehnt, »musst halt weiterhin zu mir runter ins Dorf klettern, wenn du mich sehen willst.«

Er zog sie eng heran und gab ihr einen Kuss. »Nicht nur sehen will ich dich, Lenerl, auch spüren. Du weißt doch, wie verrückt ich nach dir bin.«

Mit einer geschickten Bewegung wand sie sich aus der Umarmung und hauchte ihm ins Ohr: »Hab nicht sturmfrei daheim zurzeit, da müssen wir halt mal wieder einen Waldspaziergang machen.«

Der Gedanke daran steigerte Tobias’ Begehren, und die leichte Röte in Lenas Gesicht sprach Bände. »Weiter geht’s, hab ich gesagt. Das gilt auch für euch Turteltauben. Lena! Tobias!« Sie zuckten zusammen, und unter dem Gelächter der anderen Tanzpaare kehrten sie auf das Parkett zurück. Der Wirt des Giggerlbräu hatte sich den Tanzkurs einfallen lassen, um wieder mehr junge Leute in sein Wirtshaus zu locken. An fünf Freitagen in Folge kam ein Tanzlehrer in den Festsaal des Gasthauses und gab Unterricht in den traditionellen bayerischen Tänzen. Als Lena davon erfahren hatte, war sie sofort zur Nikolaushütte hochgestiegen, um Tobias zu einer Teilnahme zu überreden. »Das wird fantastisch«, hatte sie mit glänzenden Augen geschwärmt. »Ich will da jedenfalls mitmachen, aber es geht nur paarweise. Bitte, Tobias, geh mit mir da hin.«

Tobias hatte sie zuerst entgeistert angeschaut und gefragt: »Ja sag mal, bist du übergeschnappt? Ich werde sicher nicht meine Arbeit stehen und liegen lassen und stundenlang ins Tal laufen, damit ich dort rumzappeln kann. Außerdem muss ich dann über Nacht bleiben, nein, das schlag dir aus dem Kopf.«

»Von wegen rumzappeln«, schnappte Lena. »Das ist ein professioneller Tanzkurs von neunzehn bis einundzwanzig Uhr. Wir unternehmen eh so wenig miteinander, weil du dauernd auf dieser Hütte hockst. Einmal könntest mir schon die Freude machen. Meine Eltern sind einverstanden, dass du im Gästezimmer schläfst.«

»Ach geh, tatsächlich?«, fragte Tobias überrascht. »Bisher haben sie ja eher verhindert, dass ich bei dir übernachte.«

»Mei«, neckisch neigte sie den Kopf zur Seite. Sie passen halt auf den guten Ruf ihrer Tochter auf. Es war gar nicht so leicht, die Mutti zu überreden.«

Tobias überlegte: »Um wie viel Uhr müsste ich beim Wirt sein?«

»Sagte ich doch bereits, es beginnt um sieben Uhr. Schau, du könntest um drei losgehen, kommst zu mir, machst dich ein bisserl frisch, ziehst dich um, und auf geht’s.«

»Das sagst du so einfach, Lena, aber die Arbeit hier droben ist genau aufgeteilt. Ich will dem Opa nicht zumuten, meinen Teil mit zu übernehmen.«

»Das packt der alte Ludwig schon mal für einen Abend und einen Morgen«, hörten sie die dunkle, kräftige Stimme von Tobias’ Opa, der zu ihnen trat. »Tobias, du bist eh immer so fleißig, du hast dir eine Abwechslung verdient. Die Lena ist ein fesches, junges Madl, die kann nicht immer auf dich verzichten. Also, keine Widerrede, es sind ja bloß fünf Freitage, dann nimmt das Leben wieder den gewohnten Gang.«

»Weiter geht’s«, vernahm Tobias die Stimme des Tanzlehrers, die ihn aus seinen Gedanken riss.

»Das macht so viel Spaß«, freute sich Lena, als Tobias sie in den Arm nahm.

Er grinste gutmütig, zog sie näher heran und flüsterte ihr ins Ohr. »Mir auch, vor allem gefallen mir die neidischen Blicke der anderen Männer. Du schaust heute wieder zum Anbeißen aus.«

»Erst wird getanzt, dann kannst beißen«, neckte sie ihn.

Er lachte hell auf und schaute zu Paul, der mit dem Lehrer diskutierte. »Nein«, sagte der, »heute bleiben die Paare so zusammen, wie sie sind. Ab der nächsten Stunde können wir tauschen. Dazu braucht ihr noch etwas mehr Übung. Zuerst müsst ihr zu zweit den Tanz perfekt beherrschen, sonst wird das nix.«

»Schade«, grummelte Paul. »Ich hätte gern mal mit Lena eine Runde gedreht.«

»Aber sie vielleicht nicht mir dir«, schnappte Tobias giftig.

Lena legte Tobias beruhigend die Hand auf den Arm, blitzte Paul spöttisch an und fragte: »Was sagt denn deine Frau dazu?«

Die Blondine, die neben Paul stand, lachte: »Geh, was regst dich denn so auf, Tobias? Ich würd jederzeit eine Runde mit dir drehen, oder fehlt dir bei mir der Mumm?«

Tobias merkte, wie kindisch sein Verhalten wirken musste, und meinte eilig: »Na, na, Melina, passt schon!« Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass der Tanzlehrer schimpfte: »Also, was ist jetzt, wollt ihr reden oder das Tanzbein schwingen?« Die Musik erklang, und unter fröhlichem Gelächter tanzten die Paare weiter.

***

»Wollen wir über den Nachtigallweg heimgehen?«, fragte Tobias, als er mit Lena das Giggerlbräu verließ.

Sie zögerte und meinte geziert: »Ich hab morgen Frühschicht. Ich würde mich lieber gleich hinlegen.«

»Ich bin auch müde«, bestätigte Tobias. »Aber ich wär noch so gern ein bisserl in deiner Gesellschaft. Wenn wir jetzt zurückgehen, muss sich jeder in sein Bett legen. Das find ich so schade, dass ich ganz einsam da lieg und dich so nah neben mir weiß.«

Sie strich ihm zärtlich über die Wange und seufzte: »Mir geht’s genauso, Tobias. Das Köchinnenleben ist halt kein Zuckerschlecken, auch nicht in der Vorsaison. Wenn ich nicht ausgeschlafen bin, schaffe ich die Arbeit nicht und bekomme Ärger mit dem Chefkoch. Ich hab dir doch erzählt, was das für ein Sklaventreiber ist. Nächste Woche bin ich zur Mittagsschicht eingeteilt, da kann ich am Samstag ausschlafen.«

Tobias gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Das ist eine tröstliche Aussicht«, raunte er. »Du bist immer so furchtbar vernünftig. Komm, gib mir noch ein ganz langes Busserl, dann geh ich brav mit dir nach Hause.«

Lena schmiegte sich an ihn und seufzte: »Ach Tobi, Liebster, wenn ich endlich mit dir auf der Hütte leben könnte. Ich stell mir so oft vor, wie herrlich das wird. Du kümmerst dich um das Vieh und den Enzianschnaps, und ich koche was Gutes für die Wanderer. Ohne Schichtdienst und keinen Chef mehr, der mir alle Handgriffe vorschreibt. Ich mach Kässpätzle und meine berühmten Semmelknödel mit Schwammerlsoße und richte große Brotzeitteller an. Nächsten Monat zeigt mir die Bartl-Bäuerin, wie man Butter und Käse macht. Dann kann ich dir diese Arbeit abnehmen.«

Tobias lächelte amüsiert: »Da hast du dir aber einiges vorgenommen.«

Sie nickte eifrig. »Ja freilich, nur vom Schnapsbrennen können wir nicht leben. So genügsam, wie dein Großvater sein Dasein fristete, geht das heute nimmer. Außerdem brauchen wir Geld für unseren Nachwuchs.«

Tobias feixte: »Ich muss wirklich öfter zu dir runterkommen. Sonst bleibt dir zu viel Zeit zum Pläneschmieden. Jetzt habe ich auch schon Kinder!«

Unsicher sah sie zu ihm auf. »Magst am End’ keine?«

Er grinste und flüsterte: »Freilich mag ich Sprösslinge, mit fünfundzwanzig hättest du gerade das richtige Alter dafür. Damit das was wird, sollten wir halt fleißig üben. Darüber denk ich zum Beispiel in meinen einsamen Hüttennächten nach.«

Sie schob ihn scherzhaft von sich weg: »Tobi, Tobi, du bist ein Schlimmer. Ich hatte ein bisserl Bedenken, dass du mit siebenundzwanzig noch nicht Vater werden willst.«

Stürmisch bedeckte er ihr Gesicht mit vielen Küssen, hörte plötzlich abrupt auf und jammerte: »Ich halt’s nimmer aus ohne dich! Es muss etwas passieren.«

Lena schwieg und nickte zufrieden. Genau das hatte sie erreichen wollen, als sie ihn zum Tanzen zu sich ins Tal lockte. Er sollte endlich einsehen, dass es jetzt an der Zeit war, mit ihr eine Familie zu gründen. Sie hatte es gründlich satt, in der Restaurantküche zu schuften. Auf einer einsamen Enzianhütte zu wohnen und zu arbeiten, schien ihr zwar auch nicht die Erfüllung aller Träume zu sein, aber besser als eine Großküche kam es ihr allemal vor. Tobias würde ein guter Vater und treuer Ehemann sein. Wenn es ihr gelang, mehr Gäste als bisher auf die Hütte zu locken und die eine oder andere Veranstaltung durchzuführen, reichte das Einkommen mit Sicherheit für ein angenehmes Leben. Ob sie allerdings die Eintönigkeit auf dem Berg, die Routine und die viele Arbeit auf Dauer ertragen würde? Würde sie die Tanzabende, die Dorffeste, die lustigen Mädelsabende und die Einkaufsmöglichkeiten vermissen? Derlei Überlegungen hatte sie durchaus angestellt. Doch sie blickte ein wenig neidisch auf die Schulfreundinnen und die anderen jungen Frauen in ihrem Alter. Fast alle waren bereits Ehefrauen und Mütter und schwärmten ihr vom Familienleben vor.

»Komm, Lena«, hörte sie ihn sagen. »Lass uns ins Bett gehen, ich schwöre dir, gleich morgen rede ich mit dem Opa!«

»Das ist eine gute Idee«, schnurrte sie. »Er geht auf die siebzig zu, da ist er vielleicht froh, wenn er im Tal ein bequemeres Leben führen kann.«

Tobias küsste sie auf die Stirn und murmelte: »Ach so, ich hätte gemeint, der Ludwig-Opa soll mit uns oben auf dem Berg bleiben.«

Lena gluckste: »Geh, Tobias, wie stellst du dir das vor? Die Wände in der Hütte sind hauchdünn, wenn wir zwei zusammenliegen und …« Sie schaute ihn mit einem vielversprechenden Blick an.

Er drohte ihr mit dem Zeigefinger: »Hör auf damit, ich muss jetzt gleich allein unter die Bettdecke schlüpfen.«

Sie raunte: »Im Ernst, Tobias, das tut nicht gut, Alt und Jung zusammen.«

Er seufzte und sagte mit nachdenklicher Miene: »Es wird schwierig werden, aber ich tu mein Bestes, ich verspreche es.«

Sie löste sich aus seinen Armen. »Du machst das sicher gut, Tobi. Denk dran, dass er ohne dich die Arbeit unmöglich bewältigen könnte. So – und nun ab nach Hause.«

***

»Guten Morgen zusammen«, rief Tobias fröhlich, als er in die Küche von Lenas Eltern trat. Sie murmelten kaum hörbar ein »Morgen«. Tobias ignorierte ihr Verhalten, ging zu Lena, küsste sie mitten auf den Mund und sagte: »Guten Morgen Schatzerl, hast du gut geschlafen?«

Lena strahlte ihn an: »Ja, hab ich, magst einen Kaffee?«

Er nickte, und Lenas Vater brachte knurrend hervor: »Ist keiner mehr da, grad ist das Pulver ausgegangen.«

»So ein Zufall aber auch«, zischte Tobias, sichtlich bemüht, seinen Ärger zu unterdrücken. Vor zwei Jahren hatte Lena ihren Eltern Tobias vorgestellt. Von Anfang an hatten sie ihn unmissverständlich spüren lassen, dass sie sich einen anderen Mann für die Tochter erhofft hatten. Der Gedanke, dass Lena auf einer einsamen Hütte ihr Leben fristen sollte, erfüllte sie mit Entsetzen, und sie taten alles, diese Beziehung zu stören.

»Da Tobi, nimm meinen«, sagte Lena und schob ihm die Tasse hin.«

Er streichelte sanft ihre Wange: »Lass nur, ich hol mir in der Tankstelle was zu trinken. In dieser Atmosphäre bring ich sowieso nichts runter.«

Sie presste die Lippen zusammen und schenkte ihm einen traurigen Blick. »Begleitest du mich vor die Tür?«, bat er.

Als die beiden hinausgingen, hörten sie Lenas Mutter rufen: »Gern geschehen, Tobias, es braucht keinen Dank für die Übernachtungsmöglichkeit!«

Er schüttelte den Kopf und sagte zu Lena: »Nächsten Freitag übernachte ich im Fremdenzimmer vom Giggerlbräu. Bevor ich jetzt zur Hütte aufsteige, buche ich ein Doppelzimmer für uns. Ich hab die Stimmung bei deinen Eltern echt satt. Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr, sondern erwachsene Leute.«

Lena nickte zustimmend, umarmte ihn und flüstere ihm ins Ohr: »Das ist eine schöne Idee mit dem Zimmer, da können wir uns jetzt eine ganze Woche drauf freuen. Komm gut heim und grüß mir den Ludwig-Opa.«

»Mach ich«, versprach er. Nach einem langen Abschiedskuss stärkte sich Tobias an der Tankstelle mit einem kleinen Frühstück und begann den mühsamen Aufstieg zur Nikolaushütte. Er dachte an Lena, und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihn in diesem Jahr erst einmal auf der Hütte besuchte hatte. »Eigenartig«, grübelte er, »im letzten Jahr ist sie viel öfter zu mir raufgekommen.« Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Sommer erst anfing und er sie ja nun durch den Tanzkurs öfter sehen würde.

Auf halber Höhe machte er Rast und genoss den Ausblick über das weite Tal. »Immer wieder schön«, seufzte er. »Alles Natur hier oben, fraglich bloß, wie lange das so erhalten bleibt.« Die Gemeinde plante eine Verlängerung der schmalen Zufahrtsstraße bis direkt vor die Hütte, doch Tobias und Ludwig lehnten das strikt ab. Tobias musste grinsen, als er an das entsetzte Gesicht von Bürgermeister Alfred dachte. Er hatte verzweifelt versucht, den sturen Alten und den altmodischen Jungen von der Nikolaushütte über das zeitgemäße Leben zu belehren.

»Mir langt der Sessellift im Winter«, argumentierte Ludwig. »Es ist schädlich für die Bergwelt, wenn man überall mit dem Auto oder dem Lift hinkommt. Wer es nicht schafft, aufzusteigen, der soll einfach drunten bleiben. Wo liegt denn da der Sinn: mit dem Auto rauffahren, eine Brotzeit machen, die Aussicht bewundern und ohne einen weiteren Schritt zu laufen wieder runterfahren? Da kannst du dir gleich einen Bergfilm anschauen.«

»Geh, das ist doch ein Krampf«, meinte der Bürgermeister. »Es wäre eine Erleichterung für euch. Vom Parkplatz bin ich jetzt eine Stunde zur Hütte gelaufen. Wie vor hundert Jahren schleppt ihr alles mühsam mit der Kraxen rauf und runter. Das ist vollkommen unnötig. Irgendwann muss man halt mit der Zeit gehen!«

»Ich muss gar nix, bin ein freier Mann«, antwortete Ludwig, und Tobias nickte zustimmend.

»Überlegt doch mal vernünftig«, versuchte es Alfred erneut. »Wenn ihr besser zu erreichen seid, kommen mehr Gäste, und ihr könnt die Einnahmen steigern.«

»Tobias, was meinst du? Uns reicht, was wir verdienen, oder?« Ludwig unterschlug geflissentlich die Information, dass er und Tobias einen finanziellen Zuschuss von der Familie bekamen, die den großen Sattler-Hof im Tal bewirtschafteten.

»Opa hat recht«, sagte Tobias. »Schau dich um, Alfred. Die Hütte ist komplett eingerichtet, Geschirr ist da. Holz holen wir im Wald, der Gebirgsbach spendet das Wasser, wir haben reichlich Käse, Butter, Milch. Jetzt sag mir, bitteschön, wozu sollen wir mehr verdienen?«

»Dann könntet ihr einmal in Urlaub fahren«, schlug Alfred vor.

In Ludwigs Gesicht zuckte es, als er sich über die grauen Bartstoppeln fuhr. Schließlich brach er in lautes Lachen aus: »Urlaub?« Fast verächtlich spuckte er das Wort aus. »Und welches Urlaubsziel schlägst du vor?«

Alfred wand sich, überlegte und stieß dann triumphierend hervor: »Das Meer zum Beispiel.«

»Echt?«, fragte Ludwig amüsiert. »Was sollte ich da tun? Am Strand liegen und dumm schauen?«

»Da ist Hopfen und Malz verloren«, resignierte der Bürgermeister, nannte Ludwig und Tobias altmodisch, stur und uneinsichtig. Was die beiden Männer weder beeindruckte noch störte.

Mit steten, weit ausholenden Schritten stieg Tobias den ausgetretenen Pfad hoch. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf und summte ein Lied, das ihm gerade in den Sinn kam: Auf, du junger Wandersmann … Er grinste, als er an die modernen Wanderer dachte, die oft in der Nikolaushütte eine Rast einlegten. Sie trugen Funktionskleidung, ergonomische Rucksäcke und hatten das neueste Modell der angesagtesten Wanderstiefel an den Füßen. Manche zeigten stolz ihre Schrittzähler, über deren Sinn sich Tobias einmal hatte aufklären lassen. In aller Ernsthaftigkeit erklärte ihm ein besonders sportlicher Mann, dass er dann am Abend seine Tagesleistung bewerten könne. »Ach, Sie gehen nicht in die Berge, weil’s einfach schön ist?«, fragte Tobias verblüfft.

Der Mann hatte ihn entgeistert angeschaut und erwidert: »Schön? Ich will gesund bleiben und mich fit halten, daher mache ich das.«

Ja, die Motive der Wanderer schienen Moden unterworfen. Man nannte sie jetzt Trecker oder Walker. Was Opa Ludwig spöttisch lächeln ließ. Opa! Tobias wurde mulmig zumute. Wie sollte er das Gespräch mit ihm beginnen? Seit zwanzig Jahren wohnte Ludwig fast ununterbrochen auf der Hütte. Er hatte mit seiner Ehefrau Maria im Dauerstreit gelebt. Wie Hund und Katz waren die beiden aufeinander losgegangen. »Wieso habt ihr denn so viel gestritten?«, hatte Tobias einmal von seinem Opa wissen wollen.

Er wand sich erst verlegen und antwortete: »Mei, das hat vielerlei Gründe. Deine Oma hat ihren eigenen Kopf, und oft herrschten unterschiedliche Meinungen. Na ja, und sie hat es auch überbewertet, dass ich mich gerne mal ein bisserl mit anderen Damen unterhalte. Außerdem lebte meine Schwiegermutter bei uns, und die hatte wirklich Haare auf den Zähnen.«

»Habt ihr auch mal daran gedacht, euch scheiden zu lassen?«

»Um Himmels willen«, rief Ludwig da. »Niemals, wir sind doch katholisch! Was meinst du, wie sie sich im Dorf das Maul zerrissen hätten? Scheidung auf dem Sattler-Hof? Nein, nein, da war ein wenig Distanz eindeutig die bessere Lösung.« So beschloss Ludwig, seine Frau im Tal zu lassen und die verwaiste Nikolaushütte wiederzubeleben. Sie war seit vielen Generationen im Familienbesitz.

»Und wie bist du darauf gekommen, Schnaps zu brennen?«

»Die alte Urkunde hing doch jeden Tag in der Stube vor meiner Nase. Die Familie hat das Recht, Enzianpflanzen anzubauen und aus deren Wurzeln Schnaps zu brennen. Wir haben die Urkunde zur Zierde aufgehängt und gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Doch eines Tages hab ich sie durchgelesen, und da ist mir die Idee gekommen, von dem alten Recht wieder Gebrauch zu machen.« Eines schönen Tages packte der Großvater seine Sachen und zog auf den Berg.

»Wie hat die Oma reagiert?«, erkundigte sich Tobias.

»Sie hat mir viel Glück und gutes Gelingen auf dem Berg gewünscht. Sie lässt mir meine Freiheit, das muss man ihr zugutehalten.«

Tobias forschte weiter: »Ihre Mutter ist ja längst verstorben, und trotzdem bist du immer noch hier oben?«

Ludwig schaute Tobias überrascht an und meinte: »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und ich hause gern hier oben.« Er zögerte und fügte leise hinzu: »Vor allem, seit wir beide zusammenarbeiten. Das ist für mich ein wahrer Jungbrunnen. Klingt jetzt recht kitschig, ich weiß, aber es stimmt.«

Tobias hatte die Hand seines Opas in seine genommen und fest gedrückt, obwohl er ihn am liebsten gerührt umarmt hätte. Doch solche Nähe war Ludwig suspekt, das wusste er.

Tobias überlegte, wie lange das Gespräch zurücklag. Zwei Jahre? Egal, sein Opa hatte dieses Thema nie wieder angerührt, und der Enkel hatte es dabei belassen.

Tobias setzte sich auf eine Bank und legte noch einmal eine Rast ein. Er sah in einiger Entfernung eine Gams stehen, die zu ihm hinüberstarrte: »Bist du allein?«, grummelte er verwundert. »Wo sind denn deine Gefährten? Oder brauchst auch Zeit zum Nachdenken?«

Tobias schüttelte den Kopf. »Jetzt red ich schon mit einer Gams.« Er seufzte tief, und seine Gedanken wanderten erneut zu Lena. Bedauerlicherweise hatte Ludwig unmissverständlich ausgedrückt, dass er Lena nicht mochte. Es erschien Tobias unwahrscheinlich, dass er ihretwegen die Hütte verlassen würde. »Vielleicht tut er es mir zuliebe«, hoffte Tobias laut.

Er holte aus dem Rucksack eine Wasserflasche und nahm einen kräftigen Schluck. »Auf geht’s«, sagte er wenig später, erhob sich und stieg bedächtig das letzte Stück zur Hütte hinauf.

Als sie in der Ferne auftauchte, spürte er ein wohliges Gefühl. Meine Heimat, dachte er. Wie prächtig die Hütte von Weitem ausschaute, wie schön sie da in der Sonne stand. Auf dem Plateau erfreute ihn die farbige Vielfalt der Bergwiesen. Die Alpenrose, auch Almrausch genannt, fing soeben an zu blühen. Der Anblick faszinierte ihn jedes Jahr. Er konnte gut verstehen, dass viele Touristen extra zu der Zeit auf den Berg kamen, um dieses spezielle Geschenk der Natur zu bewundern.

Schnaufend trat er in die Hütte ein.

Ludwig saß am Tisch der geräumigen Eckbank und blinzelte ihm gut gelaunt zu: »Na, hast dich gut amüsiert beim Tanzen?«

Tobias grinste und nickte. »Ja, hat Spaß gemacht.«

Der Schalk blitzte aus Ludwigs Augen, als er sich erkundigte: »Und die Liebe ist auch nicht zu kurz gekommen, hoffe ich?«

»Geh, Opa!«, rief Tobias vorwurfsvoll.

Der begann schallend zu lachen und schnaubte: »Wenn es auch lang her ist, ich kann mich durchaus dran erinnern, welche Bedürfnisse ein junger Bursch hat.«

»Ich hab geglaubt, du findest die Lena unsympathisch«, sagte Tobias verwundert.

Ludwig winkte ab: »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Mir ist wichtig, dass es dir gut geht, und ich hab’s im Gefühl, dass die Lena ihre eigenen Interessen verfolgt.«

»Was steht an Arbeit an?«, fragte Tobias hastig, um von dem Thema wegzukommen.

»Setz dich zu mir«, befahl Ludwig.

»Gleich«, wich der Enkel aus. »Ich hol mir was zu trinken.« Er ging vor die Hütte und schöpfte frisches, glasklares Wasser aus dem Brunnen, den der Gebirgsbach speiste. »Da bin ich«, verkündete er, während er sich auf die gemütliche Eckbank setzte, die eine Sitzmöglichkeit für zehn Personen bot.

Es gab einen Schlafraum für Tobias und einen für Ludwig. Zwei Kammern hielt man als Gästequartier bereit. In einer fanden vier Matratzen Platz, in der anderen gab es sechs Schlafplätze. Der Gärraum diente als Abstellfläche und Speisekammer. Über diesen Raum erreichte man auch den Anbau, in dem der Enzian hergestellt wurde. Seit ein Journalist in einer überregionalen Zeitung der Nikolaushütte einen ausführlichen Bericht gewidmet hatte, kamen in letzter Zeit mehr Besucher. Mit Sorge registrierte Ludwig, dass der Enzianschnaps unter jungen Leuten als ein »Kult-Getränk« gehandelt wurde. Es gefiel ihm nicht, dass die Jugendlichen Unmengen Schnaps tranken, auch wenn das den Umsatz steigerte. »Früher galt der Enzian als Heilpflanze. Bereits die Römer setzten die Pflanze bei Verdauungsbeschwerden ein. Daher solltet ihr das Produkt, das daraus entsteht, auch achten«, hatte er einer Horde Burschen erklärt. Ärgerlich über Ludwigs Weigerung, noch mehr Enzianschnaps auszuschenken, nannten sie ihn einen »alten Kauz« und motzten über sein »Oberlehrer-Gehabe«, worauf Ludwig sie vor die Tür gesetzt hatte.

Tobias kam hingegen bestens mit seinem Großvater aus. Seit fünf Jahren lebten sie einträchtig zusammen auf der Enzianhütte. Tobias hatte die Schulferien immer gerne dort verbracht. Er ging dem Opa schon damals fleißig zur Hand und wuchs so ins Hüttenleben hinein. Nach Abschluss seiner Berufsausbildung entschloss sich Tobias, auf der Hütte zu leben und zu arbeiten. Von Ende April bis Ende Oktober versorgten sie Wanderer mit einer Brotzeit, wobei Ludwig darauf bestand, die Verpflegung unkompliziert zu halten. Es gab Butterbrote mit Schnittlauch, geräuchertem Schinken oder Käse. Manchmal gab es Bratwürste oder Bratkartoffeln mit Speck. Dazu konnte man Milch oder Wasser trinken. Einmal im Monat schürten Tobias und Ludwig den gewaltigen Backofen. Aus Natursauerteig fertigten sie köstliche Brotlaibe, die sich durch kernige Würze und lange Haltbarkeit auszeichneten. Butter und Käse stellten die beiden selbst her. Nach Aussage der Gäste verfügten ihre Produkte über einen erstklassigen, unvergleichlichen Geschmack, wobei Ludwig das meistens abtat: »Das ist die frische Luft, da schmeckt alles gut!«

Den November und Dezember verbrachten sie im Tal. Im Januar, wenn die Wintersaison begann, stiegen sie wieder hinauf, um die Hütte für die Skifahrer zu öffnen. Ein kleiner Schlepplift, von einem Bauern in Betrieb genommen, machte es Opa und Enkel leichter, die Waren auf den Berg zu bekommen. Während sich Ludwig um die Hütte kümmerte, gab Tobias Unterricht im Skifahren. Je nach Schneelage ging es Mitte März noch mal für einen Monat ins Dorf hinunter, und dann begann die Sommersaison. Die letzten vier Winter hatte es kaum geschneit. Eine Beschneiungsanlage musste dafür sorgen, dass der Skibetrieb überhaupt aufgenommen werden konnte. Bald wichen sogar die Stammgäste auf andere Skigebiete aus. Ludwig und Tobias registrierten zwar die nachlassenden Besucherzahlen, nahmen es jedoch gelassen hin.

Ludwig schob seinem Enkel einen Zeitungsartikel über den Tisch. »Schau«, forderte er. »Hat mir gestern ein Wanderer dagelassen.«

Tobias schüttelte den Kopf und raunte: »Ja, sag mal, das ist doch vollkommen verrückt.«

Ludwig nickte zustimmend, und Tobias las die Schlagzeile vor: Gemeinderat beschließt Anschaffung weiterer Schnee-Kanone. Er überflog den Artikel, ließ das Blatt auf den Tisch sinken und seufzte: »Geh, Opa, wieso erschreckst mich denn so? Das betrifft doch den Nachbarort.«

»Noch«, entgegnete Ludwig trocken. »Aber wenn einer anfängt, kommt der Nächste auch auf diese Idee.«

Tobias stand auf und sagte: »Du bist zu pessimistisch!«

»Na, hoffentlich«, meinte Ludwig. »Ich hätte gerne unrecht.«

»Also, Opa, womit soll ich anfangen?«, wollte Tobias voller Tatendrang wissen.

»Die obere Wiese mähen«, bat Ludwig. »Ich hab dir die Sense schon geschliffen. Wir brauchen ein bisserl einen Heuvorrat, mir ist so, als ob das Wetter bald umschlägt, dann müssen wir die Kühe in den Unterstand holen.«

»Ich fang gleich an«, bestätigte Tobias und ging zügig hinaus.

Nach der abendlichen Brotzeit stellte Ludwig fest: »Bist recht still heute, was ist los mit dir? Ist irgendwas passiert, oder hast deinen Bruder getroffen?«

Tobias schüttelte den Kopf. »Ich hab mir zwar überlegt, beim Hof vorbeizuschauen, aber nachdem Lenas Eltern sich wieder mal unmöglich aufgeführt haben, hat’s mir gereicht. Klar hab ich ein schlechtes Gewissen, denn Mama und Papa können ja nix dafür, dass der Florian und ich im Streit liegen. Sie wohnen halt mit auf dem Hof, und so ist es nicht zu vermeiden, dass ich auf meinen lieben Bruder und seine Frau treffe. Nächsten Freitag oder Samstag will ich hingehen. Da übernachte ich beim Giggerlbräu und habe dann eher den Nerv, mich mit dem Florian auseinanderzusetzen.«

Ludwig nickte bedächtig. »Du kennst meine Meinung dazu. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass das Erbe gerecht aufgeteilt wurde. Aber mir steht’s nicht zu, großartige Ratschläge zu geben, wenn ich daran denke, welches Zerwürfnis ich mit deiner Oma habe. Manchmal packt mich das schlechte Gewissen, dass ich dir den Sattler-Sturschädel vererbt hab.«

Tobias grinste: »Meinst, dass man so was vererben kann?«

»Ich fürchte fast«, Ludwig nickte. »Aber das ist doch nicht der Grund, wieso du heute so einsilbig bist?«

Tobias zögerte etwas. »Die Lena möchte bald heiraten.«

Ludwig kratzte sich über den Bart und raunte bedächtig: »Und du, möchtest du das auch?«

»Ich, klar«, beeilte sich Tobias zu sagen, »da hab ich mich wohl falsch ausgedrückt.«

Ludwig grinste amüsiert: »Mei, Bua, ich versteh’s nicht ganz. Ihr kennt euch zwei Jahre, oder? Wenn man heutzutage zusammen sein will, muss man doch nicht mehr gleich heiraten. Oder ist sie schwanger?«

Tobias presste die Lippen aufeinander und seufzte: »Nein, das nicht, aber sie zieht nur als meine Ehefrau mit mir herauf.«

»Jetzt kommen wir der Sache näher«, meinte Ludwig. »Mal ehrlich, Tobias, glaubst du denn wirklich, das Leben hier oben macht die Lena glücklich?«

»Ja, mit mir schon«, stieß der Enkel trotzig hervor.

»Dann lad sie doch ein, diesen Sommer mit uns zu verbringen. So kann sie den Alltag hautnah miterleben und dann entscheiden, ob ihr das Hüttenleben liegt oder nicht«, schlug Ludwig vor.

»Ausgezeichneter Vorschlag!«, freute sich Tobias. »Das werde ich ihr nächste Woche anbieten.« Froh darüber, um das schwierige Gespräch mit Ludwig noch mal herumgekommen zu sein, holte Tobias die Karten aus der Tischschublade und fragte: »Watten?«

»Immer«, nickte Ludwig. Fast jeden Abend spielten sie ein paar Runden des traditionellen Kartenspiels. Tobias, mit den Gedanken bei Lena und ihrer Reaktion auf Ludwigs Idee, konnte keinen Sieg verbuchen. Bald verlor er die Lust am Spiel, und sie gingen ungewöhnlich früh zu Bett.

Am nächsten Morgen reparierten Ludwig und Tobias einen Weidezaun. Bald stellte sich bei der gemeinsamen Arbeit die alte Vertrautheit wieder ein, was Tobias erleichtert zur Kenntnis nahm. Er scherzte und zeigte beste Laune. Ludwigs Zuversicht stieg, dass alles einen guten Ausgang nehmen würde.

***

»Bist wirklich fesch genug für deine Hübsche«, neckte Ludwig seinen Enkel am nächsten Freitag, als der aufmerksam das eigene Spiegelbild musterte.

»Ich brauch dringend ein neues Hemd«, stellte Tobias fest. »Kann ja schlecht fünf Mal hintereinander dasselbe anziehen, oder?«

Ludwig feixte: Können schon, aber wollen tut er nicht. Sehr eitel, der junge Mann!«

»Du solltest mal sehen, wie die anderen Männer da auftrumpfen. Die Lena soll sich ja nicht genieren mit mir.«

»Freilich«, grummelte Ludwig gutmütig. »Das versteh ich, hab nur einen Spaß mit dir gemacht. Weißt was, geh jetzt sofort los. Besuch deine Eltern, kauf dir ein schönes Hemd und hol dann deine Lena zum Tanzen ab.«

»Meinst?«, fragte Tobias skeptisch. »Aber die Arbeit?«

Damit beim Enkelsohn kein schlechtes Gewissen aufkam, lachte Ludwig auf: »Die ist morgen auch noch da. Ich nehm sie dir bestimmt nicht weg. Also, schau, dass du weiterkommst!«

Nachdem sie gemeinsam die Einkaufsliste erstellt hatten, packte Tobias einige Kleidungsstücke in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg. »Wiedersehen, Opa«, rief er vergnügt. »Bleib mir anständig, bis ich wieder da bin!«

Ludwig drohte ihm mit dem Finger und raunte dann mit verlegender Miene: »Falls du zufällig deine Oma siehst, sagst einen recht schönen Gruß.«

Tobias stutzte: »Hallo, was ist denn mit dir los? Das richte ich selbstverständlich aus! Bin bloß verwundert, das hast du noch nie gesagt.«

»Ja, aber jetzt tu ich es«, stieß Ludwig fast trotzig hervor.

Tobias grinste, winkte seinem Opa noch mal zu und marschierte los.

Gut gelaunt kam er in Ruhbergel an. Zuerst ging er zum Giggerlbräu und deponierte den Rucksack im angemieteten Zimmer. Mit flottem Schritt lief er die Dorfstraße entlang und gelangte bald zum Elternhaus. Nachdenklich musterte er den Ort, an dem er die Kindheit und Jugend verbrachte hatte. Oma Maria saß auf der Bank vor dem Haus und strickte. »Was für eine Idylle«, murmelte Tobias spöttisch. Er ließ den Blick weiterschweifen und entdeckte seinen Bruder Florian, der mit dem Schubkarren auf den Misthaufen zusteuerte. »Das auch noch«, grummelte er. »Dem will ich jetzt ungern begegnen.« Mit einem kurzen Gruß lief er an der Oma vorbei ins Haus. »Ist jemand da?«, schrie er im Flur.

Eine Türe öffnete sich, und seine Mutter rief freudig: »Tobias, wie schön! Komm rein in die Stube!«

Hinter ihm ertönte die Stimme der Großmutter. »Ja, Bua, jetzt warst so lang nicht mehr bei uns und rennst einfach an mir vorbei.« Gemeinsam gingen sie in den gemütlich eingerichteten Raum.

Tobias’ Vater, Martin, stand auf und begrüßte den Sohn: »So eine Überraschung, geh, Rosi, leg noch ein paar Weißwürst’ ein. Magst doch mitessen, oder? Wir machen grad Brotzeit.« Dankbar nickte Tobias und setzte sich an den Esstisch. Der Vater schob ihm den Korb mit Brezen hin, nahm eine Wurst und stellte fest: »Aus der Hand schmecken sie mir immer am besten. Die meisten Leut’ finden das Zuzeln nicht mehr fein genug. Mir ist das egal. Für mich ist es kein Genuss, wenn ich die Weißwurst mit Messer und Gabel bearbeite.«

»Da geb ich dir recht, Papa«, lachte Tobias. »Wie geht’s auf dem Berg?«, fragte Oma Maria.

Ihr Enkel richtete die Grüße des Opas aus, was sie mit einem Stirnrunzeln und den Worten »Ist er krank?« kommentierte.

»Nein«, antwortete Tobias einsilbig.

»Ich bin überrascht, dass er an mich denkt. Das kommt mir komisch vor. Schau mal genau hin, ob ihm nicht doch was fehlt«, sagte Maria mit energischer Stimme. Tobias versprach es und hörte sich anschließend den neuesten Dorfklatsch an.

»Du warst letzten Freitag tanzen beim Giggerlbräu«, warf Rosi vorwurfsvoll ein. Das erfahre ich in der Metzgerei so nebenbei beim Einkaufen. Da hättest auch zu uns kommen können.«

»Jetzt bin ich ja da«, entgegnete Tobias und biss gierig in die erste Weißwurst, die ihm auf einem Keramikteller soeben serviert wurde. »Mmh«, mampfte er. »Köstlich! Hast ein Weißbier für mich?«

»Bring ich gleich, obwohl’s ein bisserl früh ist für Alkohol«, meinte die Mutter.«

»Das vertragt der Bua schon«, sprang ihm der Vater bei. »Ist doch ein ausgewachsenes Mannsbild.«

»Mmh, das schmeckt«, tat Tobias genießerisch kund, als er das Glas absetzte.

»Die Zeit hätte ich auch gern, mich am Nachmittag hinzusetzen und Brotzeit zu machen«, vernahm er die Stimme seines Bruders Florian.

»Magst eine Wurst?«, bot die Mutter an.

»Nein«, giftete ihr Sohn. »Mit dem da an einem Tisch, unter keinen Umständen.«

Tobias sprang auf, sodass der Stuhl nach hinten krachte und ballte die Faust: »Gleich setzt’s was, du … Erbschleicher!«, drohte er.

»Reißt euch zusammen!«, donnerte die Stimme des Vaters dazwischen. »So weit kommt es noch, eine Rauferei in meiner Stube!«

Die Mutter jammerte in weinerlichem Ton: »Mei, bitte, vertragt euch halt wieder!«

»Niemals«, kam es wie aus einem Mund. Dann stürmte Florian hinaus, die Tür fiel krachend ins Schloss und Tobias kommentierte: »Blöder Depp!« Die fröhliche Stimmung wollte sich nicht mehr einstellen. Nachdem Tobias die Brotzeit beendet hatte, nahm er Abschied und ging ins Dorf.

Er betrat den Kramerladen, der von Zenta Weber geführt wurde. Im Dorf nannte man sie nur »die Kramerin«, und Tobias staunte mal wieder, was sie alles in dem fünfzig Quadratmeter großen Raum untergebracht hatte. Ein Sammelsurium diverser Kurzwaren, Kerzen, Schreibwaren, Naturmedizin und Kleidung wartete ordentlich in Regalen gestapelt auf ihre Käufer. Hier fanden die Frauen noch Kittelschürzen, und die Männer mochten die feinen Leinenhemden, die von der Kramerin im Hinterzimmer eigenhändig genäht wurden.

»Grüß Gott, Kramerin«, grüßte er freundlich und sie rief erfreut: »Ja, der Sattler-Tobias! Solltest du nicht auf dem Berg sein?«

Er lachte, erklärte die Situation und fragte nach einem Leinenhemd.

Sie schaute ihn prüfend an, grummelte: »Mei, des hättest besser vorbestellt. Meine Hände wollen an der Nähmaschine nimmer so, wie ich mir das wünsche. Ohne Auftrag mach ich keine mehr.«

Sie fing an, in einem Regal herumzusuchen, musterte nachdenklich die Reihen und meinte: »Du bist hochgewachsen, schau mal, der Stapel ganz oben, hol den runter.« Er tat es und legte die fein säuberlich aufeinandergelegten Herrenhemden auf den Tresen. »Alles deine Größe«, behauptete sie. Tobias sah mit Schaudern die grellbunten Muster der Hemden. Die groß karierten blauen und rotweißen Rauten fand er scheußlich. Die Kramerin bemerkte seinen skeptischen Blick und raunte: »Wird von Touristen gern genommen.«

»Echt?«, fragte Tobias verwundert.

Die Kramerin nickte und bat ihn, den Stapel wieder in die Höhe zu verfrachten. Sie tippte sich an die Stirn und rief: »Jetzt fällt mir was ein. Ich sag dir, mein Hirn wird immer blöder!«

Tobias lachte, und sie schimpfte: »Brauchst nicht lachen, wart mal, bis du achtzig bist!«

»Was? Das ist ja unfassbar. Sie schauen niemals so alt aus!«

»Sag das bitte meinem Körper und dem Kopf. Überall lasst es aus.«

Tobias schenkte ihr einen respektvollen Blick: »Bewundernswert, dass Sie noch im Laden stehen.«

»Ja mei«, seufzte sie. »Wer soll es denn sonst machen, hab ja keinen Nachfolger. Wenn ich aufhöre, ist für immer Schluss.«

»Das wäre schade«, bedauerte Tobias.

Die Kramerin kniete inzwischen hinter dem Tresen und warf plötzlich etwas Weißes nach oben. »Komm, hilf mir auf!«, keuchte sie. Tobias reichte ihr den Arm, damit sie leichter aufstehen konnte. Sie faltete den Stoff auseinander und meinte mit einem skeptischen Blick: »Probier’s mal, das könnte dir passen!«

»Wie angegossen«, rief Tobias aus der Nähstube, die zugleich als Umkleidekabine diente.

Die Kramerin musterte ihn aufmerksam und seufzte: »Ein fesches Mannsbild. Mei, da möcht man noch mal jung sein!« Sie mussten beide herzlich lachen.

»Da werde ich heute Abend glänzen«, freute sich Tobias und erzählte vom Tanzkurs.

»Aber so nicht!«, erwiderte sie resolut. »Das bügle ich dir jetzt auf, damit die Liegefalten verschwinden, dann bist mein flotter Bua!«

»Einverstanden! Das Angebot nehme ich gerne an.«

Die Kramerin wollte wissen, wie es Ludwig ginge, und sagte: »Die Maria tut mir halt leid, da hat sie einen Mann und muss trotzdem alleine leben. Das ist übel. Der Meinige ist gestorben, damit muss ich mich abfinden, aber so …«

Tobias nickte. »Ja, es ist schwer zu verstehen, ich mag beide sehr, Oma und Opa. Schade, dass sie nicht miteinander auskommen. Wenn ich mal heirate, will ich, dass meine Frau mit mir auf der Hütte lebt.«

Die Kramerin schaute ihn erstaunt an und meinte: »Oh weh, ob sich da ein junges Madl findet für die Einsamkeit?«

»Es kommt drauf an, was man draus macht«, behauptete Tobias. »Die Lena jedenfalls ist nicht abgeneigt, mit mir eine Familie zu gründen und auf die Hütte zu ziehen.«

Die Kramerin verkniff sich eine Bemerkung, die zu Ungunsten von Lena ausgefallen wäre. Auf einem uralten Quittungsblock schrieb sie mit der Hand eine Rechnung für Tobias. Nachdem sie das Geld in der Schublade, die als Kassenersatz diente, verstaut hatte, legte sie noch einen Tiegel auf den Tresen. »Da, bring’s dem Opa mit, Pferdebalsam für die antiken Knochen.«

Tobias grinste: »Ui, das hört er nicht gern. Falls ihm was weh tut, versucht er, es vor mir zu verbergen.«

Die Kramerin rollte mit den Augen und sagte feixend: »So kenn ich den Ludwig, aber selbst ein Schürzenjäger entkommt dem Alter nicht.«

»Der Opa ein Weiberheld?«, fragte Tobias erstaunt. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Dann frag ihn einfach mal«, riet die Kramerin pragmatisch.

Die Kirchturmglocke schlug vier Uhr, als er in den Kirchhof trat. Er besuchte das Grab der Großeltern mütterlicherseits, zündete eine Kerze an und betete ein Vaterunser. In der kühlen Kirche kniete er sich vor den Altar und murmelte: »Es ist mir bewusst, dass es eine Sünde ist, doch ich kann dem Florian den Betrug nicht vergeben.«

»Würde sich wohl leichter leben ohne Bitterkeit und Hass«, erwiderte eine männliche Stimme. Erschrocken fuhr er herum. Erst jetzt nahm er Prälat Moser wahr, der im Halbdunkel des Nebenaltars stand. Er machte eine einladende Handbewegung zum Beichtstuhl hin: »Magst es dir von der Seele reden?«

Zweifelnd antwortete Tobias: »Ob das was nützt?«

»Probier’s aus«, bot der Pfarrer an, den Tobias bereits von Kindesbeinen an kannte. Der geistliche Herr bemerkte das Zögern und schlug vor: »Komm, wir gehen ins Pfarrhaus, da ist es bequemer, und wir sind auch allein.« Tobias erhob sich und folgte ihm.

»Jetzt trag vor den lieben Gott deinen Zorn hin. Bitte ihn um Hilfe«, forderte ihn der Prälat auf, als sie im Wohnzimmer saßen.

Nachdenklich blickte Tobias auf sein Gegenüber und begann zu sprechen: »Wie Sie wissen, ist mein Vater erst fünfzig Jahre. Dennoch wollte er frühzeitig den Hof übergeben. Das Bauernleben hat er nie sonderlich geschätzt, er hat die Arbeit eher aus Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Familie getan. Der Florian ist zwei Jahre älter als ich, er hatte als Erstgeborener das Vorrecht der Hofübernahme. Eine altmodische Regelung, finde ich, aber so ist es eben. Ich wollte sowieso lieber auf der Nikolaushütte bleiben. Der Hof, die Felder und Grundstücke haben einen beachtlichen Wert. Der Vater hat einen umfangreichen Vertrag aufsetzen lassen, der seinen und Mutters Austrag und die monatlichen Zahlungen regelt. Ich habe einen Anteil an den Äckern bekommen und einen finanziellen Ausgleich, den Florian in Form einer Einmalzahlung zu leisten hatte.«

»Das klingt vernünftig«, warf der Prälat ein.

»Ja, das fand ich auch«, bestätigte Tobias. »Das bittere Erwachen kam hinterher. Florian sollte mein Land pachten und mir einen vorher festgesetzten monatlichen Betrag überweisen. Doch er behauptete, die Flächen seien Brachland und im Moment für ihn nicht zu bewirtschaften.«

»Das ist unschön«, bedauerte der Pfarrer, »aber die Abfindungssumme hast du erhalten, oder?«

Tobias nickte. »Nach langem Hin und Her. Der Florian warf mir vor, dass er hart arbeite, während ich mir mit dem Opa ein bequemes Leben auf der Hütte mache. Dass wir mehr schuften als er, glaubt er mir nicht. Außerdem meint er, dass ich bestimmt vom Opa die Brennhütte mit allen Rechten und Grundstücken erben würde, und er in diesem Fall leer ausginge.«

»Das klingt eifersüchtig«, ließ der Prälat vernehmen. »Ist das bereits entschieden, was Ludwig dir vererbt?«

»Nein, aber ich hoffe doch, dass ich dort droben weitermachen kann. Wo sollte ich denn sonst hin?« Der Pfarrer schwieg, und Tobias brauste auf: »Ich ärgere mich dermaßen über den Kerl. Es ist mir unmöglich, Frieden zu schließen.«

»Im Moment vielleicht«, versuchte der Prälat ihn zu besänftigen. »Denk drüber nach, jeder Besitz bleibt hier auf Erden, wenn wir sie einmal verlassen. Ist es das wert? Dein Seelenfrieden ist dahin. Zorn und Wut sind keine angenehmen Wegbegleiter. Schaden tust du dir selbst damit. Was meinst du, wieso uns der liebe Gott die Zehn Gebote gab? Nicht um uns zu gängeln, sondern um uns ein erfreuliches Leben zu ermöglichen. Würden sich alle Christen danach richten, sähe es auf der Welt bedeutend besser aus!«

Tobias warf dem Pfarrer einen nachdenklichen Blick zu und stand auf. »Danke, Herr Prälat, dass Sie mir zugehört haben. Ich muss jetzt gehen.«

»Ich bete dafür, dass der liebe Gott euch beiden die rechte Einsicht schenkt«, gab ihm der Prälat mit auf den Weg.

Als Tobias zum Giggerlbräu zurückging, murmelte er: »Komisch, irgendwie fühlt es sich leichter an. Der Prälat ist ein weiser Mann. Gut möglich, dass doch alles wieder gut wird zwischen mir und dem Florian.«

***

»Wo bleibst du denn?«, rief Lena vorwurfsvoll, als Tobias etwas später als vereinbart endlich in den Tanzsaal trat.

»Ich hab mich ein bisserl hingelegt und hätte fast verschlafen.«

»So viel bin ich dir wert«, blaffte Lena beleidigt.

»Komm her«, forderte Tobias: »Gib mir ein Busserl und sei nicht grantig, das mag ich nicht.«

»Ist doch wahr!«, grummelte Lena. Tobias schüttelte den Kopf und drückte ihr einen dicken Schmatz auf den Mund.

Bald wirbelten sie über das Parkett, und der Disput schien vergessen. Als Lena in der Pause Tobias fragte, ob er mit Ludwig gesprochen hatte, kam es erneut zu einer Auseinandersetzung.

»Was schlägt dein Opa vor?«, keifte Lena. Tobias merkte bereits an Lenas Gesichtsausdruck, dass diese Idee keinesfalls ihre Zustimmung fand. »Ich soll zur Probe bei euch auf der Hütte wohnen? Na, der Ludwig hat Nerven. Damit sie sich im Dorf das Maul zerreißen? Und bei meinen Eltern brauch ich mich dann gar nicht mehr blicken lassen.«

»Geh, Lena! Jetzt sei nicht so!«

»Doch, da bin ich so!«, schnappte sie wütend.

»Bitte, Lena, sei vernünftig«, flehte Tobias. » Stell dir vor, wir heiraten, du gehst mit auf die Hütte, und dann gefällt dir das Leben auf dem Berg gar nicht. Wie soll es dann weitergehen?«

Lena sprang auf und rief empört: »Wenn dir die Meinung deines Opas wichtiger ist, und du mehr auf ihn hörst als auf mich, ist das zwecklos!«

Energisch packte sie die Handtasche, zog ihre Strickweste an und stellte fest: »So, mir langt’s. Die Lust zum Tanzen ist mir gehörig vergangen. Den Abend hast du mir gründlich verdorben. Ich geh heim und denk ausgiebig über unsere Beziehung nach.« Tobias versuchte, sie am Arm festzuhalten, doch sie schüttelte ihn ab und giftete: »Lass mich in Ruh! Ich glaub, es tut uns gut, wenn wir beide überlegen, wie es weitergehen soll.«

Mit schnellen Schritten ging sie durch den Tanzsaal, öffnete energisch die Türe und ließ sie unsanft hinter sich zufallen.

Kopfschüttelnd schaute Tobias hinterher und knurrte: »Und ich Depp hock jetzt allein in dem teuren Zimmer.«

In dieser Nacht schlief er schlecht und schreckte immer wieder hoch. Verärgert über Lenas unnachgiebige Haltung, darüber grübelnd, was sie überhaupt derart in Rage versetzt hatte, wälzte er sich schlaflos im Bett herum.

Ludwigs skeptische Haltung Lena gegenüber würde das nicht verbessern. Die Diskussion mit ihm ging bestimmt von vorne los.

»Muss denn alles so kompliziert sein?«, grummelte Tobias, als er früh morgens den Aufstieg zur Hütte antrat. Die erhabene Schönheit der Bergwelt in den ersten rötlichen Sonnenstrahlen blieb diesmal unbeachtet. Nachdenklich stapfte er den Weg entlang. Obwohl er es versuchte, konnte er die düsteren Gedanken an Lenas Reaktion nicht verscheuchen. Er seufzte verzagt: »Wie soll das bloß weitergehen?«

***

Als Tobias in die Nikolaushütte trat, sah er verwundert, dass Ludwig noch am Frühstückstisch saß.

»Fesches Hemd. Lenkt aber nicht davon ab, wie müde du ausschaust«, stellte sein Opa mit einem amüsierten Blick fest.

»Anderer Grund, als du denkst«, entgegnete Tobias schroff.

»Was denk ich denn?«, lachte Ludwig, zuckte aber erschrocken zusammen, als Tobias den Rucksack mit einer wütenden Geste auf den Boden schleuderte, mit der Faust auf den Holztisch schlug und schrie: »Alles läuft schief!«

Ludwigs Kaffee schwappte über. Ruhig stand er auf, holte einen Lappen und tupfte bedächtig den verschütteten schwarzen Kaffee auf. »Immer langsam mit den jungen Pferden«, versuchte er, seinen Enkel zu beschwichtigten. Er angelte einen zweiten Kaffeebecher aus dem Schrank, schenkte ein, und stellte die Tasse hin: »Komm, Tobias, setz dich zu mir. Raus mit der Sprache, es hat mit Lena zu tun, oder?«

Tobias ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm einen Schluck vom dunklen Gebräu und sagte: »Dein Kaffee ist derart stark, der weckt Tote auf.« Ludwig schwieg, und Tobias erklärte, während er nicht wagte, seinem Opa in die Augen zu schauen: »Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass du bald in den Austrag gehen würdest. Für mich wäre der Zeitpunkt perfekt. Aber ich weiß, dass du das anders siehst.«

Ludwig lehnte sich bequem auf der Eckbank zurück, ließ den Blick durch die Hütte schweifen und fragte: »Meinst du wirklich?«

Tobias schlug sich beide Hände vors Gesicht und stöhnte auf: »Herrgott, Opa, jetzt mach’s mir doch nicht so schwer! Glaubst du, mir fällt es leicht, mit dir über dieses Thema zu reden?«

Ludwig legte eine Hand auf Tobias’ Arm: »Ich bin froh, dass du es ansprichst. Woher soll ich denn wissen, was in dir vorgeht, wenn du alles in dich hineinfrisst. Es wird sich eine Lösung finden, aber ich muss erst ein bisserl darüber nachdenken.«

Die kommenden Tage hingen Ludwig und Tobias ihren eigenen Gedanken nach.

Am Donnerstagabend fragte Ludwig: »Ist morgen nicht wieder dein Tanzkurs? Hast du was von der Lena gehört?«

Tobias schüttelte den Kopf: »Ich hab ihr einige Kurznachrichten geschickt, aber keine Antwort bekommen. Möglicherweise hat sie die nicht erhalten, unsere Funkverbindung ist ja oft gestört. Ich hoffe, dass sie zum Kurs kommt, ich will unbedingt noch einmal mit ihr reden.«

Ludwig seufzte: »Jaja, die Weiberleut’, es ist eine Plag’!« Er klopfte dem Enkel auf die Schulter und sagte aufmunternd: »Sie bereut bestimmt, was sie dir an den Kopf geworfen hat.«

Unsicher murmelte Tobias: »Mag sein, aber was soll ich ihr jetzt sagen?«

Ludwig fuhr sich mit der Hand über den Bart, sodass ein kratzendes Geräusch entstand: »Ehrlich gesagt, Tobias, im Moment verspür ich keine Lust, wieder im Tal zu leben. Erkundige dich doch auf der Gemeinde, ob wir neben die Hütte noch eine kleinere bauen dürfen. Ich brauch nicht viel Platz. Du könntest mit der Lena ungestört hier wohnen, und ich hätte meinen eigenen Bereich. Ich würd mir wünschen, dass wir weiter hier droben zusammenarbeiten. Was meinst du?«

Tobias nickte zustimmend: »Eine gute Lösung. Das wäre eine Variante. Ich bin gespannt, was die Lena zu dem Vorschlag sagt.«

Ludwig meinte skeptisch: »Mir scheint aber, du räumst der Idee keine großen Chancen ein.«

»Wir werden sehen«, sagte Tobias vage.

Am anderen Tag, als Tobias den Rucksack packte, versuchte er seine wachsende Nervosität zu unterdrücken. Er wollte nicht, dass Ludwig etwas merkte, er verabschiedete sich mit den Worten: »So ein Mistwetter!« und warf einen sorgenvollen Blick zum wolkenverhangenen Himmel. »Hoffentlich schaffe ich es, halbwegs trocken ins Tal zu kommen.«

Ludwig blickte prüfend nach oben und meinte: »Das hält noch, aber es könnte knapp werden. Schau, dass du weiterkommst, und geh so rasch du kannst!«

Wenige Meter, bevor Tobias beim Giggerlbräu ankam, spürte er die ersten Regentropfen. Der Himmel öffnete alle Schleusen. Gerade rechtzeitig erreichte Tobias den schützenden Gastraum. Heftig prasselte der Regen auf das Dach der Wirtschaft und gegen die Fensterscheiben.

»Da hast du aber Glück gehabt«, meinte der Wirt, als er den Ankömmling erblickte.

»Ist die Lena da?«, erkundigte sich Tobias.

»Du bist der Erste. Hoffentlich kommt überhaupt jemand bei diesem grauslichen Wetter!«, wandte der Wirt ein.

»Ist ja noch etwas Zeit«, beruhigte der Tanzlehrer.

Tobias bemerkte skeptisch: »Ich kenne die Lena, wenn es so nass ist, geht sie nicht gern aus dem Haus.«

Der Wirt versuchte zu trösten: »Aber sie wird dich sicher nicht versetzen, wenn du extra vom Berg runterkommst.«

Kurz darauf hörten sie vor der Eingangstüre eine weibliche Stimme laut schimpfen: »So ein Sauwetter. Meine schöne Frisur ist hinüber. Da hätte ich mir den Friseur auch sparen können.«

Tobias stürzte zur Tür und öffnete sie schwungvoll.

Die blonde Frau, die ihren tropfnassen Schirm ausschüttelte und sich mit dem Rücken an die Tür gelehnt hatte, verlor das Gleichgewicht. Sie stolperte direkt in seine Arme.

Geschickt fing er sie auf. Sie schnauzte ihn an: »Bist du narrisch, wieso reißt du denn die Tür so auf?«

»Servus, Melina«, begrüßte sie Tobias und half ihr, wieder einen sicheren Stand zu bekommen.

Anerkennend musterte sie ihn. »Hast einen festen Griff, anscheinend kriegt man Muskeln von der Arbeit auf der Hütte.« Er grinste, zog eine Augenbraue hoch und folgte ihrem prüfenden Blick: »Sind wir die Einzigen?«, wollte sie wissen.

»Im Moment ja«, bestätigte Tobias.

»Bei dem Sauwetter bist du ins Tal gekommen? Respekt!«, lobte ihn Melina.

Tobias wandte sich an den Wirt und fragte: »Kannst du mir dein Auto leihen? Dann hole ich die Lena ab.«

Der Wirt erklärte, dass sein Wagen zur Reparatur sei. Melina überlegte kurz und meinte dann: »Ich glaube, es geht nicht nur der Lena so. Die meisten Mädels haben kein eigenes Auto. Ich drehe eine Runde durchs Dorf und hole die wasserscheuen Ladys ab. Wäre doch schade um unsere Tanzstunde, oder?«

»Du bist ein Engel!«, freute sich Tobias.

»Auf geht’s«, rief Melina, packte ihren Schirm und öffnete die Eingangstür. »Das wird ja immer grauslicher!«, schrie sie und fing an zu rennen, um möglichst schnell ihr Auto zu erreichen.

Bereits nach einer halben Stunde stürmten fünf fröhlich lachende Frauen in die Wirtsstube, in der sie von ihren zerknirschten Tanzpartnern empfangen wurden. Die Männer hatten ein schlechtes Gewissen, dass keinem die Idee gekommen war, sie abzuholen.

»Wir müssen schnell andere Schuhe anziehen«, taten die Mädels kund und verzogen sich in einen Nebenraum.

Die Männer schüttelten die Köpfe, und Tobias sagte: »Da hilft jetzt nur ein Enzian.« Der Vorschlag fand sofort begeisterte Zustimmung, und bis die Frauen endlich in den Tanzsaal traten, hatte jeder von ihnen zwei Stamperl getrunken.

»Hier riecht’s nach Schnaps«, meinte Lena schnuppernd, als sie Tobias mit einem Busserl begrüßte.

»So ist es recht«, bestätigte Johann. »Als künftige Brennhütten-Wirtin brauchst du eine feine Nase!«

Seine Bemerkung sorgte für Heiterkeit, und Lena forderte: »Her mit dem Enzian!«

Die anderen Frauen wollten selbstverständlich auch mittrinken, und Paul warnte: »Nur ein Stamperl, sonst wird es knapp, wenn ihr in eine Verkehrskontrolle kommt.«

Melina scherzte: »Gut, dass wir einen Polizisten unter uns haben, der aufpasst!«

»Ich meine es nur gut«, schnappte Paul beleidigt.

»Geh, lass dich nicht ärgern«, versuchte Tobias zu schlichten. »Wir schwitzen beim Tanzen alles raus, und in den Pausen gibt’s nur Wasser. Hoch und heilig versprochen.«

»Sagt mal, ihr Helden, ist denn keiner von euch auf die Idee gekommen, seine Tanzpartnerin mit dem Auto abzuholen? Ihr seht doch, dass es in Strömen regnet!«, bemerkte Melina.

Die Männer blickten schuldbewusst, und so mancher ärgerte sich über dieses Versäumnis.

»Können wir jetzt endlich anfangen?«, seufzte der Tanzlehrer. »Wir sind schon eine halbe Stunde zu spät dran. Aufstellung nehmen, konzentrieren und daran denken, was wir das letzte Mal geübt haben! Zuerst ein langsamer Walzer, den kann man auch gut als Hochzeitstanz brauchen!«

Lena schmiegte sich an Tobias und raunte: »Hast du das gehört?«

»Ja«, meinte Tobias schroff: »Ich bin ja nicht taub!«

»Was bist du denn so grantig?«, forschte sie nach.

»Da fragst du noch? Die ganze Woche hast du mir nicht auf meine Nachrichten geantwortet.«

»Ich hatte viel zu tun.«

Tobias zog Lena näher an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Du machst mich wahnsinnig.«

»So leicht geht das?«, gluckste sie und strich ihm sanft mit der Hand über seinen Nacken.

»Es ist schön, dich zu spüren«, wisperte er. »Wir müssen uns heute unbedingt unterhalten. Ich habe ein Zimmer hier reserviert.«

»Soso«, sagte Lena und bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Ob wir da viel zum Reden kommen werden?«

»Böses Mädchen«, grinste er und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Erst am nächsten Tag ergab sich für Tobias die Gelegenheit, Lena den Vorschlag seines Großvaters zu unterbreiten. »Wenn dein Opa wirklich in eine eigene Unterkunft zieht, damit könnte ich leben«, meinte sie. »Aber die Brennhütte überschreibt er dir, oder?«

»Selbstverständlich«, rief Tobias. »Dann hat alles seine Ordnung.« Als Lena ihm begeistert um den Hals fiel, verdrängte er den Gedanken daran, dass er darüber noch gar nicht mit Ludwig gesprochen hatte. Wie um sich selbst zu beruhigen, umschloss er sie mit seinen Armen und raunte: »Wirst sehen, es wird sich alles regeln, und wir werden ein wunderbares Leben haben.«

»Bestimmt!«, bestätigte sie und fragte: »Dann kann ich für den Spätsommer oder im Herbst beim Hochzeitslader und beim Wirt um einen freien Termin anfragen?«

»Jetzt hast du den Pfarrer vergessen!«, neckte er sie.

Lena kicherte: »Ui, und das Standesamt auch!«

»Ich überlasse die Planung dir, gell?«

»Ja«, strahlte sie. »Ich organisiere unsere Hochzeit, und du regelst alles mit der Nikolaushütte.«

Mit dieser Vereinbarung gingen sie auseinander, und Tobias stieg mit leichtem, beschwingten Schritt den Berg hinauf. Alles kam ihm noch viel paradiesischer vor, und vergnügt pfeifend erreichte er schließlich die Brennhütte.

***

»Ja, grüß dich Gott, mein fröhlicher Enkel«, neckte ihn Ludwig, als Tobias in die Hütte trat.

»Ach, das ist Ihr Enkel?«, fragte eine ältere Frau, die auf der Eckbank saß und ein Schnapsglas vor sich stehen hatte.

»Mein ganzer Stolz«, verkündete Ludwig.

»Ist das der junge Mann, der die Kühe melken muss?«

Tobias warf dem Opa einen ratlosen Blick zu, doch der sagte hastig: »Die Dame wollte wissen, wie wir es schaffen, die Kühe abzumelken, die über die Alp verstreut grasen.« Tobias zog die Augenbrauen hoch und versuchte, ein ernstes Gesicht beizubehalten. Das klang wieder nach einem der typischen Opa-Späße. Gerne trieb er seinen Schabernack mit den »Preußen«. Ludwig griff sich den Putzeimer, drückte ihn Tobias in die Hand und erklärte: »Der Bua sucht die Kühe, melkt sie und bringt mir die Milch.«

»Wahnsinn«, rief die Dame. »Alles Handarbeit. Ohne Stromanschluss. Ich mag mir das gar nicht vorstellen! Andererseits, eine Melkmaschine wäre komplett sinnlos.« Tobias nickte und zog ein betrübtes Gesicht. »Das Leben auf der Alm ist kein Zuckerschlecken«, bedauerte ihn die Dame. »Mich würde auch sehr interessieren, auf welche Art und Weise der Ochs zur Kuh kommt«, forschte sie.

»Wie bitte?«, fragten die beiden Männer gleichzeitig.

»Na, der Ochs hat bestimmt spezielle Bedürfnisse, Sie verstehen doch, was ich meine? Sucht er sich selbst eine Kuh zum Besteigen, oder bringen Sie den zu ihr hin?«

Tobias prustete los, und Ludwig lachte schallend. »Geh, was denken Sie«, japste er, als er sich etwas beruhigt hatte. »Da hätte die Kuh aber keine Freud’. Ein Ochs ist ein kastriertes Tier, das kann man für grobe Arbeiten abrichten. Wenn eine Kuh besprungen wird, dann von einem Stier. Und für den braucht man eine fest eingezäunte Weide oder einen sicheren Stall. Den alleine im Freien zu lassen, das ist viel zu gefährlich.«

»Arme Kühe«, meinte die Frau bedauernd, und wieder wechselten Opa und Enkel einen amüsierten Blick. Die Milchkühe, die natürlich auf einer nahen Weide standen, wurden ohne großen Aufwand gemolken. Die Mutterkühe, Kälber und Jungrinder brauchte man selbstverständlich gar nicht melken, das verschwiegen die beiden tunlichst. Ein bisserl Spaß musste einfach sein.

Tobias ging mit dem Eimer in der Hand zur Tür und sagte: »Servus, Opa, gegen Mittag bin ich wieder da.«

»So ein hartes Leben!«, bedauerte ihn die Dame erneut. Sie erhob sich und verkündete: »Wenn ich das zu Hause erzähle, was Sie für einen anstrengenden Alltag haben, das glaubt mir keiner. Ich stellte mir das wesentlich romantischer vor. Aber nun werde ich meine Wanderung fortsetzen.«

Sie befand sich außer Sichtweite, als Tobias in die Stube zurückkam und feixte: »Na, da hast wieder ein Opfer gefunden heute?«

Ludwig nickte grinsend und meinte: »Absolut perfekt! Was wäre das Leben ohne eine kleine Fopperei? Und heute bin ich sowieso bestens gelaunt, ich hab nämlich die Lösung für unsere Probleme.«

»Du meinst für dich, mich und die Lena?«, rief Tobias.

»Genau!«

»Da bin ich gespannt!«, sagte Tobias neugierig.

»Heut’ früh stand unverhofft so ein Anzugträger bei mir in der Hütte«, begann sein Großvater zu berichten. Der vom heftigen Regen aufgeweichte Weg hatte seine edlen Lederschuhe vollkommen ruiniert.

»Sind Sie der Besitzer?«, hatte er gefragt.

»Wieso interessiert Sie das?«, wollte Ludwig vorsichtshalber wissen.

»Ich suche ein Haus für einen erholungsbedürftigen Top-Manager. Da wurde mir im Dorf die Nikolaushütte genannt. Ich muss sagen, das ist eine Traumlandschaft hier. Und so wie es aussieht, ist das Gebäude gut in Schuss. Für meinen Mandanten wäre ein Ankauf durchaus vorstellbar. Er sehnt sich nach einem ruhigen, einsamen Ort.«

»Die Hütte steht nicht zum Verkauf«, beschied Ludwig ihm knapp. Der Gast blieb hartnäckig und behauptete: »Geld spielt keine Rolle. Nennen Sie mir Ihren Preis.«

Da fiel ihm schlagartig ein, dass Tobias heiraten wollte und es hier oben zu dritt schwierig werden könnte. »Ich muss mit meinem Enkel darüber reden«, sagte er und ließ sich seine Visitenkarte geben. Es kam ihm wie ein Wink des Himmels vor. Sie würden sich den Verkaufserlös teilen und könnten beide irgendwo anders ganz neu beginnen.

Ludwig bemerkte erst jetzt das entsetzte Gesicht seines Enkels.

»Und wo soll das sein? Ich will nirgendwo anders leben«, stammelte er. »Um kein Geld der Welt! Lena fand die Idee wunderbar, dass wir uns räumlich trennen. Aber alles zu verkaufen, das ist ein radikaler Schritt. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wo du sonst wohnen möchtest?«

»Nein«, antwortete Ludwig ehrlich. »Es kommt darauf an, wie viel Schotter mir zur Verfügung steht.«

Tobias schüttelte unwillig den Kopf. »Das hätte ich niemals von dir gedacht. Ich bin echt enttäuscht. Sag mal, willst du mich jetzt erpressen? Entweder alles bleibt, wie es ist, und ich gebe Lena auf, oder ich verliere die Brennhütte? Die Brennrechte sind dann wohl auch verloren, denn sie können nur von Generation zu Generation innerhalb der Familie weitergegeben werden.«

Ludwig, überrascht von der heftigen Reaktion seines Enkels, entgegnete ruhig: »Es ist meine Hütte, ich kann damit tun, was ich mag.«

»Ja«, stieß Tobias bitter hervor. »Du hast mir aber versichert, dass ich dein Erbe bin.«

»Noch bin ich nicht tot«, gab Ludwig zurück.