Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß - E-Book

Homer und Vergil im Vergleich E-Book

Philipp Weiß

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Beschreibung

Der Vergleich mit Homer bestimmt das Bild Vergils in der Literaturgeschichte bis in die Gegenwart. Schon in der Antike waren "Ilias" und "Odyssee" die wichtigsten Bezugspunkte, wenn es darum ging, Vergils dichterische Leistung zu taxieren. Dabei reichte das Spektrum vom simplen Vorwurf des Homerplagiats bis hin zur Anerkennung künstlerischer Eigenständigkeit beim 'imitator' Vergil, der an die Stelle homerischer 'simplicitas' den Gedanken der 'ars', also der ästhetisch gleichwertigen dichterischen Umarbeitung der Vorbildstelle, setzt. Dieser Band zeichnet unter Rekonstruktion ihrer jeweiligen ästhetischen Prinzipien die Antworten nach, die Seneca d. Ä., Gellius und Macrobius auf die Homer-Vergil-Frage gefunden haben. Die detaillierte Untersuchung über diesen speziellen Fall eines Autorenvergleichs ist eingebettet in die allgemeinere Fragestellung nach den Methoden und vor allem der Funktion komparativer Lektüre in der Antike überhaupt.

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Philipp Weiß

Homer und Vergil im Vergleich

Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0013-7

Inhalt

Vorwort1. Einleitung1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme zur Einführung1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick1.3.1 Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur1.3.2 Dionysios von Halikarnassos über die Funktion komparativer Literaturkritik (Pomp. 1)2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD 43–46)2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil2.2.1 Philologische Spezialschriften περὶ κλοπῆς2.2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil im Kontext der zeitgenössischen imitatio-Debatte2.3 Zusammenfassung3. Seneca d.Ä., Suasoriae und Controversiae3.1 Klassizistische imitatio-Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d.Ä.3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern nach dem Kriterium der Glaubwürdigkeit3.2.1 Ein Urteil des Maecenas und die Kategorie der sachlichen ὑπερβολή (suas. 1, 12)3.2.2 Ein Urteil Ovids und die Kategorie der psychologischen πιθανότης (contr. 7, 1, 27)3.3 Zusammenfassung4. Gellius, Noctes Atticae4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae4.1.1 Enzyklopädische, rhetorische und grammatische Bildung bei Gellius4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae – eine Übersicht4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27)4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido (Gell. 9, 9, 12–17)4.4 Zusammenfassung5. Macrobius, Saturnalia5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius5.1.1 Vergil im Bildungskonzept der Saturnalia5.1.2 Inszenierte Philologie in den grammatischen Vorträgen von Sat. 5, 2–6, 95.1.3 Aufbau und Quellen5.2 Homer und Vergil in Sat. 5: Synkrisis und struktureller Vergleich5.2.1 Wettstreit zweier Dichter (Sat. 5, 11 und 13)5.2.2 Dichtung in Nachfolge Homers – Elemente einer komparativen Poetik (Sat. 5, 14, 1–17, 4)5.3 Zusammenfassung6. Der Vergleich mit Homer im Kontext der Kanonisierung VergilsGliederung zu den Büchern 5–6 der SaturnaliaErster Teil: Vergil und die griechische Literatur0. Gesprächsanlass1. Vergils griechische Modelle an konkreten Textstellen nachgewiesenErweiterung (I)Erweiterung (II)<Fortsetzung von 1.>2. Vergils Gräzismen3. Erläuterung dunkler Stellen im Rückgriff auf Vergils griechische ModelleZweiter Teil: Vergil und seine altlateinischen Vorbilder0. Einleitung1. Vergils altlateinische Modelle an konkreten Textstellen nachgewiesen2. Vergils ArchaismenErweiterung (III): Servius über originäre figurae bei Vergil3. Klärung von Einzelstellen in Frage-Antwort-Form zwischen Avienus und ServiusÜbersicht über die Vergilparallelen in Sat. 5, 2–6, 9BucolicaGeorgicaAeneisAeneis 1Aeneis 2Aeneis 3Aeneis 4Aeneis 5Aeneis 6Aeneis 7Aeneis 8Aeneis 9Aeneis 10Aeneis 11Aeneis 12Index der behandelten TextstellenLiteraturverzeichnis

Vorwort

Die hier publizierte Studie hat im Dezember 2015 der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertationsschrift vorgelegen; die Disputation erfolgte am 28. Januar 2016.

Mein erster und wichtigster Dank gilt Prof. Dr. Claudia Wiener, die die Arbeit angeregt und mit großem Einsatz und Interesse betreut hat. Der Accessus ad Vergilium wurde mir durch sie bereits im Studium bereitet. Ihre Aufgeschlossenheit und ständige Gesprächsbereitschaft, verbunden mit enzyklopädischer Fachkenntnis und philologischer Akribie, waren die idealen und keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen für den Doktoranden, ein so umfangreiches Projekt innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens fertigzustellen. Prof. Dr. Martin Hose hat dankenswerterweise das Korreferat übernommen und wichtige Anregungen gegeben, die mir die Synthese der Ergebnisse erleichterten. PD Dr. Bianca-Jeanette Schröder und Prof. Dr. Susanne Gödde (FU Berlin) waren spontan dazu bereit, das Drittgutachten über die Dissertation zu erstellen bzw. als Kommissionsmitglied bei der Disputation zu fungieren. Ihnen allen danke ich herzlich für die Zeit und Mühe, die sie für mich investiert haben.

Ermöglicht haben mir die Umsetzung meines Dissertationsvorhabens in der Anfangszeit ein Doktorandenstipendium der Hanns-Seidel-Stiftung und von 2013 bis 2016 eine Anstellung als Doctoral Fellow an der Graduiertenschule Distant Worlds (LMU München), wo ich ein in gleicher Weise intellektuell anregendes wie auch zwischenmenschlich erfüllendes akademisches Klima vorgefunden habe. Einzelne Abschnitte und Thesen konnte ich bei Vorträgen und Tagungen in München (Forschungskolloquium an der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie, 2013), Salzburg (Volturnia, 2014) und Eichstätt (Tagung zur „Philologie auf zweiter Stufe“, 2015) vorstellen.

Allen Diskutanten, Kollegen und Freunden, besonders auch den Mitgliedern meiner Focus area bei Distant Worlds (Constructions of „the beautiful“), die mir ihre wertvollen Hinweise, Fragen, Anregungen und Kritik gegeben und z.T. einzelne Kapitel gegengelesen haben, sei an dieser Stelle aufrichtig gedankt. Nur wenige Namen sollen stellvertretend für viele weitere stehen: Dr. habil. Anna Anguissola (Pisa), Nadiya Eberts, Manuel Förg, Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann, Constanze Pabst von Ohain, Dr. Stefano Rocchi, Prof. Dr. Rolf Michael Schneider, Martin Schrage, Dr. Verena Schulz, Dr. Paolo Visigalli (Shanghai), Dr. Isabella Wiegand, Alexander Winkler. Einen besonderen Anteil an der Entstehung dieses Buches hat Ulrich Feckl.

Prof. Dr. Claudia Wiener und Prof. Dr. Martin Hose haben die Arbeit in ihre Reihe Classica Monacensia aufgenommen. Die Drucklegung wurde durch Zuschüsse der Graduiertenschule Distant Worlds und der FAZIT-Stiftung ermöglicht. Diesen Personen und Institutionen bin ich für ihre freundliche Unterstützung in den praktischen Belangen meines Publikationsprojekts eigens zum Dank verpflichtet.

Gewidmet sei dieses Buch den drei Menschen, die mich seit frühester Kindheit in vielerlei Hinsicht unterstützt und hinter mir gestanden haben, meinen Eltern Rosa Maria und Erwin Weiß, sowie meiner Tante Agnes Weiß (†22. September 2016).

 

München, April 2017

1.Einleitung

1.1Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme zur Einführung

In der Sammlung (spät-)antiker und frühmittelalterlicher Kleindichtung, die seit ihrer editorischen Bearbeitung durch Alexander Riese den Titel Anthologia Latina trägt, findet sich eine beträchtliche Anzahl von Gedichten über Vergil. In einigen von ihnen ist es den Autoren speziell um die Frage zu tun, welchen Platz der Dichter der Aeneis im Kanon der griechisch-römischen Literatur einnimmt. So in dem folgenden, unter dem Namen des Alcimus1 überlieferten Epigramm mit der Überschrift Virgilius (Anth. Lat.674a2Riese):2Anthologia Latina674a R.

Maeonium quisquis Romanus nescit Homerum, | Me legat, et lectum credat utrumque sibi. | Illius immensos miratur Graecia campos; | At minor est nobis, sed bene cultus ager. | Hic tibi nec pastor nec curvus deerit arator. | Haec Grais constant singula, trina mihi.

(„Ein jeder Römer, der den Mäonier Homer nicht kennt, soll mich lesen und glauben, dass er damit beide gelesen hat. Griechenland bewundert die unermesslichen Felder jenes Dichters – unser Acker hingegen ist kleiner, dafür aber gut gepflegt. Hier wirst du weder den Hirten noch den Pflüger mit krummem Rücken vermissen. Für die Griechen macht das alles nur ein einziges Werk aus, für mich drei.“)

Das Gedicht ist, worauf schon der Titel hinweist, als Ethopoiie gestaltet, eine in der Spätantike beliebte Form des Dichtens über Literatur.3 Vergil spricht also selbst: Er richtet sich an ein römisches Publikum, erhebt scherzhaft den Anspruch künstlerischer Gleichrangigkeit mit Homer – die Lektüre seiner Werke könne die Homerlektüre gleichsam ersetzen –, formuliert dann aber einen Unterschied zwischen sich und Homer hinsichtlich der leitenden ästhetischen Prinzipien – immensos … campos vs. cultus ager4 –, und bezieht außerdem Eklogen und Georgica in den Wettstreit mit Homer ein, der hier hauptsächlich als Dichter der Ilias in Betracht kommt (singula vs. trina). – In einem anderen Gedicht, ebenfalls dem Alcimus zugeschrieben, wird die Perspektive des Mantuaner Dichters durch den auktorialen Blickwinkel des Literaturkritikers ersetzt. Es trägt entsprechend den Titel De Virgilio und lautet (Anth. Lat.7402Riese):Anthologia Latina740 R.

De numero vatum si quis seponat Homerum | Proximus a primo tunc Maro primus erit. | At si post primum Maro seponatur Homerum, | Longe erit a primo, quisque secundus erit.

(„Wenn einer Homer aus der Zahl der Dichter streicht, dann wird Maro, der dem ersten am nächsten steht, der erste sein. Wenn man hingegen Maro hinter dem erstplatzierten Homer streicht, so wird, wer auch immer dann der zweite ist, im weiten Abstand hinter dem ersten abgeschlagen sein.“)

Anstelle der von Vergil im ersten Gedicht selbstbewusst beanspruchten Gleichrangigkeit steht hier die nüchterne Rechnung des Literaturkritikers, der mit der Autorität einer sich über die Jahrhunderte hin verfestigten communis opinio die Rangverhältnisse festsetzt: Vergil, der „ewige Zweite“, rangiert nicht weit hinter seinem erklärten Vorbild Homer, erhebt sich aber über alle anderen (griechischen und lateinischen) Dichter, die sich im gehörigen Abstand auf die hinteren Plätze verwiesen sehen.5 – Diese differenzierte Rangabstufung hatte bekanntlich Quintilian in seinen Lektüreempfehlungen für den angehenden Redner (inst.10, 1, 46–131)6 unter Berufung auf Cn. Domitius Afer (cos. 39 n. Chr; †59 n. Chr.)7 in gleicher Weise definiert (inst.Quintilianinst. 10, 1, 8610, 1, 86):

Utar enim verbis isdem quae ex Afro Domitio iuvenis excepi, qui mihi interroganti quem Homero crederet maxime accedere ‘secundus’ inquit ‘est Vergilius, propior tamen primo quam tertio’. Et hercule ut illi naturae caelesti atque inmortali cesserimus, ita curae et diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum, et quantum eminentibus vincimur, fortasse aequalitate pensamus. Ceteri omnes longe sequentur.

(„Ich will mich nämlich der gleichen Worte bedienen, die ich als junger Mann von Domitius Afer als Antwort erhalten habe, der zu mir auf meine Frage, wer nach seiner Meinung Homer am nächsten käme, sagte: ‘Der Zweite ist Vergil, jedoch dabei dem Ersten näher als dem Dritten.’ Und ja, beim Herkules, mögen wir auch hinter der himmlischen und unsterblichen Naturkraft ihres Dichters zurückstehen, so zeigt der unsere doch mehr Liebe und Sorgfalt – schon deshalb, weil er sich mehr hat mühen müssen, und das, was wir an hervorragenden Stellen an Abstand verlieren, gleichen wir vielleicht durch die Gleichmäßigkeit des Ganzen wieder aus.“ ÜS Rahn)

Natur (… illi naturae caelesti atque inmortali …) und Kultur (… curae et diligentiae …) sind hier als poetologische Prinzipien deutlich kontrastiert. Auch Alcimus geht von einem ähnlichen Begriffspaar aus, wenn er den „wohlbebauten Acker“ Vergils von Homers „gewaltigen Feldern“ abgrenzt (s.o.). Quintilian verknüpft mit Vergil und Homer zwei gegensätzliche Grundvorstellungen, die die Rezeption beider Dichter bis in die Neuzeit prägen sollten.8

Für Quintilian besteht grundsätzlich die Möglichkeit, einen dem homerischen vergleichbaren Grad an Vollkommenheit zu erreichen – ars und natura werden im zweiten Satz des zitierten Abschnitts nicht hierarchisiert. Allerdings ist für Vergil im Wettkampf mit Homer ein anderes Mittel angezeigt, nämlich eben diese ars, d.h. die gleichmäßige künstlerische Ausarbeitung (vgl. aequalitate) des ganzen Werks, wodurch allein der Vorsprung der homerischen Schöpfung mit ihren unübertrefflichen Einzelinspirationen (vgl. eminentibus) eingeholt werden kann.

Ein drittes Epigramm, wieder mit dem Namen des Alcimus verbunden, lotet ebenfalls die Möglichkeiten, Homer zu erreichen, aus. Es ist in einer Abschrift des Humanisten Claude Binet erhalten und trägt beide Dichternamen im Titel (De Vergilio et Homero; Anth. Lat.7132Riese):9Anthologia Latina713 R.

Maeonio vati qui par aut proximus esset, | Consultus Paean risit et haec cecinit: | Si potuit nasci, quem tu sequereris, Homere, | Nascetur, qui te possit, Homere, sequi.

(„Als man Apollo befragte, wer dem Dichter aus Mäonien gleich oder doch am nächsten komme, lachte er und gab folgenden Orakelspruch: ‘Wenn einer geboren werden konnte, dem du, Homer, folgen musstest, dann wird es wohl einer sein, der dir, Homer, folgen kann.’“)

Von Vergil ist in diesem Gedicht – anders als in der Überschrift suggeriert – nicht ausdrücklich die Rede. Zunächst hat es den Anschein, dass im zweiten Distichon einer traditionellen Vorstellung vom schlechthin nicht zu imitierenden Homer, der auch selbst keine Vorgänger gehabt hat, das Wort geredet wird: „Wenn es jemanden gegeben hätte, den du nachahmen konntest, so wird es auch künftig jemanden geben, der dich nachahmen können wird.“ Velleius Paterculus hatte – ins Negative gewendet – über Homer eine entsprechende Anschauung formuliert: in quo <scil. poeta> hoc maximum est, quod neque ante illum, quem ipse imitaretur, neque post illum, qui eum imitari posset, inventus est (Vell. 1, 5, 2).10 Doch sind die Worte Apollos, ihrer Natur als Orakelspruch entsprechend, doppeldeutig. Den Schlüssel gibt die zweifache Bedeutung von sequi: Das Verbum kann einerseits – wie im Schlusssatz des oben zitierten Quintilianabschnitts der Fall – die Nachfolge hinsichtlich des Ranges bezeichnen, andererseits aber auch eine intentionale literarische Bezugnahme auf einen Modelltext.11 Im Fall von Anth. Lat.7132Riese liegt ein Wortspiel nach Art einer distinctio vor. Die zweite, verrätselte Gedichthälfte lässt sich nämlich auch folgendermaßen paraphrasieren: „Falls es möglich ist, dass du, Homer, einmal den zweiten Platz einnehmen musst, dann wird wohl einer geboren werden, der dich nachahmen kann.“12 Die imitatio ist demnach geradezu die Bedingung, um die Überbietung des kanonischen Modells zu erreichen. Delphische Orakelsprüche behalten in der Regel recht, und zwar gerade in dem Sinn, der sich nicht auf den ersten Blick hin erschließt: Das Gedicht plädiert demnach mit der Autorität des Musengottes für eine Vorrangstellung Vergils vor Homer.13

Die drei Gedichte14 weisen entgegen der von Quintilian ex cathedra verkündeten Rangfolge eine erhebliche Variabilität im Urteil und in der Perspektive auf: Selbstbewusste Verkündigung der Überbietungsabsicht durch Vergil selbst (Anth. Lat.674a2Riese), schulmäßige Bestenliste mit Homer an unhinterfragt erster Stelle (Anth. Lat.7402Riese), ironisches Spiel mit den Bedingungen und Möglichkeiten von imitatio und aemulatio (Anth. Lat.7132Riese). Ermöglicht wurde eine derartige Dynamik durch das Doppelprinzip von Natur und Kultur, von dem der zitierte Passus aus der Institutio oratoria ausgeht: Je nach Gewichtung und Verhältnisbestimmung der beiden Parameter konnte man damit ja entweder die prinzipielle Unerreichbarkeit Homers begründen oder eben die Möglichkeit einer Einholung der natura durch ars. Indem Quintilian die Einschätzung der beiden Dichter an zwei unterschiedliche Kriterien knüpfte, machte er sein Urteil von der Definition und Relation eben dieser Kriterien abhängig.

Der Name des Alcimus führt schließlich noch zu einem letzten Text, der in knapper Form einen Vergleich dreier Dichter bringt, und damit den literaturgeschichtlichen Horizont der bisher behandelten Gedichte erweitert (Anth. Lat.225 Shackleton Bailey):15Anthologia Latina225 Sh.-B.

Mantua, da veniam, fama sacrata perenni: | sit fas Thessaliam post Simoenta legi.

(„Mantua, sei nachsichtig, du bist ja mit ewigem Ruhm gesegnet: Lass zu, dass man auch nach dem Simois über Thessalien liest.“)

Die drei geographischen Namen verweisen auf Vergil (Mantua), Lucan (Thessaliam) und Homer (Simoenta).16 Mit Bezug auf Lucan. 9, 980–98617 bittet der Sprecher – die fiktive persona Lucans oder der im neunten Buch der Pharsalia genannte Caesar, d.h. Nero? – bei Vergil darum, dass man auch das Bürgerkriegsepos nach einem Werk wie der Ilias noch lesen würde. Der Autor des Epigramms sah allem Anschein nach einen Widerspruch darin, dass sich Lucan im neunten Buch der Pharsalia auf den ewigen Ruhm Homers berufen, Vergil aber dabei mit keinem Wort erwähnt hatte. Die Bitte an Vergil – dem mit fama sacrata perenni bei Alcimus genau diejenige Qualität zugeschrieben wird, mit der Homer in Lucan. 9, 984 glänzt, nämlich ewiger Ruhm – soll diesen literaturkritischen faux pas Lucans ausgleichen: Neben Homer ist es für Alcimus eben auch Vergil, bei dem man mit seinem Wunsch nach ewigem Dichterruhm vorstellig werden muss.18

Zumindest zwei der vier Gedichte – Anth. Lat.674a und 7132Riese – behandeln den vorgegebenen Kanon also als eine verhandelbare Größe: Sie stellen das durch Quintilians Autorität verfestigte Urteil zur Disposition, wonach grundsätzlich Homer der erste, Vergil aber der zweite Rang zukommt, wobei auch beim letzten Gedicht (Anth. Lat.225 Shackleton Bailey), in dem sich einer von den traditionell auf die hinteren Ränge verwiesenen Autoren zu Wort meldet, ein spielerischer Ton den Umgang mit den Vorgaben des Kanons bestimmt. Das einzige Gedicht, in dem der Kanon scheinbar uneingeschränkt affirmativ behandelt wird (Anth. Lat.7402Riese), lässt durch das pedantisch vorexerzierte Auszählen der Positionen ebenfalls eine gewisse Distanzierung zum Inhalt erkennen. Kanonisierung wird in diesen kurzen Stücken demnach einerseits als ein spielerischer Prozess des Aushandelns von Positionen vorgeführt, der seine besondere Dynamik andererseits aber in einem argumentativen Austausch konkurrierender Begründungen für die jeweilige Wertung entfaltet.

Das kann in einem Epigramm nur in pointierter Zuspitzung geschehen. Andere Zeugnisse antiker Literaturkritik, die im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung stehen, tun dies in weit ausführlicherer und differenzierterer Form. Die Epigramme des Alcimus zeigen aber, dass man sich – zumindest in diesem Falle – von einer statischen Auffassung des Kanons zu lösen hat. Für Alcimus bzw. die personae seiner Gedichte besitzt der Kanon zwar Gültigkeit als ein allgemein bekannter kultureller Bezugspunkt. Die Gedichte formulieren aber alternative Sichtweisen und Perspektiven, sei es im Modus der Parodie (Anth. Lat.7402Riese), der Ethopoiie des unterlegenen Zweiten (Anth. Lat.674a2Riese), in der Doppeldeutigkeit eines Orakelspruches (Anth. Lat.7132Riese) oder in der nachgeholten Reverenz des „Dritten“ an den „Zweiten“ (Anth. Lat.225 Shackleton Bailey). Man greift sicherlich zu hoch, wenn man diesen Gedichten die Absicht unterstellt, sie wollten den gültigen Kanon subversiv infrage stellen oder generell „Kanonkritik“ betreiben. Vielmehr geht es um einen produktiven und differenzierenden Umgang mit den Vorgaben der autoritativen Bestenlisten, der bestimmte ästhetische Aspekte – ars und ingenium, imitatio und Originalität u.a. – in den Vordergrund spielt, die bei einer simplen Listenplatzierung aus dem Blick geraten. Die Gedichte führen also gewissermaßen von der Wertung zu den Werten: Nicht mehr das statische Ergebnis, sondern die ästhetischen Beurteilungsgrundlagen des Kanonisierungsvorgangs, die seinen prozesshaften Verlauf bestimmen, rücken in den Vordergrund.

1.2Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode

Ausgehend von den Gesichtspunkten, die im Zusammenhang mit den vier Gedichten aus der Anthologia Latina angesprochen wurden, ist die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung näher zu bestimmen. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die ästhetischen Beurteilungskriterien und Begründungsstrategien in denjenigen Texten, die einen wertend-begründenden Vergleich zwischen den beiden Dichtern Vergil und Homer anstellen, zu benennen, zu erklären und nach ihren rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen zu befragen. Daran schließt sich als übergeordnetes Untersuchungsziel die Frage an, ob und – wenn ja – wie sich die verschiedenen Antwortversuche auf das Problem einer Vorrangstellung Homers oder Vergils in der antiken Kanondiskussion positionieren, näherhin ob und inwieweit die fraglichen Vergleiche als Beiträge zu einer solchen Kanondiskussion betrachtet werden können oder ob sich die Funktion des Homer-Vergil-Vergleichs in der Antike anders bzw. differenzierter bestimmen lässt.

Als Untersuchungsgegenstände kommen also grundsätzlich wertende Vergleiche zwischen Homer und Vergil in Betracht. Diese wertenden Vergleiche wurden in der Antike mit dem Terminus Synkrisis (bzw. lat. diiudicatio locorum o.ä.) bezeichnet (s.u. → Kap. 1.3.1 und 4.1.3). Gemeint ist dabei immer ein methodengeleiteter, von bestimmten ästhetischen Kriterien ausgehender Vergleich mindestens zweier Texte mit dem Ziel, eine qualitative Hierarchie zwischen ebendiesen Texten zu bestimmen.

Ausgeschlossen aus der engeren Themenstellung sind demnach solche Texte bzw. Abschnitte, die ein homerisches Modell für eine konkrete Vergilstelle lediglich identifizieren, ohne eine explizite literaturkritische Stellungnahme damit zu verbinden. Das gilt etwa für die umfangreichen Abschnitte Sat.5, 2, 6–5, 3, 17, 5, 3, 2–14, 5, 4, 2–5, 10, 13 und 5, 11 in den Saturnalia des Macrobius, aber auch für den Großteil der Homer-Vergil-Vergleiche in den Vergilkommentaren, zumal bei Servius. – Von einer gesonderten Untersuchung der Vergilkommentare konnte in diesem Rahmen vor allem aus zwei Gründen abgesehen werden: Einerseits sind die literaturkritisch wertenden Vergleiche mit Homer in diesen Erklärungsschriften wie erwähnt quantitativ unterrepräsentiert, zumeist wird einfach auf ein homerisches Beispiel verwiesen oder es werden unter Berufung auf Homer Sacherläuterungen gegeben. Außerdem liegt mit der Studie von Marco Scaffai eine umfassende Monographie vor, die alle expliziten Erwähnungen Homers bei Servius und den anderen Kommentatoren eingehend bespricht (vgl. ergänzend dazu Cyron [2009], S. 192–223 [„Die Funktion von Verweisen auf andere Autoren“; bes. zu Homer S. 210–223]). Die i.e.S. synkritischen Notizen nehmen dann entsprechend auch bei Scaffai nur einen kleinen Abschnitt ein; vgl. Scaffai (2006), S. 327–373 (Kapitel 3: „Critica poetica e sistema narrativo“). Gerade der zuletzt genannte Abschnitt kann daher als Ergänzung der vorliegenden Studie angesehen werden, auch weil er auf die an den jeweiligen Stellen relevanten ästhetischen Kategorien – wenn auch nicht systematisch – eingeht. Metapoetische Deutungen entsprechender Stellen, an denen Vergil in den Augen seiner antiken Exegeten über sich und sein Verhältnis zu anderen Autoren – Zeitgenossen, aber auch kanonischen Vorbildern – spricht, behandelt Cyron (2009), S. 277–282. – Selbstverständlich sind Servius und die anderen Kommentatoren aber auch für die engere Fragestellung dieser Untersuchung von Relevanz, weil es oft nur durch die in den Kommentaren überlieferten Vergildeutungen möglich ist, den philologischen Diskussionszusammenhang zu rekonstruieren, in den sich die wertenden Vergleiche bei Seneca d.Ä., Gellius oder Macrobius einordnen. Die Kommentatoren werden hier also durchaus durchgehend berücksichtigt, aber nicht eigenständig behandelt.1

Mit dieser Fragestellung soll also nicht nur ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Vergils geleistet werden, vielmehr werden am Beispiel des Homer-Vergil-Vergleichs exemplarisch Analysekriterien zusammengestellt, mit denen der literaturkritische Praktiker in der Antike zumal solche Beziehungen zwischen Texten bewertete, bei denen er eine intentionale Bezugnahme eines Nachahmers auf sein Modell im Sinne von imitatio bzw. aemulatio unterstellte.2

Dieser antike Zugang zum Text steht den modernen, von den methodischen Grundsätzen der strukturalistischen Intertextualitätstheorie mit ihrer Ausblendung der Autorinstanz geleiteten Annäherungen an Vergil natürlich grundsätzlich entgegen: Die antiken Philologen hatten, pointiert formuliert, keine Angst vor der intentional fallacy. Daraus ergibt sich die generelle Tendenz, bei entsprechenden Text-Text-Beziehungen immer von einer „bewussten“ Bezugnahme des jüngeren Autors auf den Text des älteren auszugehen und diese Bezugnahme entsprechend regelmäßig als imitatio bzw. aemulatio mit Wettkampfcharakter zu deuten. Deutlich kommt dies schon in der bekannten Formulierung des Servius am Beginn seines Vergilkommentars zum Ausdruck: intentio Vergilii haec est, Homerum imitari … (I 4, 10 Thilo-Hagen). – Zu den verwendeten Begriffen: Im Folgenden wird also in der Regel von „Modell“, „Vorbild“, „Muster“ bzw. „Nachahmung“, „Nachbildung“, „imitatio“ gesprochen, ohne dass in jedem Fall die – ohnehin nur schwer zu beantwortende – Frage diskutiert wird, ob tatsächlich eine intentionale Bezugnahme Vergils auf Homer vorliegt. Ausgegangen wird von der Feststellung eines derartigen Bezugs durch den antiken Literaturkritiker. Zur Bewertung seiner Einschätzung ist dann hingegen sehr wohl zu fragen, ob es nicht noch weitere Vorbilder gibt, zumal solche „Zwischenmodelle“ – z.B. ein nach Homer gestaltetes Gleichnis bei Apollonios, das wiederum Vergil zum Vorbild gedient hat – Aufschluss über die kritische Rezeptionsgeschichte der fraglichen Homerstelle geben können (s.u.).

Die Synkrisis, der Vergleich von Modell und Nachahmung, ist für den antiken Literaturkritiker also das Instrument, um Strategien einer intentional verstandenen imitatio und aemulatio zu verbalisieren und nach ihrem Erfolg zu beurteilen. Eine zusammenfassende Analyse synkritischer Urteile, wie sie in der vorliegenden Untersuchung für den Fall der vergilischen Homer-imitatio unternommen wird, ermöglicht somit Rückschlüsse auf den literaturkritischen Erwartungshorizont, der als Faktor literarischer Produktion auch für andere, zumal epische Texte von Relevanz ist.

Wenn man die von den antiken Philologen durch Textvergleich rekonstruierten und verbalisierten Strategien der Nachahmung analysieren und klassifizieren will, so sind grundsätzlich verschiedene Bezugsebenen zu unterscheiden. Literaturvergleiche beziehen sich auf zwei oder mehr Texte. Im Falle des Homer-Vergil-Vergleichs ergibt sich daraus z.B. das folgende Szenario: Der Kritiker bezieht sich auf zwei Stellen aus Aeneis und Odyssee. Die fragliche Odysseestelle hat ihrerseits eine bestimmte Rezeptionsgeschichte – etwa eine ästhetische Bewertung durch einen Grammatiker, die sich heute noch durch eine entsprechende Notiz in den Odysseescholien rekonstruieren lässt (= direkte Beurteilung der Modellstelle in ihrer Rezeption) –, die einerseits für Vergil, andererseits aber auch für die Beurteilung durch den vergleichenden Kritiker relevant ist bzw. sein kann. (Dass Vergil seine Modelltexte, zumal Homer, auch als Gegenstand philologischer und literaturkritischer Debatten wahrgenommen und herangezogen hat, wurde umfassend in den beiden Studien von Schlunk [1967 bzw. 1974] und dann insbesondere von Schmit-Neuerburg [1999] herausgearbeitet, letzterer mit dem Nachweis zahlreicher Einflüsse ethischer und kritischer Homerexegese auf Vergil.3) Zu dieser philologischen Rezeption ist wie bereits erwähnt auch die literarische Rezeption hinzuzunehmen, die für Vergil eine Rolle gespielt haben kann (= indirekte Beurteilung der Modellstelle in der Rezeption): Wenn Apollonios Rhodios etwa ein Gleichnis Homers aufgreift, so kann man in den Änderungen, die er vornimmt, einen Beitrag zur (kritischen) Homerrezeption sehen und für Vergil einen doppelten Bezug, nämlich auf Homer und Apollonios, annehmen. – Das Ergebnis der Synkrisis kann schließlich noch durch die besondere Rezeptionsgeschichte der Vergilstelle – ohne dass dabei Homer eine Rolle spielen muss – beeinflusst sein, die wiederum direkt (innerhalb von Vergilkommentaren etc.) oder indirekt (durch Vergilnachahmer) vonstatten gehen kann (= direkte bzw. indirekte Beurteilung der Nachahmung in der Rezeption).

Die hier zu behandelnden Literaturvergleiche geben also einen Einblick in die Kriterien, die man bei der Beurteilung von Nachahmung und Modell(-en) – und allgemeiner: von zwei oder mehreren Texten – heranziehen konnte, um eine konkrete ästhetische Wertung zu rechtfertigen. Synkritisches Lesen war eine verbreitete kulturelle Praxis, die hier zur Anwendung kommenden Kriterien und Methoden waren demnach nicht das Spezialgebiet der professionellen Grammatiker, sondern steuerten allgemein ästhetische Wahrnehmungsprozesse in der Antike.4 Die Literaturvergleiche sind daher ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis sowohl der Rezeptions- als auch der Produktionsbedingungen innerhalb einer literarischen Kultur, die die einzelnen Werken der Dichter, aber auch der Geschichtsschreiber, Redner und Philosophen, als grundsätzlich aufeinander bezogen wahrnahm, ob sie nun tatsächlich in einem intentionalen imitatio-Verhältnis von Modell und Nachahmung standen oder ob sich die Bezüge loser – etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand o.ä. – gestalteten.5

Das Vorgehen ist im Folgenden grundsätzlich chronologisch und autorengebunden, was sich aus der übergeordneten Frage nach der Einordnung in die Kanondiskussion ergibt: Ausgegangen wird dabei von der frühesten Phase der Vergilrezeption, aus der uns zwar keine Texte, aber immerhin Titel einschlägiger Schriften überliefert sind. Wie bereits erwähnt, lässt sich zeigen, dass Vergil im Verlauf dieser frühen Diskussion, in der die Frage nach der Bewertung homerischer Übernahmen z.T. mit dem Vorwurf des Plagiats beantwortet wurde, eine Schlüsselstellung zugewiesen wird und der Dichter der Aeneis nach und nach zum exemplarischen Modellfall für Dichtung „auf zweiter Stufe“ im positiven Sinne avancieren konnte (→ Kap. 2). Seneca d.Ä. steht mit seinen beiden Homer-Vergil-Vergleichen noch ganz im Kontext dieser Diskussion (→ Kap. 3), während für Gellius die kanonische Stellung Vergils als eines exemplarischen Homernachahmers bereits soweit gefestigt ist, dass er sich in seiner literaturhistorischen Einordnung ganz im Fahrwasser Quintilians bewegt (→ Kap. 4.2) und frühere Kritik an Vergils Homer-imitatio kommentarlos in ihrer Widersprüchlichkeit entlarven kann (→ Kap. 4.3). Macrobius steht mit seinen Saturnalia am Ende der hier behandelten Reihe: Bei ihm erlangt der Homer-Vergil-Vergleich systematische Geltung und wird konstitutiv für ein umfassendes Bildungsprogramm (→ Kap. 5.1.1 u. 3). Gleichzeitig ist der Vergleich mit Homer argumentativ eingebunden in einen symposialen Dialog, in dem die Diskussion über kanonischen Rang und Autorität (vgl. bes. Sat.5, 11 und 13) eine neue Funktion erhält (→ Kap. 5.1.3). Die wertenden Vergleiche begründen nämlich zwar abwechselnd den Vorrang Vergils und Homers, zeigen aber vor allem stilistische Sachverhalte auf (→ Kap. 5.2.1). Dann wird in einem nach Kategorien geordneten Nachweis der Versuch unternommen, Vergils Dichtung als strukturelle Adaption ihres homerischen Vorbilds zu erweisen, womit sich eine bestimmte Absicht verbindet, nämlich der Entwurf einer Poetologie griechisch-römischer Hexameterdichtung in der Nachfolge Homers, wie er in vergleichbarer Geschlossenheit sonst bei keinem Autor der (Spät-)Antike vorliegt (→ Kap. 5.2.2). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen soll dann abschließend auf die bereits aufgeworfene Frage nach der Stellung der Synkrisis zwischen Homer und Vergil in den antiken Kanondebatten6 eingegangen werden (→ Kap. 6).

Methodisch ergibt sich in den Kapiteln zu Seneca d.Ä., Gellius und Macrobius jeweils folgender Doppelschritt: Auszugehen ist von den – etwa in den Vorreden formulierten – programmatischen Stellungnahmen, in denen sich die Autoren über die Voraussetzungen und Ziele ihrer Schriften äußern. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Rolle literarischer Texte, die jeweils artikulierte Bildungsidee, den methodischen Stellenwert des (Literatur-)Vergleichs im Allgemeinen sowie auf das grundsätzliche Verhältnis zur griechischen Vorbildkultur zu legen. – Im zweiten Schritt werden dann die einzelnen vergleichenden Urteile in Abgleich mit ihren philologisch-ästhetischen Bedingungsfaktoren gebracht und auf Divergenz oder Konvergenz mit den andernorts überlieferten Wertungen geprüft. Vor dieser rezeptionsgeschichtlichen Folie kann dann die Stoßrichtung des einzelnen Urteils näher bestimmt und die Frage seiner Berechtigung bzw. seiner spezifischen Tendenz genauer beantwortet werden.

1.3Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick

1.3.1Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur

Der zentrale Begriff, mit dem man in der Antike wertende Textvergleiche im oben erläuterten Sinne umschrieb, war derjenige der Synkrisis (σύγκρισις).1 In seiner Verwendung i.S. v. comparatio2 bezeichnet dieser Terminus zunächst allgemein die logische Operation des Vergleichs.3 Eine speziellere Verwendung ergibt sich im literaturkritischen Zusammenhang: Hier ist an die κρίσις ποιημάτων zu denken, die nach Dionysios Thrax als sechstes Aufgabenfeld des antiken Philologen zur γραμματικὴ τέχνη gehört und – neben Echtheitskritik – im Kern die ästhetische Würdigung umfasst.4 Die σύγκρισις ist folglich die wechselseitig aufeinander bezogene κρίσις mehrerer Schriftwerke – Dichtung, aber auch Reden und andere vom Grammatiker behandelte Texte. Die Synkrisis als Methodenbegriff lässt sich folglich näherhin als vergleichende ästhetische Würdigung von Texten definieren, und der Hinweis auf die disziplinäre Einbettung der κρίσις ποιημάτων legt bereits nahe, dass es sich hierbei in der Regel nicht um eine subjektive Einschätzung, sondern um einen methodisch geleiteten Vorgang, der bestimmten ästhetischen Prinzipien folgt, handelt. Die Zahl möglicher Vergleichsgegenstände ist mit diesem Begriff noch nicht näher bestimmt, mindestens zwei müssen es aber natürlich sein. Dazu kommt, dass die Vergleiche in der Regel auf einen abschließenden Rangentscheid (iudicium bzw. κρίσις) hin ausgerichtet sind, es also nicht allein darum geht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, sondern die Parteinahme des κριτικός gefordert ist.5 – Der Terminus σύγκρισις kann neben der Methode des wertenden Vergleichens auch als Gattungsbegriff für eine literarische (Klein-)Form stehen, z.B. – aber nicht nur6 – im Gebiet der Literaturkritik. Diese beiden Bedeutungsvarianten zeigen eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Annäherung an das Phänomen des Literaturvergleichs in der Antike, da die Methode der Komparation sowohl in unselbstständiger wie auch in selbstständiger Form angewandt sein kann, wobei sie im letzteren Fall dann auch u.U. wiederkehrende Gattungsmerkmale – etwa einen symposialen Rahmen, die Form des Streitgesprächs o.Ä. – aufweist. Im Textkorpus der vorliegenden Untersuchung schlägt sich das insofern nieder, als in den Homer-Vergil-Vergleichen beide Möglichkeiten realisiert sind: Die exkursartigen Einlassungen Senecas rechnen zum ersten Typus, die eigenständigen Synkrisiskapitel bei Gellius, aber auch der in sich geschlossene wertende Vergleich in Sat.5, 11–13 sind eher als συγκρίσεις bzw. diiudicationes im gattungsmäßigen Sinn anzusprechen.

Berücksichtigt man außerdem das Verhältnis der analysierten Texte zueinander, so ist noch eine – zumal für den Bereich der römischen Literaturkritik relevante – begriffliche Unterscheidung zu treffen. In vielen Fällen lässt der Literaturkritiker nämlich erkennen, dass er einen direkten, vom jüngeren Autor intendierten Bezug auf den älteren Text annimmt. Relativ selten – zumindest im römischen Bereich – sind dagegen die Fälle, wo dies nicht der Fall ist, die Texte also etwa allein wegen ihres gemeinsamen Themas gewählt sind. Die Art dieses Bezugs kann bei den Vergleichstexten des ersten Typs in ganz unterschiedlicher Form – etwa als Übersetzung (interpretatio), Nachahmung (imitatio) oder literarischer Wettkampf (aemulatio), um eine der diskutierten Stufungen zu zitieren (s.u.) – realisiert und dann auch durch entsprechende Termini seitens des Kritikers markiert sein.

Die Kategorien interpretatio, imitatio und aemulatio wurden von Arno Reiff (1959) als fixes begriffliches System zur Beschreibung literarischer Abhängigkeit in der römischen Literatur vorgeschlagen. Dagegen hat man zurecht eingewandt, dass den verwendeten Termini keine feste Hierarchie entspricht, ihre Verwendung also gewissen kontextabhängigen Spielräumen folgt; vgl. Fuhrmann (1961), pass. – Die wesentlichen Aspekte der Konzepte von imitatio bzw. aemulatio fasst Bauer (1992), Sp. 144–150 zusammen. Sie wurden zunächst in der Rhetorik theoretisch entwickelt und sind nicht immer scharf voneinander zu trennen: Der Begriff der imitatio impliziert schon beim Auctor ad Herennium (1, 4: imitatio est qua impellimur, cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse) und bei Cicero das Ziel, das jeweilige Modell – in regelgeleiteter Weise (ratione) – zu übertreffen (Überbietungsabsicht). Aemulatio kann dann aber zur Bezeichnung der gelungenen Nachahmung auch als Gegensatzbegriff zu der entsprechend als pedantische Nachbildung verstandenen imitatio verwendet werden. Bei Dionysios von Halikarnassos können die sonst als Synonyma behandelten Begriffe μίμησις und ζῆλος an einer Stelle sogar in vergleichbarer Weise differenziert werden: ζῆλος setzt die psychologische Assimilation des Vorbilds voraus, während μίμησις nur die regelgeleitete Nachahmung bezeichnet, die ohne ein Eindringen in den „Geist“ des Vorbilds auskommt. Ps.-Longinos baut dieses ζῆλος-Konzept in seiner Abhandlung περὶ ὕψους zu einer regelrechten Inspirationstheorie aus, in der die kanonischen Vorbilder wie göttliche Mächte auf den Nachahmer einwirken, der dadurch nicht auf der Oberfläche lehr- und lernbarer Stilistika, sondern auch dem Wesen nach Teil an ihnen hat. Damit wird der im traditionellen imitatio-Konzept unvermeidliche Qualitätsabfall vom Modell zum Nachahmer in gewissem Sinne aufgehoben, weil das klassische Modell auf den Nachahmer nun in der Weise wirkt, dass es ihm zeigt, wie er als ein der Natur analoger Schöpfer selbst schöpferisch tätig werden kann: Der Nachahmer wird dadurch zum originalen Schöpfer und kann auf diese Weise selbst als Klassiker wirken. – Aus der Forderung nach einer Orientierung an vorbildlichen Mustern resultierten bei den griechischen Klassizisten die Bemühungen, einen festen Kanon an Modellautoren zu definieren – im Bereich der Rede waren dies hauptsächlich die attischen Redner des vierten Jhdt. v. Chr. Dies geht einher mit der Abwertung der nun als Verfallsperiode deklassierten Zwischenzeit, also der hellenistischen Periode. – In Rom war die Definition einer „klassischen“ Modellepoche aufgrund der literaturgeschichtlichen Situation ungleich schwieriger, was zu verschiedenen Versuchen einer Kanondefinition führte (Lit.: → Kap. 1.2). Quintilians Kanon in inst.10, 1 ist der systematisch anspruchsvollste Versuch in dieser Richtung, der aus der Antike erhalten ist. – Vgl. neben dem bereits zitierten Überblick bei Bauer zum imitatio-Konzept noch Flashar (1979), pass. und Görler (1979), pass.; dazu Kroll (1924), S. 139–184 und Farrell (1991), S. 3–25.

Dass ein intentionaler Bezug angenommen wird und dieser Umstand bei ihrer ästhetischen Wertung eine Rolle spielt, lassen die Kritiker in der Regel durch die Verwendung von Termini wie sequi, aemulari etc. erkennen.7 Dem stehen, wie bereits erwähnt, die Vergleiche gegenüber, in denen eine derartige intendierte Abhängigkeit nicht explizit unterstellt wird. Die Möglichkeit einer relativen Bewertung der fraglichen Autoren bzw. Texte ist natürlich auch hier gegeben, sie muss aber von den besonderen Bedingungen einer bewussten Bezugnahme absehen, bei welcher der Vorlagentext selbst und die Art seiner Rezeption mehr oder minder verbindliche ästhetische Maßstäbe liefern, die der spätere Autor, aber auch der Kritiker in seinem Kalkül bzw. seiner Bewertung zu berücksichtigen hat.

Betrachtet man die überlieferten Literaturvergleiche in ihrer historischen Entwicklung, so lässt sich diese doppelte Dichotomie von Methoden- und Gattungsbegriff bzw. „neutralem“ Stellenvergleich und expliziter imitatio-Kritik auch diachron genauer verorten.8 – Eine Reihe von überlieferten Titeln zeigt, dass die gegenüberstellende Anlage in monographischen Abhandlungen zu bestimmten Dichtern (→ Synkrisis als eigenständige Gattung) schon in vorhellenistischer Zeit verbreitet war.

Monographische Gegenüberstellungen von Dichtern und Rednern sind seit dem vierten Jhdt. v. Chr. bezeugt, wiesen aber wohl eine erhebliche Divergenz in der Zielsetzung auf. Exemplarisch sei hier auf Herkleides Pontikos (ca. 390–320 v. Chr.) hingewiesen (alle Titel bezeugt bei Diog. Laert. 5, 86 = frg.22 Wehrli): Die drei Bücher περὶ τῶν παρ’ Εὐριπίδῃ καὶ Σοφοκλεῖ behandelten wohl stofflich-sachliche Übereinstimmungen bei den beiden Tragikern (vgl. auch → Kap. 2.2.1).9 Ob die Schrift περὶ τῶν τριῶν τραγῳδοποιῶν im Umfang eines Buches in eine ähnliche Richtung ging, ist hingegen nicht mehr festzustellen. Die beiden Bücher περὶ Ἀρχιλόχου καὶ Ὁμήρου behandelten zwei Gattungsarchegeten; inwieweit hier tatsächlich ein Vergleich der beiden Autoren, etwa nach stilistischen Kriterien, stattgefunden hat, muss auch hier dahingestellt bleiben. Der Frage nach der relativen Datierung von Homer und Hesiod gingen schließlich die beiden Bücher Περὶ τῆς Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου ἡλικίας (vgl. Diog. Laert. 5, 86 = frg.22 Wehrli) nach.10 – Eigenständige Schriften, die den Terminus σύγκρισις im Titel führten, sind dann erst aus späthellenistischer Zeit bezeugt: Kleochares von Myrlea stellte einen monographischen Vergleich zwischen Demosthenes und den Isokrateern an (Photios bibl.176.121 B 9–15: … ἐν τῇ πρὸς τὸν Δημοσθένην συγκρίσει …)11, und von Poseidonios (135–51 v. Chr.) – nicht vom Astronomen Dionysios, wie Focke (1923), S. 343 vermutet – dürfte ein Schrift des Titels Περὶ συγκρίσεως Ἀράτου καὶ Ὁμήρου περὶ τῶν μαθηματικῶν stammen, in der die beiden Epiker nach ihren astronomischen Kenntnissen verglichen wurden.12

Erst in hellenistischer bzw. nachhellenistischer Zeit wurde der Terminus σύγκρισις nach unseren Zeugnissen also für literaturvergleichende Monographien verwendet, wobei auch dann noch eine gewisse thematische Varianz – rhetorische Stilkritik im Falle des Kleochares vs. Realienkritik bei Poseidonios – für die so bezeichnete Textsorte charakteristisch bleibt. – Einen Vorläufer hatten derartige literaturvergleichende Schriften – ob sie nun den Terminus σύγκρισις im Titel trugen oder nicht – in der sog. Agonliteratur, in der der Agon als institutionalisierte Form der Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Dichtern literarisiert wird – am prominentesten vertreten im sog. Certamen Homeri et Hesiodi sowie in den Fröschen des Aristophanes.

Einen wirklichen Aufschwung nahm die Synkrisis zumal als Methode literaturkritischer Bewertungsprozesse in den Stildebatten des ersten Jhdt. v. Chr. (vgl. auch → Kap. 2.2.2). Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formulierten ein theoretisch anspruchsvolles Programm literarischer und kultureller Erneuerung, das sich in einem klassizistischen Rückgriff auf die „goldene Zeit“ des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. vollzog. Ihr Bildungs- und Literaturverständnis war stark auf der Geltung anerkannter Autoritäten aus dieser „klassischen Zeit“ gegründet. Die Methode der Synkrisis war dabei ein Weg, eben diese Autorität und kanonische Stellung auszuhandeln und auf diese Weise brauchbare Muster überhaupt erst zu legitimieren. Neben zahlreichen Stilvergleichen zwischen den verschiedenen attischen Rednern liefert Dionysios von Halikarnassos in seinem Brief an Cn. Pompeius auch einen theoretischen Versuch, die Synkrisis methodisch zu rechtfertigen (→ Kap. 1.3.2):13 Das unausgesetzte Vergleichen der Besten mit den Besten setze die Unterlegenen nicht herab, sondern finde seine teleologische Begründung in einem nicht abschließbaren Prozess der Optimierung, in dem es darum geht, sich beständig der stilistischen Qualitäten der kanonischen Muster im Modus des Vergleichs zu versichern. Von dieser Lust am ständigen Vergleich, wie sie die Attizisten wohl schon vor Dionysios ausgeprägt hatten, zeugen auch zahlreiche Stellen in Ciceros Brutus.14

In späteren Epochen, zumal im Umfeld der zweiten Sophistik, finden sich dann viele Beispiele für synkritische Bewertungen von Autoren und konkreten Texten.15 Zwei Vergleiche griechischer Dramatiker sind aus der kaiserzeitlichen Literatur überliefert, an denen die Charakteristika rein griechischer Literaturvergleiche – von Griechisch schreibenden Autoren und nur über griechische Texte – besonders klar hervortreten. – Ein kurzes Stück, das im Korpus der Schriften Plutarchs überliefert ist, in der überlieferten Form aber nicht von diesem Autor stammt, trägt traditionell den Titel Συγκρίσεως Ἀριστοφάνους καὶ Μενάνδρου ἐπιτομή.16 Der Text gibt sich als eine Zusammenfassung von Plutarchs Einschätzung über die beiden Hauptvertreter der Alten und der Neuen Komödie, Aristophanes und Menander. Es handelt sich dabei um einen generellen Autorenvergleich – es steht also keine spezielle Komödie im Zentrum –, der aber doch konkrete Textstellen zur Stützung des Arguments heranzieht. Die Gegenüberstellung geht zunächst von der Sprache der beiden Dichter aus und stellt hier entsprechende Qualitätsunterschiede heraus (Kap. 1–2). Sein Erfolg beim Publikum bestätigt die Qualitäten Menanders (Kap. 3). Abschließend wird der urbane Witz Menanders dem bissigen Spott des Aristophanes gegenübergestellt (Kap. 4). Es handelt sich hier also um einen nach formalen – Sprache und Witz – und biographisch-literaturgeschichtlichen – Erfolg bei den Zeitgenossen – Kategorien geordneten Vergleich. Texte kommen nur insofern in Betracht, als sie eine vorab festgestellte allgemeine Differenz belegen können.

Das zweite Beispiel, Dions berühmte 52. Rede (περὶ Αἰσχύλου καὶ Σοφοκλέους καὶ Εὐριπίδου ἢ περὶ τῶν Φιλοκτήτου τόξων), stellt stattdessen durchaus konkrete Texte in den Mittelpunkt, nämlich die Philoktetdramen der drei attischen Tragiker, von denen bekanntlich nur das Stück des Sophokles erhalten ist.17 Bemerkenswert ist hier der imaginäre Agon, den Dion als Rahmen für seinen Textvergleich entwirft (Kap. 3–4); es handelt sich dabei um eine bewusste Stilisierung eines kritischen Entscheids nach den alten attischen Theatersitten. Nacheinander werden dann die drei Stücke besprochen, wobei erst die beiden schließlich abgewerteten Versionen des Aischylos und Euripides, als Abschluss dann die gelungene Bearbeitung des Stoffes durch Sophokles analysiert wird. Ohne auf die angewendeten Kriterien hier im Einzelnen einzugehen, ist allgemein darauf hinzuweisen, dass sich Dion fast ausschließlich auf die Konstatierung von Unterschieden beschränkt. Literarische Abhängigkeit kommt nur an einer Stelle ins Spiel, wobei die Bemerkung hier gerade von der Tragikertrias wegführt (vgl. Kap. 5: καθάπερ Ὅμηρος κἀκείνῳ δὴ ἑπόμενος Εὐριπίδης).

Vergleicht man diese beiden Beispiele etwa mit dem Übersetzungsvergleich, den Gellius in 2, 23 ebenfalls mit zwei dramatischen Texten – Menander und Caecilius Statius – anstellt, so wird die besondere Aufmerksamkeit kenntlich, die die römischen Philologen den Aspekten der literarischen Abhängigkeit – hier der Übersetzung – gewidmet haben.18 Dabei sind die Unterschiede in der Textgrundlage gar nicht so entscheidend: Wie die Beispiele aus dem Plocium des Caecilius Statius zeigen, war der römische Begriff der „Übersetzung“ ein sehr weiter. Man hätte in ähnlicher Weise wohl auch in den Philoktetdramen Stellen finden können, die sich inhaltlich direkt vergleichen lassen. Dion tut das nicht; er behandelt jedes Drama für sich, ohne einzelne Textstellen unmittelbar gegeneinander zu halten. Das deutet schon darauf hin, dass die in Rom über die Epochen hinweg so wichtigen Konzepte von imitatio und aemulatio in der Technik des Einzelstellenvergleichs auch methodische Auswirkungen hatten. Die Frage nach Grad und Art der Intentionalität stellte sich in Rom offensichtlich drängender als in Griechenland, auch weil sich die römische Literatur in ihrer ersten Phase als Übersetzungsliteratur verstanden hatte. Vergleichende Literaturkritik ist hier in der Regel auch imitatio-Kritik, und das Beispiel des prototypischen Homernachfolgers Vergil – das Provozierende seiner programmatischen Orientierung an Homer war bekanntlich schon den ersten Rezipienten bewusst19 – musste demnach besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

1.3.2Dionysios von Halikarnassos über die Funktion komparativer Literaturkritik (Pomp.1)

Neben diesen Beispielen für ihre praktische Anwendung hat es in der Antike aber auch vereinzelt theoretische Reflexion über die Zielbestimmung der literaturkritischen Synkrisis gegeben, und zwar in einem Gebiet, das neben den Dichtervergleichen als der zweite große Gegenstandsbereich komparativer Literaturkritik angesprochen werden kann, nämlich den Vergleichen von Prosaautoren. Hierzu gehört insbesondere die bereits erwähnte, relativ kurze Passage in einem Brief des Geschichtsschreibers und Literaturkritikers Dionysios von Halikarnassos, der in augusteischer Zeit in Rom gewirkt hat und als Hauptvertreter des sog. „römischen Klassizismus“ gilt.1 Es handelt sich um das Einleitungskapitel zum Brief an Gnaeus Pompeius GeminusDionysios Hal.Pomp. 1, wohl ein Spätwerk des Autors.2 Der Text steht zwar nicht repräsentativ für alle literaturvergleichenden Untersuchungen in der Antike, er leistet allerdings wichtige begriffliche Differenzierungen, insbesondere mit seiner Abgrenzung der Kategorien ἔπαινος und διάγνωσις, die auch die bereits bei Quintilian erkennbare Grundproblematik der Homer-Vergil-Vergleiche betrifft.

Dionysios verteidigt im genannten Abschnitt sein methodisches Vorgehen in der Schrift über Demosthenes. Dort hatte er einen Vergleich zwischen dem Redner Demosthenes und dem Philosophen Platon angestellt, der sich hauptsächlich auf stilistische Aspekte konzentrierte. Das abschließende Urteil dieser Synkrisis war zuungunsten Platons ausgefallen. Gnaeus Pompeius Geminus hatte Dionysios nun in einem nicht erhaltenen Brief unterstellt, dass es dessen Absicht gewesen sei, Platon mit diesem Vergleich zu kritisieren, seine stilistische Autorität also polemisch in Frage zu stellen. Dionysios kontert, indem er sich zunächst als einen großen Bewunderer Platons darstellt. Er behauptet außerdem, dass er mit seiner Platonbewunderung ganz auf der Linie einer bestimmten Gruppe von Literaturkritikern liegt, denen es um eine „Verbesserung von βίος und λόγος“ zu tun ist – eine Formel, mit der Dionysios auch an anderer Stelle seine klassizistischen Parteigänger umschreibt, Kritiker also, deren Urteil er für maßgeblich hält.3 Gnaeus Pompeius habe die Tendenz der Demosthenes-Schrift aus der Sicht ihres Autors also falsch interpretiert, und folglich geht es Dionysios im Abschnitt Kap. 3–8 zunächst darum, dieser Fehlinterpretation eine alternative Deutung entgegenzusetzen.

Das geschieht insbesondere in Kapitel 3: Dionysios kommt es an dieser Stelle darauf an, dass er keine Lobschrift (ἔπαινος) über den Redner hatte schreiben wollen, sondern dass es ihm um eine differenzierende Analyse – das Stichwort lautet διαγνῶναι – von Vorzügen und Schwächen des Demosthenes ging:

Ἐγὼ οὖν νομίζω δεῖν, ὅταν μὲν ἔπαινον προέληται γράφειν τις πράγματος εἴτε σώματος ὁποίου γέ τινος, τὰς ἀρετὰς αὐτοῦ καὶ οὐ τἀτυχήματα, εἴ τινα πρόσεστι, [τῷ πράγματι ἢ τῷ σώματι δεῖν] προφέρειν· ὅταν δὲ βουληθῇ διαγνῶναι, τί τὸ κράτιστον ἐν ὅτῳ δή ποτε βίῳ καὶ τί τὸ βέλτιστον τῶν ὑπὸ ταὐτὸ γένος ἔργων, τὴν ἀκριβεστάτην ἐξέτασιν προσφέρειν καὶ μηδὲν παραλείπειν τῶν προσόντων αὐτοῖς εἴτε κακῶν εἴτε ἀγαθῶν· ἡ γὰρ ἀλήθεια οὕτως εὑρίσκεται μάλιστα, ἧς οὐδὲν χρῆμα τιμιώτερον. (Dion. Hal. Pomp.1, 3 = VI222, 1–10 Usener-Radermacher)

(„Ich halte es also für notwendig, wenn man eine Lobrede auf eine Handlung oder eine Person – wie immer sie auch beschaffen sein mag – zu schreiben unternimmt, dass man die Vorzüge und nicht das Misslungene, wenn es denn welches gibt, vorbringt. Wenn man aber unterscheidend erkennen möchte, was das Vortrefflichste in irgendeinem Leben und was die beste unter Taten gleicher Art ist, <so muss man> die genaueste Untersuchung anstellen und darf nichts übergehen von dem Schlechten und dem Guten, was sich mit ihnen verknüpft. Auf diese Weise aber gelangt man am ehesten zur Wahrheit, die doch den höchsten Wert besitzt.“)

Als Maßstab einer derartigen „unterscheidenden Erkenntnis“ beruft sich Dionysios also auf das Kriterium der Wahrheit (ἀλήθεια), womit er offenkundig eine nicht tendenziöse, rein sachbezogene inhaltliche und stilistische Analyse meint. Dieses Kriterium hat für den ἔπαινος weniger Relevanz als für die διάγνωσις und wird hier geradezu als das differenzierende Merkmal zwischen Lob und Analyse eingeführt.

Die Unterscheidung dieser beiden Gattungen und die besondere Wahl, die Dionysios trifft, wird in den Kapiteln 4–8 näher ausgeführt. Zentral ist das Argument in Kapitel 5: Zur Erkenntnis der Stileigentümlichkeiten einzelner Reden bzw. einzelner Redner sei es hilfreich, zunächst eine Auswahl der Besten – an anderer Stelle ist allgemeiner von „Gleichartigen bzw. -rangigen“ die Rede – zu treffen und diese dann miteinander zu vergleichen. Damit lasse sich schließlich zwar ebenfalls eine Entscheidung darüber treffen, wer von dieser Bestenauswahl wiederum den ersten Platz erhält, die Qualität der unterlegenen Autoren werde damit aber nicht in Frage gestellt.

εἰ δὲ χαρακτῆρας λόγου προελόμενος σκοπεῖν καὶ τοὺς πρωτεύοντας ἐν αὐτοῖς φιλοσόφους τε καὶ ῥήτορας ἐξετάζειν τρεῖς μὲν ἐξ ἁπάντων ἐξελεξάμην τοὺς δοκοῦντας εἶναι λαμπροτάτους, Ἰσοκράτην τε καὶ Πλάτωνα καὶ Δημοσθένη, ἐκ δὲ τούτων αὐτῶν πάλιν προέκρινα Δημοσθένη, οὐδὲν ᾤμην οὔτε Πλάτωνα οὔτε Ἰσοκράτην ἀδικεῖν. (Dion. Hal. Pomp.1, 5 = VI222, 17–223, 2 Usener-Radermacher)

(„Wenn ich aber in dem Entschluss, die Stilarten der Rede genau zu betrachten und die in diesen jeweils ranghöchsten Philosophen und Redner herauszustellen, aus der Gesamtheit drei ausgewählt habe, die mir die glänzendsten zu sein scheinen, Isokrates, Platon und Demosthenes, aus diesen aber wiederum Demosthenes den Vorzug gegeben habe, so glaubte ich weder Platon noch Isokrates Unrecht zu tun.“)

Wieder versteht der fiktive Interlokutor Gnaeus Pompeius den Gedanken des Dionysios falsch, wenn er einwendet, ein Lob des Demosthenes hätte auch ohne eine vermeintliche Herabsetzung Platons auskommen können. Dionysios antwortet mit dem Hinweis, dass er von allen drei Autoren die besten Reden für seinen Vergleich ausgewählt und dabei festgestellt habe, dass alle Reden in ihren Teilen unterschiedliche Qualitätsstufen erreichten und erst eine Gesamtschau der differenzierten Urteile ein vor dem Maßstab der „Wahrheit“ belastbares Pauschalurteil zulässt:

Νὴ Δία, φῄς, ἀλλ’ οὐκ ἔδει σε τὰ Πλάτωνος ἁμαρτήματα ἐξελέγχειν, βουλόμενον ἐπαινεῖν Δημοσθένη. ἔπειτα πῶς ἄν μοι τὴν ἀκριβεστάτην βάσανον ὁ λόγος ἔλαβεν, εἰ μὴ τοὺς ἀρίστους λόγους τῶν Ἰσοκράτους τε καὶ Πλάτωνος τοῖς κρατίστοις <τῶν> Δημοσθένους ἀντιπαρέθηκα καὶ καθ’ ὃ μέρος ἥττους οἱ τούτων λόγοι εἰσὶ τῶν ἐκείνου, μετὰ πάσης ἀληθείας ἐπέδειξα, οὐχ ἅπαντα τοῖς ἀνδράσιν ἐκείνοις ἡμαρτῆσθαι λέγων – μανίας γὰρ τοῦτό γε –, ἀλλ’ οὐδ’ ἅπαντα ἐπίσης κατωρθῶσθαι. (Dion. Hal. Pomp.1, 6 = 223, 3–12 Usener-Radermacher)

(„‘Beim Zeus’, sagst du, ‘doch hättest du nicht die Fehler Platons aufzählen müssen, wenn es deine Absicht war, Demosthenes zu preisen.’ Wie hätte sich dann aber meine Rede der schärfsten Prüfung unterziehen können, wenn ich nicht die besten Reden des Isokrates und Platons mit den hervorragendsten von Demosthenes verglichen und nicht völlig der Wahrheit gemäß gezeigt hätte, in welchem Bereich ihre Reden schwächer als seine sind, ohne dabei zu behaupten, dass sich jene Männer in jeder Hinsicht verfehlt hätten – das wäre nämlich reiner Wahnsinn –, sondern nur, dass nicht alles in gleicher Weise ausgearbeitet sei.“)

Es ergibt sich also eine Akzentverschiebung: Während sich Gnaeus Pompeius ganz auf das Ergebnis der Synkrisis konzentriert, rückt dieser Aspekt für Dionysios in den Hintergrund. Diesem ist der Prozess des Vergleichens wichtiger. Zwar positioniert auch Dionysios seine drei Autoren auf einer imaginären Bestenliste, doch bringt es die Entscheidung für die „Wahrheit“ als leitendem Kriterium mit sich, dass die Bewertung der einzelnen Autoren differenzierter ausfällt, was grundsätzlich auch für den Erstplatzierten Demosthenes gelten muss – nur dass dieser eben verhältnismäßig wenig oder gar keinen Anlass zur Kritik gibt.

Dionysios enttäuscht damit in mehrfacher Hinsicht die Erwartungen seines Lesers Gnaeus Pompeius: Die Bewertung Platons im Demosthenes widerspricht grundsätzlich der Einschätzung des Pompeius. Zugleich ist dieser aber irritiert, dass Dionysios nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Seiten des Unterlegenen herausarbeitet und damit weder einen kunstgerechten Angriff4 noch einen ἔπαινος auf Platon vorbringt. Der vermeintliche ἔπαινος auf Demosthenes entspricht in den Augen dieses Lesers aber ebenfalls nicht den Regeln der Kunst, da Platon und Isokrates nicht wie zu erwarten pauschal abgewertet, sondern durchaus gerecht und differenziert behandelt werden.5 Der Grund für diese Verwirrungen ist klar: Gnaeus Pompeius geht nicht von der bei Dionysios getroffenen Unterscheidung zwischen ἔπαινος und διάγνωσις aus; er legt an alle Abschnitte der Schrift die Maßstäbe des ἔπαινος an.

Zur Rechtfertigung seines methodischen Vorgehens beruft sich Dionysios in den Kapiteln 9–14 auf die Autorität Platons selbst, der mit der Gegenüberstellung verschiedener ἐρωτικοὶ λόγοι im Phaidros gewissermaßen einen Prototyp literaturkritischer Synkrisis geschaffen habe. Dionysios kommt es auf einen bestimmten Gesichtspunkt an, nämlich auf das grundsätzliche Verhältnis von Literaturvergleich und Polemik. Er setzt sich nämlich im gleichen Zug von seinem formalen Vorbild Platon ab, wenn er darauf hinweist, dass dieser im Gegensatz zu ihm aus „Eifersucht“ bzw. „Neid“ – φιλοτιμία6 – gehandelt habe, wenn er seinen Zeitgenossen Lysias durch Konfrontation mit einer selbstverfassten Rede herabsetzt; ein Charakterzug, der dann auch generell in anderen Schriften Platons, besonders aber in seinem Verhältnis zu Homer nachgewiesen wird. Das Autoritätsargument wird hier also mit dem bereits eingeführten Gesichtspunkt der Objektivität, d.h. der durch keine anderen Interessen gestörten Suche nach der „Wahrheit“, erweitert.

Ein letzter Rechtfertigungsgrund kommt am Ende des Gedankengangs nur kurz ins Spiel, nämlich in Kapitel 16. Hier verweist Dionysios darauf, dass sich eine objektive, um die Wahrheit bemühte kritische Behandlung Platons auf eine Tradition berufen kann, die bis in die unmittelbare Zeitgenossenschaft Platons – verwiesen wird auf Aristoteles – zurückreicht:

πολλοὶ γὰρ εὑρεθήσονται πρὸ ἐμοῦ τοῦτο πεποιηκότες, οἳ μὲν κατὰ τὸν ἐκείνου γενόμενοι χρόνον, οἳ δὲ λίαν ὕστερον ἐπακμάσαντες. καὶ γὰρ τὰ δόγματα διέβαλον αὐτοῦ τινες καὶ τοὺς λόγους ἐμέμψαντο πρῶτον μὲν ὁ γνησιώτατος αὐτοῦ μαθητὴς Ἀριστοτέλης, ἔπειτα οἱ περὶ Κηφισόδωρόν τε καὶ Θεόπομπον καὶ Ζωΐλον καὶ Ἱπποδάμαντα καὶ Δημήτριον καὶ ἄλλοι συχνοί, οὐ διὰ φθόνον ἢ διὰ φιλαπεχθημοσύνην κωμῳδοῦντες ἀλλὰ τὴν ἀλήθειαν ἐξετάζοντες. (Dion. Hal. Pomp.1, 16 = VI226, 6–15 Usener-Radermacher)

(„Viele aber wird man finden, die das vor mir getan haben, wobei die einen zu seiner Zeit gelebt haben, die anderen hingegen viel später. Manche aber kritisierten seine Lehren, andere tadelten seine Redeweisen, an erster Stelle der Schüler, der ihm am nächsten kam, Aristoteles, dann auch Männer um Kephisodoros, Theopompos, Zoilos, Hippodamas, Demetrios und viele andere, die ihn nicht aus Neid oder Streitsucht verlachten, sondern weil sie nach der Wahrheit suchten.“)

Der Vergleich der Guten mit den Guten – ἀγαθοὺς ἀγαθοῖς ἀντεξετάζειν7 – kann sich also auf drei Argumente stützen: Die Autorität Platons selbst, die Objektivität einer von φιλοτιμία freien Wahrheitssuche, und die Tradition der in diesem Sinne tadellosen kritischen Vorgänger. Eine solcherart legitimierte synkritische Lektüre fügt sich – damit beendet Dionysios seine Rechtfertigung – ein in das Konzept einer „philosophischen Rhetorik“ (φιλόσοφος ῥητορική), ein Schlüsselterminus klassizistischer Literaturkritik:8

τοσούτοις δὴ καὶ τηλικούτοις ἀνδράσι παραδείγμασι χρώμενος καὶ παρὰ πάντας τῷ μεγίστῳ Πλάτωνι οὐδὲν ἡγούμην τῆς φιλοσόφου ῥητορικῆς ποιεῖν ἀλλότριον ἀγαθοὺς ἀγαθοῖς ἀντεξετάζων. περὶ μὲν οὖν τῆς προαιρέσεως, ἣν ἔσχον ἐν τῇ συγκρίσει τῶν χαρακτήρων, ἱκανῶς ἀπολελόγημαι καὶ σοί, Γεμῖνε φίλτατε. (Dion. Hal. Pomp.1, 17 = VI226, 15–21 Usener-Radermacher)

(„Mit so vielen und so bedeutenden Männern als Vorbildern und insbesondere mit dem größten unter ihnen, Platon selbst, glaubte ich nichts zu tun, was der philosophischen Rhetorik widerspricht, indem ich die Guten mit den Guten verglich. Über meine Absichten, die ich beim Vergleich der Stile verfolgte, habe ich mich nun sogar für deine Begriffe, mein bester Geminos, ausreichend erklärt.“)

An dieser Stelle wird deutlich, dass Dionysios die von ihm vorgeschlagene Methode der vergleichenden διάγνωσις über den i.e.S. rhetorisch-stilistischen Bereich hinaushebt und ihr eine allgemeine erzieherisch-bildende Funktion zuweist. Für die vorliegende Untersuchung ist diese spezifische Einbettung in ein geschlossenes didaktisches System mit hohen kulturellen Ansprüchen nur in Teilen von Relevanz. Wichtiger ist der allgemeine Hinweis, den Dionysios mit seiner Unterscheidung von ἔπαινος und διάγνωσις gibt: Nicht jede vergleichende Bewertung von Autoren impliziert automatisch eine Hierarchisierung dieser Autoren nach denselben Kriterien. Der Fokus verschiebt sich bei Dionysios wie erwähnt vom Ergebnis des Vergleichs hin zum Prozess des Vergleichens. Der Vergleich hat bei Dionysios nicht mehr das primäre Ziel, eine fixe Rangliste zu erstellen, sondern dient als heuristisches Instrument zur Identifizierung nachahmenswerter Stileigentümlichkeiten. Das eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, Autoren nach ihrer literaturgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit zu beurteilen. Gerade in der frühen Diskussion um den „Plagiator“ Vergil wird dieses Element zum Tragen kommen, wenn Vergils Kunst als Inbegriff künstlerischer imitatio gegen einen überkommenen furtum-Begriff ausgespielt wird. Homer und Vergil sind am Ende dieses Prozesses eben nicht mehr ohne Weiteres miteinander vergleichbar, wie aus der etwas „schiefen“ Rangbestimmung bei Quintilian ersichtlich wird: Einerseits versucht er bzw. der zitierte Domitius Afer in inst.10, 1, 86 eine traditionelle Rangfolge zu etablieren, andererseits gesteht er mit seiner Unterscheidung von ingenium und ars ein, dass die beiden Autoren von unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien ausgehen und daher grundsätzlich nicht vergleichbar sind. Weist man gelungene imitatio als Element von ars aus, wie es Klassizisten wie Dionysios getan haben, so verliert der Plagiatsvorwurf seine Bedeutung. Die im Folgenden zu untersuchenden Texte stellen sich alle in unterschiedlicher Weise der Herausforderung, Homer und Vergil sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer relativen Hierarchisierung als auch ihrer künstlerischen Eigentümlichkeit zu bewerten. Am Beginn steht die nur mehr sekundär bezeugte Debatte über die vermeintlichen Homerplagiate Vergils.

2.Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil

2.1Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD43–46)

Über die Anfänge der philologischen Beschäftigung mit Vergil sind wir durch ein knappes Résumé unterrichtet, das in der sogenannten Vita Suetonii vulgo Donatiana (VSD) in den Schlussteil der eigentlich biographischen, dem auctor Vergilius gewidmeten Partie eingefügt ist. Diese Lebensbeschreibung wurde von Aelius Donatus im vierten Jhdt. n. Chr. an den Beginn seines sonst weitgehend verlorenen Vergilkommentars gestellt und ist in dieser Fassung überliefert.1 Doch reicht die Geschichte der VSD um etwa zweihundert Jahre zurück: Donatus verwendete für die Einleitung zu seinem Kommentar eine von Sueton am Beginn des 2. Jhdt. n. Chr. verfasste Vergilbiographie, die dieser in die Reihe der Dichterviten im 15. Buch (De poetis) seiner antiquarischen Sammelschrift Pratum aufgenommen hatte.2 Wie Sueton auch in seinen Kaiserbiographien nach der Schilderung der Todesumstände in knappen Zügen die Einschätzung des Toten bei Mit- und Nachwelt umreißt, so folgt auch in der VSD auf die Nachricht vom Ableben Vergils in Brundisium (§ 35) und seiner Bestattung in Neapel (§ 36)3 ein Katalog von Kritikern (obtrectatores), die Vergils Werk schon zu Lebzeiten und postum auf den Plan rief:4

Obtrectatores Vergilio numquam defuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem. prolatis Bucolicis Numitorius quidam rescripsit Antibucolica, duas modo eclogas sed insulsissime παρῳδήσας, quarum prioris initium est: ‘Tityre, si toga calda tibi est, quo tegmine fagi?’ sequentis: ‘Dic mihi, Damoeta: cuium pecus, anne Latinum? | non. verum Aegonis nostri sic rure loquuntur.’ alius recitante eo ex Georgicis: ‘Nudus ara, sere nudus’, subiecit: ‘habebis frigore febrem’. est adversus Aeneida liber Car<v>ili Pictoris, titulo ‘Aeneidomastix’. M. Vip<s>anius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Herennius tantum vitia eius, Perellius Faustus furta contraxit. sed et Q. Octavi Aviti Ὁμοιότητων5 octo volumina, quos et unde versus transtulerit, continent. Asconius Pedianus libro, quem contra obtrectatores Vergilii scripsit, pauca admodum obiecta ei proponit, eaque circa historiam fere et quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sic defendere assuetum ait: ‘cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum surripere’; et tamen destinasse secedere, ut omnia ad satietatem malevolorum decideret. (VSD §§ 43–46 = 174–199 Hardie = 38, 8–41, 6 Brugnoli-Stok)

Von den genannten Werken ist keines erhalten, und man hat vermutet, dass auch Sueton die Titel nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Einleitung zu der von ihm erwähnten Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus contra obtrectatores Vergilii, kannte.6 Bei der Liste handelt es sich auch offenkundig nicht um den Versuch, eine vollständige Dokumentation der frühen Vergilkritik zu leisten. Stattdessen tritt, zieht man die klare Strukturierung des Passus in Betracht, der systematische Charakter der Zusammenstellung in den Vordergrund: Sueton – bzw. seiner Vorlage, Asconius Pedianus – ging es eher darum, für bestimmte Typen von Kritik repräsentative Beispiele aus der frühen Vergilliteratur zu nennen. Der literatur- und philologiegeschichtliche Bezugspunkt ist dabei im ersten Satz des Abschnitts benannt: Das rezeptionsgeschichtliche Faktum der Vergilkritik wird mit einem analogen Phänomen aus der Homerrezeption parallelisiert. Damit soll der kanonische Status beider Autoren freilich nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Die Tatsache der Kritik wird von Sueton geradezu als Indiz für den Rang des Homernachfolgers Vergil ausgegeben: nec mirum, nam nec Homero quidem.

Doch worin bestehen die behaupteten Bezüge zur Homerkritik im Einzelnen? Bei der zuerst genannten Gruppe, Parodien von Vergils Eklogen- und Lehrdichtung, ist die postulierte besondere Verbindung vielleicht auf den ersten Blick am wenigsten evident, weil man kreative Umbildungen in parodistischer Absicht auch zu zahlreichen anderen antiken Autoren kennt, es sich also nicht um eine Besonderheit der Homerrezeption handelt.7 Sueton nennt einen nicht weiter greifbaren Numitorius8, der gleich nach der Veröffentlichung der Bucolica zu Beginn der dreißiger Jahre9 eine zwei Eklogen umfassende Gegenschrift verfasste, der er den Titel Antibucolica gab.10 Das poetische Verfahren des Numitorius wird durch den Zusatz insulsissimeπαρῳδήσας in ästhetischer wie technischer Hinsicht qualifiziert.

Um zu verstehen, warum Sueton diese Eklogen- und Georgica-Parodien (und keine anderen zeitgenössischen Vergilparodien) als Gegenstücke zu vergleichbaren Phänomenen gerade aus der Homerrezeption nennt, muss man die Besonderheiten des antiken Parodiebegriff in Rechnung stellen. In der lateinischen Literatur begegnet der Terminus zuerst bei Quintilian: In seiner Erörterung über den risus legt er dar, wie der Redner Verse verwenden soll, um komische Wirkungen zu erzielen. Neben ihrer Übernahme im unveränderten Wortlaut haben insbesondere das variierende Zitat und die freie Nachbildung von Versen komisches Potenzial.11 Dergleichen Anspielungen lassen den Redner als gewandten, schlagfertigen Mann von Welt erscheinen.12 Eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Wirkung liegt dabei darin, dass es sich um bekannte Verse handelt – die Identifikation des Vorbildverses seitens des Zuhörers muss also gewährleistet sein. An anderer Stelle öffnet Quintilian seinen Parodiebegriff auf den Bereich der Prosarede hin und schränkt ihn zugleich in historischer Perspektive ein, indem er eine ältere, strengere Definition ins Spiel bringt, nach der es sich ursprünglich bei der παρῳδή um ein canticum gehandelt habe, dessen Melodie nach der eines anderen canticum gestaltet war.13