Homöopathie bei Psychotrauma - Jutta Gnaiger-Rathmanner - E-Book

Homöopathie bei Psychotrauma E-Book

Jutta Gnaiger-Rathmanner

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Beschreibung

Psychotraumata homöopathisch behandeln Das erste Werk zur modernen homoopathischen Behandlung des Psychotraumas mit Kasuistiken und erfahrungsbasierter Bewertung. Hinter einer Erkrankung kann sich ein traumatischer Auslöser verbergen. Wie Sie diesen erkennen und wie Sie die Homoopathie begleitend in der Traumabehandlung einsetzen, zeigt Ihnen dieses Werk. Neben den homöopathischen Grundlagen sind es vor allem die ausführlichen und gut strukturierten Fallbeispiele, die Ihnen wertvolle Hinweise fur Ihre Behandlungen geben. Die Kasuistiken sind gegliedert nach Psychotraumata: - bei Erwachsenen und Kindern - mit psychischen Symptomen - mit Somatisierungsstorunge - mit Borderlineanteilen Eine psychiatrische Einschätzung am Ende der Fälle erganzt die homoöpathische Sichtweise. Profitieren Sie von anschaulich beschriebenen und nachvollziehbaren Fallbeispielen in der homöopathischen Traumabehandlung.

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Jutta Gnaiger-Rathmanner, Rosemarie Mayr

Homöopathie bei Psychotrauma

20 ausführlich kommentierte Fallanalysen

3 Abbildungen

Jutta Gnaiger-Rathmanner

Dr. Jutta Gnaiger-Rathmanner, geboren 1950 in Feldkirch im Westen Österreichs, ist dort seit 1982 in homöopathischer Allgemeinpraxis tätig. Medizinstudium in Wien, Ausbildung und langjährige Mitarbeit bei den Badener Kursen der Wiener Schule für Homöopathie unter der Leitung von Prof. Mathias Dorcsi, Studienaufenthalte bei Martin Stübler in Augsburg und bei S.P. Ortega in Mexiko. Zehn Jahre lang in der Internationalen Liga für homöopathische Ärzte tätig. Viele internationale Vorträge und Veröffentlichungen. Preisträgerin des Goldenen Samuel für eine Studie über Lac caninum und des Dr. Peithner Preises für eine Fallserie über Petroleum.

Rosemarie Mayr

Bis 2008 war Frau Dr. Mayr als Fachärztin für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin sowie als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Christian Doppler Klinik Salzburg tätig. Danach eröffnete sie als Fachärztin für Psychiatrie und Homöopathie eine freie Praxis in Salzburg. Seit Ende der 80er-Jahre zunehmende Beschäftigung mit Homöopathie, 1996 Diplom für Homöopathie der ÖÄK.

Widmung

Das Buch ist meinen Lehrern Prof. Dr. Mathias Dorcsi und Dr. Martin Stübler in Dankbarkeit gewidmet.

Vorwort

„Seit wann haben Sie Ihre Beschwerden?“

Diese Frage verblüffte und faszinierte mich zu Beginn meiner homöopathischen Ausbildung vor 35 Jahren. Die Antworten verwiesen oft auf einen seelischen Schmerz am Anfang des Krankseins. Ich erlebte dies als Umkehrung meines jungen akademischen Wissens aus der Medizinischen Klinik.

Es ist die Frage nach der Ätiologie, nach den auslösenden Faktoren. Diesen wurde in der Wiener Schule der Homöopathie große Bedeutung in der Rangordnung der Symptome beigemessen. Warum sollte dies den Ausschlag geben für das Verständnis eines Patienten und gar für die Verordnung der homöopathischen Arznei?

Entlang dieser ärztlichen Frage ordnet sich die Begegnung mit meinen Patienten in der ausführlichen Anamnese bis heute. Es ist die Suche nach entscheidenden Momenten im Prozess des Erkrankens. Es ist die Frage, die die Tore zu größeren Zusammenhängen eröffnet, indem sie die Schranke zwischen Leib und Seele, eingeschrieben in den neuzeitlichen Gehirnen, überwinden hilft.

„Seit damals ist nichts mehr, wie es früher war.“

So lautet das Kennwort aus der Traumalehre. Sie forscht nach bewussten und unbewussten krankmachenden Faktoren, seien sie körperlicher oder seelischer Art. Auch sie ist getragen von einem ganzheitlichen und phänomenologischen Menschenbild.

Die Homöopathie, über 200 Jahre alt, muss sich in der jeweiligen zeitgenössischen Medizin immer wieder neu positionieren. Sie steht vor der Frage: Wie kann das Aufregende homöopathischer Kasuistiken in einer Welt perfekter, geschlossener materialistischer Konzepte sagbar gemacht werden? In diesem Buch versuchen die Autorinnen, die beobachteten Phänomene am Patienten in Begriffe der Regulationsmedizin, der Kommunikationswissenschaft sowie der aktuellen klinischen Denkmodelle zu fassen. Insbesondere zur Traumatheorie wird eine Brücke geschlagen.

Ein großer Dank gilt Frau Rosemarie Mayr, die sich als Fachärztin der Klinik diesem unkonventionellen Dialog mit dem Erfahrungsgut aus der homöopathischen Allgemeinpraxis gestellt hat. Mögen sich der Schweregrad von Krankheitsbildern, das Ausmaß der somatischen Manifestationen, der Fokus der Anamnese und die Art der Einbindung in das Gesundheitssystem der Patienten in Fachklinik und privat geführter Allgemeinpraxis wesentlich unterscheiden: Der Blick auf den einzelnen Menschen mit seiner Geschichte kann beide Wege verbinden.

Dieser Dialog hat auch Kompromisse verlangt: So ist aus der Seelenwunde das Psychotrauma geworden, aus der Krankengeschichte die Kasuistik. Die Ätiologie, die das Ausmaß einer auslösenden Veranlassung erfasst, blieb in einem gewissen Gegensatz zum Trauma stehen. Diese bewertet vielmehr die Art und Intensität der pathologischen Reaktion auf ein Ereignis.

Ein Dank an Jürgen Hansel für die zündende Anregung im Jahre 2002, mich für das Münchner Homöopathieseminar gezielt mit den modernen Frauenschicksalen zu befassen. Ein Dank an die Kollegen, die zum richtigen Moment hilfreich zur Seite gestanden sind: Christian Lucae, Hansjörg Heé, Martin Hirte, Leopold Drexler, Georg Soldner und Philip Witt.

Danke an Frau Grübener vom Haug Verlag und Frau Schimmer, die Redakteurin, für ihr kompetentes Gegenüber. Danke an meinen Mann für seine Geduld und Unterstützung.

Die großen anonymen Helden dieses Buches sind die Patientinnen und Patienten aus meiner Praxis, die ich in ihrem zwar schmerzhaften, doch unbeirrten Ringen um Heilung ein Stück weit begleiten durfte. Ihnen gebührt große Anerkennung.

Feldkirch, im September 2012Jutta Gnaiger-Rathmanner

Inhalt

Vorwort

Methodologische Grundlagen

1 Einleitung zu den methodologischen Grundlagen

2 Ganzheitlich – das Menschenbild der Homöopathie

2.1 Merkmale der Homöopathie beim Psychotrauma

2.1.1 Fallbeispiel: Patientin, 49 Jahre

2.2 Eckdaten für das Menschenbild der Homöopathie

2.3 Ganzheitlich und phänomenologisch – die Methode der Homöopathie

3 Zur homöopathischen Anamnese

3.1 Zwei Anamnesetechniken beim chronisch kranken Patienten

3.2 Schema der Erstanamnese

4 Anamnese und Kommunikation

4.1 Eigenschaften der Körpersprache

4.2 Beispiele aus der Praxis

4.2.1 Beispiel 1

4.2.2 Beispiel 2

4.2.3 Beispiel 3

4.3 Anwendung der nonverbalen Kommunikation

5 Die Frage „Seit wann?“ – Ätiologie als Phänomen des Anfangs

5.1 Ätiologie im akuten Fall

5.2 Ätiologie beim chronischen Patienten

5.2.1 Ätiologie kann offen zutage liegen oder verborgen sein

5.2.2 Auslösendes Moment im seelischen Erleben

5.3 Schichten von Ätiologie und Trauma

5.3.1 Krankengeschichte als Beispiel

5.3.2 Dialogisches Rückversichern

5.4 Vom Ausmaß eines Psychotraumas

5.4.1 Beispiel

5.4.2 Anfänge von Krankheiten

6 Verhalten und Konstitution

7 Die Lokalsymptome, die klinischen Befunde, die Diagnose

7.1 Der Patient mit Psychotrauma

8 Arzneifindung

9 Arzneiverordnung und ärztlicher Rat

9.1 Zur Verordnung der Hochpotenzen

9.2 LM- oder Q-Potenzen

9.3 Potenz D 30 und C 30

9.4 Niedere Potenzen

9.5 Ärztlicher Rat

10 Arzneiwirkung, Verlauf, Begleitung, Heilung

10.1 Arzneiwirkung

10.2 Verlaufskriterien in der Homöopathie

10.2.1 „Ausscheidung“ und Reaktionen auf seelischer Ebene

10.2.2 Hering'sche Regel

10.3 Begleitung des Patienten

10.4 Heilung

10.4.1 Heilung im klinischen und homöopathischen Verständnis

10.4.2 Unterdrückung versus Verdrängung

10.4.3 Gesundheit

Theoretische Grundlagen

11 Einleitung zu den theoretischen Grundlagen

12 Ätiologie, die Materia medica und das Repertorium

12.1 Primäre Auslöser eines Psychotraumas

12.2 Seelische Folgen auf das Psychotrauma

12.2.1 „Beschwerden durch Zorn“ in seinen vielen Facetten

12.2.2 Zum Wert der Rubriken „Beschwerden durch“

12.2.3 Spezialthemen der seelischen Ätiologie

13 Arzneien für das Psychotrauma

13.1 Carcinosinum

13.1.1 Beispiel 1

13.1.2 Beispiel 2

13.2 Natrium muriaticum

13.2.1 Vermeidungsverhalten

13.2.2 Emotionale Taubheit

13.2.3 Übererregung

13.2.4 Dissoziation

13.2.5 Pathologisches Wiedererleben

13.2.6 Fazit

13.3 Opium

13.3.1 Beispiel

13.4 Jede Arznei ist eine potenzielle Traumaarznei

13.4.1 Beispiel

14 Traumabegriff

14.1 Definition/Begriffsverwendung

14.1.1 Was wird durch wen als psychisches Trauma definiert und was nicht?

14.1.2 Was wird als Trauma offiziell anerkannt?

14.1.3 Welche individuellen und welche kollektiven Bewältigungsstrategien stehen den Betroffenen zur Verfügung?

14.1.4 Wo positioniere ich mich selbst als Mitbetroffener, Miteinbezogener – sei es als Angehöriger, Freund oder professioneller Helfer in einem Kontext, in dem es um Trauma geht?

14.2 Geschichte des Trauma(begriff)s – ein Exkurs aus der Sicht der Psychiatrie

15 Trauma im psychologischen und psychiatrischen Kontext

15.1 Häufig verwendete Einteilungsschemata und Begriffe

15.1.1 Einteilungsschema nach L. Terr (1991)

15.1.2 Einteilung nach J. G. Allen (2005)

15.1.3 Weitere Einteilungen

15.2 Symptomatik und Neurobiologie

15.2.1 Klinische Symptomatik von Traumafolgestörungen

15.2.2 Diagnoseschemata und klinische Symptomatik

15.3 Übersicht traumareaktiver Entwicklungen

15.3.1 Akute Belastungsreaktion (F 43.0)

15.3.2 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS/PTSD) F 43.1 (ICD-10)

15.3.3 Anpassungsstörungen (F 43.2)

15.3.4 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen; F 44.–)

15.3.5 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F 60.3–)

15.3.6 Häufige Begleiterscheinungen/Komorbiditäten

15.4 Resilienzfaktoren

15.5 Therapeutische Zugänge

15.5.1 Psychiatrische und psychotherapeutische Therapiewege

Die Kasuistiken

16 Einleitung zu den Kasuistiken

17 Psychotrauma im psychiatrischen Sinn – Erwachsene

17.1 Vipera berus, die Kreuzotter

17.1.1 Kasuistik

17.1.2 Vipera berus und die Ätiologie

17.2 Lac humanum, die Muttermilch

17.2.1 Kasuistik

17.2.2 Lac humanum und die Ätiologie

17.3 Mercurius solubilis, das metallische Quecksilber

17.3.1 Kasuistik

17.3.2 Mercurius solubilis und die Ätiologie

17.4 Opium, der Schlafmohn

17.4.1 Kasuistik

17.4.2 Opium und die Ätiologie

18 Psychotrauma im psychiatrischen Sinn – Kinder

18.1 Staphysagria officinalis, der Rittersporn

18.1.1 Kasuistik

18.1.2 Staphysagria und die Ätiologie

18.2 Opium, der Schlafmohn

18.2.1 Kasuistik

18.2.2 Opium und die Ätiologie

18.3 Cuprum metallicum

18.3.1 Kasuistik

18.3.2 Cuprum metallicum und die Ätiologie

18.4 Stramonium, der Stechapfel (gefolgt von Syphilinum)

18.4.1 Kasuistik

18.4.2 Stramonium und die Ätiologie

18.4.3 Syphilinum und die Ätiologie

19 Psychotrauma mit psychischen Symptomen

19.1 Staphysagria, der Rittersporn

19.1.1 Kasuistik

19.1.2 Staphysagria und die Ätiologie

19.2 Sabadilla officinalis, der Läusesamen

19.2.1 Kasuistik

19.2.2 Sabadilla officinalis und die Ätiologie

19.3 Arsenicum album, die arsenige Säure

19.3.1 Kasuistik

19.3.2 Arsenicum album und die Ätiologie

20 Psychotrauma mit Somatisierungsstörung

20.1 Natrium muriaticum, das Kochsalz

20.1.1 Kasuistik

20.1.2 Natrium muriaticum und die Ätiologie

20.2 Natrium muriaticum sive chloratum

20.2.1 Kasuistik

20.3 Arsenicum album

20.3.1 Kasuistik

20.3.2 Arsenicum album und die Ätiologie

20.4 Mezereum, der Seidelbast

20.4.1 Kasuistik

20.4.2 Mezereum und die Ätiologie

20.5 Folliculinum, das Follikelhormon

20.5.1 Kasuistik

20.5.2 Folliculinum und die Ätiologie

21 Traumapatienten mit Borderlineanteilen

21.1 Tarentula – Kreosotum – Androctonus

21.1.1 Kasuistik

21.1.2 Der Abgrund in mir

21.1.3 Tarentula hispanica, erster Schritt

21.1.4 Kreosotum, zweiter Schritt

21.1.5 Androctonus, dritter Schritt

21.2 Carcinosinum, die Krebsnosode

21.2.1 Kasuistik

21.2.2 Carcinosinum und die Ätiologie

21.3 Podophyllum peltatum, der Maiapfel

21.3.1 Kasuistik

21.3.2 Podophyllum peltatum und die Ätiologie

Anhang

22 Literatur und Quellen

23 Sachverzeichnis

Methodologische Grundlagen

1 Einleitung zu den methodologischen Grundlagen

2 Ganzheitlich – das Menschenbild der Homöopathie

3 Zur homöopathischen Anamnese

4 Anamnese und Kommunikation

5 Die Frage „Seit wann?“ – Ätiologie als Phänomen des Anfangs

6 Verhalten und Konstitution

7 Die Lokalsymptome, die klinischen Befunde, die Diagnose

8 Arzneifindung

9 Arzneiverordnung und ärztlicher Rat

10 Arzneiwirkung, Verlauf, Begleitung, Heilung

1 Einleitung zu den methodologischen Grundlagen

Jutta Gnaiger-Rathmanner

Die täglichen Erfahrungen mit den Patienten aus meiner homöopathischen Allgemeinpraxis inspirierten mich zu diesem Buch. Folgen wir der ganzheitlichen, biografischen Anamnese, wie in der Homöopathie heute gefordert, so vertieft sich das ärztliche Verständnis von Krankheiten hin zu einem Bild vom kranken Menschen mit seiner persönlichen Geschichte. Ganz selbstverständlich lässt sich daran eine Zusammenschau von körperlichem und seelischem Leiden entwickeln. Aus Sicht der Psychiatrie wird der Weg zur fachärztlichen Diagnose beleuchtet.

Alle Kasuistiken, die den Hauptteil des Buches ausmachen, berichten von Patienten mit schwerem Psychotrauma. Das spiegelt die Erfahrung in der täglichen homöopathischen Allgemeinpraxis wider, wo dieses Thema immer häufiger zur Sprache kommt und eine neuartige Herausforderung an die Ärzte darstellt.

Der Patient mit Psychotrauma zeichnet sich in mehreren besonderen Aspekten aus:

Er weist meist gleichzeitig somatische und seelische Störungen auf.

Der Krankheitsprozess schließt verborgene, tiefer liegende Schichten des Menschen mit ein.

Auslösende Faktoren, Ätiologie oder Trauma genannt, spielen dabei eine große Rolle.

Daraus ergeben sich 2 Themenkreise für die Behandlung traumatisierter Patienten:

Die homöopathische Methode bedarf einer Schärfung ihrer praktischen und theoretischen Basis. Hierher gehört der Begriff „Ätiologie“.

Die Traumatheorie steht als psychotherapeutische und wissenschaftliche Methode zur Verfügung. Sie behandelt das psychische Trauma und die damit zusammenhängenden neurobiologischen Zusammenhänge gemäß heutigem Verständnis.

Merke: Viele homöopathische Ärzte verstehen die Homöopathie als Teil der gesamten zeitgenössischen Medizin. So hat und nimmt sie Anteil am Therapieplan in der Behandlung von Traumapatienten. Dieses Buch stellt sich dem medizinisch-ärztlichen Dialog, wie er heute noch selten geschieht. Homöopathie und Traumatheorie werden anhand der Begriffe Ätiologie und Trauma in Theorie und Praxis gegenübergestellt. Dies wird dadurch erleichtert, dass der phänomenologische Ansatz, der der homöopathischen Methode eigen ist, auch in der heutigen Theorie der Traumadiagnostik enthalten ist.

Kapitel „Grundlagen“. Die beiden einführenden Buchteile, methodologische und theoretische Grundlagen, bereiten die Möglichkeit zum Nachvollziehen der Kasuistiken vor und sollen Rüstzeug für die Behandlung von Traumapatienten geben. Es werden alle Aspekte herausgearbeitet, die beim Traumapatienten wichtig sind und berücksichtigt werden müssen. Diese Grundlagen sind allerdings nicht als systematische Einführung in die Homöopathie gedacht. Dafür verweise ich auf viele gute Lehrbücher wie das Lehrbuch der Homöopathie von Genneper und Wegener (2011) oder das Kursbuch Homöopathie von Teut, Dahler, Lucae und Koch (2008).

Einem Kenner der Homöopathie würden die ausführlich dargestellten Kasuistiken zur Abhandlung des Buchthemas genügen. Es sollen aber auch Neugierige aus anderen Fachbereichen und junge Kollegen ihre Freude an diesem Buch haben.

Methodologische Grundlagen. Die Kapitel zu den methodologischen Grundlagen im ersten Teil des Buches durchforsten alle Bereiche der Homöopathie, die sich auf die Vorgehensweise mit der homöopathischen Methode in der Praxis beziehen.

Kernpunkt jeden ärztlichen Handelns ist das Menschenbild, das ihm zugrunde liegt. Die ganzheitlich und phänomenologisch ausgerichtete Anamnese in der Homöopathie spiegelt deren mehrschichtiges Menschenbild. Die Daten des Patienten fußen in der Regel bevorzugt auf den Ergebnissen der Befunde sowie des Gesprächs und des Wortes.

Der Patient mit Seelentrauma zeichnet sich dadurch aus, dass er beherrscht ist von tiefer liegenden, oft halb- bis unbewussten Seelenwunden. In Begegnung und Gespräch sind für die Anamnese neben den bewussten Inhalten auch die nonverbalen Botschaften von großer Bedeutung. Zu deren Erforschung sind die Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft hilfreich. Diese bestätigen und erweitern den Konstitutionsbegriff, wie er für die Homöopathie von Dorcsi herausgearbeitet wurde.

Die systematische Frage nach dem „Seit wann?“ des Krankseins führt zur Ätiologie, insbesondere zur seelischen Auslösung von Krankheiten. Was muss besonders ins Auge gefasst werden angesichts von Patienten, die einen großen Anteil ihres Krankseins im Verborgenen, in tieferen, schwer zugänglichen Seelenschichten mit sich tragen? Wie gestalten sich die Anamnese und die Patientenbeobachtung im Sinne von seinem Aussehen, Verhalten und Kontakt unter diesem Aspekt? Wie die Arzneifindung, die Heilwirkung und der Verlauf?

Davon handelt der erste Buchteil. Eine solche erweiterte Sichtweise von Krankheitsprozessen bedeutet eine Herausforderung an das zeitgemäße klinische Verständnis von Krankheit und Gesundheit, der sich dieses Buch stellen will.

Die Gegenprobe für diesen ganzheitlichen Ansatz findet sich in der Wirkung der homöopathischen Arznei. Die Heilungsverläufe werden geschildert, aber auch reflektiert in ihrem Aussagewert innerhalb der Medizin.

Klinisch-psychiatrischer Bezug

Rosemarie Mayr

Gemeinsamkeiten. Bei der Arbeit an diesem Buch traten unterschwellig bekannte Gemeinsamkeiten zwischen Homöopathie und dem Fach Psychiatrie im schulmedizinischen Sinne deutlicher über die „Bewusstseinsgrenze“.

Sowohl der Homöopath als auch der Psychiater benötigen und nehmen sich für ihre Patienten viel Zeit. Beide gehen ausführlich auf den Patienten in seiner Individualität ein. Die Anamneseerhebung spielt für beide eine große Rolle – nicht nur im Sinne einer Aufzählung diverser Beschwerden und früherer Diagnosen, sondern auch als Gelegenheit des subjektiven Wiedererlebens der mit den geschilderten Lebensereignissen und -themen verbundenen Gefühle. Bei schwer traumatisierten Patienten ist hier allerdings Vorsicht geboten! Sie könnten damit überfordert sein (s. unter Therapie). Ähnliche Kriterien gelten auch für die weitere Begleitung des Patienten. Dennoch verfolgen beide, ihrer fachlichen Ausrichtung gemäß, in der Befragung und diagnostischen Beurteilung andere Schwerpunkte, setzen andere Akzente.

Homöopathische und psychiatrische Diagnose. So bewegt sich der homöopathisch tätige Facharzt für Psychiatrie zwischen den Welten der „homöopathischen Diagnose“ (also dem verschriebenen Mittel) und der Notwendigkeit, aus Verrechnungsgründen gleichzeitig eine psychiatrische Diagnose zu verleihen.

Aus psychiatrischer Sicht trifft die homöopathische Diagnose häufig den Kern des Problems hinsichtlich des Krankheitsauslösers oder der psychotraumatischen Ursache. Eine einschlägige offizielle ICD-10-Diagnose, die einer „Trauma-diagnose“ gemäß Diagnosehandbuch entspricht, ist jedoch bisweilen schwer zuzuordnen. In einigen der hier präsentierten Fälle erfüllt das Symptombild eher die Kriterien einer Depression, einer psychosomatischen oder anderen Störung. Gleichzeitig allerdings gelten diese Symptomenkomplexe wiederum als Komorbiditäten von Traumafolgen.

Diagnosehandbücher: ICD und DSM. Diagnosehandbücher wie das ICD der WHO (1. Version 1893), das international ausgerichtet ist und in den deutschsprachigen Ländern als Diagnose richtschnur im klinischen Alltag gilt, wurden eingeführt, um medizinische Diagnosen international vergleichbar zu machen bzw. nationale und internationale Statistiken erstellen zu können. Das DSM (1. Version 1952) ist ein nationales Klassifikationssystem der USA. Dementsprechend muss es daher nicht die zahlreichen Kompromisse und Ergänzungen des ICD berücksichtigen und beinhaltet speziellere und genauere diagnostische Kriterien. Das macht es für die Forschung sehr interessant, die gerne darauf zurückgreift. Das ICD setzt den Schwerpunkt intensiver auf die interkulturelle Perspektive und die Anwendbarkeit in möglichst vielen Ländern der Welt.

Das aktuell gültige DSM-IV vergibt keine eigenen Klassifikationsschlüssel, sondern eine von der APA ausgewählte Teilmenge jener Nummern, die im 1979–1997 gültigen ICD-9 zur Klassifikation psychiatrischer Krankheiten vorgesehen waren. Das ICD-10 hat andere Klassifikationsschlüssel, was den Vergleich erschwert.

Die Diagnostik psychiatrischer Krankheitsbilder nach Handbuch verlangt, dass gewisse Symptome in ausreichender Anzahl, Stärke und Dauer vorhanden sein müssen, um eine bestimmte Diagnose zuordnen zu können. Dabei wird sehr phänomenologisch vorgegangen und individuelle oder tiefenpsychologische Aspekte werden weitgehend ausgeklammert. Ein Umstand, dessen man sich in der Psychiatrie sehr wohl bewusst ist und der laufend diskutiert und reflektiert wird (Stemberger 2001). Derzeit wird an neuen Versionen von DSM und ICD gearbeitet (DSM-5 ist für 2013 geplant, an ICD-11 wird gearbeitet). In den neuen Versionen wird in der Diagnostik zunehmend dimensional und weniger kategorial vorgegangen, was einer Individualisierung entspricht.

Die Anamnesetechnik des rein homöopathisch tätigen Arztes ist naturgemäß anders gewichtet als die eines Psychiaters, der sich hier an den Richtlinien seines Faches und ggf. seiner psychotherapeutischen Ausbildung orientiert. So kommt es, dass bei der psychiatrischen Revision von Krankengeschichten, die nach homöopathischer Anamnesetechnik aufgenommen wurden, naturgemäß einige für den Psychiater relevante Informationen fehlen: etwa wenn es in einem gegebenen Fall um die Schlafqualität oder die Frage nach Dissoziation oder Selbstverletzungen geht.

2 Ganzheitlich – das Menschenbild der Homöopathie

Jutta Gnaiger-Rathmanner

„Homöopathie ist eine Medizin der Person.“

(Mathias Dorcsi)

Eine Krankengeschichte mit Traumaerfahrung vor vielen Jahren wird zum Modell für die Entwicklung des vierschichtigen, ganzheitlichen Menschenbilds, das der Homöopathie zugrunde liegt: somatopsychisch, prozesshaft-regulativ, biografisch-personotrop. Die phänomenologische Methode der Homöopathie, vor 200 Jahren begründet, wird diesem Menschenbild therapeutisch gerecht.

Eine Medizin der Person: Diese Worte habe ich in jungen Jahren nicht verstanden, aber sie faszinierten mich. Heute weiß ich: Es braucht dazu eine gewisse Reife und Erfahrung – schlussendlich mit sich selbst.

Am meisten lernen wir in der Arbeit mit unseren Patienten. Die Wirklichkeit überflügelt in allem unsere Fantasie. Wahrnehmung und Erfahrung sind der Motor für unser Denken und Verstehen. Sie bereichern uns besonders dort, wo wir Fragen an das Leben haben.

2.1 Merkmale der Homöopathie beim Psychotrauma

Ich erinnere mich an eine Patientin vor 20 Jahren, die mir viel zu denken gab, vielleicht gerade deshalb, weil alles so eindeutig und geradlinig verlaufen ist. Ihre Krankengeschichte war bestimmt von der Ätiologie, einem Psychotrauma. Ich möchte ihre Geschichte als Muster- und Lehrbeispiel für die praktischen Grundlagen der Homöopathie beim Psychotrauma heranziehen.

2.1.1 Fallbeispiel: Patientin, 49 Jahre

Im März 1991 kam diese 49-jährige Frau, geboren im Jahre 1942, in meine Ordination. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Ihre Erscheinung wirkt vornehm und fein, sie benimmt sich höflich, etwas geziert und verhalten. Sie ist kräftig gebaut, mit blassem Kolorit.

Sie kommt wegen Heuasthmas und Insektenallergie. Den Heuschnupfen hat sie seit 39 Jahren, genau seit dem 10. Lebensjahr. Jedes Jahr gipfelt dieser 2 Wochen lang in schwerem Asthma. Kortison hat kaum eine Wirkung. Die Patientin deutet an, wenig Vertrauen in Ärzte zu haben. Sie weiß innerlich, dass ihre Krankheit seelisch bedingt ist, hat das bisher aber nie vorgebracht.

Während der Heuschnupfenzeit ist sie immer gereizt und müde, sie fühlt sich dann „wie zum Weinen“.

Kindheit. Ihre Kindheit erzählt sie mit knappen Worten: Ihre Mutter war Kriegswitwe, d. h., der Vater der Patientin ist im Krieg geblieben. Die Mutter hat wieder geheiratet und hat aus dieser zweiten Ehe noch 3 Kinder geboren. Die Patientin, das Stiefkind, musste mit 10 Jahren zu den Großeltern übersiedeln. Diese hat sie als alt, streng und festhaltend erlebt. Eben damals begann der Heuschnupfen.

Ihr Familienleben heute sei glücklich, „alles stimmt“. Doch oft fühle sich die Patientin gereizt, sie sei leicht beleidigt, besonders bei Ungerechtigkeit.

Frage: Sind Sie manchmal traurig? Antwort: Ja, phasenweise und ohne ersichtlichen Grund fühlt sie sich traurig. Meist dauert dies einen Tag lang. Dies beobachtet sie besonders seit dem Tod ihres Großvaters. Sie wundert sich, dass sie so viel an ihre Vergangenheit denkt und sich oft einsam fühlt, trotz ihrer Familie.

Auswertung

Die Patientin berichtet von einem seelischen Verlust als Kind, mit dem sie alleine gelassen war. Da gibt es einen alten, stillen Kummer.

Kann man Spuren dieser Trauer noch heute in den Zügen dieser Frau vor mir sehen? Sie benimmt sich freundlich, nett, höflich. Doch wirkt nicht alles wie eine zu perfekte, anerzogene Schale? Etwas steif und überkontrolliert? Etwas zu reserviert, um ihr nahezukommen?

Ja, auf den zweiten Blick, im Laufe des Gesprächs, lassen sich die Spuren dieser Trauer „sehen“.

Damals hat die Allergie begonnen und dauert bis heute, über 39 Jahre lang. Das Beschwerdebild lässt sich in folgenden Symptomen zusammenfassen:

Heuasthma und Insektenallergie,

Verlust des Vaters,

Folge der Trennung von der Mutter,

Folge von strenger Erziehung bei den Großeltern,

lange anhaltender, stiller Kummer.

Merke: Am auffallendsten an dieser Krankengeschichte ist das auslösende Moment sowohl für den Kummer als auch für die Allergie. Solche Momente im Leben, die den Beginn eines Leidens markieren, heißen in der Homöopathie Ätiologie, was dem aktuellen Begriff Psychotrauma nahesteht.

Verordnung und Verlauf

Darauf stützte sich die Wahl der bewährten Arznei für alten, stillen Kummer: Natrium muriaticum 200. Tatsächlich, die Patientin genas.

Die Beobachtungszeit dauerte von März bis Oktober 1991. Die Nase war sofort frei, die Patientin fühlte sich ruhiger und leichter. Nach 3 Monaten wurde die nächste Stufe, Natrium muriaticum M, verabreicht. Daraufhin erlebte die Frau eine Arzneireaktion im Sinne einer heftigen Heuschnupfenphase, doch kurz und ohne Asthma. Gleichzeitig traten alte Beschwerden, die Halsschmerzen, die sie aus der Kinderzeit kannte, erneut auf.

Den Juli über blieb die Patientin, im Gegensatz zu den Vorjahren, völlig beschwerdefrei. Insektenstiche taten ihr nichts mehr an. Sie beobachtete auch eine Besserung ihres Magens, eines langen Leidens, von dem sie eingangs nichts berichtet hatte.

Im Oktober fühlte sich die Patientin gesund, „die Vergangenheit ruht“. Sie beobachtete, dass sie weniger verletzlich reagierte und sich leichter zur Wehr setzen konnte. Sie war energischer geworden, besonders ihrem Mann gegenüber. Das bekam dem Familienleben gut.

Fragen zur Krankengeschichte

Das ist ein klassischer Heilungsverlauf auf das Simile, bestätigt durch die kurzfristige Arzneioder Heilreaktion mit der darauffolgenden nachhaltigen Genesung auf allen Ebenen. So kann und darf sie in jeder homöopathischen Praxis häufig dokumentiert werden.

Die Krankengeschichte beruht exakt auf den Aussagen der Patientin. Sie hat es so erlebt. Neben meiner Freude darüber kam das große Staunen mit folgenden Fragen:

Was war hier geschehen?

Was kann die Medizin von heute dazu sagen?

Kann ein früheres Seelenerlebnis den Körper zu einer chronischen Krankheit umstimmen?

Kann ein Krankheitsprozess von so langer Dauer durch das Moment der Auslösung erfasst und zielführend therapiert werden?

Mit welchen Begriffen aus der konventionellen Medizin lässt sich ein derartiger Verlauf beschreiben und erklären?

Welches Krankheitsmodell der zeitgemäßen Medizin steht dafür zur Verfügung?

Wie lässt sich ihr materialistisches, naturwissenschaftliches Paradigma aufbrechen und für ein Verständnis vom ganzen Menschen erweitern, das Leib, Seele und Wesen gleichermaßen einschließt?

Rückblick auf die Phänomene dieser Krankengeschichte

Die Patientin leidet unter einer chronischen Krankheit, einer Allergie. Homöopathisch gesehen gilt dies als Organ- oder Lokalsymptom. Diese Krankheit, das Lokalsymptom, bildet den Anstoß, nach Hilfe zu suchen und Ärzte zu konsultieren.

Der Heuschnupfen birgt ein Bild für „ungeweinte, versteckte Tränen“. Die Andeutung dafür entnehmen wir in diesem Falle dem Munde der Patientin selbst.

Sie selbst sieht den Beginn ihrer Krankheit mit einem Bruch in ihrer Biografie verknüpft: Es war die Übersiedlung zu den Großeltern. „Ich weiß das genau“ – so betont sie diese Erfahrung aus dem Alter von 10 Jahren.

Dieser Moment ihres Lebens bildet vermutlich die Spitze und das Symbol für eine schwierige Kindheit insgesamt. Die Patientin spricht über diese Innenseite ihres Krankseins erst am Ende der Anamnese, als ein Kontakt und ein Vertrauen gewachsen sind.

Auf der Ebene des Tagesbewusstseins ist das Erleben des Kindes überlagert und weit abgedrängt.

Auf der Ebene des Leibes lässt sich vermuten, dass es eine Art von unbewusstem Gedächtnis für diejenigen alten Seelenerlebnisse gibt, die unbewältigt geblieben sind. Auf dieser Ebene der Regulation scheint die Dimension der Zeit wie ausgeschaltet: Hier herrscht Dauer. Die somatische Krankheit steht im Leben dieser Frau als Mahnmal, als Platzhalter und Stellvertreter für ihre alte Seelenwunde.

Die homöopathische Arznei kann dieses „Leibgedächtnis“ regulativ erreichen, die Prägung aufheben und zur Heilung führen.

Merke: Schlüssel für die Arzneiwahl zu ganzheitlichem Heilen ist die Ätiologie, das Psychotrauma. Die gewählte Arznei bestätigt sich als wirksames Simile, das die vegetative und immunologische Regulation ins Gleichgewicht bringt und darüber hinaus das seelische Genesungspotenzial freizusetzen vermag.

Mit dieser Krankengeschichte ist die Dimension des Menschenbilds, die der Homöopathie zugrunde liegt, umfassend entwickelt. Die Beobachtungen, die Fragen und Gedanken dazu bilden das Gerüst für die folgenden Kapitel.

2.2 Eckdaten für das Menschenbild der Homöopathie

Die Homöopathie fußt auf einem ganzheitlichen Menschenbild.

Seele, Leib und Körper. Allgemein bekannt ist die Gegenüberstellung von Psyche und Soma, von Seele und Körper:

Die Seele

des Menschen wird in Form der Gemütssymptome in jeder Kasuistik erfasst und hoch bewertet.

Am

Körper

lassen sich 2 Schichten unterscheiden.

Die Schicht des eigentlichen

physischen Körpers

, den materiellen, leblosen Teil. Er ist der Zielort aller klinischen Untersuchung und Befundung. Er ist als Endstrecke aller Lebensvorgänge zu betrachten. Dieser Dimension entsprechen das Messen, Wiegen und Zählen.

Die Schicht des

vitalen Leibes

. Er ist der Ort für die Lebensvorgänge, die Regulation, auch Selbstheilungs- oder Ordnungskräfte genannt. Er ist der eigentliche Angriffsort für Diagnose und Therapie im Sinne der Homöopathie. Es ist der „Leib“ als Lebensträger und Organismus. Er funktioniert und reagiert immer als ein Ganzer. Hahnemann bezeichnet ihn in der Sprache seiner Zeit als „

Lebenskraft

“ und nennt ihre Eigenschaften: „geistartig, dynamisch, immateriell“.

Der Leib ist den 5 Sinnen, dem Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken, in der Wahrnehmung zugänglich. Die Lebenskraft erschließt sich einem ganzheitlichbildhaften, intuitiven Wahrnehmen.

Merke: Die Ebene des Leibes ist der Wirkungsort jedweder Regulationsmedizin. Die klinische Medizin bietet dafür kaum geeignete Begriffe.

Geistige Dimension. Seele, Leib und Körper: Alle diese 3 Schichten oder Ebenen sind durchwirkt von einer vierten Schicht des Menschen, der geistigen Dimension. Ihr gehören die Begriffe Person, Individuum, höheres Ich und Wesen an. Dort herrscht Sein und Dauer. Dort gibt es Biografie und Schicksal, aber keine Krankheit. Jede tiefe zwischenmenschliche Begegnung bedeutet eine Annäherung zweier Personen mit ihrem Wesen.

Erst Körper, Leib, Seele und Geist zusammen machen die ganze Person aus (▶Tab. 2.1). Sie äußert sich auf jeder Schicht in jeweils einer anderen, ihr eigentümlichen „Sprache“. Jede Schicht ist auf einem jeweils anderen Wege erforschbar.

Definition

Hahnemann hat in diesem Sinne sein Menschenbild im berühmten Organon § 9 definiert. „Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autokratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so dass unser innewohnender Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höheren Zwecke unseres Daseins bedienen kann.“

▶Tab. 2.1 Ganzheitliches Menschenbild.

Schicht/Ebene

Funktion/Sprache

physischer Körper

Materie, Krankheit, Befund im klinischen Sinne

vitaler Leib mit Leben

Regulation, Lebenskraft unbewusstes Leibgedächtnis

Psyche mit Seele und Verstand

Gefühle Intellekt, Verstandesdenken Tagesbewusstsein

Geist als Person und Wesen

Biografie, Sein und Dauer existenzielle Kommunikation, Ich-Du ganzheitliches Wahrnehmen und Denken Intuition und Verstehen

Parallelen zur Anthroposophie. Viel genauer beschrieb etwa 100 Jahre später, aufbauend auf ähnlich ganzheitlicher Sichtweise, Rudolf Steiner das Menschenbild der Anthroposophie (Girke 2010, Glöckler 2011). Seine Botschaft lautet: Es geht um den Menschen als solchem – „anthropos“ auf Griechisch – in allen Lebensbereichen, so auch in der Medizin. Es geht um den Menschen in seiner ganzen Dimension (▶Tab. 2.1).

In einem Interview nimmt der zeitgenössische Philosoph Sloterdijk im Jahre 2011, zum 150. Geburtstag von Steiner, Stellung: „Mit Steiner beginnt etwas, was für viele Zeitgenossen zunächst obszön schien, aber auf die Dauer unvermeidlich, er hat die menschliche Subjektivität nach oben anschlussfähig gemacht. Er hat Vertikalität neu definiert und er hat es auch in eigener Person praktiziert.“ (Sloterdijk 2011)

2.3 Ganzheitlich und phänomenologisch – die Methode der Homöopathie

Hahnemann legte das Programm für das Menschenbild im Sinne der Aufklärung des ausklingenden 18. Jahrhunderts fest. Er stammt aus einer Zeit, da Psyche und Soma noch einheitlich in einem Zusammenhang gesehen werden konnten. Dieses Konzept bildet bis heute die Grundlage der homöopathischen Methode:

Die Homöopathie bedient sich des

phänomenologischen Ansatzes.

Der vorurteilslose Beobachter

nimmt, auch wenn er der Scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele wahr, Krankheitszeichen, Zufälle und Symptome

“ (Organon § 6).

Das Programm lautet: Wahrnehmung mit allen Sinnen. Sie erfasst Zeichen und Symptome als die Außenseite eines Geschehens. Den hohen, doppelbödigen Wert des Symptoms kennt auch die Kommunikationswissenschaft: Es ist ein „Zeichen, das Körperliches, Seelisches und Geistiges umfasst, Offensichtliches und subtil Verborgenes, Übliches und Ungewöhnliches“ (Gottschlich 2003, S. 6).

Die Homöopathie sucht nach der

Gesamtheit der Symptome auf allen Ebenen

: „

Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denk-bare Gestalt der Krankheit

“ (Organon § 6).

Die Homöopathie nimmt damit im Rahmen der gesamten Medizin den Stellenwert einer

gezielten, individuellen Regulationstherapie

ein.

3 Zur homöopathischen Anamnese

Jutta Gnaiger-Rathmanner

„Der Mensch wird am Du zum Ich. In jedem Du reden wir das ewige Du an.“

(Martin Buber)

Zum Erfassen der Gesamtheit der Symptome stehen mehrere Schritte zur Verfügung: Das vollständige Lokalsymptom, das systematische Vorgehen nach einem Fragebogen, die biografische Anamnese. Die Arten der Symptome werden den Schichten des Menschenbildes zugeordnet. Wichtig ist die Unterscheidung von Gefühl und Empfindung. Gerade beim Traumapatienten können diffuse Empfindungen ein Hinweis auf verdrängte Gefühle sein. Im Versuch zu verstehen, gipfelt jedes Gespräch. Das Anamneseschema der Kasuistiken dieses Buches wird angeführt.

Ziel der Anamnese ist die Gesamtheit der Symptome, das Gesamtbild des kranken Menschen. Heute, in der Sprache unserer Zeit, die Hahnmann noch nicht zur Verfügung stand, können wir uns weiter vorwagen: Ziel ist das Erfassen der Person in ihrer Gesamtheit anhand der Zeichen und Symptome, anhand all dessen, was sich den Sinnen und der sensiblen Wahrnehmung zeigt.

Das muss systematisch und gemeinsam zwischen Arzt und Patient entwickelt werden.

„Die homöopathische Diagnostik beruht in erster Linie auf einem sorgfältigen Gespräch. Das ist es, was Sie in der homöopathischen Sprechstunde erwartet. – Eine Untersuchung und klinische Befunde lassen wir dort folgen, wo es noch etwas abzuklären gibt. “ So erläutere ich es meinen Patienten bei der Erstordination.

Spontanbericht. Das Gespräch beginnt mit dem Spontanbericht über das aktuelle Anliegen: „Was sind Ihre Beschwerden, was ist Ihr Leid?“

Gelenkter Bericht. Der anschließende geführte, gelenkte Teil der Anamnese hakt dort ein, wo der Patient (Wer?) am meisten Not zum Ausdruck bringt. Das ist eingangs oft eine Lokalbeschwerde – sei sie funktioneller oder somatischer Art (Was?). Diese wird individualisiert im Sinne des „vollständigen Lokalsymptoms“. Das heißt, der Ort, die Empfindungen und Modalitäten der Beschwerde werden erfragt:

Wo?

Wie?

Wann?

Unter welchen Umständen?

Begleitet wovon?

Die Frage nach dem „Seit wann?“ und nach dem „Warum?“ gehören dazu (▶Kap. 5 u. ▶Kap. 11; Lucae 2010).

Diese Art der Befragung gelingt gut bei einem akut kranken Patienten, auch bei chronischen Patienten mit somatischen Beschwerden.

Chronische Erkrankungen. Bei vielen chronisch Kranken lassen sich auf der Ebene der aktuellen Beschwerden von Anfang an zu wenig Anhaltspunkte, zu wenig Daten erheben: etwa bei Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Sinusitis chronica, rezidivierende Zystitis, rezidivierende Soorkolpitis. In meinen ersten Praxisjahren verzweifelte ich in solchen Fällen über meine vermeintlich ungenügende Kunst der Anamneseführung. Heute weiß ich es besser: Auch versierte Homöopathen können auf der somatischen Ebene der Erkrankung mit der Frage nach individuellen Modalitäten Schiffbruch erleiden und in der Anamnese leer ausgehen. Der Grund dafür ist in der Gewöhnung des Patienten an seine Beschwerden und in der Vorbehandlung zu finden.

Jedenfalls ist dies der Zeitpunkt, da wir in der Befragung weg vom Lokalsymptom auf eine andere Ebene hin wechseln müssen. Für Patienten mit psychischen Beschwerden gilt dieser Einstieg für den gelenkten Teil der Anamnese ohnehin.

3.1 Zwei Anamnesetechniken beim chronisch kranken Patienten

Das systematische Abfragen der individuellen Symptome. Dieses kann nach einem mehr oder weniger detaillierten Fragebogen erfolgen und sollte enthalten:

Leibsymptome wie Durst, Appetit, Schlaf, Menstruation etc.,

Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Schwäche, Unruhe etc.,

Symptome an anderen Organen nach dem Kopf-zu-Fuß-Schema,

frühere Krankheiten,

Gemüts- und Geistsymptome.

Das bildet das Grundgerüst für jede homöopathische Anamnese. Diese zielt in erster Linie auf die verbale Kommunikation und die körperliche Untersuchung im Sinne des Einsammelns von Daten, die der Patient in sich oder an sich beobachtet und die nun geradewegs abberufen werden können. Dazu gibt es viel wertvolle Literatur (z. B. Lucae 2010, Genneper u. Wegener 2011).

Die biografische Anamnese. Sie wird auch „erweiterte“, „vertiefte“ oder „künstlerische“ Anamnese genannt.

Diese kann sich an jedem Moment der Fallaufnahme entfalten. Ganz besonders bei der Befragung der Gemütssymptome sollte der Patient sich öffnen können. Oft gelingt Begegnung auch erst dort, wo auf die Lebensweise und die Vorgeschichte des Patienten eingegangen wird:

seine Familie und sein Beruf,

die Lebensgeschichte bis in die Kindheit zurück.

Es handelt sich nicht mehr um das reine Abfragen von Fakten, sondern um ein Erforschen und Entdecken in der Begegnung. Der kognitive, logisch-analytische Zugang zu Daten wird ergänzt durch ein assoziatives, intuitives Vorgehen. Das linkshemisphärisch gespeicherte Selbstbild des Patienten wird durch das rechtshemisphärische, bildhafte, innere Erfahrungsgut erweitert (Watzlawik 1977). Dies gelingt umso mehr, als auch der Gesprächs-partner – Arzt oder Ärztin – beide Kanäle, den links- und rechtshemisphärischen, für die Wahrnehmung in der Begegnung aktiviert.

Ein derartiges ganzheitliches Wahrnehmen im zwischenmenschlichen dialogischen Raum belebt neue Sinne, die weit über die Sphäre der 5 bekannten leiblichen Sinne hinausreichen. Als Anregung in dieser Hinsicht kann das Konzept der 12 Sinne aus der anthroposophischen Menschenkunde verwendet werden: Hier wird die Sinneswelt erweitert durch soziale Sinne wie den Sprachsinn, den Gedankensinn und den Ich-Sinn bzw. Identitätssinn. Sie lassen sich an sich selbst und im Begegnen mit Anderen beobachten und lassen sich durch Üben schärfen. Sie öffnen den Weg zum Wahrnehmen von der Person und vom Wesen des Menschen (Scheurle 2010, Soesmann 2007).

Merke: Das persönliche Gespräch mit aller Aufmerksamkeit ermöglicht das Beschreiten eines gemeinsamen Weges auf der Basis von Kontakt, Vertrauen und Wohlwollen. Mit dem Patienten gemeinsam werden dabei Schritte in tiefere seelische Regionen gesetzt: Seelisches Neuland wird betreten, das sich nur im Dialog erschließt.

Für den Patienten können sich dadurch auch die Kanäle der Selbstwahrnehmung beleben und öffnen, was mit einem seelischen Werde- und Geburtsprozess verglichen werden kann.

Gefühl und Empfindung. An diesen beiden Begriffen, die für die homöopathische Anamnese wichtig sind, lässt sich der Wert des Dialogs beispielhaft betonen. Zunächst: In der deutschen Sprache überschneiden sich diese 2 Begriffe oft.

Die diffusen inneren Empfindungen gehören der leibbezogenen Selbstwahrnehmung an und erschließen sich bei der Individualisierung des Lokalsymptoms auf die Frage: „Wie?“

Zur Empfindung gehört z. B. das „Gefühl“ von Zusammenziehen, von Wärme oder Brennen in einer Körperregion. Sie sind eng mit dem „Körpergefühl“ und mit der „Sprache des Leibes“ verbunden. Empfindungen sind körpernah und vorbewusst. Das heißt, sie sind dem Bewusstsein und damit dem Ausdruck in Worten und Begriffen nur schwer und ungenau zugänglich.

Die Gefühle als Gemütssymptome erfassen das seelische Erleben in Angst, Trauer, Ärger etc. und lassen sich meist direkter und klarer in Worten mitteilen.

Merke: Oft sind verdrängte Gefühle früherer Erlebnisse in der tiefer liegenden, weniger bewussten, „vorbewussten“ Schicht der Empfindungen gespeichert. Im persönlichen Gespräch kann es gelingen, diesen Vorhang zu lüften. Anhand der Empfindung kann sich schrittweise das alte, verdrängte Gefühl herausarbeiten lassen (▶S. 16).

Am Beispiel der Musterpatientin. Die Muster-patientin soll als Beispiel dienen. Bei jedem Schritt der Anamnese lassen sich individuelle Symptome auffinden. Diese werden gesammelt und führen über die Ähnlichkeitsregel zur Arznei. Es ist der korrekte, systematische Umgang mit den Symptomen dieses Krankheitsfalls.

Mit Blick auf die vertiefte Anamnese lässt sich eine weitere Ebene erschließen: Beim Schildern der Heuschnupfensymptomatik änderte sich die Mimik der Patientin, spontan trat ein Zucken im Kinnbereich auf. Sie fügte zielsicher eine Empfindung hinzu: „wie Weinen“. Dieskann im Gesprächaufgegriffen und das eigentliche Gefühl, das sich darin verbirgt, nämlich die kindliche Trauer, präzisiert werden. Das verhilft beiden, Patientin und Ärztin, die Sprache sowie den Sinn für die Beschwerden neu zu finden und in die Biografie einzubauen.

Im vorangegangenen Kapitel wurde das Menschenbild in seinen 4 Schichten ausgeführt. Daran lassen sich in der Folge die Arten der Symptome aus der homöopathischen Anamnese zuordnen (▶Tab. 3.1).

▶Tab. 3.1 Symptomenzuordnung in der Homöopathie.

Schichten der Person

Symptomatologie

physischer Körper

Zeichen, Physiognomie, klinische Befunde

vitaler Leib

Konstitution, Temperament, Mimik, Gestik pathognomonische Symptome Leibsymptome, Allgemeinsymptome vollständiges Lokalsymptom

Übergangsbereich

Empfindungen, Träume

Seele/Verstand

Gefühle oder „Gemütssymptome“ die „Geistsymptome“

Wesen

Biografie, Ätiologie, Verlauf, das existenzielle Dasein Gesamtheit der Symptome

Beide Anamnesetechniken sind wichtig. Erst die links- und die rechtshemispärische Welterfahrung zusammen ergeben das möglichst volle Bild der Wirklichkeit. Für die Homöopathie könnte das heißen: Zielpunkt jeder Anamnese ist der Blick auf die Person und ein Verstehen ihres Leidens im biografischen Zusammenhang. Oft spielt die Ätiologie dabei eine Schlüsselrolle – doch davon später.

Der Versuch, zu verstehen. Was geschieht, wenn wir im Gesamtbild der Symptome zu einem solchen Verstehen des Patienten durchdringen dürfen? Im Sinne Bubers (1997) lässt sich antworten: Dann gelingt der Schritt vom „Symptome haben“ aus der Welt des Es zur neuen Stufe vom „Mensch Sein“ über die Beziehung im Ich-Du, von Seele zu Seele, von Wesen zu Wesen.

Eine solche Begegnung gipfelt in der Frage, die Dorcsi (1998, S. 24) so eindrücklich in seiner „Medizin der Person“ formuliert hat: „Wer ist dieser Mensch? Was ist das für ein Schicksal?“ In der Achtung vor der Einmaligkeit, dem Drama und dem Geheimnis jedes Menschseins, das sich im Leid verdichtet, stellen wir uns in den Dienst des „Mensch, werde, der Du bist!“

Auch das ist Homöopathie als phänomenologische Methode „mit allen Sinnen“, orientiert an der Gesamtheit der Symptome, einer Gesamtheit, die die Person mit ihrem Wesen und ihrer Geschichte erfasst.

Aus dem Munde des Kommunikationswissenschaftlers Gottschlich lautet dies: „Der Patient muss lernen, sich selbst zu verstehen, und damit er dies tun kann, muss der Arzt lernen, den Patienten zu verstehen.“ (Gottschlich 2003)

Ganz im Sinne von H. Arendt (2005): Die jüdische Dichterin hatte, sozusagen als Traumaforscherin dem schweren Schicksal ihres Volkes gegenüber, das erlösende Motiv entwickelt: „Ich will verstehen.“

3.2 Schema der Erstanamnese

Die Kasuistiken dieses Buches sind nach folgendem Schema erfasst:

Name

Lebensdaten

Diagnosen

Traumathemen

Beobachtungszeitraum

Spontanbericht

gelenkter Bericht

vollständiges Lokalsymptom

Gemüt

Leibsymptome und Allgemeinsymptome

laufende Medikation

Befunde

klinische Untersuchung

frühere Krankheiten

Aussehen, Verhalten und Kontakt

Familie

Beruf

Kindheit/Lebensgeschichte

4 Anamnese und Kommunikation

Jutta Gnaiger-Rathmanner

„Denn die Sprache der Seele, die Sprache der Gefühle ist primär nonverbal.“

(Maximilian Gottschlich)

Kommunikation erfasst am Patienten neben dem gesprochenen Wort noch weitere Qualitäten einer Beziehung. Die Eigenschaften der Körpersprache und die Anwendung der nonverbalen Kommunikation werden erläutert und anhand von 3 Kasuistiken vorgeführt. Auffallende Momente sind: Widersprüche von Inhalt und Emotion, plötzliche Pausen des Gesprächs, Brüche im Kontakt, Gefühle, die von bestimmten Körperempfindungen begleitet sind, Gefühle, die im Gesprächspartner auftreten, etc.

Gespräch und Kommunikation. In der individuellen homöopathischen Anamnese wollen wir den ganzen Menschen erfassen. Dazu dient das Gespräch. Wir wollen ihn samt seiner Seele erreichen, mit ihren bewussten, aber auch mit den unbewussten Anteilen. Das ist das Feld der Kommunikation. Sie hat vor allem für den Patienten mit einem verborgenen Psychotrauma Bedeutung.

Das Gespräch lenkt die erste Aufmerksamkeit auf die inhaltliche, verbale, bewusste Vermittlung von Information: Auch wenn es sich, wie in der Homöopathie, um die Befragung der Gemütssymptome handelt.

Facetten der Kommunikation. Kommunikation bedient sich des Gesprächs. Sie umfasst aber mehr: jede Art von Verhalten wird beachtet (▶Tab. 4.1). Was jemand sagt, ist wichtig. Wie jemand was sagt, ist ebenso bedeutend. Kommunikation schöpft aus der – persönlichen – Beziehung und Begegnung, aus der Empathie mit dem Patienten: „Unter Kommunikation kann nicht nur ein verbaler, sondern ein die Ganzheit menschlicher Existenz umfassender Prozess verstanden werden.“ Das kann in der „existentiellen Beziehung zwischen dem Selbst des Patienten mit dem Selbst des Arztes“ gipfeln, wie es Gottschlich beschreibt (Gottschlich 2003, S. 8 und S. 1).

▶Tab. 4.1 Kommunikation ist zweifach.

Gespräch

Beziehung, Begegnung

was jemand sagt

wie jemand etwas sagt

verbal

nonverbal, präverbal

Worte

Körpersprache, Verhalten

Inhalte

Empfindungen, Gefühle

bewusst

unbewusst

kognitiv, kontrolliert

ganzheitlich, spontan

4.1 Eigenschaften der Körpersprache

Kommunikation schließt alle nonverbalen, präverbalen Zeichen ein, die der Patient zusammen mit und neben den Inhalten äußert. Es ist die „Körpersprache“. Sie ist für das aufmerksame Gegenüber wahrnehmbar, während sie dem Patienten selbst unbewusst bleibt. Sie umfasst konkrete Zeichen am Patienten, aber auch die Atmosphäre seines Auftritts.

Beobachtbare Bereiche der Körpersprache:

Die Gestik und Mimik, die Körperhaltung, der Blickkontakt, die Stimme und die Art zu sprechen.

Die Präsenz, die Energie, die Intensität, Geschwindigkeit und Lebendigkeit.

Die Stimmigkeit des Ausdrucks der Körpersprache gegenüber dem Inhalt des Gesprächs.

Der emotionale Gehalt der Gebärden.

Der Fluss von Begegnung und Gespräch.

Die Veränderung dieser Zeichen: Wann, bei welchen Themen und Inhalten? Wie zeigt sie sich und was kommt dabei zum Ausdruck? Zum Beispiel die Züge von Trauer, von Angst, Aufregung, Unruhe etc.

Merke: Es gibt Momente im Verlauf des Gesprächs, die auffallen, überraschen und aus dem linearen, logischen Zusammenhang ausbrechen. Scheinbar unmotiviert wechselt die Ebene der Erzählung. Es sind Knotenpunkte in der Begegnung, in denen sich der Ausdruck des Patienten verdichtet. Diese sind besonders wertvoll und aussagekräftig.

Knotenpunkte der Kommunikation:

Die Brüche

im Fluss der Begegnung: Ein Stocken und Innehalten, die Pausen und das Schweigen, ein „unpassender“ emotionaler Unterton, der mitschwingt.

Ein sprunghafter Wechsel

von Themenkreisen: die Migräne, die die Mutter schon hatte; der aktuell empfundene Hass, der auf die Kindheit verweist.

Die Widersprüche

zwischen einem geäußerten Sachverhalt und dem begleitenden Gefühl: Sei es in Worten ausgedrückt wie ein Arbeitskonflikt verbunden mit „Schamgefühl“ oder in den Gesten wie etwa ein Lachen im „falschen Moment“ oder ein lauter, erregter und hastiger Tonfall beim Schildern einer scheinbar belanglosen Beschwerde.

Die Koppelung

von Körpersymptomen mit atypischen Begleitbeschwerden: ein banaler Infekt mit Angst, ein Kopfschmerz mit Zügen von Trauer, eine massive Überanstrengung, ohne die Müdigkeit wahrzunehmen.

Die Gefühle, die beim Therapeuten

angesichts der Geschichte des Patienten auftreten: wie Langeweile, Wut, Entsetzen.

Diese Liste schöpft sich aus der Beobachtung am Patienten in den homöopathischen Anamnesen, wie sie Thema dieses Buches sind. Zur Vertiefung sei auf die Literatur der Traumatheorie und der Kommunikationswissenschaft verwiesen (z. B. Reddemann 2007).

Dissoziation. Im Fachjargon der Traumalehre heißen die Phänomene von Brüchen und Widersprüchen im Auftreten des Patienten eine „Dissoziation“, in ausgeprägten Fällen auch pathologisches „Wiedererinnern“, das „Flashback“.

Erfahrungen im präverbalen/nonverbalen Bereich. Gerade beim Patienten mit Psychotrauma liegen viele wichtige Erfahrungen im Verborgenen. Trotzdem zeigen sich ihre Folgen im Hier und Jetzt. Sie sind im präverbalen, nonverbalen Bereich der diffusen Empfindungen und des Verhaltens gespeichert. Die Körpersprache hat ihren Wert insbesondere darin, dass sie Zugang zu den verdrängten Gefühlen verschafft und Hinweise enthält, wo sorgfältiges Nachfragen angezeigt ist, um tiefere Schichten des Leidens der Patienten zu erreichen.

Merke: In der Homöopathie begegnen wir dem Patienten „mit allen Sinnen“, verbal und nonverbal. Ob wir einen Traumapatienten vor uns haben, werden wir oft erst im Nachhinein wissen, gegen Ende der Anamnese, oft auch erst nach den ersten Therapieschritten.

4.2 Beispiele aus der Praxis

4.2.1 Beispiel 1

Mann, 40 Jahre

Ein schlanker, sensibler, sympathischer Mann von 40 Jahren kommt wegen seines Erschöpfungszustands. Er fühlt sich antriebslos, überreizt und nervös.

„Ich komme nicht mehr vom Fleck, doch ich muss. Da ist mein Unternehmen, da ist meine Familie.“

Er ist leistungsbetont, perfektionistisch, vor allem gegen sich selbst. Seine spontanen Worte: „Ich bin hart zu mir, es ist nie genug. Das kommt von meiner Erziehung. Und noch etwas: Ich kann nicht nein sagen – aus falscher Scham … Ich bin gegenüber meinen Mitarbeitern zu gutmütig. Wenn sie ganz offensichtliche Fehler machen, zittere ich vor Aufregung, bin fassungslos und enttäuscht. Doch ich kann sie nicht zur Rede stellen – aus falscher Scham.“

Frage: Sie sprechen zweimal von Scham, von falscher Scham. Wie fühlt sich das an? – Keine Antwort.

Frage: Woran erinnert Sie dieses Gefühl von Scham? Antwort: „An zu Hause. An meine Kindheit, ganz klar.“

Frage: An welche Person aus der Kindheit? An Vater? An Mutter? Antwort: Spontan und sicher antwortet dieser Mann: „Die Mutter. Es war furchtbar. Sie hat von uns Kindern alles verlangt, um nach außen ein gutes Bild abzugeben. Sie machte uns immer ein schlechtes Gewissen.“

Auswertung. Hochwertige Symptome:

große Sensibilität und Schwäche, Härte gegen sich selbst,

als Ätiologie: Erschöpfung, Scham und Gewissensangst.

Verordnung und Verlauf. Phosphoricum acidum C 30. Daraufhin konnte er sich rasch erholen und sein Leben neu organisieren.

Schlussbetrachtung

Warum führt ein so sensibler Mann ein Leben, in dem er sich bis zur Erschöpfung ausbeutet? Das wiederholt gewählte, nicht zur Situation passende Wort „Scham“ war der Hebel, anhand dessen Patient und Arzt gemeinsam an den Seelenort vordringen konnten, wo die alte Wunde liegt.

Merke: Ein Widerspruch zwischen dem kommunizierten Gefühl und der geschilderten Situation kann auf ein verborgenes, unbewältigtes Trauma verweisen.

4.2.2 Beispiel 2

Frau, 28 Jahre

Eine 28-jährige Frau sucht mich wegen Dysmenorrhö und rezidivierender Ovarialzysten auf. Sie ist bedrängt von Schmerzen, hat schon eine Unterleibsoperation hinter sich und möchte eine zweite vermeiden.

Sie wirkt verkrampft, getrieben, ernst, schwer zugänglich und distanziert, trotz ihres jungen, gefälligen und gepflegten Auftretens. Besonders die Augenpartie irritiert: schmale, zusammengekniffene Augen, ein verschleierter Blick. Für kurze Momente blitzen die Augen kalt, verächtlich und gefährlich.

Im Laufe des Gesprächs fällt ihre Wortwahl auf: „Ich hasse meine Regelschmerzen.“ – „Ich hasse den Konflikt mit der Arbeitskollegin.“ – „Wenn ich in Konflikt mit meinem – meist guten, unterstützenden – Mann gerate, werde ich ungeduldig, es kommen Hass und Panik auf. “

Jedes Mal wirkt die Patientin dabei emotional, das Gesicht verkrampft sich noch mehr.

Frage: Das Wort „Ich hasse“ kommt in ihrer Schilderung dreimal vor. Gibt es an Ihrem Körper einen Ort, wo Sie diesen Hass spüren? Zeigen Sie bitte hin und spüren Sie genau nach, wie sich das anfühlt. Antwort: Die Patientin greift an ihren Unterleib und berichtet von der Empfindung von Zusammenziehen wie ein Krampf.

Frage: Ist es möglich, dass ihre Regelschmerzen sich ähnlich anfühlen? Antwort: „Ja.“

Frage: Was gab es im bisherigen Leben für einen Grund zu hassen? Wer in Ihrem Umfeld hat gehasst? Antwort: Die Patientin staunt, hält inne. Sie denkt nach. Dann antwortet sie erregt: „Ja, die Eltern sollen sich endlich eingestehen, dass sie sich noch lieben. Sie machen sich etwas vor. Ich könnte jetzt weinen. – Sie haben sich getrennt, dann geschieden, als ich 16 Jahre alt war. – Es liegt mir jetzt auf der Zunge, zu sagen: ‚Ihr blöden Eltern, Ihr habt uns verlassen!‘ – Ich war damals als Jugendliche unbeherrscht, zornig, ich schrie und tobte. Aber ich war auch fröhlich. – Der Hass, ja, der kommt von meiner Mutter. “

Auswertung. Hochwertige Symptome:

Schmerzen im Unterleib,

Ausdruck von Kälte und Hochmut,

Ätiologie: Gefühl von Verlassenheit, Zorn, Entrüstung, Hass.

Verordnung und Verlauf. Platinum metallicum 200. Innerhalb eines halben Jahres, nach Arznei und intensiven Gesprächen über ihre Beziehung zum Vater und zum Chef, ist ihr Unterleib genesen und ihre Verkrampfung aus ihren Zügen gewichen.

Schlussbetrachtung

Die Patientin präsentiert sich anhand ihrer somatischen Beschwerden. Als Zuhörer lässt sich dabei feststellen, dass sich in Gestik und Betonung eine große Not ausdrückt, eine Erregung, eine Verkrampfung, die sich anhand der geschilderten Unterleibsbeschwerden nicht erklären lassen. Der tiefere Gehalt des Leidens kommuniziert sich nur in den Gesten, er bleibt den Worten verborgen, bleibt sprachlos.

Zum anderen fällt das Wort „Hass“. Eine junge, hübsche, erfolgreiche Frau: Warum trägt sie so viel Hass in sich? Dieser wirkt wie ein Widerspruch, wie eine Unstimmigkeit im Gesamtbild dieser Frau.

Empfindungen und Gefühle haben einen „Ort“ am Leib. Im Verlauf des Gesprächs stoßen wir oft auf heftige Gefühle der Patientin, die sich durch die Intensität der Aussage bekunden. Das können wir aufgreifen. Wir fragen nach dem „Wo?“ des Sitzes eines Gefühles. Dann können die Patienten diesen „Ort“ zeigen, sofort oder nach einigem Hinspüren. Er sitzt oft in der Höhe eines der 7 Chakren auf der Mittellinie des Leibes.

Es folgt die Frage nach dem „Wie?“ der Empfindung an dieser Körperstelle.

So ergibt sich eine erlebbare, wahrnehmbare Brücke von den Gefühlen zu einer Körperempfindung. Die Qualität der Empfindung, genauso wie der Ort selbst, entspricht dann oft der Organbeschwerde, deretwegen der Patient ursprünglich gekommen ist. Das ist die konkrete Spur des ehemaligen Psychotraumas zur heutigen Organkrankheit.

Vom Patienten wird dies oft als eine neue, unerwartete Entdeckung direkt erfahren und erlebt.

Widersprüche von einer Organbeschwerde und dem Gefühl, das die Patientin dazu äußert, könnte dazu führen, dass wir – anhand einer gezielten Frage – auf die Ebene von alten, verletzten Gefühlen und deren Manifestation am Körper stoßen. Das verhilft zum Verstehen der Not der Patientin und zum Auffinden der individuellen Arznei, die Bezug zur Seelenstimmung und zur betroffenen Organregion, in diesem Falle zum Unterleib, hat.

4.2.3 Beispiel 3

Jugendliche, 16 Jahre

Eine Jugendliche von 16 Jahren kommt, begleitet von ihrer Mutter. Es handelt sich um die Geschichte von chronisch rezidivierender Angina tonsillaris purulenta. Nach der letzten Angina vor 3 Wochen verblieb eine unklare Restsymptomatik am Hals, trotz neuerlicher Antibiotikagaben. Vor 6 Monaten hatte sie einen Morbus Pfeiffer durchgemacht. Die rechte Tonsille weist einen grauweißen Belag auf.

Ich kenne die Jugendliche seit Langem. Sie ist aufmüpfig und verweigert alle Angebote der Schule. Nun sitzt sie vor mir: stumm, ernst, schmollend, mit rasch wechselndem Ausdruck von Angriffslust und Langeweile.

Verordnung und Verlauf. Wegen der Lokalisation „Tonsillen“ und wegen des launischen Verhaltens folgt die Verordnung: Lac caninum C 30.

Die Tonsillen haben bei der Kontrolle nach 4 Tagen ihren Belag verloren. Doch die Energie der jungen Dame schleppt sich noch.

Frage: Gibt es Sorgen? Probleme? Antwort: Sie denke viel an den Tod, sei lustlos, lebensmüde. Der Tod eines Onkels, den sie kaum kannte, beschäftige sie.

Ich denke mir, das sind alles nur Worte, das greift und überzeugt nicht. Ich frage mich: Wie erreiche ich diese Jugendliche nur?

Sie sitzt vor mir. Plötzlich weint sie aus tiefer Seele: „Ja, der Großvater. Er war so böse mit Dir, Mutter, als Du ein Kind warst.“

Die Mutter war sich nicht bewusst, dass dieses alte Thema ihrer Vergangenheit zu den Ohren der Tochter gelangt war. Ja, beim Familientreffen mit den Cousinen vor einem halben Jahr. Da haben die Mädchen über ihre Großeltern geplaudert und ihr die Einschussstellen der Pistolenschüsse des Großvaters gegen die Großmutter gezeigt. Sie waren in der Küche, an der Wand hinter einem Bild, erst kürzlich wiederentdeckt worden. Als die Mutter die Geschichte bestätigt und ergänzt, weint die Jugendliche und entspannt sich: „Jetzt ist mein Hals ganz frei geworden.“ Ihr Ausdruck wird lockerer, freundlicher, offener, sie kann lächeln.

Was für ein sensibles Mitfühlen dieses jungen Menschen! Eine Bereitschaft, Verantwortung mitzutragen für die Familie, exponiert als Einzelkind? Entsteht da auch ein Loyalitätskonflikt in der inneren Haltung zum geliebten Großvater?

Ätiologie und Mittelwahl. Indirekte Gewalterfahrung, möglicherweise auch die Enttäuschung. Lac caninum, eingesetzt wegen der Tonsillen, passt auch für diese psychische Dimension von Symptomatik.

Erneute Verordnung. Lac caninum 200. Dazu der Hinweis, Mutter und Tochter sollen gemeinsam das Grab des Großvaters besuchen, mit ihm und über ihn sprechen und sich über die Ungereimtheiten seines Lebens vertraulich austauschen, um sie so gemeinsam hinter sich zurücklassen zu können.

Die Gefühle auf Seiten des Therapeuten können ein Wegweiser sein. Ich erlebte mich als Zuhörer immer müder und gelangweilter. Das Gespräch, die Worte blieben unergiebig. Sie berührten nicht. Die Ebene der Kommunikation stimmte nicht. Das heißt, es bestand keine echte Identifikation mit den Inhalten, sie kamen nicht aus der „Ich-nahen“ Schicht der Patientin.

Plötzlich konnte die Jugendliche ihre Not zeigen und aussprechen. Die Aussage wurde dicht: der Sprung auf die Ebene der Gefühle gelang. Ob sich die Jugendliche selbst darüber bewusst war, was ihr Herz belastet hatte?

Den Patienten ernst nehmen, ihn annehmen, wie er ist und wie er sich zeigt, ihm begegnen mit allen Sinnen. Das einfühlsame Gespräch im geschützten Raum, wie es in der homöopathischen Praxis stattfindet, ist ein Schlüssel dafür, sich gemeinsam mit dem Patienten vorzuarbeiten zu den verborgenen Wunden.

Merke: Auch bei Patienten mit somatischen Beschwerden lässt sich oft ein überzeu-gender Zusammenhang zwischen den aktuellen Beschwerden und der Psyche erarbeiten, ein Zusammenhang, den der Patient selbst spüren und damit bestätigen kann. Dies zu verstehen und zu erklären bedeutet angesichts des klinischen Krankheitsmodells der Medizin von heute mit seiner strengen Trennung von Soma und Psyche eine Herausforderung.

4.3 Anwendung der nonverbalen Kommunikation

In Ergänzung zu den Worten und Inhalten, die zur Sprache kommen, achten wir auf das Verhalten des Patienten. Fällt etwas auf, so wird es notiert, wie z. B.: Züge von Trauer, Seufzen wie bei Angst, Augenrollen etc.

Gelenkte Anamnese. Im gelenkten Teil der Anamnese kann die Beobachtung vorsichtig angesprochen werden. Wir fordern den Patienten auf, seinen Empfindungen an Leib und Seele oder seinen Gesten genau nachzuspüren und einen Ausdruck, Worte dafür suchen. Es ist oft ein Ringen, begleitet von heftigen Gefühlen. Der Patient tastet sich vor in der Landschaft der verdrängten Seelenwelt. Entlang dieser Empfindungen entfaltet sich die Erinnerung. Die alten Wunden aus der Kindheit, die unbewältigt geblieben und gespeichert sind, werden lebendig. Sie lauern, um in schwachen Momenten in Form einer „Störung“ aufzutauchen.

Sei es Bedrohung, Hilflosigkeit oder Sprachlosigkeit: Das Aussprechen einer derartigen Empfindung verhilft zu einer Distanzierung davon. Die Patienten können sich von den magischen Bildern und Verflechtungen der Kindheit befreien. Sie kommen zur Einsicht: „Du bist nicht schuld am Vergehen der Erwachsenen. Du kannst Deine Mutter nicht retten vor den Zornausbrüchen des Vaters. Du bist nicht verantwortlich für die Erziehung Deiner Geschwister, für die Tränen der Mutter.“

Merke: Im Aussprechen lässt sich die diffuse Empfindung auf die Ebene des Verstandes heben, wird kognitiv und bewusst, und kann damit in einen neuen Zusammenhang gebracht werden. Die unbewussten, verlorenen und übersehenen Seelenanteile lassen sich so vereinen mit dem Selbstbild von heute und mit einem Verstehen der eigenen Geschichte. Sie können in die Erfahrungswerte eingereiht werden als ein ganz persönliches Gut. Dieser Weg führt zum „Verarbeiten“ und Überwinden eines Psychotraumas.

Wir lassen den Patienten möglichst selbst Worte finden für seine innere Welt. Eine Einsicht hat für den Patienten dann den größten Wert, wenn er selbst auf sie stößt, wenn er sie selbst benennt. Oft braucht dies Zeit, und zwar umso mehr, je tiefer und unbewusster die Wunde sitzt.

Je mehr wir in diesen Bereich vordringen, umso näher kommen wir der Geschichte des Patienten, umso näher sind wir an den charakteristischen, kennzeichnenden, „Ich-haften“ Daten. Umso näher sind wir der echten, tiefen, primären Ätiologie. Es ist ein Weg anhand der Phänomene, der zum Verstehen von Person zu Person führt.

Kommunikation in diesem zweifachen Sinne erschließt sich der Phänomenologie. Sie ist in der homöopathischen Anamnese vertraut: Inhalt und Verhalten wahrnehmen und in die Ganzheit der Symptome aufnehmen. Wir erfassen damit das „Leiden der Lebenskraft“. Im selben Sinne, mit zeitgemäßen Worten, erfassen wir die präverbal gespeicherten Empfindungen, das Unbewusste, die Ebene des Es, die sich vorerst dem Bewusstsein verschließt.

Die Symptome des Verhaltens präsentiert der Patient immer und vor jedem Wort. Diese methodisch zu erfassen und zu verwerten, das bedarf heute der besonderen Schulung. Die Ärzte von heute sind vornehmlich im Kognitiven hoch gebildet, auf Kosten der Nähe zu den Empfindungen und Gefühlen. „Mit dem Herzen sehen“ im Sinne von Saint-Exupery: Was könnte das den Ärzten schaden? (▶Kap. 6).

Gesten des Patienten. In der homöopathischen Anamnese wurde lange Zeit auf das Wort und seine Entsprechung in den Rubriken des Repertoriums und in den Arzneimittellehren das Hauptaugenmerk gelegt. Dann kamen Patientendemonstrationen und Videos als Lehrhilfe. Das ermöglichte, alle Ebenen der Kommunikation zu verfolgen. Kaum ein Vortragender wusste allerdings die nonverbalen Zeichen, in aller Fülle auf der Leinwand vorgeführt, systematisch zu verwerten. Die meiste Information blieb „links liegen“.

Heute gibt es die „Empfindungsmethode“ nach Sankaran (2005). Die Gesten des Patienten werden genau beachtet. Dieser wird aufgefordert, sie zu verstärken, noch mehr und noch mehr. „Bis das Tier in ihm spricht.“

Beim traumatisierten Patienten gelten provokative Methoden als gefährliche Gratwanderung. Ob wir zusammen mit dem Patienten auf dem Seelengrund „dem Tier“ oder dem wütenden Vater oder der flüchtenden Mutter begegnen, eines gilt immer: Im mitmenschlichen Zuhören können wir zur Erlösung und Lösung dieser Prägungen und Entfremdungen beitragen und den inneren Kern, das Wesen der Person aufspüren helfen.

Existenzielle Kommunikation. Für die Therapie hat sie dreierlei Bedeutung:

Sie verhilft dem Patienten in der Begegnung von Mensch zu Mensch zu seinem vollen Menschsein. Dieser schreibt Gottschlich allein schon heilende Wirkung zu (Gottschlich

2003

). Das ist die beste Variante einer Plazebowirkung, die Homöopathen methodengerecht einsetzen.

Eine so wesentliche Begegnung bietet den Boden für eine effiziente Begleitung und Führung des Patienten durch die Therapieschritte.

Doch der homöopathische Arzt will mehr: Er sucht über die persönliche Begegnung nach den „Ich-nahen“ Symptomen und damit die individuelle Arznei.