Hope - Amanda Berry - E-Book

Hope E-Book

Amanda Berry

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Beschreibung

"Helfen Sie mir, ich bin Amanda Berry … Ich wurde entführt und bin seit zehn Jahren erschwunden!" Am 6. Mai 2013 wurde in Cleveland ein unvorstellbares Verbrechen aufgedeckt: Drei junge Frauen wurden von einem Mann aus ihrer Nachbarschaft entführt und über ein Jahrzehnt lang gefangen gehalten, misshandelt und missbraucht. Amanda Berry gebar ihrem Entführer sogar eine Tochter. Dieses Buch, geschrieben von den Opfern Amandy Berry und Gina DeJesus, berichtet vom Überlebenskampf der Entführten, von unvorstellbarem Leid und ihrer unerschütterlichen Hoffnung auf Rettung und ein normales Leben. Ergänzt wird ihre bewegende Geschichte durch Berichte der Journalisten und Pulitzer-Preisträger Mary Jordan und Kevin Sullivan von der Washington Post über die verzweifelte Suche der Familien und der Behörden nach den Vermissten. Die beiden jungen Frauen leben inzwischen glücklich mit ihren Angehörigen vereint in Cleveland.

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Seitenzahl: 541

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
1. Auflage 2015
© 2015 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Hope. A Memoir of Survival in Cleveland bei Viking, New York.
Copyright © 2015 Amanda Berry und Gina DeJesus
This edition published by arrangement with Viking, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Martin Rometsch und Christian Gonsa
Redaktion: Caroline Kazianka
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
Umschlagabbildung: Sarah Baker, National Center for Missing & Exploited Children
Abbildungen: Seite 1 (oben): © FBI/Splash News/Corbis, 2 (oben), 14 (oben): AP Images/Tony Dejak, 4 (oben): The Plain Dealer/Landov, 5 (oben): © Aaron Josefczyk/Reuters/Corbis, 13 (oben): © David Maxwell/epa/Corbis, 14 (unten): © John Gress/Corbis, 15 (oben): © SGusky/Cleveland PD/handout/Corbis, 16 (oben): The White House/Foto von Pete Souza, sonstige Fotos von den Autorinnen
»Gina DeJesus’ disappearance has changed her neighborhood« von Ariel Castro, Plain Press (Cleveland), Juni 2004. Reproduziert mit Erlaubnis des Verlags.
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-86882-590-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-770-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-771-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.muenchner-verlagsgruppe.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Ein Wort an die Leserinnen und Leser
Vorwort
3. September 2013: Er ist tot
Hope
Teil 1
21. April 2003: ein kastanienbrauner Kleinbus
25. April 2003: allein in der Dunkelheit
Mai 2003: die Frau im anderen Zimmer
Die Ermittlungen: auf der Suche nach Amanda
Juni 2003: der erste Sommer
20. August 2003: stranguliert
22. November 2003: abgestumpft
Januar 2004: Neujahr
26. Januar 2004: Polizei an der Haustür
Teil 2
2. April 2004: ein Freund der Familie
April 2004: auf der Suche nach Gina
April 2004: die ersten Tage
April 2004: Er verbirgt etwas
10. April 2004: Sie ist in der Nähe
April 2004: Lass mich in Ruhe
April 2004: Hinweise und Verdächtige
Mai 2004: Freundinnen
23. Mai 2004: America’s Most Wanted
Mai 2004: Flammenbaum
Mai 2004: Ariel Castro, Reporter
21. Juli 2004: Ketten
August 2004: nur eine Patrone
August 2004: Sommer
August 2004: eine neue Strategie
16. November 2004: die Hellseherin
Dezember 2004: psychischer Zusammenbruch
2. April 2005: Mahnwachen
August 2005: Zeugenaussage
23. August 2005: zurück im Keller
27. August 2005: im Kleinbus angekettet
Weihnachten 2005: ein gebrochenes Herz
Mai 2006: erstes Trimester
Juli 2006: zweites Trimester
22. September 2006: Suche nach Gina
Oktober 2006: drittes Trimester
Weihnachten 2006: neues Leben
Teil 3
Februar 2007: Umzug
Juni 2007: eine Stimme finden
Frühling 2007: Ein Grab wird geschaufelt
Juni 2007: die Näherin
Oktober 2007: ein Platz zum Krabbeln
Castros Geschichte: Nachbarschaft
23. März 2008: Ostern
22. April 2008: Meilensteine
12. Juni 2008: Verkehrskontrolle
Juni 2008: neue Namen
September 2008: Nachtangst
4. November 2008: der Präsident
9. Januar 2009: Begegnung
16. Februar 2009: der Stoß
Juni 2009: das Armband
25. Juni 2009: Michael Jackson
Oktober 2009: Oprah
Weihnachten 2009: eine Familie
2010: geschnitten
10. Februar 2010: eine unbekannte Tote
25. März 2010: schwierige Gefühle
28. Mai 2010: der Eiswagen
18. Juni 2010: Emilys Baby
4. August 2010: Die Polizei ist nebenan
19. November 2010: Schläge ins Gesicht
Weihnachten 2010: Nichts ist normal
9. Februar 2011: ein Gespräch
29. April 2011: königliche Hochzeit
Mai 2011: Haarschnitte
15. Juni 2011: im Park
14. Juli 2011: auf dem Rummelplatz
30. Juli 2011: Kirche
31. Juli 2011: Beten
24. August 2011: erster Schultag
Oktober 2011: Depression
Dezember 2011: Welpen
Castros Geschichte: ein reizbarer Musiker
8. April 2012: Osterkleider
April 2012: Neun Jahre sind vorbei
Castros Geschichte: das Begräbnis von Nilda
3. Mai 2012: seine Ex
5. Mai 2012: ein Flugblatt
2. Juni 2012: die Abschlussfeier
6. Juli 2012: am Swimmingpool
19. Juli 2012: Suche nach Amanda
30. Juli 2012: die Suche nach Jaycee
30. August 2012: Bettwanzen
25. Oktober 2012: eine Begegnung
6. November 2012: entlassen
Thanksgiving 2012: eine perfekte kleine Familie
Januar 2013: ein Haufen Ketten
Februar 2013: unsichtbar
Castros Geschichte: eine neue Schwester?
12. April 2013: wiederkehrende Träume
12. April 2013: Dämonen und Facebook
6. Mai 2013: die Flucht
Teil 4
6. Mai 2013: die Verhaftung
6. Mai 2013: Wiedervereinigung
7. Mai 2013: nos vemos (Bis bald)
7. Mai 2013: Geständnis
7. Mai 2013: ein weiteres vermisstes Mädchen
7. Mai 2013: Verhör
9. Mai 2013: Neustart
13. Mai 2013: am Friedhof
1. August 2013: das Urteil
1. August 2013: der Grabstein
5. August 2013: Rückkehr in die Seymour Avenue
7. August 2013: der Abriss
August 2013: Abwärtsspirale
3. September 2013: der letzte Tag
Halloween 2013: auf der Suche nach Frieden
11. Dezember 2013: Es geht weiter
5. Mai 2014: Washington
Nachwort: Die Lehren aus Cleveland
2015
Dank

Ein Wort an die Leserinnen und Leser

Wir schreiben hier über schreckliche Dinge, an die wir nie wieder denken wollten. Doch unsere Geschichte handelt nicht nur von Vergewaltigung, Ketten, Lügen und Elend. Das war Ariel Castros Welt. In unserer Geschichte geht es darum, das alles zu überwinden.

Wir wollen, dass die Menschen die Wahrheit erfahren, die wahre Ge­schichte des Jahrzehnts, das wir als Castros Gefangene in der Seymour Avenue 2207 in Cleveland, Ohio, verbrachten.

Jahrelang sahen wir im Fernsehen, dass unsere Familien uns suchten und für uns beteten. Sie gaben nie auf, und das hat uns Kraft gegeben. Wir haben Reportagen über ihre Mahnwachen aufgezeichnet und die Bänder an den Tagen unserer größten Verzweiflung abgespielt. Wenn es uns sehr schwer fiel zu glauben, dass wir jemals wieder frei und nicht mehr Sklavinnen eines grausamen Mannes sein würden, half es uns, immer wieder das Wort »Hoffnung« zu schreiben.

Jetzt wollen wir, dass die Welt erfährt: Wir haben überlebt, wir sind frei, wir lieben das Leben. Wir waren stärker als Ariel Castro.

Obwohl wir jahrelang nur ein paar Meter voneinander entfernt in einem sehr kleinen Haus lebten, machten wir sehr unterschiedliche Erfahrungen. Castro war ein gerissener Manipulator, der jeder von uns Lügen über die anderen erzählte, damit wir einander nicht trauten und uns nicht gegen ihn verbündeten.

Weil wir verschiedene Geschichten erzählen, enthält dieses Buch teils Amandas, teils Ginas Berichte und beide sind klar gekennzeichnet.

Amanda führte ein Tagebuch, das über 1200 Seiten stark ist, und die Einträge sind eine wichtige Quelle für dieses Buch. Sie wurden auf Servietten und Papiertüten von McDonald’s, auf losem Papier und in ein Kindertagebuch aus einem Billigladen geschrieben, ja sogar auf die Innenseiten leerer Pappschachteln, die Kuchen von Little Debbie enthalten hatten. Außerdem nahm Ariel Castro im Laufe der Jahre viele Stunden Videomaterial auf, das zusammen mit Amandas Einträgen einen lebendigen Eindruck vom Leben in diesem Haus vermittelt. Deshalb waren wir in der Lage, genau zu schildern, was an bestimmten Tagen und zu bestimmten Uhrzeiten geschah.

Amanda war erst siebzehn, als sie anfing, ihre Gedanken niederzuschreiben, und vor allem in den ersten Jahren benutzte sie dafür die typische Chatschrift eines Teenagers. Um das Lesen zu erleichtern, haben wir diese Kürzel aufgelöst und wörtliche Auszüge aus Amandas Tagebuch kursiv gedruckt.

In anderen Teilen dieses Buches geht es um Ereignisse außerhalb des Hauses, von denen wir nichts wissen konnten. In diesen Fällen haben wir uns auf Mary Jordan und Kevin Sullivan gestützt, die Journalisten, die uns halfen, dieses Buch zu schreiben. Dank ihrer Berichte erfuhren wir von der Suche der Polizei nach uns, von der Vergangenheit des Schulbusfahrers, der uns ein Jahrzehnt unseres Lebens stahl, und von seiner Beziehung mit seiner Lebensgefährtin, die er lange Zeit misshandelte.

Mary, die im Westen von Cleveland aufwuchs, und Kevin haben Polizeiberichte und Gerichtsprotokolle studiert, die Tausende von Seiten umfassten. Sie haben sich die stundenlangen Videos von Castros Vernehmungen bei der Polizei angeschaut, Castros Heimatstadt im ländlichen Puerto Rico besucht und mit seinen Angehörigen und Dutzenden von anderen Leuten gesprochen, um herauszufinden, wie es zu unseren Entführungen kommen konnte und warum wir so lange auf unsere Befreiung warten mussten.

Michelle Knight war ebenfalls in Castros Haus gefangen, und wir luden sie ein, dieses Buch mit uns zu schreiben; aber sie beschloss, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie kommt in unserem Bericht immer dann vor, wenn wir wichtige gemeinsame Erlebnisse hatten. Wir wünschen ihr das Beste, während wir noch versuchen, uns zu erholen und ein neues Leben aufzubauen.

Jocelyn Berry inspiriert uns jeden Tag. Sie wurde an einem Weihnachtsmorgen in dem Haus in der Seymour Avenue geboren. Sie machte diesen düsteren Ort heller und half in vielerlei Hinsicht, uns zu retten.

Amanda Berry und Gina DeJesus

Cleveland

10. Februar 2015

Vorwort

3. September 2013: Er ist tot

Amanda

Mein Telefon summt. Eine SMS.

Wer kann das sein? Es ist schon nach Mitternacht, und ich liege im Bett. Jocelyn schläft neben mir, so wie jede Nacht, seit sie vor sechs Jahren geboren wurde. Das ist so ziemlich das Einzige, was sich nicht geändert hat, seitdem ich vor vier Monaten aus diesem Höllenhaus geflohen bin.

Ich starre die Kurznachricht meiner Tante Susie an: Hast du gehört, dass er sich umgebracht hat?

Ich bin wie versteinert. Eine Minute vergeht, dann noch eine. Kann das wahr sein?

Mir wird übel. Das Telefon klingelt. Es ist meine Tante Theresa: »Hast du es schon gehört? Kanal 19 hat eine Eilmeldung gebracht – Ariel Castro hat sich das Leben genommen.«

Ich schlüpfe aus dem Bett, damit Jocelyn nicht aufwacht, renne die Treppe hinunter und schalte den Fernseher ein.

Sein Polizeifoto füllt den ganzen Bildschirm aus.

»Ariel Castro, der Kidnapper von Cleveland, ist tot. Offenbar hat er sich heute Nacht in seiner Zelle erhängt. Er war seit etwas mehr als einem Monat inhaftiert, nachdem er zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe plus 1000 Jahre verurteilt worden war.«

Ich habe Magenkrämpfe, das Atmen fällt mir schwer.

Wie kann er es wagen? Was untersteht er sich?

Er hat mich entführt, mich in seinem Haus in Ketten gelegt wie einen Hund und immer wieder vergewaltigt. Wegen ihm ist meine Mutter gestorben, ohne zu wissen, ob ich tot bin oder noch lebe. Sie war erst 43, und ich kann ihm nicht verzeihen, dass er ihr das Herz gebrochen hat.

Aber er war auch Jocelyns Vater. Sie liebt ihn, und er liebt sie. Er hat ihr nie wehgetan. Er hat sie in die Bibliothek, ins Einkaufszentrum und zu McDonald’s mitgenommen. Sogar in die Kirche. Ich habe die Realität in der Seymour Avenue 2207 vor ihr verborgen, so gut ich konnte, in der Hoffnung, dass sie dann denken würde, dass ihr Zuhause sich nicht von dem anderer Leute unterscheidet.

Ariel Castro hat es verdient, für immer im Gefängnis zu sein. Doch jetzt ist er plötzlich tot, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Meine Verwirrung fließt in Strömen meine Wangen hinunter.

Gina

Ich sitze in meinem Wohnzimmer auf dem Fußboden und unterhalte mich mit meiner Mom und meinem Bruder Ricky. Seit mir vor vier Monaten die Flucht aus Ariel Castros Gefängnis gelungen ist, bin ich Tag und Nacht bei meiner Familie. Ich hasse es, allein zu sein. Ich habe immer noch Angst.

Im April 2004 ging ich von der Schule nach Hause, als er mich in sein Auto lockte. Ich war 15, als er mich in der Seymour Avenue eingesperrt hat, dann 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22 und 23. Er hat es so weit gebracht, dass ich mich umbringen wollte, ich fühlte mich so allein und traurig, dass ich monatelang kaum aus dem Bett kam.

Eine Eilmeldung in großen Lettern erscheint auf dem Bildschirm: ARIEL CASTRO IST TOT.

Alle im Zimmer verstummen.

Ich fühle nichts, starre nur wie betäubt den Fernseher an.

Erst vor wenigen Nächten habe ich davon geträumt, dass zwei Gefangene in seine Zelle gehen und ihn töten – und dass man seine nackte Leiche in einem Tümpel findet.

Jetzt ist er wirklich tot.

Das sagen zumindest die Vollzugsbeamten im Interview. Ich weiß nicht, ob ich es glauben soll. Vielleicht behaupten sie nur, dass er tot ist, damit die Leute aufhören, über ihn zu reden. Unsere Geschichte ist eine schlechte Dauerwerbung für Cleveland. Möglicherweise täuschen die Behörden seinen Tod lediglich vor, damit die Leute sich beruhigen.

Vielleicht steckt er ja auch irgendwie selbst dahinter. Er ist so hinterhältig und raffiniert, bei ihm ist alles möglich. Das habe ich auf die harte Tour gelernt, und ich halte nichts mehr für unmöglich, wenn es um ihn geht. Aber das Fernsehen berichtet ständig weiter darüber, dass er tot ist. Mag sein, dass er wirklich nicht mehr da ist.

Ich rufe Michelle an. Wir sind beide der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn er den Rest seines Lebens im Gefängnis geschmort hätte. Dann schicke ich Amanda eine SMS, weil ich Jocelyn nicht durch einen Anruf wecken will. Sie ruft sofort zurück.

»Ich habe nicht gewollt, dass er so stirbt – niemand sollte so sterben. Ich wollte, dass er im Gefängnis sitzt, so wie wir«, sage ich. »Ich wollte, dass er eingesperrt ist, allein mit seinen Gedanken, damit seine Gedanken ihn bei lebendigem Leib auffressen.«

Ich merke, dass Amanda verstört ist, und weiß, dass es ihr noch schwerer fällt, diese Nachricht zu verdauen.

Dann lege ich auf und fange an nachzudenken. Womöglich ist es doch gut, dass er weg ist. Jetzt kann er niemandem mehr wehtun.

Schließlich fange ich an zu weinen – nicht, weil er tot ist, sondern weil er mir so lange so wehgetan hat.

Amanda

Das Telefon klingelt andauernd. Ich weiß, dass es Reporter sind, darum hebe ich nicht ab. Was könnte ich auch sagen? Ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll.

Ich erinnere mich daran, wie oft er zu mir gesagt hat, dass er sich vor dem Gefängnis fürchtet und sich eher umbringen würde, als in den Knast zu gehen. Er meinte, er wolle lieber bei einem Schusswechsel mit der Polizei sterben, als sich hinter Gitter bringen zu lassen. Aber ich habe nicht geglaubt, dass er den Mut haben würde, sich aufzuhängen.

Und dann so bald. Uns hat er jahrelang gefangen gehalten, und er hält es nicht aus, ein paar Monate eingesperrt zu sein. Dabei durfte ihn sogar seine Mutter besuchen.

Meine Schwester Beth schläft im ersten Stock. Es geht ihr nicht gut, und ich will sie nicht wecken. Also bleibe ich allein sitzen.

Tante Theresa ruft noch einmal an.

»Denk daran, was er dir alles angetan hat. Es ist gut, dass er tot ist.«

Vielleicht hat sie recht.

Aber ich kann nur daran denken, dass Jocelyn sich nicht von ihrem Daddy verabschieden konnte. Nachdem wir im letzten Mai aus der Seymour Avenue geflohen sind und in einem Krankenwagen weggebracht wurden, haben wir ihn nie wieder gesehen. Jetzt ist September, und er ist tot.

Mit 18 hätte Jocelyn ihn im Gefängnis besuchen dürfen und ihm all die Fragen stellen können, die sie dann bestimmt haben wird. Es ist grausam, dass er ihr die Möglichkeit genommen hat, ihm eines Tages gegenüberzutreten.

Ich frage mich, was schlimmer für ihn war: hinter Gittern zu sein oder zu wissen, dass seine erwachsenen Kinder und die ganze Welt von seinem kranken Doppelleben erfahren hat. Was andere von ihm dachten, war ihm sehr wichtig. Er sehnte sich nach Respekt. Er fand, dass er ihn verdient hatte, weil er sich seine Fertigkeiten als Musiker selbst beigebracht hatte und weil er in Armut aufgewachsen war, jetzt aber sein eigenes Haus besaß und schicke Autos fuhr.

Nach Jocelyns Geburt begann er so zu tun, als wären wir eine normale Familie, und ich denke, er hat selbst daran geglaubt. Er schloss mich zwar in seinem Haus ein, nahm aber Jocelyn mit, um für mich Blumen zu pflücken. Ein Jahrzehnt lang war er mein ganzes Leben und oft der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte.

Jetzt ist er tot.

In diesem Augenblick spüre ich meinen Schmerz, meine Trauer und meinen Kummer noch deutlicher.

Hope

Teil 1

21. April 2003: ein kastanienbrauner Kleinbus

Amanda

Am Tag nach Ostern wache ich mittags auf. Wieder einmal habe ich lange Eminem gehört. Sein Song »Superman« bessert meine Laune meistens: They call me Superman, I’m here to rescue you. Poster von ihm hängen überall in meinem Schlafzimmer – an den Wänden, am Spiegel, am Schrank. Doch heute kann selbst Eminem meine Stimmung nicht heben.

Meine Mom stößt die Tür auf und steckt den Kopf herein. Ich bin noch im Bett und sauer.

»Mandy, ich geh jetzt zur Arbeit. Wir sehen uns heute Abend. Hab dich lieb!«

»Ich dich auch. Bis später.«

Wir wohnen im ersten Stock eines Zweifamilienhauses an der Ecke West 111th Street und Belmont Avenue in der Nähe von Clevelands Westown Square Shopping Center. Es ist keine schlechte Wohnung, abgesehen vom Lärm der vielen Autos und LKWs, die auf der I-90, der Schnellstraße gleich neben dem Haus, vorbeirasen. Beth Serrano, meine ältere Schwester, wohnt mit ihrem Mann Teddy und ihren beiden kleinen Töchtern Mariyah, vier, und Marissa, drei Jahre alt, im Erdgeschoss.

Teddy ist der Grund dafür, dass ich mich so mies fühle. Er und meine Schwester streiten sich. Sie tobt vor Wut. Teddy ist der Manager des Burger King, in dem ich arbeite, und ich will ihn heute nicht sehen, weil er meine Schwester so aus der Fassung gebracht hat.

Ich höre, wie Beth mit meiner Mom in ihrem alten Chevy Lumina wegfährt. Sie arbeiten beide in einer Werkzeugfabrik drüben in der Brookpark Road und montieren Metallteile: Eine 39-jährige Mutter und ihre 23-jährige Tochter stehen nebeneinander und setzen kleine Stückchen aus Metall zusammen wie ein Puzzle. Niemand hat ihnen je gesagt, wofür das Teil, das sie machen, gut ist; aber wenn sie eine Kiste mit 100 solchen Teilen gefüllt haben, fangen sie mit einer neuen Kiste an.

Viele Eltern in meiner Nachbarschaft arbeiten stundenweise wie meine Mom, und wenn ihre Kinder mit der Schule fertig sind, nehmen sie die gleiche Arbeit an wie sie. Sie kommen zurecht, aber weit kommen sie nicht. Mein Dad ist mit einer anderen Frau zurück nach Tennessee gezogen, darum nimmt meine Mom schlecht bezahlte Jobs an, und ich versuche, mitanzupacken und beispielsweise meine Schulbücher selbst zu bezahlen.

Ich lasse weiter Eminem durch mein Zimmer dröhnen. Meine Lautsprecher stehen auf der Kommode neben meinen Porzellanengeln und den Krippenfiguren. Die Engel und das Jesuskind stehen das ganze Jahr über dort, nicht nur an Weihnachen, weil sie mich glücklich machen.

Dann springe ich unter die Dusche, stelle mich extralang unter das heiße Wasser und überlege, ob ich meinen Job wegen des Ärgers mit Teddy aufgeben soll. Aber das will ich eigentlich nicht. Denn es ist der erste Job, den ich je gehabt habe, und ich habe dort ein paar nette Mädchen getroffen. Angefangen habe ich vor fast einem Jahr, als ich 16 wurde, und ich habe bereits eine Lohnerhöhung auf sechs Dollar die Stunde bekommen, beinahe einen Dollar mehr als am Anfang. Viele Leute arbeiten lange dort, ohne mehr Geld zu kriegen, darum nehme ich an, dass sie mich schätzen. Dass Kunden zu mir sagen, ich hätte ein hübsches Lächeln, gefällt mir auch.

Ich brauche Geld, weil ich eines Tages aufs College gehen will. Was ich studieren werde, weiß ich nicht genau – vielleicht Modedesign. Denn ich liebe Kleider und achte genau auf jedes Detail, bis hin zu meinen Schnürsenkeln, die immer zu meiner Bluse passen müssen.

Wenn ich meinen Job heute tatsächlich aufgeben würde, würde ich die Burger-King-Uniform sicher nicht vermissen: burgunderrotes Hemd, schwarze Jeans und schwarze Turnschuhe. Die eklige Polyesterhose kam für mich nicht in Frage. Das Hemd war schon schlimm genug, aber niemand konnte mich dazu bringen, auch noch diese Hose zu tragen.

Ich ziehe mein Arbeitshemd aus einer Schublade und lasse zwei weitere gefaltet liegen. Es gefällt mir, wenn alles gebügelt und ordentlich ist. Ich habe ein System, was das Aufhängen meiner Kleider betrifft: Die hellrosa Blusen hängen nebeneinander, nahe bei den dunkleren Rosatönen, aber nicht mit ihnen vermischt. Alles Weiße ist beieinander. Gebügelte Jeans sind von Hellblau bis Dunkelblau geordnet. Meine Schuhe reihe ich auf dem Boden nach Absatzhöhe auf, zuerst die flachen und die Turnschuhe, danach die Keilabsätze und die Stöckelschuhe.

Morgen ist mein 17. Geburtstag. Ein paar Freunde werden kommen, um mit mir zu feiern, also müsste ich eigentlich aufgeregt sein. Ich zähle mein Geld, das ich in einer glitzernden rosa Schachtel hinten in meiner BH-Schublade verstecke. Ich habe 100 Dollar auf die Seite gelegt und zur Feier des Tages werde ich mir ein neues Outfit gönnen und mir obendrein die Nägel machen lassen.

Soll ich mich krank melden? Teddy ist in meiner Schicht, und ich will ihn eigentlich nicht sehen. Ich könnte stattdessen morgen arbeiten. Vielleicht wäre es ganz nett, einfach zu Hause zu bleiben und meine Zeitschriften zu lesen. Ich habe Entertainment Weekly, People und den Rolling Stone abonniert und die alten Hefe sauber in meinem Zimmer gestapelt.

Aber ich will auch nicht an meinem Geburtstag arbeiten, also sollte ich wohl gehen. Es ist ja nur die Schicht von 16 bis 20 Uhr. Das schaffe ich schon.

Aber ich muss mich beeilen. Es ist 15.50 Uhr.

Ich greife nach meiner Burger-King-Mütze und nehme sie mit. Auf der Straße möchte ich sie auf keinen Fall tragen. Dann ziehe ich meinen schwarzen Pulli an und gehe hinaus in den grauen Aprilnachmittag.

Zu Fuß brauche ich zehn Minuten bis zur Arbeit. Ich gehe an ein paar Häusern vorbei und wende mich nach rechts in die West 110th Street. Jetzt sehe ich vorne die Ampel an der Ecke Lorain. Dort ist der Burger King.

Ich überquere die I-90 auf der langen Brücke und schaue zu, wie die Autos vorbeizischen. In ihnen sitzen Leute, die irgendwohin fahren. Eines Tages werde ich einen besseren Arbeitsplatz haben. Ich werde nicht leben wie Mom, die sich immer Sorgen wegen der Rechnungen macht. Sie hat schon beim Einzelhändler Kmart, in einer BP-Tankstelle und an der Feinkosttheke im Lebensmittelladen Finast gearbeitet, sogar bei Burger King, wo ich jetzt bin. Da sie die Schule abgebrochen hat, bekommt sie nichts Besseres. Ich werde nach meinem College-Abschluss so viel Geld verdienen, dass ich mir ein eigenes Haus kaufen kann. Dann kann meine Mom bei mir wohnen, und vielleicht kann ich ihr das Leben so ein wenig leichter machen.

Ich gehe am Westown Square vorbei, wo wir so gut wie alles kaufen: Lebensmittel bei Tops, Videos bei Blockbuster und Kleider bei Fashion Bug. Beth hat im Gebrauchtwarenladen Value World süße Kleider für die Mädchen gefunden.

Punkt 16 Uhr bin ich da. Mein Gott, dieser Geruch. Pommes und Burger. Fett. Er geht nie aus meiner Uniform heraus, nicht einmal nach dem Waschen. Ich habe das Gefühl, dass er sich in meiner Haut festsetzt.

Ich lasse meinen Pulli und meine Handtasche hinten liegen, wo Roy Castro, der Chef, herumhängt. Heute nehme ich Bestellungen und Geld am Durchfahrschalter entgegen.

Nachdem Roy mir meine Kassenschublade gegeben hat, gehe ich rüber zu meinem Arbeitsplatz. Meine Freundin Jennifer arbeitet an der Haupttheke, dort steht auch Teddy. Unsere Blicke treffen sich, und ich schaue ihn finster an.

Ich stöpsle meine Kopfhörer ein.

»Willkommen bei Burger King. Was darf es sein?«

Immer das Gleiche.

Die Zeit vergeht langsam. Es wäre leichter, wenn wir mehr zu tun hätten, aber am Montag nach Ostern ist nichts los. Ich möchte mit niemandem reden. Roy merkt, dass es mir nicht gut geht, deshalb fragt er mich gegen 19.15 Uhr, ob ich früher nach Hause gehen möchte. Das muss er mich nicht zweimal fragen. Ich bin froh, hier rauszukommen.

Also packe ich meine Sachen zusammen, setze mich an einen Tisch und rufe meinen Freund DJ an. Vielleicht holt er mich ja ab. Keine Antwort. Ich wähle seine Nummer erneut, doch er geht immer noch nicht ran. Ich würde ihn heute Abend gerne treffen. Wir sind erst seit einem Monat zusammen, aber ich mag ihn. Er hält meine Hand und öffnet Türen für mich. Das erste Mal gesehen habe ich ihn, als er am Durchfahrschalter Essen bestellt hat. Jennifer kannte ihn und sagte, er sei nett. Er kam dann öfter und hat nach mir gefragt, wenn ich nicht da war, und schließlich hat er mich gebeten, mit ihm auszugehen.

Ich wünschte wirklich, er würde rangehen. Wo ist er bloß?

Ich gehe fast nie zu Fuß nach Hause. Erstens sind abends mehr Leute unterwegs, und ich möchte nicht in meiner Burger-King-Uniform gesehen werden. Und zweitens, und das ist der wichtigere Grund, will meine Mom nicht, dass ich nachts allein nach Hause gehe. Da sie keinen Führerschein hat, schickt sie meist Beth, um mich abzuholen.

Aber Beth und Mom arbeiten noch, und ich habe keine Lust, auch nur eine Minute länger als nötig hier herumzuhängen. Es ist 19.30 Uhr, immer noch hell draußen, also mache ich mich auf den Weg.

Auf dem Heimweg klingelt mein Telefon. Beth sagt, dass sie jetzt Feierabend hat, und ich antworte: »Ich auch.«

»Wir können dich abholen. Wann soll ich dort sein?«

»Kein Problem. Ich bin schon unterwegs.«

Während wir anfangen, über Teddy zu sprechen, sehe ich weiter vorne einen alten kastanienbraunen Kleinbus, der den Gehsteig versperrt. Ein Typ ist in eine Einfahrt in der West 110th gebogen, aber nicht ganz hineingefahren.

Ich laufe um den Wagen herum. Da ich immer noch telefoniere, passe ich nicht richtig auf, aber das Mädchen auf dem Beifahrersitz kommt mir dennoch bekannt vor. Ich bin ziemlich sicher, dass sie früher mit mir bei Burger King gearbeitet hat. Der Fahrer – wahrscheinlich ihr Vater – schaut mich an und lächelt. Ich lächle zurück und gehe weiter.

Eine Minute später hält das Auto neben mir und er kurbelt das Fenster herunter. Da gerade keine anderen Autos unterwegs sind, stoppt er einfach mitten auf der Straße.

»He, soll ich dich nach Hause fahren?«

Jetzt erkenne ich ihn deutlicher, ich bin mir sicher, dass ich ihn schon einmal gesehen habe, aber ich weiß nicht genau, wo. Da ich schon die Hälfte meines Weges zurückgelegt habe und in fünf Minuten sowieso zu Hause bin, brauche ich eigentlich niemanden, der mich mitnimmt. Aber es ist nett von ihm, mich zu fragen.

Während ich weiter mit Beth telefoniere, nicke ich daher mit dem Kopf und gehe auf den Kleinbus zu. Als er sich herüberbeugt und die Beifahrertür öffnet, fällt mir auf, dass seine Tochter nicht mehr im Wagen ist. Schnell verabschiede ich mich von Beth und steige ein.

»Beth, ich muss Schluss machen. Jemand nimmt mich mit.«

Während ich das Gespräch beende, fährt er los.

»Wo ist denn Ihre Tochter?«, frage ich, als mir plötzlich bewusst wird, dass ich mit einem älteren Mann, den ich eigentlich gar nicht kenne, allein in seinem Auto sitze.

»Du arbeitest also bei Burger King?«, erwidert er, ohne meine Frage zu beantworten. Doch er lächelt und wirkt freundlich. Da ich noch meine Uniform mit dem »Amanda«-Namensschild trage, kann er leicht erraten, wo ich arbeite.

Trotzdem wird mir allmählich etwas mulmig, aber er scheint wirklich ziemlich nett zu sein. Er ist auch schicker angezogen als andere in seinem Alter: ganz in Schwarz vom T-Shirt bis zu den Stiefeln. Und er hört 107,9 – Hip-Hop und R&B.

»Mein Sohn hat auch bei Burger King gearbeitet. Kennst du ihn? Anthony Castro?«

Jetzt weiß ich, wer er ist: Anthonys Vater. Anthony ist nicht mit Roy Castro, dem Chef, verwandt, aber ich kenne Anthony, und meine Mom kennt ihn ebenfalls.

»O ja, klar, Anthony. Er war mal bei uns zu Besuch, und er ist mit einer meiner Freundinnen befreundet.«

Ich erzähle ihm, dass ich mit seiner Tochter Angie die Wilbur Wright Middle School besucht habe. »Wie geht es ihr?«, frage ich. Jetzt, da ich weiß, wer er ist, bin ich beruhigt.

»Es geht ihr gut«, sagt er. »Sie ist jetzt zu Hause. Möchtest du sie besuchen?«

»Okay. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«

Warum sollte ich sie eigentlich nicht besuchen? Ich habe sowieso keine Lust auf zu Hause.

Er biegt ein paar Mal ab, entfernt sich von unserem Haus und fährt dann auf die I-90, während er fröhlich von seinen Kindern erzählt.

»Das ist ein hübsches Handy«, meint er dann und betrachtet das kleine blaue Telefon in meiner Hand. Einige meiner Freundinnen haben Handys, und ich habe meines erst vor einer Woche einer Arbeitskollegin abgekauft, gebraucht.

Wir fahren jetzt von der Schnellstraße auf die West 25th Street, biegen wieder einige Male ab und erreichen die Seymour Avenue.

Ich kenne dieses Viertel. Es ist nur etwa zehn Minuten mit dem Auto von unserem Haus entfernt, und Cousinen von mir wohnen ganz in der Nähe, in der Castle und in der Carlyle. Da hier so viele Spanisch sprechende Leute wohnen, wird der Stadtteil auch Klein Puerto Rico genannt.

Wir fahren in die Einfahrt des Hauses Nummer 2207 in der Seymour Avenue. Es ist ein weißes, zweistöckiges Haus. Nichts Besonderes, so viel ist sicher. Er stellt den Wagen ganz nach hinten. Ein großer, böse aussehender Hund kommt an die Beifahrerseite des Wagens und bellt wie verrückt. Es ist ein Chow-Chow mit einem riesigen, buschigen Kopf. Der Hund ist zwar an einen Baum angebunden, aber die Kette ist so lang, dass er das Auto erreichen kann. Ich bin froh, dass ich drinnen bin.

Wieder erwähnt er mein Telefon.

»Das ist wirklich hübsch. Darf ich es kurz ansehen?«

Ich gebe es ihm.

»Warte, ich halte den Hund fest, damit du aussteigen kannst«, sagt er dann und nimmt mein Telefon mit, als er aus dem Wagen springt und den Hund am Halsband wegzieht.

»Angie ist drinnen«, fährt er fort. »Komm, lass uns reingehen zu ihr.«

Wie laufen zur Hintertür. Nachdem er aufgeschlossen hat, betreten wir eine kleine, umschlossene Veranda, auf der viele Kisten stehen. Dann öffnet er die Tür, die ins Haus führt.

Ich gehe mit ihm hinein.

In der Küche knipst er das Licht an. Es sieht sehr unordentlich aus. Der Raum müsste dringend geputzt werden. Die Regale bestehen aus Pappe und sind gefüllt mit Tüten und Kisten, in denen leere Gläser stehen. Durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen sehe ich, dass es draußen allmählich dunkel wird.

Er zeigt auf die geschlossene Badezimmertür.

»Angie nimmt sicher gerade ein Bad«, sagt er. »Soll ich dir das Haus zeigen, solange sie da drin ist?«

»Oh ja«, antworte ich. »Das ist sehr nett von Ihnen.«

Wir gehen ins kleine Esszimmer, dann ins Wohnzimmer, das mit dunklem Holz verkleidet ist. Auf dem schwarzen Ledersofa liegen schwarze Decken mit rotem Blumenmuster. Auf dem Boden entdecke ich einen großen Stapel mit alten Telefonbüchern, überall hängen Familienfotos, und er besitzt die zwei größten Stereoboxen, die ich je gesehen habe. Da ich 1,55 Meter groß bin, müssen sie gut einen 1,20 Meter hoch sein.

»Komm, ich zeig dir das Obergeschoss«, schlägt er vor und ist schon halb oben.

Als ich den oberen Treppenabsatz erreiche, merke ich, dass es dort oben ziemlich dunkel ist. Ein paar Türen sind geschlossen, und er zeigt auf eine von ihnen.

»Meine Mitbewohnerin ist da drin«, erklärt er. »Sie schläft.«

Das finde ich eigenartig. Ob er von Anthonys und Angies Mutter geschieden ist? Vermutlich hat er jetzt eine Mitbewohnerin, damit er die Miete leichter aufbringen kann.

»Schau doch mal rein«, fordert er mich auf.

Da der Türgriff fehlt und an seiner Stelle nur ein großes Loch in der Tür klafft, bücke ich mich, um hindurchzuschauen. Drinnen schläft ein Mädchen bei laufendem Fernseher. Ich blicke nur eine Sekunde hinein, weil es mir unangenehm ist, in das Zimmer einer anderen zu schauen.

Wir gehen weiter in ein großes Schlafzimmer, dann in ein kleineres. Als ich mich umdrehe, um es zu verlassen, versperrt er auf einmal die Tür.

»Was machen Sie?«, frage ich bestürzt.

»Zieh deine Hose runter!«

»Nein!«, schreie ich. Ich gerate in Panik und kann nicht glauben, was er eben gesagt hat. »Bringen Sie mich nach Hause! Ich will nach Hause.«

Auf der anderen Seite des Flurs schläft ein Mädchen und unten ist seine Tochter. Was also kann er mir schon tun?

Zum ersten Mal schaue ich ihm jetzt richtig ins Gesicht. Er dürfte in den Vierzigern sein, älter als meine Mom. Er hat braunes, schütter werdendes Kraushaar, dunkle Augen und einen Kinnbart. Er ist etwa 1,70 Meter groß und stämmig mit einem leichten Bierbauch. Im Einkaufszentrum wäre er mir bestimmt nicht aufgefallen.

»Zieh deine Hose runter!«, befiehlt er erneut.

Plötzlich wirkt er so furchteinflößend – seine Stimme, seine Augen, sein Auftreten –, dass ich tue, was er sagt. Weinend stehe ich mit meinen Jeans an den Knöcheln da. Warum habe ich das nicht kommen sehen? Wie konnte ich nur so dumm sein? Dass ich seine Kinder kenne, bedeutet doch noch lange nicht, dass ich mit ihm in seine Wohnung gehen muss.

Er zieht nun ebenfalls seine Hose herunter und fängt an, mit sich zu spielen. Es ist eklig.

Hinter ihm ist ein Fenster mit Spitzengardinen. Er wirft einen Blick hinaus und sagt etwas von Polizei. Als ich hinausschaue, sehe ich ein Polizeiauto, das auf der anderen Straßenseite parkt. Die Polizisten sind so nah! Doch er warnt mich, dass er mir wehtun wird, wenn ich einen Laut von mir gebe.

Dann tut er rasch, was er tun muss, und als er fertig ist, verändert sich seine Stimme wieder, und er klingt wie der nette Kerl, der sich im Auto mit mir unterhalten hat.

»Ich bring dich jetzt nach Hause«, sagt er dann und fügt noch hinzu, dass ich meine Hose wieder hochziehen darf.

»Bitte«, flehe ich ihn an, »bitte, bringen Sie mich nach Hause.«

Ich fange an zu beten und bitte Gott, mich hier rauszubringen.

Wir gehen auf die Tür zu, doch dann bleibt er auf einmal stehen.

»Dreh dich um, leg dich aufs Bett und zieh deine Hose runter.«

»Nein! Nein!«, kreische ich. »Wenn Sie mich nicht sofort nach Hause bringen, rufe ich die Polizei.«

Das platzt aus mir heraus, obwohl ich natürlich weiß, dass ich niemanden anrufen kann. Denn er hat immer noch mein Telefon.

Hört seine Mitbewohnerin mich eigentlich nicht? Was geht in diesem Haus vor?

»Hilfe! Helfen Sie mir!«

Ich renne zurück in das größere Schlafzimmer und versuche, die Tür zum Flur zu öffnen. Aber da ist kein Griff. Ich packe den Griff der Tür rechts daneben, ziehe sie auf und laufe geradewegs in einen Schrank.

Jetzt bin ich gefangen, ich weine, als er mich an den Armen packt und zum Bett zerrt, wo er mir die Hose auszieht und mich vergewaltigt. Er muss über 20 Kilogramm schwerer sein als ich, und es tut sehr weh.

Als er fertig ist, steht er auf und meint: »Ich bringe dich jetzt nach Hause, aber du musst den Mund halten.«

Ich bin total verstört und weiß genau, dass er lügt.

»Ich klebe dir den Mund zu, damit du nicht schreien kannst, bis ich dich zu Hause absetze«, sagt er, greift nach einer Rolle mit grauem Klebeband, reißt ein langes Stück ab und klatscht es mir auf den Mund, von einem Ohr zum anderen.

Dann packt er meine Handgelenke und fesselt sie aneinander, das Gleiche macht er mit meinen Knöcheln. Ich erstarre, als er einen Ledergürtel hervorkramt. Will er mich damit schlagen? Oder aufhängen? Stocksteif bleibe ich stehen, während er den Gürtel langsam über dem Klebeband um meine Knöchel wickelt.

Dann holt er einen Motorradhelm aus dem Schrank, setzt ihn mir auf und drückt das Visier nach unten. Ich kann so lange etwas sehen, bis meine Tränen alles vernebeln.

»Keine Sorge«, sagt er. »Das tue ich nur, damit ich dich ins Auto tragen und nach Hause bringen kann.«

Tatsächlich hebt er mich hoch und wirft mich über die Schulter. Mein Kopf baumelt an seinem Hintern und mein ganzer Körper schmerzt. Er trägt mich hinunter ins Erdgeschoss, aber dann bringt er mich in den Keller.

Dort setzt er mich auf den kalten Betonboden und lehnt mich an eine Stange. Dann holt er eine dicke, rostige Kette, wie ein Abschleppwagen sie vielleicht benutzt, um ein Auto zu ziehen, und wickelt sie um meinen Bauch und um die Stange. Die Enden sichert er mit einem Vorhängeschloss, den Schlüssel steckt er in seine Tasche.

Als Nächstes zieht er mir den Motorradhelm vom Kopf, schaltet einen kleinen Schwarzweißfernseher ein und stellt ihn auf einen winzigen Hocker.

»Sei still. Schrei nicht. Versuch nicht zu fliehen«, warnt er mich mit seltsam ruhiger Stimme, während er die einzige nackte Glühbirne ausschaltet und nach oben geht.

Jetzt bin ich allein in diesem unheimlichen Keller. Als ich mich umschaue, sehe ich Kleiderhaufen, Kisten voller Kram und staubige Regale mit allerlei Nippes. Es riecht nach nassem Schmutz, als wäre der Keller seit Jahren nicht gelüftet worden.

Ich muss hier raus. Ich führe die gefesselten Hände an mein Gesicht und ziehe mit den Fingerspitzen am Klebeband auf meinem Mund. So lockere ich es ziemlich schnell.

»Hilfe, so helft mir doch!«, schreie ich immer wieder. »Bitte! Hört mich denn niemand?«

Ich beiße ins Klebeband an meinen Handgelenken und kaue es Stück für Stück durch. Es dauert ewig, doch endlich sind meine Hände frei und ich befreie meine Knöchel rasch vom Gürtel und vom Klebeband.

Jetzt sind meine Nägel abgebrochen und meine Fingerkuppen bluten. Ich winde mich, um die Kette vom Brustkorb abzustreifen, aber sie sitzt so straff, dass meine Bluse dabei zerreißt. Meine Jeans sind ziemlich dick, also kämpfe ich mich aus ihnen heraus und hoffe, aus der Kette schlüpfen zu können, sobald ich ein wenig mehr Spielraum habe. Doch es geht nicht.

»Bitte helft mir!«, schreie ich immerzu, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.

Er wird zurückkommen und mich umbringen. Ich werde sterben, weil ich mit einem Vater mitgefahren bin, der sich als Psychopath entpuppt hat.

Ich habe keine Ahnung, wie spät es mittlerweile ist, doch während ich mit der Kette gekämpft habe, sind viele Fernsehshows über den Bildschirm geflimmert. Also müssen Stunden vergangen sein. Als ich endlich an der Stange einschlafe, läuft gerade Cops.

Ich erwache vom Geräusch schwerer Schritte. Mein Körper verspannt sich. Er kommt zurück. Wie lange habe ich wohl geschlafen?

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht versuchen zu fliehen«, tadelt er mich fröhlich und betrachtet das zerrissene Klebeband. Es ist sonderbar, dass er so gute Laune hat und mich so freundlich anspricht, als ob wir Freunde wären, die ein Spiel spielen.

»Ich habe uns Frühstück mitgebracht«, fährt er fort und zeigt mir eine Tüte von Burger King. »Aber zuerst duschen wir.«

Daraufhin öffnet er das Schloss, lockert die Kette und hilft mir dabei aufzustehen. Da ich meine Jeans nicht wieder anziehen konnte, trage ich nur meine Bluse und Unterwäsche. Er geht mit mir die Treppe hinauf, bleibt dicht hinter mir und schiebt mich ins Bad neben der Küche, wo er mir befiehlt, mich auszuziehen und zu duschen. Dann zieht auch er sich aus und kommt zu mir. Mit einem Waschlappen reibt er die Klebereste von meinem Mund und den Ohren weg.

»So, das muss alles weg«, säuselt er honigsüß, als würde er ein Baby baden. Dann beginnt er mir die Haare zu waschen.

Mich ekelt vor seinen Berührungen. Ich will weglaufen, aber ich bin gefangen.

Ich habe Angst, dass er wieder über mich herfällt, aber er verlässt die Dusche und holt Pflaster für meine blutigen Finger. Dann zieht er sich an und gibt mir eine Jogginghose und eines seiner Hemden. Danach bringt er mich ins Wohnzimmer. Wir setzen uns aufs Sofa, und er reicht mir ein kaltes Schinken-Ei-Hörnchen.

Er redet, aber ich stehe zu sehr unter Schock, um zu begreifen, was er sagt.

»Jetzt ist es Zeit, wieder nach oben zu gehen«, meint er, als ich aufgegessen habe.

Habe ich eine Wahl? Ich folge ihm die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer, wo er mich vergewaltigt hat.

»Leg dich einfach hin und entspann dich«, fordert er mich auf und zeigt auf die Matratze ohne Bettlaken.

Er legt sich neben mich und ich bin schon auf das Schlimmste gefasst. Doch er scheint erschöpft zu sein, als wäre er die ganze Nacht wach gewesen. Mindestens eine Stunde vergeht, vielleicht mehr. Er schläft ein paar Zentimeter neben mir. Ich traue mich nicht, mich zu bewegen oder einen Laut von mir zu geben. Meine Mom und Beth müssen mittlerweile außer sich vor Sorge sein. Bestimmt fragen sie sich, was mit mir passiert ist. Und ich fürchte mich vor dem, was gerade mit mir passiert.

Plötzlich wacht er auf, steht vom Bett auf und sagt: »Lass uns nach unten gehen.«

Er bringt mich zurück in den Keller, lehnt mich an die Stange und legt die Kette eng um meinen Bauch. Ich weine und weine, doch er dreht nur den Fernseher lauter, schaltet das Licht aus und geht wortlos die Treppe hinauf.

Es ist so dunkel.

Dann fällt es mir ein: Ich habe heute Geburtstag.

25. April 2003: allein in der Dunkelheit

Amanda

Er hat mich nach oben ins Schlafzimmer gebracht, in dem er mich zum ersten Mal vergewaltigt hat. Dort ist es zwar nicht so finster wie im Keller, wo ich die beiden ersten Nächte verbracht habe, aber dunkel ist es auch. Die beiden kleinen Fenster sind mit schweren grauen Vorhängen bedeckt, die wahrscheinlich einmal weiß waren.

Ich muss auf dem riesigen Bett auf der Seite liegen, sodass meine Zehen über die Kante hängen, weil er mich an den Heizkörper gekettet hat. Das Schloss an der rostigen Kette um meinen Brustkorb fühlt sich wie ein großer Stein an. Sein Gewicht macht es mir schwer einzuschlafen, und ich bekomme große violette Blutergüsse.

Gestern kam er zu mir und wickelte alte Socken um die Kette, damit ich weniger Schmerzen hätte. Ich glaube aber nicht, dass ich ihm leid tat, er hatte wohl einfach genug von meinen Klagen. Da er die Socken mit Plastikkabelbinder befestigt hat, schneiden mir die jetzt ins Fleisch.

Die Kette ist so lang, dass ich neben dem Bett stehen und meine »Toilette« benutzen kann – einen großen Abfalleimer aus Kunststoff. Er legt einen Müllsack darüber, aber es stinkt trotzdem so schrecklich, dass mir schlecht wird.

Die Kette ist nicht so lang, dass ich die Vorhänge öffnen oder den Schalter für die Deckenlampe erreichen könnte. Wenn er morgens zur Arbeit geht und das Licht ausschaltet, muss ich im Dunkeln bleiben, bis er zurückkommt. Er hat mir erklärt, dass ich nicht an den Lichtschalter heranreichen darf, damit ich das Licht nicht ein- und ausschalten und dadurch die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregen kann.

Er ist vorsichtig. Immer wieder schaut er aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass niemand das Haus beobachtet. Jedes Mal, wenn er aus dem Haus geht, lässt er oben im Flur ein Radio laute Musik spielen, damit mich niemand schreien hört. Es fällt mir sogar schwer, den Fernseher zu hören. Ist das Mädchen, das er seine Mitbewohnerin nennt, noch da? Wer ist sie und wieso hilft sie mir nicht? Nach den ersten Nächten im Keller habe ich vom Schreien die Stimme verloren; darum lasse ich es jetzt sein. Ich weiß, dass mich bei dem Radiolärm sowieso niemand hören kann. Manchmal bleibt er die ganze Nacht weg, dann kann ich wegen des Lärms nicht schlafen, nicht einmal denken. Ich habe ständig Kopfweh.

Er hat eine komische Schaufensterpuppe, einen Frauenrumpf mit schwarzem Haar, dem er ein rotes Netzträgerhemd anzieht. Die Puppe stellt er in der Küche auf. Manchmal legt er sie auch auf das Wohnzimmersofa, wenn er weggeht. Er sagt, wenn ein Einbrecher versucht, ins Haus zu gelangen, wird er den Torso sehen und glauben, jemand sei zu Hause.

Seinen Vornamen kenne ich immer noch nicht. Ich kann es nicht fassen, dass ich seine Kinder kenne. Anthony habe ich ein Mal getroffen, und Angie habe ich schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Warum hab ich nur zugestimmt, mitzugehen und sie zu besuchen? Ich hatte einen schlechten Tag und traf eine schlechte Entscheidung. Deshalb werde ich wahrscheinlich sterben.

Ich hasse es, seine schäbigen, ausgebeulten Kleider zu tragen. Ich muss sogar seine Unterwäsche anziehen – große, hässliche Unterhosen. Es fühlt sich an wie Gefängniskluft. Das Einzige, was ich von meinen Sachen behalten habe, ist der BH, den ich trug, als ich kam. Früher fand ich meine Arbeitsuniform schrecklich, aber jetzt würde ich alles darum geben, sie zurückzubekommen.

Wenn ich Glück habe, bekomme ich einmal am Tag etwas zu essen. Er bringt mir etwas von McDonald´s oder Burger King mit, wenn er nach Hause kommt. Oft ist er um 17 oder 18 Uhr wieder da, manchmal aber auch erst um Mitternacht. Ich bin dann so hungrig.

Wenn ich gegessen habe, muss ich mich ausziehen und er tut es wieder.

Nach vier Tagen in Gefangenschaft, fragt er plötzlich: »Willst du runterkommen und fernsehen?«

Noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen ist wirklich das Letzte, was ich möchte. Aber ich würde schon gerne diesen Raum verlassen und den Gestank und die Ketten wenigstens ein paar Minuten loswerden.

Also antworte ich: »Okay«, und versuche, ihn dabei nicht anzusehen.

Er löst die Kette und führt mich nach unten. Die Tür zum Zimmer seiner Mitbewohnerin ist geschlossen. Wir setzen uns aufs Sofa, und er schaltet die Nachrichten ein. Meine Mom und Beth sind auf Kanal 5 zu sehen, sie werden in unserem Haus interviewt.

»Es war eine schwere Woche und es wird immer schwerer«, sagt meine Mom zum Reporter und wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Sie sitzt auf dem Sofa, wo ich mich oft an sie geschmiegt habe. »Sie ist einfach nicht nach Hause gekommen. Vielleicht hat jemand sie entführt und unter Drogen gesetzt oder so. Bitte, bringt sie nach Hause.«

Ich weine, bin aber auch froh, dass in den Nachrichten über mich berichtet wird, weil das bedeutet, dass man nach mir sucht. Vielleicht sieht ja jemand dieses Interview und erinnert sich an etwas.

»Deine Mutter sieht echt verstört aus«, sagt er, doch seine Stimme drückt keinerlei Mitgefühl aus. Es ist nur eine Feststellung, als habe er mit ihrem Kummer nichts zu tun. Dann schaltet er hin und her und sucht nach weiteren Nachrichten über mich. Schließlich findet er etwas auf Kanal 8 und Kanal 3. Er kann die Augen nicht vom Fernseher abwenden.

Ich sehe ihn an. Er hat einen sonderbaren Gesichtsausdruck. Dann begreife ich: Er ist stolz. Er bewundert seine Arbeit und hat das Gefühl, etwas Großes zu leisten.

Er hat das Gefühl, wichtig zu sein.

27. April

Es ist Sonntag. Ich bin seit sechs Tagen hier. Bisher hat er mich mindestens 25 Mal vergewaltigt, vier oder fünf Mal am Tag.

Um 5 Uhr morgens geht er zur Arbeit. Gegen 8 oder 9 Uhr kommt er zurück und zieht seine Fahreruniform aus – schwarze Jeans und ein burgunderrotes Hemd mit einem kleinen Logo der öffentlichen Schulen von Cleveland. Wenn er mit mir fertig ist, geht er wieder arbeiten und fährt bis Mittag kleine Kinder herum. Dann kommt er nach Hause und missbraucht mich erneut.

Am Abend tut er es wieder – mitunter mehrere Male. Meine Ketten nimmt er dabei nie ab.

Er sabbert mir ins Gesicht und scheint auf meine Brüste versessen zu sein. Immer fasst er meine Brust an und sagt: »Diese Möpse gehören mir.«

Mit der Zeit begreife ich, dass es ihm umso besser gefällt, je mehr ich leide, und dass es schneller vorübergeht, wenn ich mich nicht wehre. Es wäre ohnehin sinnlos. Ich bin an einen Heizkörper gekettet – wie könnte ich fliehen?

Ich habe ihn gebeten, mir etwas zum Schreiben zu geben. Er fragte, ob ich ein Tagebuch führen wolle. Ich sagte ja, und heute brachte er mir ein blaues Tagebuch mit Blumen auf dem Umschlag mit.

»Du darfst schreiben, was du willst«, sagt er. »Aber erwähne keine Namen.«

Wahrscheinlich wird er lesen, was ich schreibe, daher achte ich genau auf meine Worte. Aber ich will an meine Familie schreiben. Vielleicht fühlt sich das so an, als würde ich mit ihnen telefonieren oder ihnen einen Brief schicken. Ich vermisse sie so sehr. Ich will ihnen mitteilen, dass ich lebe.

Als er geht, beginne ich beim Licht des Fernsehers mit meinem ersten Eintrag:

27.4.03. Sonntag. Eine Woche.

Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Mom sooooo sehr vermissen würde! Aber es ist sooo wahr! Du weißt erst, was du hast, wenn es nicht mehr da ist. Ich kann es nicht erwarten, wieder nach Hause zu dürfen. Ich bin jetzt 17, aber ich habe kein Leben. Aber er hat gesagt, ich sei jung, und er ließe mich noch vor dem Sommer nach Hause. Noch zwei Monate! Morgen bin ich eine Woche hier – so lange habe ich überlebt. Ich werde versuchen, nicht darüber nachzudenken. Aber es ist schwer.

Ich habe meine Mom und Beth im Fernsehen weinen sehen. Meine Mom sagte: » Mandy, ich liebe dich«, und ich fing an zu weinen. Ich liebe dich auch, Mom. Wir sehen uns baaaaald! In Liebe, Amanda.

Es tut gut, das zu schreiben. Ich bin froh, dass sie nicht wissen, wie schrecklich es hier ist.

Eminems neuer Song »Sing for the moment« läuft gerade im Radio. Ich kann es kaum fassen, dass er ein wenig Musik von Aerosmith enthält, den Refrain von »Dream on«, dem Lieblingslied meiner Mutter. Während ich zuhöre, tauche ich ganz in die Musik ein und bin wieder ein paar Minuten lang zu Hause. Ich sehe mich dort mit meiner Mom, frei und in Sicherheit.

Ich weiß, dass ich nicht immer die beste Tochter gewesen bin. Manchmal habe ich mich wegen irgendwelcher blöder Kleinigkeiten mit ihr gestritten. Ich wünschte, ich hätte das nicht getan. Wenn ich hier rauskomme, werde ich es nie mehr tun.

Er entscheidet, was ich esse, was ich sehe und was ich höre. Aber er kann nicht bestimmen, was ich denke, darum lasse ich meinen Geist herumwandern, wenn er sich auf mich legt.

Mein Zimmer ist ziemlich leer, aber ich habe eine Idee. Ich habe ein paar Bilder von meiner Mom, meinem Dad und meinen Nichten in meiner Handtasche und werde daraus ein Familienalbum machen. Um einen Rahmen zu basteln, reiße ich sorgfältig eine leere Schachtel Frühstücksflocken auseinander, die er mir gegeben hat. Ich kaue einen Kaugummi und zerpflücke ihn in winzige Stücke, die ich auf die Rückseite der Fotos klebe. Dann drücke ich sie auf den Karton und stelle sie auf den Tisch neben mein Bett.

Wenn er schreckliche Dinge mit meinem Körper tut, schaue ich meiner Mom ins Gesicht. Ich stelle mir vor, wie sie lacht. Ich sehe, wie sie ihre Zigaretten raucht und ins Telefon plappert oder in der Küche etwas kocht. Ich schaue ihr in die Augen und verliere mich in ihnen.

Meine Mom und ich stehen das durch.

28. April

In den Mittagsnachrichten sehe ich wieder meine Mom. Sie zeigt einem Reporter mein Schlafzimmer und die rosa Schachtel, in der ich mein Geld aufbewahre. Sie ist sich sicher, dass ich keinen Grund hatte, von zu Hause wegzulaufen. Wer würde schon in einer Burger-King-Uniform abhauen und alle Kleider und 100 Dollar in der Kommode zurücklassen? Sie sagt, so ein Kind sei ich nicht. Das stimmt.

Es ist so unheimlich, Bilder von mir in den Nachrichten zu sehen. Meine Mom führt fremde Leute durch mein Zimmer. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal im Fernsehen zu sehen sein werde. Wir sind eine normale, ganz gewöhnliche Familie, etwas chaotisch wie alle anderen. Wir unterscheiden uns nicht von all den anderen Familien. Wir müssen uns anstrengen, um über die Runden zu kommen.

Jetzt kennt jeder meinen Namen, und alle halten nach mir Ausschau. Ich lebe in einer Großstadt in der Nähe des Zentrums und der Zuschauermassen bei den Baseballspielen der Indians. Auch die Rock and Roll Hall of Fame ist nicht weit. Hat mich denn niemand in seinen Kleinbus einsteigen sehen? Vielleicht hat ja ein Nachbar beobachtet, wie ich in dieses Haus gegangen bin? Jemand muss mich retten.

In den Nachrichten heißt es, das Wetter sei heute schön, aber ich würde nicht einmal einen Wirbelsturm mitbekommen. Das einzige Licht kommt von dem Bildschirm des kleinen Schwarzweißfernsehers, den ich bereits im Keller hatte. Er ist ungefähr 30 Zentimeter hoch und hat eine Zimmer­antenne. Ich habe einen kleinen Stuhl am Fuße des Bettes stehen und schaue Days of Our Lives, Passions und Maury, die Shows, die meine Mutter auch gerne mag. Es tröstet mich, dass wir vielleicht dieselbe Sendung gleichzeitig sehen.

Alles, was ich den ganzen Tag über höre, ist dieses nervtötende Radio im Flur. Wenn er abends zu Hause ist, schaltet er es aus, dann kann ich Rasenmäher und vorbeifahrende Autos wahrnehmen. Immer noch versuche ich, im Geiste wegzugehen, wenn er mich vergewaltigt, aber es ist schwer.

»Du hast doch gesagt, du bringst mich nach Hause – wann wirst du das tun?«, frage ich ihn, als er sich anzieht.

»Du bist noch jung. Du hast so viel Zeit. Was sind da schon ein paar Monate?«

Obwohl ich wütend bin, antworte ich ruhig: »Für dich vielleicht nichts, aber für mich eine Menge. Was du mir genommen hast, ist mein Leben.«

»Vielleicht in der letzten Juniwoche«, beruhigt er mich. »Hab einfach ein bisschen Geduld.«

Noch zwei Monate, wenn er nicht lügt. Ich traue ihm zwar nicht, aber es hilft mir, daran zu denken, dass es in zwei Monaten vorbei sein wird. So lange halte ich es aus. Also beschließe ich, ihm zu glauben.

Ich bin nicht oft in die Kirche gegangen, aber ich weiß, dass es einen Gott gibt und dass er mit mir etwas anderes vorhaben muss als das.

Eines Tages kommt er um Mitternacht herein, setzt sich auf mein Bett und hält mein Telefon in der Hand.

»Ich habe deine Mutter angerufen«, behauptet er, »und ihr erzählt, dass wir uns lieben und dass du jetzt meine Frau bist.«

Entsetzt fange ich an zu weinen und frage: »Du hast mit meiner Mom gesprochen?«

»Ja, ich habe sie mit deinem Telefon angerufen«, antwortet er. »Sie hat gefragt, wann du nach Hause kommst, und ich habe ihr gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich habe ihr auch erzählt, dass es dir gut geht.«

»Darf ich mit ihr sprechen?«, frage ich. »Sie soll wissen, dass ich okay bin.«

Doch er ignoriert mich. »Mit deiner Schwester Beth habe ich auch geredet. Ich habe beiden gesagt, dass du okay bist und dass du jetzt bei mir bist.«

Vielleicht ist das ja gut – immerhin wissen sie nun, dass ich am Leben bin. Oder es ist schlecht, weil sie denken, dass ein Verrückter mich entführt hat, und fürchten, dass er mir etwas antut. Warum hat er sie angerufen? Denkt er vielleicht, sie suchen nicht nach mir, wenn sie glauben, ich sei weggelaufen? Da kennt er meine Familie schlecht. Sie werden nicht aufhören, mich zu suchen. Ich wette, er hat sie gar nicht angerufen.

Er lässt mich ein paar Nachrichten auf meinem Handy abhören. Eine ist von meiner kleinen Nichte Mariyah: »Bitte komm nach Hause.« Eine andere ist von meiner Freundin Mary von Burger King. Sie hatte wohl noch nicht mitbekommen, dass ich vermisst wurde, denn sie fragte: »In welchem Haus wohnst du? Ich bin auf dem Weg zu deiner Geburtstagsparty.«

Als ich diese Stimmen höre, weine ich so heftig, dass ich kaum mehr atmen kann.

»Darf ich sie bitte anrufen und ihnen sagen, dass ich lebe?«, bettle ich.

»Du darfst ihnen schreiben«, erwidert er. »Aber es gibt Regeln. Du musst ihnen sagen, dass du weggelaufen bist. Du bist freiwillig gegangen, es geht dir gut, und sie sollen sich keine Sorgen um dich machen.«

»Das werde ich nicht tun«, lehne ich ab. »Ich werde nie meiner Familie gegenüber behaupten, ich sei weggelaufen. Das würde ihnen zu sehr wehtun. Es ist mir lieber, wenn sie im Ungewissen bleiben, was mit mir passiert ist, als dass sie glauben, ich hätte sie verlassen.«

»Na gut«, sagt er.

Dann vergewaltigt er mich wieder.

29. April

Ich war den ganzen Tag über nicht in den Nachrichten zu sehen. Immer wieder läuft ein Bericht über verdorbenen Kopfsalat, von dem man krank wird. Ich glaube nicht, dass er meine Mom tatsächlich angerufen hat. Wenn er es getan hätte, wäre das doch eine wichtigere Nachricht als Salat.

In den Nachrichten habe ich von Elizabeth Smart gehört, dem Mädchen in Utah, das entführt und vorigen Monat freigelassen wurde. Der Irre, der sie gekidnappt hat, behauptete ebenfalls, sie sei seine Frau. Er hat sie neun Monate eingesperrt! Wenn sie so lange überleben kann, dann kann ich das auch.

Er ist wieder da und sagt, er wolle die ganze Nacht bei mir bleiben. Immer wieder nennt er mich seine »vorübergehende Frau«.

Ich rutsche bis an die Bettkante, so weit weg von ihm wie möglich. Aber er schmiegt sich an meinen Rücken und greift nach meiner Hand. Glaubt er, wir seien ein Paar?

Ich liege still, bis er einschläft. Dann entziehe ich ihm meine Hand.

Er hat mein Leben und meinen Körper zerstört. Ich bin schmutzig. Meine Toilette ist ein Abfallkübel. Ich bin hungrig, angekettet und ich friere.

Und er will meine Hand halten.

30. April

Am meisten freue ich mich darauf, nach unten ins Bad zu gehen. Dieses schäbige kleine Badezimmer ist zum Höhepunkt meiner Woche geworden. Ich finde es furchtbar, schmutzig zu sein. Heute kann ich endlich duschen und mir die Zähne putzen – nach Tagen. Es fühlt sich gut an.

Langsam spüre ich, wie das Wasser ihn von mir abspült, doch dann kommt er in die Duschkabine.

Ich überlege, mich umzubringen. Aber dann hätte er gewonnen.

Ich muss mich zusammenreißen, bis ich einen Weg finde zu fliehen. Um nicht total depressiv zu werden, versuche ich, mich auf irgendetwas Gutes zu konzentrieren. Heute habe ich heißes Wasser gespürt. Ich habe Eminem im Radio gehört. Ich habe in der Tasche seiner alten Jogginghose einen Cent gefunden und beschlossen, dass er meine Glücksmünze ist. Ich habe Bilder meiner Eltern, die mich daran erinnern, dass ich stark bleiben muss, damit ich sie wiedersehe.

Diese Ketten sind so eng, dass sie mir den Bauch einschnüren, obwohl sie mit Socken umwickelt sind. Schlafen ist unmöglich, weil ich mich beim Umdrehen immer wieder auf das Vorhängeschloss lege. Aber noch schlimmer als die körperlichen Schmerzen ist die seelische Folter, denn ich weiß nie, was als Nächstes geschieht.

Mit der Zeit bekomme ich mit, dass es Fernsehshows zu allen möglichen Themen gibt: Kochen, Tanzen, Sprachen. Ich werde eine suchen, durch die ich Meditieren lernen kann, damit es meinem Geist leichter fällt, diesen Ort zu verlassen.

Ich schließe die Augen.

»Bitte, Herr, lass das hier aufhören. Bitte lass mich nach Hause zu meiner Familie zurückkehren. Sorge für sie, und bring mich bald nach Hause.« Ich wiederhole es immer wieder.

Ich drehe mich zum Foto meiner Mom um, küsse es und sage ihr gute Nacht.

Morgen ist der erste Mai. Ein neuer Monat.

So denke ich über die Zeit: Jeder Tag, der vorübergeht, bedeutet, dass ich der Freiheit und meinem Zuhause einen Tag näherkomme.

Die Hoffnung ist alles, was ich habe.

Mai 2003: die Frau im anderen Zimmer

1. Mai

Amanda

»Willst du mir bei der Wäsche helfen?«

Nein, ich will seine Wäsche nicht waschen. Aber ich will aus diesem Zimmer raus, wenigstens für ein paar Minuten, selbst wenn ich dafür seine schmuddeligen Kleider waschen muss. »Okay, klar«, antworte ich daher, und er nimmt einen Schlüssel vom Schlüsselanhänger an seinem Gürtel und öffnet das Schloss an meinem Bauch. Die Kette fällt zu Boden, und ich fühle mich um 20 Kilogramm leichter.

Als wir im Flur stehen, zeigt er auf die geschlossene Tür des Zimmers, in dem ich vor zehn Tagen das schlafende Mädchen gesehen habe.

»Wir müssen in diesem Zimmer sauber machen«, erklärt er und schließt die Tür auf.

Ich habe an sie gedacht. Warum nennt er sie seine Mitbewohnerin? Ist sie an dem allem beteiligt? Ich habe schon überlegt, laut nach ihr zu rufen, falls sie überhaupt noch da ist, aber ich weiß ja nie genau, wann er zu Hause ist und wann nicht. Manchmal tut er so, als würde er gehen, dann schleicht er sich wieder nach oben und öffnet meine Tür. Angeblich will er mich damit prüfen: »Ich weiß noch nicht, ob ich dir trauen kann.«

Mir fällt auf, dass ihre Tür ebenfalls außen verriegelt ist. Bestimmt ist sie auch eine Gefangene. Ich mache mir Sorgen um sie.

Nachdem ich eingetreten bin, sehe ich sie auf dem Bett sitzen. Wir schauen einander an, und ihr Gesichtsausdruck verrät mir, was sie denkt. Sie scheint benommen zu sein. Ich kann nicht sehen, ob sie angekettet ist, weil sie unter einer Decke sitzt. Sie ist sehr klein und sieht älter aus als ich.

»Das ist meine Mitbewohnerin«, sagt er, ohne ihren Namen zu nennen. »Und das ist Amanda«, stellt er mich vor.

Wir sagen beide »Hallo«. Keine von uns spricht ein weiteres Wort.

Dann reicht er mir einen Plastikmüllsack und befiehlt: »Sammle den Müll ein.«