Hormesis - Richard Friebe - E-Book

Hormesis E-Book

Richard Friebe

4,8

Beschreibung

Stress ist gut und Gift gesund – es kommt nur auf die Dosis an! Hormesis als Schlüssel zu einem gesünderen Leben. Jeder Mensch ist von ganz alleine stark, und das ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Denn fast alles, was als gesund gilt, ist in Wirklichkeit stressig und giftig. Doch es gibt eine evolutionär uralte Kraft, die sich all dies Böse vornimmt und daraus Gutes schafft. Sie heißt Hormesis. Der Biologe und Autor Richard Friebe lüftet ihr Geheimnis. Wenn wir sie nutzen, wenn wir also Gifte und Stressfaktoren richtig einsetzen, kann das der Schlüssel zu einem gesunden, produktiven, langen Leben sein.

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Richard Friebe

HORMESIS

Das Prinzip der Widerstandskraft

Wie Stress und Gift uns stärker machen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2016 Carl Hanser Verlag München

www.hanser-literaturverlage.de

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-44311-2

E-Book-ISBN 978-3-446-44325-9

VORWORT

EINLEITUNG

TEIL I

DOSIS UND GNOSIS

1 WAS IST GESUND?

DAS LEBEN IST HART – UND WARUM BIST DU NOCH NICHT TOT?

2 WAS IST GESUNDHEIT?

PARTY-SMALLTALK, SCHNAPPSCHÜSSE – UND TRUGSCHLÜSSE VOM KOMPLETTEN WOHLBEFINDEN

3 DIE GUTE MÄR VOM GUTEN MEHR

TEN APPLES A DAY UND SIEBEN FÄSSER SPÄTBURGUNDER

4 DOSIS-TANGO

SCHWARZE SCHACHTELN SIND NICHT LINIENTREU

5 DER DARWIN-TEST

SINNSUCHE IN 3,5 MILLIARDEN JAHREN

6 DIE GUTE ALTE ZEIT

ESSEN, FASTEN, HASTEN, RASTEN, STRESSEN, ENTLASTEN UND DAS PLUMPSKLO

7 ANPASSEN ODER ABHÄNGEN

VON SELBSTREPARIERENDEN AUTOS UND SELBSTZERSTÖRERISCHEN KARTOFFELN

8 BIS HIERHER: WAS HORMESIS IST

TEIL II

VERSUCHE UND IRRTÜMER

9 ALSO SPRACH PARACELSUS

HERR VON HOHENHEIM, HERR SCHULZ UND EIN HALBES JAHRTAUSEND HORMESISFORSCHUNG

TEIL III

STRESSOREN UND REAKTIONEN

10 STRAHLEN UND ZAHLEN

GAR KEIN GAMMA IST AUCH KEINE LÖSUNG

11 HEISS UND KALT

PER MERTESACKER, PFARRER KNEIPP UND DAS GEFALTETE EIWEISS

12 KEINE FREIHEIT FÜR DIE RADIKALE

OX, ANTI-OX UND DIE ELEKTRONIK DER PARTNERSUCHE

13 ESSEN ODER NICHT ESSEN

FASTEN FÜR DIE VOLKSGESUNDHEIT UND DIE MAGIE DES INTERVALLS

14 ES LEBE DER SPORT

TRAINIEREN, TRAINIEREN, SUPERKOMPENSIEREN. UND REPARIEREN

15 STRESS BAUEN SEELE AUF

ZUCKERBROT, PEITSCHE UND DIE STADIONRUNDE MIT DEM THERAPEUTEN

16 LEISTUNG AUS LEIDEN

VON LERNSTRESS, SCHRUMPFHIRNEN UND DER KALABARBOHNE

TEIL IV

MOLEKÜLE UND VERMITTLER

17 WEHREN, PUTZEN, REPARIEREN

MECHANISMEN DER HORMESIS

TEIL V

KRANKHEITEN UND GESUNDHEITEN

18 STRESS OHNE ANTWORT

DIABETES, DAS GIFT DER GEISSRAUTE UND DAS PROBLEM MIT DER SCHWERELOSIGKEIT

19 VON HERZEN

ZIGARETTEN, INFARKTE UND DIE VORSORGE DANACH

20 THE WAR ON CANCER

KREBSZELLEN MÖGEN KEINEN STRESS

21 GIFT UND STRESS FÜR VIELE FÄLLE

VON BRENNNESSELN, HARTEN KNOCHEN, SONNENBRAND UND MÜSSIGGANG

TEIL VI

STRESS UND STRATEGIE

22 DIE REIZE DES LANGEN LEBENS

WER NOCH NICHT ABTRETEN WILL, MUSS TRETEN

23 STRESS DEN VOLKSKRANKHEITEN

DAS TRIPLE IST MÖGLICH

24 SCHÖNE FERIEN

VERSTRAHLT AM STRAND, VERGIFTET IM RESTAURANT UND GUT ERHOLT

25 WAS EUCH NÜTZT ...

MANCHMAL HILFT HORMESIS NUR DEN ANDEREN

TEIL VII

GEOMETRIE UND PHILOSOPHIE

26 YIN UND YANG

IM DUALEN SYSTEM LEBEN HAT ALLES GUTE WIE SCHLECHTE SEITEN. DAS IST GUT SO

27 DIE INNERE KRAFT

HÜRDEN, SPRINTER, SCHMETTERLINGE UND MAGIEFREIE SELBSTHEILUNGEN

28 KURVENDISKUSSIONEN

J, U, X, Y – UND BEGEHRTE PLÄTZE IM NADIR

TEIL VIII

ESSENZ UND KONSEQUENZ

29 DIE PARACELSISCHE WENDE

DAS NEUE BILD DER WIRKLICHKEIT UND EIN GESCHENK IN SCHWIERIGEN ZEITEN

QUELLEN UND ERLÄUTERUNGEN

ANMERKUNGEN

»Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.«

Paracelsus, Septem Defensiones, 1538

VORWORT

Dieses Buch ist ein Risiko. Nicht nur für den Verlag, der auf den Umschlag in großen Buchstaben einen Begriff schreibt, den die allermeisten noch nie gehört haben. Es ist auch ein Risiko für den Autor, einen Wissenschaftsjournalisten, der auf den folgenden Seiten etwas beschreibt, das vielen unerhört und vielen wohl auch gefährlich vorkommen wird.

In diesem Buch steht, dass vieles, was als gesund gilt, im Grunde giftig ist. In diesem Buch steht auch, dass Gifte oft letztlich gar nicht giftig sind und sogar Strahlung letztlich oft gar nicht schädlich wirkt, sondern sogar das Gegenteil der Fall sein kann. Folgende Behauptung allerdings steht nicht in diesem Buch: dass Strahlung generell nicht gefährlich und Gift generell nicht giftig ist. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der entscheidende überhaupt für das Thema dieses Buches.

Wer informiert darüber diskutieren will, sollte dieses Buch lesen. Nicht nur Auszüge oder Zwischenüberschriften oder Kommentare, die andere darüber abgeben.

Wir haben versucht, es nicht länger und nicht komplizierter zu machen, als es sein muss. Wir glauben, es ist ausgewogen und differenziert. Wir sind sicher, dass es auf dem Stand der Wissenschaft ist. Es stellt keine Behauptungen auf, sondern präsentiert Forschungsergebnisse sowie offene Fragen und benennt die dazugehörigen Quellen.

Was uns wahrscheinlich nicht gelungen ist: bei all den Beispielen und Analogien aus der Welt des Fußballs eine für alle Leserinnen und Leser gesunde Dosis zu finden. Dafür bitten wir schon jetzt um Nachsicht.

Doch zurück zur Ernsthaftigkeit. Das, worum es in diesem Buch geht, ist elementar wichtig. Für ein Verständnis, was Gesundheit ist und wie man sie fördern kann ebenso wie für eine realistische Einschätzung der Risiken, denen Menschen in Alltag und Umwelt ausgesetzt sind.

Hormesis: Nur wenn man sie versteht, erkennt man ihre Relevanz für das tägliche Leben. Allein das, was man heute schon über sie weiß, kann das Leben eines Menschen, kann sogar Staaten und Gesellschaften verändern. Vor allem aber ist sie der Schlüssel zu so manchem biologischen Rätsel, das sich bislang noch hartnäckig einer Lösung widersetzt.

Hormesis ist ein Wort, das aus dem Griechischen stammt. Es bedeutet »Anregung« oder auch »Anstoß«. Anregung und Anstoß soll auch dieses Buch sein – zur Diskussion, zum fairen Streit, zum Nachdenken, zum Handeln. Zu mehr Forschung natürlich. Zum tieferen Verständnis dessen, was man Leben nennt. Und idealerweise zu einem besseren Leben.

Berlin und München, im Januar 2016

EINLEITUNG

Am Anfang dieses Buches steht etwas, das zugleich Philosophie und Binsenweisheit ist:

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.1

Das stammt von Nietzsche. Es ist ein hübscher Spruch. Und im täglichen Leben ist er sehr hilfreich hie und da – etwa wenn es darum geht, jemanden aufzumuntern.

Tatsächlich gibt es auffallend vieles, was Menschen zunächst sehr unter Druck setzt, stresst, ihnen wehtut, sie manchmal buchstäblich fast umbringt – sie aber letztlich besser dastehen lässt als zuvor. Und damit ist ein großer Teil dessen, worum es in diesem Buch geht, bereits umrissen.

Doch wie, warum, wo, wann, unter welchen Umständen und Voraussetzungen passiert das? Warum führt ein gewisses Maß an Stress, Gift, Krankheit, an physischer Gewalt sogar, dazu, dass man danach besser gegen Stress, Gift, Krankheit und dergleichen geschützt ist? Und was läuft dabei eigentlich im Körper ab?

All das liegt bereits weit jenseits der Binsenzone. Es ist hochaktuelle Wissenschaft. Es ist kontroverse Wissenschaft. Es ist Wissenschaft, die unser Bild des Lebens – und das eines gesundheitsförderlichen Lebens – grundsätzlich umwälzen wird.

Weitgehend unbemerkt, und nur in verstreuten Meldungen etwa aus der Sport- und Trainingsforschung unter anderem Namen aufscheinend, vollzieht sich derzeit eine Revolution in Medizin und Biowissenschaften. Sie beginnt in der Toxikologie und erstreckt sich bis hin zur Krebsforschung. Die Befunde lauten nicht selten so: Es ist alles ganz anders, als man bisher glaubte. Da wirkt Vitamin C plötzlich nicht als Antioxidans, sondern als Pro-Oxidans – also genau als das, was es eigentlich bekämpfen soll. Und das ist dann sogar gut so. Da profitieren Patienten von Maßnahmen, die jede Menge eigentlich ungünstiger, giftiger Stoffe im Körper freisetzen. Da wirkt radioaktive Strahlung plötzlich nicht krebserregend, sondern offensichtlich krebsverhindernd. Da stellt sich überraschend heraus, dass viele als gesund geltende Stoffe in Wirklichkeit Gifte sind, letztendlich aber meist tatsächlich gesundheitsförderlich wirken. Da zeigen Untersuchungen, dass bei sportlichen Aktivitäten der Körper mit Giften geflutet wird und deshalb nicht der Sport selbst, sondern nur die körperliche Reaktion auf all jene Gifte »gesund« ist. Da gibt es plötzlich Gründe, sich entspannt zurückzulehnen, wenn man die Meldung liest, dass im lokalen Trinkwasser winzige Spuren von Arsen gefunden wurden, oder Uran im Sprudel. Denn diese Spuren sind vielleicht nicht nur unbedenklich, sondern könnten sogar sehr willkommen sein.

Die Umwälzung hat also längst begonnen. Das Bild des Lebens – des gesunden Lebens vor allem – wird bereits neu gezeichnet. Der Widerwille bei vielen im Establishment ist groß – so wie jede Revolution denen Angst macht, die es sich im bestehenden System kommod eingerichtet haben. Doch die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die Geschichte unseres Austausches mit der Umwelt und all den Stressfaktoren, die aus dieser Umwelt auf uns einwirken können, wird neu geschrieben.

Unzählige Gesundheitstipps, Medikamente, Nahrungsergänzungsstoffe, Therapien, Trainingsmethoden, landwirtschaftliche Praktiken und vieles mehr beruhen schon heute auf dem Prinzip, um das es in diesem Buch geht. Doch selbst die, die jene Ratschläge geben, jene Substanzen vermarkten, mit jenen Trainingsmethoden arbeiten, jene Agrar-Praktiken anwenden, haben meist noch nie davon gehört.

Es heißt Hormesis. Es ist eines der wichtigsten, der bestimmenden Prinzipien allen Lebens

Es bedeutet schlicht, dass Dosis und Wirkung eines Giftes, eines Stressfaktors, einer Strahlung und dergleichen fast nie strikt im Sinne »Höhere Dosis – größere, aber gleichartige Wirkung« zusammenhängen. Es bedeutet, dass niedrige Dosen von etwas, das in hohen Dosen schädlich ist, oft sehr, sehr nützlich sind.

Eine gewisse Menge eines Giftes kann nicht nur unschädlich, sondern gesundheitsfördernd sein. Oder leistungssteigernd. Oder stimmungsverbessernd. Eine gewisse Menge Strahlung kann nicht nur unbedenklich sein hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, einen Tumor zu bekommen, sondern höchstwahrscheinlich sogar eine Krebsentstehung deutlich unwahrscheinlicher machen. Eine gewisse Menge psychischen Stresses macht uns zu besseren Denkern, zu sozialeren Wesen, ja zu glücklicheren Menschen.

Die Dosis macht das Gift. Das hat schon Paracelsus vor einem halben Jahrtausend gelehrt.

Auch das ist eine sehr hübsche, kurze und griffige Weisheit. Gemeint hat schon er damit aber etwas anderes als den schlichten Unterschied zwischen Nichtwirkung und Giftwirkung, sondern jenen zwischen Heilwirkung und Giftwirkung. Und das ist keine Binsenweisheit, sondern eine fundamentale Einsicht in die Mechanismen der lebenden Natur, in die Physiologie, in das Leben selbst.

Paracelsus, Nietzsche. Jahrhundertealte Einsichten, die sich in der Gegenwart bestätigen. Aber richten wir uns nach ihnen? Sind sie ein Grundprinzip der Medizin, der Arzneimittellehre, der Toxikologie? Fußen populäre Gesundheitsratschläge ganz bewusst auf ihnen? Richtet sich die öffentliche Gesundheitsvorsorge und -versorgung daran aus? Wird der Umgang mit Umweltgiften durch diese Einsichten geleitet? Sind sie Grundlage von Forschungsstrategien? Nein.

Werden schädliche Substanzen routinemäßig im Labor verdünnt, um zu untersuchen, ob sie dann vielleicht sogar biologisch günstige, therapeutische, vorbeugende Wirkungen haben könnten? Werden Grenzwerte aufgrund solcher Untersuchungen festgelegt? Nein.

Dass dies so ist, hat vielfältige Gründe. Einer liegt vielleicht tief in der Psychologie und Kulturgeschichte des modernen westlichen Menschen. Für ihn – für uns also – ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass nicht alles in der Natur geradeaus und nach dem kleinen Einmaleins funktioniert. Die Unfähigkeit, Gut und Böse in ein und derselben Sache zu sehen, kommt wohl dazu, denn das verbieten im Grunde sowohl die abendländische religiöse Tradition als auch die Aufklärung. Es ist auch eine Angst vor dem Mephistophelischen, obgleich wir wissen, dass es oft zwar das Böse will, aber doch das Gute schafft. Davon, dass jene Janusköpfigkeit ein und derselben Sache natürlich erst einmal ein Mysterium ist, ganz zu schweigen.

Tatsache ist: Überall dort, wo Substanzen, Strahlen, Kräfte, Stressfaktoren auf Lebendes einwirken, liegt der Unterschied zwischen Gut und Böse fast nie in den Substanzen, Strahlen, Kräften selbst, sondern in der Dosis. Tatsache ist aber auch, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis – von der biomedizinischen Forschung über die Toxikologe und Pharmakologie bis hin zur Ökologie und Landwirtschaft – nach wie vor von sehr vielen so getan wird, als gebe es das alles nicht.

Es ist schon ein paar Jahrzehnte her, da saß ein Student namens Edward Calabrese in einem Botanik-Kurs am State College at Bridgewater in Massachusetts. Es war keine Forschung, die er da betrieb, sondern Lehre, die er über sich ergehen ließ. Ed und seine Kommilitonen versuchten sich an einem zuvor schon tausendfach wiederholten Praktikumsexperiment, das normalerweise folgendermaßen abläuft: Man verabreicht Pflanzen eine wachstumshemmende Substanz, und siehe da, ihr Wachstum wird gehemmt. Pflanzenphysiologie für Anfänger. In Edwards Gruppe allerdings passierte etwas Unerwartetes: Der Wachstumshemmer Phosphon regte Minze zum Wachstum an. Logische Erklärung normalerweise: Da ist etwas schiefgegangen, ein Reagens zum Beispiel war schlecht. Man wiederholt das Experiment, arbeitet so sauber wie möglich, passt besser auf bei jedem Schritt, und dann kommt schon das Erwartete heraus. Man kann es abheften und ein Bier trinken gehen. Und das schiefgegangene Experiment vergisst man und wirft das, was davon übrig ist, in den Müll. Das hätte auch Alexander Fleming tun können, als ihm eine Petrischale mit Bakterienkulturen verschimmelt war. Doch er sah genauer hin und sah in der Umgebung des Schimmels eine komplett bakterienfreie Zone. Es war der Grundstein für die Antibiotikatherapie.

Auch Ed Calabreses Professor ließ damals das Experiment zwar wiederholen. Er fragte allerdings auch in die Runde, ob jemand Lust hätte, diesem vielleicht doch ganz interessanten Phänomen weiter auf den Grund zu gehen. Es gingen nicht viele Hände in die Höhe, tatsächlich war es nur eine. Die von Ed. Er zog also das Praktikumsexperiment noch einmal durch. Dabei versuchte er aber nicht primär, jetzt alles richtig zu machen. Er wollte vielmehr herausfinden, was genau er und seine Jahrgangsgenossen zuvor falsch gemacht hatten. Es stellte sich heraus, dass der Wachstumshemmer zehnmal stärker verdünnt worden war als in der Experimentieranleitung vorgegeben. In dieser Konzentration wirkte er komplett gegensätzlich, nämlich als Wachstumsverstärker.

Gut vier Jahrzehnte später ist der Student von damals Professor. Seine Publikationsliste zählt ein paar hundert Fachartikel. Viele davon behandeln Varianten des Phänomens aus jenem Botanik-Praktikum: Etwas, das eine bekannte Wirkung hat, hat eine vollkommen andere, gegenteilige Wirkung, wenn man die Dosis herabsetzt. So werden Wachstumshemmer zu Wachstumsbeschleunigern, Gifte zu Therapeutika, sogar schädliche Strahlen zu nützlichen Strahlen.

Hormesis, so zeigte sich über die Jahrzehnte, ist ein Grundprinzip der belebten Natur.

Ed Calabrese allerdings hat bislang keinen Nobelpreis bekommen. Lange Zeit bekam er auch deutlich mehr scharfe Kritik als Anerkennung. Er galt als Außenseiter, als gefährlicher Häretiker. Er hatte Vorwürfe aus allen Richtungen auszuhalten. Mittlerweile geht er auf die 70 zu. Und viele der einst sehr kritischen Kollegen gehen auf Ed Calabrese zu. Sie geben ihm recht, greifen seine Experimente auf und führen sie fort. Und sie tun oft auch so, als wären sie nie vom Gegenteil überzeugt gewesen. Calabrese bekommt nun auch hochrenommierte Auszeichnungen, 2009 etwa den Marie Curie Preis.

Doch in der Öffentlichkeit ist all das bislang praktisch überhaupt nicht angekommen. Auch in der Politik, die die Regeln für den Umgang mit Giften und die Erforschung von Medikamenten vorgibt, ist Hormesis noch immer ein Fremdwort. Für viele Wissenschaftler gilt das Gleiche. Das kann der Autor dieses Buches, der viele Wissenschaftler zum Thema befragt hat, persönlich bezeugen.

Dabei gibt es inzwischen sogar sehr gute Erklärungen. Ein Mysterium ist Hormesis längst nicht mehr:

In vielen Fällen werden Stoffe, die in hohen Konzentrationen giftig wirken, in gewissen Mengen einfach gebraucht. Sie sind zum Beispiel als Bauteile lebenswichtiger Moleküle wichtig, für Enzyme etwa.

Sehr häufig aber ist der Grund, dass Giftiges und Schädliches in kleinen Dosen ganz anders, nämlich gut und gesund wirkt, ein ganz anderer: Menschliche, tierische, pflanzliche, auch Bakterien- und Pilz-Zellen werden immer versuchen, sich gegen ein Gift oder auch einen anderen Stressor mit Abwehrprozessen zu verteidigen. Sie werden auch alles daransetzen, entstehende Schäden zu reparieren. Diese Fähigkeiten hat ihnen die Evolution mitgegeben, ohne sie hätten ihre Vorfahren nicht überlebt. Aber auch niedrige Dosen aktivieren derartige Mechanismen. Diese sind dann oft so stark, dass sie dem Organismus sogar zusätzlichen Schutz und Nutzen bringen können. Bei dem wachstumshemmenden Pflanzengift aus Ed Calabreses Botanik-Praktikum lagen die Dinge ähnlich: Es war nicht konzentriert genug, um das Wachstum zu hemmen. Es triggerte im Gegenteil Mechanismen, mit denen die Minze sich gegen solche Wachstumshemmung wehrte. Ergebnis: Die Minz-Pflanze wuchs sogar besser.

Beispiele für Stoffe, die in niedrigen Dosen letztlich gesundheitsfördernd, in höheren aber durchaus giftig wirken, sind etwa Naturstoffe wie Allicin aus Knoblauch, Sulforaphan aus Kohl, Curcumin aus Currygewürz oder Polyphenole und Flavonole aus Heidelbeeren, Kakaopflanzen und anderen Früchten. Dazu kommen Arzneimittel wie etwa das Diabetes-Medikament Metformin, das als wirksamstes gegen diese Krankheit überhaupt gilt. Auch eines der wenigen effektiven Haarwuchsmittel, Minoxidil, scheint in diese Klasse zu gehören – weshalb man als Mann auch aufpassen sollte, sich nicht zu viel davon aufs schüttere Haupt zu massieren. Auch Alkohol, die bekannteste Droge überhaupt, muss hier genannt werden. In niedrigen Dosen stimuliert er Nervenzellen, fördert deren Überleben und Wachstum und schützt auch Blutgefäße. In hohen Dosen aber ist er ein echtes Nervengift und trägt unter anderem dazu bei, dass die Arterien verkalken. Selbst Nikotin, ein Gift ganz ohne Zweifel, regt in niedrigen Dosen eher Schutzmechanismen an, als Schäden zu hinterlassen. Und auch Stoffe, die so in der Natur nicht oder kaum vorkommen, können auf genau dieselbe Weise wirken – sogar solche, die so angsteinflößende Namen wie DDT oder Dioxin tragen.

Hormesis ist überall.

Sie findet sich nicht nur in den Reaktionen von Lebewesen auf mehr oder weniger natürliche Chemikalien.

Sie ist auch der Grund, warum Bewegung und körperliche Anstrengung gesund ist.

Ohne sie könnte kein Sportler seine Leistung verbessern.

An ihr liegt es, dass bestimme Ernährungsformen sich positiv auswirken.

Nur durch sie lässt sich erklären, warum die auch Menschen eingebauten Abwehr- und Schutzmechanismen gegen schädliche Strahlen aus schädlichen Strahlen letztlich nützliche Strahlen machen können.

In ihr liegt die Lösung des Rätsels, warum jahrelang gestresste Herzen bei einem Infarkt vergleichsweise wenig Schaden nehmen.

Sie ist die Basis für eine erfolgreiche Bewältigung psychischer Belastungen.

In ihr steckt der Schlüssel zu erfolgreichem Lernen und mentaler Produktivität.

Sie birgt das Geheimnis des gesunden Altwerdens ebenso wie die besten Strategien gegen fast alle Zivilisationskrankheiten.

Kenntnisse über sie können helfen, pathogene Keime und Schädlinge effektiv zu bekämpfen.

Sie stellt die Möglichkeiten bereit, effizient und umweltverträglich Landwirtschaft zu betreiben und auch besonders gesunde Produkte zu ernten.

Und so weiter.

Hormesis ist überall. Man muss sie verstehen. Man muss sie finden. Dann kann man sie nutzen.

TEIL I

DOSIS UND GNOSIS

1WAS IST GESUND?

DAS LEBEN IST HART – UND WARUM BIST DU NOCH NICHT TOT?

Täglich bekommen wir medial gepredigt, was gesund ist und was ungesund. Das meiste davon ist allerdings falsch. Oder zumindest fehlt die entscheidende Zusatzinformation. Denn von Arsen über Ozon bis Zwiebel ist fast gar nichts per se gut oder schlecht für die Gesundheit. Ob etwas letztlich gesund oder ungesund ist, hängt von einem ganz anderen Faktor ab.

Menschen sind eigentlich keine Memmen. Ihre Ur-Ur-Ur-Vorfahren im Ur-Ozean waren es auch nicht. Das Leben war schon immer hart. Die Umwelt ist zu kalt oder zu heiß. Oder es gibt nicht genug zu essen. Von der Sonne, aus dem kosmischen Hintergrund, aus dem Gestein, aus dem Trinkwasser hämmert Strahlung auf jede lebende Zelle auf Erden und damit auch auf jeden Menschen ein. Im Essen sind außer Nährstoffen noch viel mehr Stoffe. Viele davon wirken als Gifte. Es wimmelt von Feinden, die einem das Essen, den Lebensraum oder das Leben selbst wegnehmen wollen, egal ob man als Amöbe, Grünkohlpflanze, Bachneunauge oder Mensch geboren worden ist.

Obwohl … bei Menschen ist es inzwischen doch ein bisschen anders. Der Mensch ist intelligent. Er hat sich den Planeten untertan gemacht. Er hat gelernt, nicht mehr seinen häufig als primitiv betrachteten und verachteten Instinkten zu folgen, sondern chemischen Analysen, UV-Messgeräten, dem Fernsehdoktor aus dem Morgenmagazin, Ratgeber-Büchern, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung etc. Der Mensch des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts schafft es zum ersten Mal, sich im ganz großen Stil all jene Unbill, die seine Vorfahren zu ertragen hatten, vom Leibe zu halten. Zumindest wer in einer Industrienation lebt und dort nicht zu den Allerärmsten gehört, kann sich heute sehr effektiv mit Sonnencreme vor Strahlung schützen, mit Supermarkteinkäufen vor Hunger, mit Heizung und Klimaanlage vor Hitze und Kälte und mit Hilfe von Behörden vor Gift und bösen Menschen.

Schonen, Schützen, Schäden vermeiden. »Gesundes« essen und trinken, Vitamine zum Beispiel. Sich mit schützenden Schichten und Mauern überziehen und umgeben. Stress und Schmerz aus dem Wege gehen.

Der intelligente Mensch von heute hält die Welt, so gut es geht, auf Abstand. Und wer nicht verhungert, nicht erfriert, wem nicht der Schädel eingeschlagen wird, der oder die überlebt. Und lebt länger. Unser moderner, umfassend vor solchen Stressfaktoren geschützter Lebensstil ist also gesund.

Das stimmt. Und stimmt doch auch nicht.

Eines ist nicht von der Hand zu weisen: Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industrieländern ist heute so hoch wie nie zuvor, sie stieg im 20. Jahrhundert jährlich fast um ein Vierteljahr.2 Ursachen dafür sind unter anderem verbesserte Hygiene, verlässlichere Lebensmittelproduktion, biomedizinischer Fortschritt.3 Wer schon bei der Geburt stirbt, zieht die Statistik machtvoll nach unten. Wer mit sechs wegen schlechten Trinkwassers Cholera bekommt und sie nicht überlebt, fast ebenso. Wer mit 20 verhungert oder als junge Mutter wegen fehlender Hygiene tödliches Kindbettfieber bekommt, kann nicht 75 werden. Wer mit 25 als Soldat von Kugeln durchlöchert wird, wird sich kaum je als Großvater überlegen müssen, wie er seinen Enkeln vom Krieg erzählen soll. Wer mit 30 an einer Infektion stirbt, kann nicht 31 werden, und schon gar nicht 85. Wer mit 50 einen schweren Herzinfarkt hat und auf moderne Intensivmedizin und Medikamente verzichten muss, der stirbt auch meist mit 50. Von all den anderen Krankheiten und Verletzungen, Infektionen und Vergiftungen, die einen einst hätten umbringen können, ganz zu schweigen.

Sport ist gesund und Sport ist Mord

Das Magazin Slate nannte dementsprechend die Frage »Warum bist Du noch nicht tot?« einen »fun conversation starter«4, also eine witzige Art, ein Gespräch zu beginnen. Doch diese Beispiele zeigen auch: Mit dem modernen, aus dem Überfluss schöpfenden, alle Härten und Schmerzen des Alltags vermeidenden Zivilisationsleben haben die wichtigsten Faktoren, die die allgemeine Lebenserwartung nach oben geschraubt haben, rein gar nichts zu tun.

Die Generation, die heute in Europa in der Statistik vor allem dafür sorgt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung so hoch ist wie nie zuvor, es sind die heute zwischen 75- und 100-Jährigen. Es ist keine Generation von Memmen, sondern eine, die in ihrer Jugend Krieg, Hunger, Armut, harte Arbeit, oft auch Krankheit und anderes körperliches und seelisches Leid erlebt hat. Nicht eine, die ihr Leben lang rundum gepampert war.

Diese Generation gibt es auch. Es ist die der jüngeren heute Lebenden. Es sind die, für die Demoskopen, Mediziner und Gesundheitsforscher längst befürchten, dass ihre Lebenserwartung schon wieder geringer sein könnte.5

Und dafür, auch das sagen die Demoskopen, Mediziner, und Gesundheitsforscher, ist der Lebensstil dieser Generation verantwortlich. Zu wenig Bewegung und zu viel Essen sollen die Hauptfaktoren sein, die ungesund machen.

Aber hier darf man sich doch schon einmal ein wenig wundern: Warum soll ein Leben ohne Hunger, mit ganzjährig verfügbarem frischen Obst und auch sonst einer Riesenauswahl an Nahrungsmitteln, mit 27 Urlaubstagen, mit Wohlstand, mit durchschnittlich deutlich weniger als zwei Kindern pro Familie, mit neuer Couchgarnitur alle paar Jahre und mit ärztlicher Versorgung für alle ungesünder sein als eines, in dem Krieg, Hunger, Angst, Armut, turbulente Großfamilie und eine deutlich einfachere Gesundheitsversorgung die Regel waren?

Was ist gesund? Und was ist dann ein gesund gelebtes Leben? Und warum?

Die Fragen sind kurz, knapp und klar. Sie zu beantworten allerdings ist längst nicht so simpel, wie manche echte und viele selbsternannte Experten es gerne behaupten.

Brokkoli ist gesund. Sport ist gesund. Entspannung ist gesund. Vitamin C ist gesund. Das Leben in den Bergen ist gesund.

Würde da jemand widersprechen? Gerechtfertigt wäre es. Aber nicht, weil Brokkoli und Sport und Entspannung und Vitamin C und eine Bergtour das Gegenteil von gesund, also ungesund wären.

Es kommt auf die Dosis an

Denn die Antwort auf die Frage, was gesund ist, lautet selten »Dies« oder »Dies nicht«. Und die Antwort auf die Frage, ob etwas gesund ist oder nicht, sie lautet selten »Ja« oder »Nein«.

Die Antwort lautet: »Es kommt darauf an.«

Es kommt auf die Dosis an. Eigentlich immer.

Und hier erst nähert man sich der Antwort auf die dritte oben aufgezählte Frage an. Dem »Warum?«. Warum ist etwas gesund, warum ist etwas ungesund? Weil die Dosis dieses »Etwas« – seien es die Inhaltsstoffe von Brokkoli oder die gejoggten Kilometer – entscheidend ist, und viel weniger jenes »Etwas« selbst. Bei Sport mag einem das noch logisch vorkommen, denn dass etwa ein Marathon ohne ausreichendes Training und bei praller Sonne sogar tödlich enden kann, ist ja schon aus altgriechischer Legende bekannt und bestätigt sich auch in der Gegenwart immer wieder. Es gilt jedoch eben auch praktisch für alles andere, für Brokkoli-Portionen, Vitamine, Gammastrahlen und so weiter.

Geht es um Einflüsse auf die Gesundheit, dann geht es immer um Dosis und Wirkung dieser Einflüsse. Und beide sind auf eine Weise miteinander verknüpft, die nicht unbedingt dem entspricht, was man erwarten würde. Auf eine Weise auch, die nicht dem entspricht, wonach Menschen heute sehr vieles in ihrem täglichen Leben ausrichten.

Der Erste-Welt-Mensch des Jahres 2016 lebt nicht nur satt und bequem, ebenso bequem richtet er auch sein Denken nach einem zentralen Prinzip aus. Er denkt geradlinig. Sein Prinzip ist Geradlinigkeit. Man kann auch – etwas wissenschaftlicher – sagen: Linearität. Nach diesem Prinzip bedeutet ein Mehr von etwas ein Mehr derselben Wirkung. Weniger bedeutet weniger Wirkung, und ganz wenig bedeutet meist gar keine Wirkung mehr.

Mehr Anstrengung – mehr Erfolg. Weniger Kalorien – weniger Bauch. Doppelt so viel Gift – doppelt so giftig. Ganz wenig Gift – gar keine messbare oder statistisch nachweisbare Wirkung. Doppelt so viel gesundes Essen, doppelt so gesund. Dreimal mehr Einkommen, dreimal so glücklich …

Schon beim letzten dieser Beispiele mag man sich ungern von der Liebe zur Linearität losreißen, selbst wenn nun auch die x-te Studie nachgewiesen hat, dass dreimal mehr Euro auf dem Konto kaum jemals auch mit dreimal mehr Glück oder auch nur Zufriedenheit einhergehen.

Denn wir Menschen hassen Nichtlinearitäten.

Fabien Barthez, die kahlrasierte französische Torhüterlegende, hat den Freistoß von Roberto Carlos 1997 gehasst, der sich nicht gleichmäßig in Richtung Tor drehte, sondern im letzten Moment den entscheidenden Haken schlug, was Physiker durch nichtlineare turbulente Prozesse rund um das rasant rotierende fliegende Leder erklären.6

Klimaskeptiker hassen es, wenn Meteorologen ihnen von nichtlinearen Phänomenen erzählen. Beispielsweise davon, dass auch nur ein weiterer kontinuierlicher, linearer Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre einen viel steileren Temperaturanstieg als bisher nach sich ziehen könnte. Oder dass schon ein klein wenig mehr oberflächliches Schmelzwasser im arktischen Sommer zu insgesamt deutlich mehr Schmelze führen kann.

Lineale auf den Müll

Wir verzweifeln am unvorhersagbaren Verhalten eines Doppelpendels. Und Chaos, das physikalische Musterbeispiel für Nichtlinearität, hassen wir sowieso – es sei denn, man zeigt uns die hübschen und tatsächlich sehr geordnet und gleichmäßig daherkommenden Apfelmännchen und sonstigen Fraktale, ohne die die Chaostheorie niemals so populär geworden wäre.

Wahrscheinlich auch um mit dem Abweichen vom linear Vorhersag- und Vorhersehbaren irgendwie umgehen zu können, haben Menschen, bald nachdem sie so recht zu denken angefangen hatten, die Religion und die Götter erfunden. Für das Seltsame waren diese dann zuständig. Das brachte auch den Vorteil mit sich, dass der Mensch – weil Seltsames, Unvorhersehbares, Nichtlineares, Unwahrscheinliches doch jeden Tag passierte – auch auf Seltsames, Unvorhersehbares, Nichtlineares, Unwahrscheinliches hoffen durfte. Dass er auf Wunder und Wunderbares hoffen durfte.

Es kommt für den intelligenten, eins und eins zusammenzählenden, das Lineare liebenden Gegenwartsmenschen aber noch schlimmer. Nicht nur Chaos ist real, nicht nur Freistöße, die ins Tor gehen, obgleich sie eigentlich zwei Meter vorbeifliegen müssten. Nicht nur Arabische Frühlinge, die zuerst niemand überhaupt vorhersieht und deren Ausgang dann auch niemand vorhersehen kann. Nicht nur Leute, die so viel essen können, wie sie wollen, ohne dick zu werden.

Tatsächlich ist es so, dass, wenn es um die Wirkung von allerlei nicht besonders beliebten Einflüssen auf den menschlichen Körper geht – Gift, Kälte, Strahlung, Stress –, der Ball von Roberto Carlos nicht nur an einem bestimmten Punkt scharf um die Ecke fliegt. Sondern er fliegt dann sogar gleichsam rückwärts: Wenn eine Dosis sich ändert, kann der Effekt sich ins Gegenteil verkehren. Ein Gift kann dann letztlich gesundheitsfördernd sein, Röntgenstrahlen können als End-Effekt nicht mehr, sondern weniger Schädigungen im Erbgut haben. Ein Kälteschock kann jemandem statt Erfrierungen oder einer Erkältung Schutz vor Erkältungen verschaffen.

Wer beim letzten Beispiel jetzt sagt: Alter Hut, Sauna, kalte Dusche, Eisbaden, das härtet halt ab, hat vollkommen recht. Auch wenn manche Mediziner bis heute behaupten, ein Effekt dessen, was man gemeinhin Abhärtung nennt, etwa auf das Immunsystem, sei in keiner einzigen Studie nachgewiesen7 – was, nebenbei bemerkt, ziemlicher Unsinn ist.8

Man muss jedoch noch den entscheidenden nächsten Schritt weitergehen und sich nun fragen, warum Sauna, kalte Dusche und Eisbaden eigentlich abhärten? Wenn man das tut und dann nebenbei erfährt, was tatsächlich noch so alles auf die verschiedensten Weisen abhärtet und schützt, was anpassungsfähiger und weniger anfällig macht – oder schlicht: gesünder – und warum, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Warum also ist Brokkoli, oder dessen Inhaltsstoff Sulforaphan, bei einer bestimmten Dosis für einen bestimmten Menschen gesund, bei einer anderen ungesund? Warum ist eine bestimmte Dosis Sport für einen bestimmten Menschen gut, eine andere schon fast Selbstmord? Warum wirkt der gleiche Stoff, der gleiche Umweltreiz bei der einen Dosis so, bei der anderen ganz anders?

Antworten darauf finden kann man, wenn man sich dem Leben und den Lebensprozessen sehr intim nähert. Dort, tief in der Physiologie, im Stoffwechsel, in Biochemie und Biophysik, klären sich all diese Seltsamkeiten auf.

Man kennt diese Antworten noch längst nicht alle. Doch mit denen, die schon bekannt sind, kann man durchaus schon einiges anfangen.

Vieles von dem, was wir gesund nennen, ist nicht gesund, weil es gut ist, sondern weil es giftig ist, dadurch aber sehr »gesunde« Reaktionen anregt. Der Name für all das lautet: Hormesis.

2WAS IST GESUNDHEIT?

PARTY-SMALLTALK, SCHNAPPSCHÜSSE – UND TRUGSCHLÜSSE VOM KOMPLETTEN WOHLBEFINDEN

Selbst die Weltgesundheitsorganisation definiert ihr Thema als einen Zustand. Dabei ist Gesundheit etwas ganz anderes. Sie ist ein Prozess. Sie ist ein Potenzial. Sie ist ein permanentes dynamisches Werden. Und kein Sein. Sich dessen bewusst zu werden hat nichts mit Begriffs-Haarspalterei zu tun, sondern ist in der täglichen Lebenspraxis ziemlich wichtig – zumindest wenn man sich für die eigene und die Gesundheit seiner Mitmenschen ernsthaft interessiert.

Es ist immer gut zu wissen, worüber man eigentlich spricht. In diesem Buch geht es nicht nur, aber doch häufig um »Gesundheit«. Auch um über sie überhaupt diskutieren zu können, sollte man sich zunächst klar sein, was das eigentlich ist, Gesundheit.

Man kann sich einmal den Spaß machen und auf einer Party oder am Mittagstisch in der Kantine diese Frage stellen: Wie würdet ihr eigentlich Gesundheit definieren? Oft wird die Antwort lauten: das Gegenteil oder die Abwesenheit von Krankheit. Das stimmt dann irgendwie auch. Aber die Frage lautet ja eigentlich nicht, was Gesundheit nicht ist, sondern was sie tatsächlich ausmacht. »Wenn’s einem gut geht« wird dann wahrscheinlich jemand sagen, worauf dann jemand anderes einwenden wird, man könne sich ja durchaus sehr wohlfühlen, obwohl innendrin im Körper schon längst ziemlich Schlimmes vor sich geht. Dann wird jemand sich wissenschaftsbeflissen geben und von Laborwerten sprechen. Und so weiter.

Die Was-ist-Gesundheit-Frage ist jedenfalls auch ein guter »conversation starter«9, eine sichere Methode also, im Smalltalk-Notstand endlich eine Unterhaltung loszutreten. Und umso besser, wenn man dann selbst eine interessante Antwort parat hat.

Das ist kein Zustand

Die beste Adresse, eine Definition zu finden, könnte jene Behörde sein, die sich rund um den Globus im Auftrag der Vereinten Nationen für Gesundheit einsetzen soll: die Weltgesundheitsorganisation WHO. Denn zumindest dort sollte man ja eigentlich wissen, was genau es ist, um das man sich kümmern soll. In ihrem Gründungsdokument von 1946 wird Gesundheit als »Zustand kompletten körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens«10 definiert. Schon diese Formulierung war Ergebnis langer Diskussionen und galt als großer Fortschritt gegenüber zuvor verwendeten Definitionen, die Gesundheit schlicht als Abwesenheit von Krankheits-Symptomen beschrieben.

Man wird also fündig bei der WHO. Aber wenn man nur einmal zuvor obige Partydiskussion geführt hat, kann man selbst mit dieser hochautoritativen Definition nicht so recht zufrieden sein. Ein Grund für die Unzufriedenheit, die man bei dieser Definition verspürt, ist die seinerzeit beim Smalltalk geäußerte Meinung, dass tief drin in der menschlichen Physis – oder auch der Psyche – ja durchaus selbst im Zustand kompletten Wohlbefindens längst Prozesse ablaufen könnten, die diesen Zustand vielleicht bald schon beenden.

Im vorhergehenden Satz stehen die beiden Substantive, mit deren Hilfe vielleicht klar wird, wo das Problem liegt. Sie lauten »Zustand« und »Prozesse«. Genauso wie das Leben selbst kein Zustand ist, sondern ein Prozess, der lediglich irgendwann in einem Zustand namens Tod endet, so ist auch Gesundheit ein Prozess. Oder besser: die Summe vieler Prozesse. Und ein »Gesundheitszustand« ist nichts als eine Momentaufnahme.

Wenn es jemandem heute physisch, mental und sozial komplett gut geht, ist das wunderbar. Es ist so schön wie ein Hintertor-Foto, kurz nachdem an einem Tag im Juli 2014 Mario Götze eine Flanke von André Schürrle mit der Brust angenommen und dann mit dem linken Fuß unhaltbar an Sergio Romero vorbeigezirkelt hatte.

Aber es ist ein Schnappschuss.

Genauso wie das Foto aus der 12. Minute eines anderen Fußballspiels, 1966, als Helmut Haller zum 1:0 gegen England getroffen hatte. Nach 120 Minuten sah es dort aber anders aus als nach dem Finale von Rio, Wembley-Tor inklusive. Die Momentaufnahmen mögen schön sein, sie sagen aber über den viel längeren Prozess namens Fußballspiel nur wenig aus.

Vergleiche hinken immer. Aber dieser hilft vielleicht zumindest ein wenig. Menschen, die sich für ihre Gesundheit interessieren, haben sicher nichts gegen viele schöne Momentaufnahmen in ihrem Leben, »Zustände« kompletten Wohlbefindens, Jubelszenen. Sie wollen dann aber auch, dass ihre Mannschaft aus Organen, Körperzellen, Nervenbahnen, Darmbakterien und Co. die Führung hält. Sie wollen, dass, wenn der Gegner einen Sturmlauf startet, diese Mannschaft effektiv gegenhalten und aktiv reagieren kann.

Werden statt Sein

Man kann als Mensch wie auch als Fußballmannschaft einfach Dusel haben. Sicherer ist es aber, gut vorbereitet zu sein.

Gut vorbereitet ist, wer die Fähigkeit besitzt, auf Angriffe zu reagieren, sich neuen, auch widrigen Gegebenheiten anzupassen, Attacken abzuwehren.

»Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen.« So stand es dann 2009 auch in einem vielbeachteten Editorial des führenden Mediziner-Magazins The Lancet11, das die Gültigkeit der WHO-Definition infrage stellte. Es war keine neue Erkenntnis. Die Autoren bezogen sich auf den französischen Arzt, Philosophen und Résistance-Kämpfer Georges Canguilhem, der dies schon 1943 in seiner Dissertation »Das Normale und das Pathologische«12 so formuliert hatte.

Man könnte auch, wenn man die Worte der WHO aufgreift, sagen: Gesundheit ist die Fähigkeit, auf physische, psychologische und soziale Herausforderungen und Störeinflüsse ausgleichend zu reagieren, sich ihnen anzupassen.

Ein gesundes, Gesundheit förderndes Leben ist damit eines, das diese Fähigkeit erhält, trainiert, optimiert. Eines, das so gut als möglich darauf vorbereitet, auf derartige Herausforderungen und Störungen reagieren zu können.

Gesundheit ist kein Zustand, sondern eine Bereitschaft zur richtigen Reaktion auf Störfaktoren. Sie ist nichts Statisches, sondern etwas sehr Dynamisches. Sie ist kein Sein, sondern ein ständiges Werden. Sie ist kein Haben, sondern ein ständiges Erwerben.

Es ist nicht anders als bei eigentlich allen anderen Lebensprozessen. Nicht umsonst wenden sich inzwischen mehr und mehr Wissenschaftler vom Begriff der Homöostase ab, wenn es darum geht, einigermaßen stabil gehaltene physiologische Gleichgewichte zu beschreiben. Der neuere, tatsächlich treffendere Begriff hierfür heißt nun Homöodynamik.

Gesundheit ist die Fähigkeit, stets und stetig mit körpereigenen Antwort-Prozessen derart dynamisch auf Störungen von innen wie von außen reagieren zu können. Sie ist die Fähigkeit, das dynamische Gleichgewicht, das Leben heißt, nach der Störung wieder herzustellen und zu erhalten.

Wie in den folgenden Kapiteln beschrieben werden wird, können viele – und sehr viele besonders wirksame – dieser Prozesse nur dann effektiv ablaufen, ist solch eine Anpassung nur dann optimal möglich, wenn der Körper und seine Zellen an Prozessen geschult werden, die eigentlich schädlich sind. Dafür ist es meist notwendig, sich genau den Einflüssen, die einen kaputtmachen können, immer wieder auszusetzen. Entscheidend ist dabei, dass die Dosis stimmt.

3DIE GUTE MÄR VOM GUTEN MEHR

TEN APPLES A DAY UND SIEBEN FÄSSER SPÄTBURGUNDER

Bei all den guten Sachen, die angeblich die Gesundheit fördern, gilt allgemein, dass mehr davon noch besser ist. Deshalb sollen wir, wenn die lange empfohlenen drei Portionen Obst und Gemüse am Tag in Studien die Bevölkerung nicht gesünder machen, dann eben fünf Portionen essen. Wenn das auch nichts bringt, werden dann vielleicht irgendwann zehn Portionen empfohlen. Absurd? Stimmt.

Im März 2011 brachte die New York Times einen langen freundlichen Artikel13 über einen älteren Herrn: David H. Murdock ist einer der erfolgreichsten Unternehmer der USA. Er ist sehr, sehr reich.14 Aber sein halbes Leben lang war er unglücklich. Nicht wegen des alten Klischees, dass Geld eben nicht glücklich macht, sondern weil er das, was ihm am liebsten war, früh verlor und er mit keinem Geld der Welt etwas dagegen tun konnte. Seine Frau starb mit 43 Jahren an Krebs. Seither hat Murdock eine Mission: Krebs verhindern, Krebs heilen. Er hat mit seinem Geld Krebsforschung unterstützt, doch die Fortschritte hier waren ihm nicht genug, ganz zu schweigen von den immer neuen Rückschlägen. Irgendwann war er sich sicher, dass der Schlüssel ohnehin ganz woanders zu finden ist: Wer sich richtig ernährt, vor allem pflanzlich, sich all die Stoffe reichlich einverleibt, die die Natur bereitstellt und die in Laborexperimenten längst ihre Wirkung gegen Krebszellen unter Beweis gestellt haben, der kann die Krankheit vermeiden und sogar effektiv bekämpfen.

Was macht man als einer der reichsten Männer der Welt, wenn man an die Segnungen von Obst und Gemüse für die Menschheit glaubt? Man kauft sich den größten Obst-und-Gemüse-Konzern, der zu haben ist. Und man gründet ein Institut, das die Forschungen zu den heilsamen Substanzen in Obst und Gemüse gezielt und schnell voranbringen soll. Das jedenfalls machte Murdock. Er übernahm 2003 die Dole Food Company und stecke eine Multi-Millionen-Dollar-Summe in das Dole Nutrition Institute.

Der alte Mann und das Mehr

Als der New-York-Times-Reporter ihn besuchte, war David H. Murdock 87 Jahre alt, aber sicher, mit der richtigen Ernährung locker die 125 erreichen zu können. Entscheidend dabei sei, erzählte er, möglichst reichlich von all den guten Substanzen, sekundären Pflanzenstoffen und Vitaminen mit dem Essen zu sich zu nehmen. Für ihn bedeutete das ganz praktisch, nicht einfach den Anteil von Obst und Gemüse im Speiseplan ein bisschen zu erhöhen, sondern wirklich viel Obst und Gemüse zu essen und in Smoothie-Form zu trinken. Und die von ihm bezahlten Forscher, die sollten nun endlich auch Wege finden, die Pflanzen schlicht mehr davon produzieren zu lassen.

Viel hilft viel. Nach diesem Leitsatz richtet sich nicht nur der alte Herr Murdock, dem es übrigens auch zu der Zeit, da dieses Buch entsteht, weiterhin gut zu gehen scheint. Sondern so ziemlich alle Ernährungsempfehlungen basieren ebenfalls darauf, wenn es um die »guten« Stoffe in Nahrungsmitteln geht.

Darauf, dass vielleicht aber auch ein ganz anderer Spruch hier passen könnte, kommt offenbar niemand. Er lautet: Allzu viel ist ungesund und ist, wenn man der Einschätzung Georg Christoph Lichtenbergs folgt, wohl das »älteste Sprichwort der Welt«15.

So gut wie jedes Medikament wird gefährlich, wenn man es zu hoch dosiert.

Was sind Medikamente? Es sind Moleküle, die biologisch wirken. Was sind dagegen die als gesundheitsförderlich geltenden »sekundären« und sonstigen Pflanzenstoffe? Auch sie sind Moleküle, die biologisch wirken. Doch von ihnen können wir nicht genug bekommen. Zwar wird immer mal wieder, etwa bei den Vitaminen A und D, vor Überdosierungen gewarnt. Das gilt dann allerdings nur, wenn sie per Pille oder Kapsel eingenommen werden. In normalen Nahrungsmitteln jedoch kann angeblich gar nicht zu viel drin sein. Schließlich ist das alles ja gesund und natürlich, und je mehr, desto gesünder. Logisch.

Vergiftung aus der Nusstüte

Es ist nicht logisch. Paranüsse etwa gelten als die so ziemlich gesündesten Nüsse überhaupt. Sie werden unter anderem jenen empfohlen, die sich das wichtige Spurenelement Selen auf natürliche Weise zuführen wollen. Schließlich gelten etwa die meisten Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Selen-Mangelgebiete, anders als die südamerikanische Heimat dieser Nuss. Und Selen – meist molekular in Form von Selenit- und Selenat-Verbindungen – soll allen möglichen Leiden vorbeugen, auch für die Schilddrüsenfunktion ist es nachgewiesenermaßen wichtig. Doch wer nun täglich tütenweise Paranüsse isst, kann sich mit Selen vergiften. Wissenschaftlich dokumentiert sind solche Überdosierungen aus der Nusstüte beim Menschen bisher zwar nur sehr lückenhaft. Das liegt unter anderem aber schlicht daran, dass man solche Versuche mit Menschen kaum genehmigt bekommen würde. Doch dass Selen in täglichen Dosen, die schon in einer halben Tüte Nüsse enthalten sein können, Symptome wie Haarausfall, Verdauungsprobleme und Hautgeschwüre auslösen kann, ist längst nachgewiesen.16 Und in Internet-Foren, die es zum Thema Ernährung zahlreicher gibt als Früchte auf der Dole-Palette, finden sich durchaus Berichte über derartige Erfahrungen.

Natürlich sind Internet-Foren keine allzu verlässliche Quelle. Und natürlich kommt es sowohl bei Paranüssen als auch bei anderen Nahrungsmitteln tatsächlich selten vor, dass sich jemand dadurch akut vergiftet, schon allein, weil die natürlichen Essinstinkte meist vorher die weitere Nahrungsaufnahme verwehren.

Doch das Ziel von »gesunder Ernährung« ist ja auch nicht, die Anbieter von Nahrungsmitteln wie etwa Mr. Murdock noch reicher zu machen, indem man möglichst viel davon kauft und isst. Sondern das Ziel von »gesunder Ernährung« ist eine möglichst optimale, gesundheitsfördernde Wirkung der Lebensmittel und ihrer Inhaltsstoffe.

Das Ziel ist also eine optimale Dosis.

Eine optimale Dosis ist aber – egal ob bei Pharma-Produkten, Blaubeer-Molekülen oder Selen-Verbindungen aus einer Nuss – nie die maximal mögliche Dosis.

Ein Problem kommt noch hinzu: Bei Inhaltsstoffen von Naturprodukten, Pflanzen vor allem, ist für kaum einen eine optimale Dosis bekannt. So mancher Versuch mit Zellkulturen oder sogar mit Versuchstieren zeigt, dass Dosierungen, wie man sie mit normalem Essen erreichen kann, zwar durchaus eine Wirkung haben. Die ist dann messbar, positiv, aber im Vergleich mit unbehandelten Zellen und Tieren nicht gerade umwerfend. Logische Schlussfolgerung, nachzulesen in unzähligen populärwissenschaftlichen Artikeln, aber auch in Fachpublikationen: Damit die Blaubeere oder der Brokkoli oder die Kornelkirsche oder – besonders beliebt – das Resveratrol aus Rotwein, damit all das so richtig gut wirkt, braucht man sicher deutlich höhere Dosen.

Das hören nicht nur Agrarkonzerne gerne, die Argumente brauchen, um Pflanzen gentechnisch »verbessern« zu dürfen. Sondern es spült auch der Nahrungsergänzungsmittelindustrie jährlich Milliarden in die Kassen. Sie stellt ja genau das bereit, was in der Natur und in den Kulturpflanzen zu fehlen scheint: die Extraportion Mineralien, Vitamine, und neuerdings natürlich auch sekundäre Pflanzenstoffe, Algen-Substanzen, »gute« Fettsäuren etc.

Gesünder macht das nicht. Studien17 weisen darauf hin, dass Nahrungsergänzungsmittel vielleicht sogar eher kränker machen können.18 In solchen Fällen gilt natürlich schnell als ausgemacht, was hinter der unerwünschten Wirkung steht: ein Zuviel von »unnatürlichen«, weil meist synthetisch hergestellten oder zumindest industriell angereicherten Molekülen.19 Belegen kann das dann allerdings auch keiner. Es muss aber auch keiner, denn es ist ja so logisch, dass niemand nach Belegen fragt. Oder zumindest die eine entscheidende Frage stellt.

Gesundes Essen gibt es nicht

Die würde natürlich lauten: Welche ist die optimale Dosis? Wenn eine kleine Dosis einen positiven Effekt hat, aber noch keinen umwerfenden, wenn eine hohe Dosis dann aber gar keinen oder sogar einen negativen hat, kann es dann sein, dass die optimale Dosis schon die ist, die jenen kleinen Effekt zeigt? Kann es sein, dass die Extraportion Polyphenole, egal ob aus der Kapsel oder aus Blaubeeren oder Rotwein, nicht nur vielleicht nichts bringt, sondern dass die fünf möglichst nicht zu kleinen Obst- und Gemüsemahlzeiten, wie sie allseits empfohlen werden, vielleicht nicht nur unsinnig, sondern bereits widersinnig sind? Ist es denkbar, dass sie nicht nur nicht gesünder sind als die althergebrachten Beilagen, die sich an Saison und regionaler Verfügbarkeit orientieren, sondern sogar ungesund? Kann es sein, dass die gesundheitsfördernde Wirkung der einen Portion Blumenkohl alle paar Tage durch fünf Kapseln aus der Apotheke oder sogar fünf Portionen Grünzeug wieder aufgehoben oder vielleicht auch in ihr Gegenteil verkehrt wird? Kann es sein, dass jene Moleküle, die als absolut essenziell gelten – Aminosäuren –, schon in nicht allzu hohen Konzentrationen eher kontraproduktiv sind?20

An apple a day keeps the doctor away.

Von »ten apples a day« oder »So viel Obst, wie nur reingeht« ist in diesem Spruch jedenfalls nicht die Rede.

Und die wissenschaftlichen Studien, die das belegen, beginnen auch langsam einzutrudeln. Zum Beispiel zu jenem Rotwein-Wirkstoff namens Resveratrol, über den immer gesagt wird, man müsste sich schon mit Spätburgunder totsaufen, damit davon eine wirksame Dosis zustande kommen könnte. Das stimmt aber nicht: In Experimenten gaben Forscher Mäusen sehr unterschiedliche Dosen Resveratrol. Ergebnis: Die Laborwerte, die für eine gesundheitsfördernde Wirkung sprechen, waren bei Dosen, die bei Menschen an einem gesitteten geselligen Abend wohl durchaus möglich sind, sogar deutlich besser als bei hohen Dosen Resveratrol. Tumoren entwickelten sich in besonders darmkrebsanfälligen Mäusen dann auch deutlich langsamer. Auch menschliche Krebszellen reagierten eher auf niedrige Dosen mit den erwünschten Effekten. Das galt sogar bei Patienten vor der Entfernung des Tumors. Und im Molekularen wurden bei jenen niedrigen Dosen erhöhte Konzentrationen von typischen Stressenzymen gemessen. Die hohen Gaben dagegen schienen dies eher zu unterbinden. Sie waren offenbar zu hoch, die Wirkung schlug von gesund auf ungesund um.21

Und erinnert sich niemand daran, was passiert, wenn man so richtig viel Blumenkohl gegessen hat? Daran, dass einem schlecht wird, man Kopfschmerzen bekommt, man sich übergeben muss, Durchfall bekommt, manchmal sogar Fieber? Dass man sich mit einer Überdosis gesunden Essens also vergiften kann? Denn das sind typische Vergiftungserscheinungen und nichts anderes. Auch der tägliche Apfel ist nicht voller Wohltaten, weil Apfelbäumchen so nett zum Menschen sind. Seine Schale enthält vielmehr nicht wenige Stoffe, die man mit Recht Gifte oder zumindest Abwehrstoffe nennen kann, Tannine zum Beispiel, oder Quercetin. Die produziert der Apfelbaum, um seine Früchte vor Insekten und Mikroorgansimen zu schützen. Denn es hat sich in der Evolution seiner Apfel-Ahnen bewährt, Insekten, Pilzen und Bakterien nichts für sie »Gesundes« vorzusetzen, sondern etwas, das für sie giftig ist.

Kann es also sein, dass es gesundes und ungesundes Essen an sich gar nicht gibt? Sondern nur die jeweils gesunde oder bereits ungesunde Dosis eines Nahrungsmittels oder seiner Inhaltsstoffe?

Wenn man sich die alte, durch Paracelsus bekannte Weisheit von der Dosis, die das Gift macht, in Erinnerung ruft, könnte man jetzt schon wieder sagen: Alter Hut. Und tatsächlich hat Paracelsus mit dieser Aussage im Grunde schon den entscheidenden Grundsatz formuliert: Der Unterschied zwischen Gut und Schlecht bei der gesundheitlichen Wirkung von Drogen, Substanzen, Reizen jeglicher Art22 liegt nicht hauptsächlich in der Qualität23, sondern in der Quantität. Danach richtet sich aber kein Mensch konsequent.

Im Gegenteil. Neben dem Viel-hilft-viel für die »guten« Sachen gilt als hochoffizielle Universalregel für die »schlechten« Sachen Folgendes: Praktisch alles, was in hoher Dosis giftig wirkt, wirkt in niedriger Dosis auch giftig. Nur nicht ganz so schlimm. Oder es wirkt dann vielleicht auch gar nicht mehr. Von möglicherweise positiven Wirkungen von DDT, Arsen, Dioxin oder Gammastrahlen hört und liest man jedenfalls eher selten etwas. Sie existieren aber, und für unzählige andere Substanzen, Stressreize, Strahlungsarten etc. gilt das Gleiche.

Absurderweise ist die Lehre von der linearen Zu- und Abnahme der immer gleichen biologischen Wirkung nicht etwa ein uralter Irrtum der Menschheit. Sie wurde ihr von wissenschaftlich höchster Stelle vielmehr erst vor ein paar Jahrzehnten vorgezeichnet. Sie trägt Namen wie »Lineares Schwellenmodell« (Linear Threshold, LT) oder »Lineares schwellenfreies Modell« (Linear No Threshold, LNT).

Diese Lehre erinnert fast ein wenig an Religion. Sie »steht geschrieben« und wird deshalb auch von kaum einem Jünger hinterfragt. Das war zumindest bis vor Kurzem so. Doch langsam ändert sich etwas.

4DOSIS-TANGO

SCHWARZE SCHACHTELN SIND NICHT LINIENTREU

Biologie und Biomedizin sind moderne Naturwissenschaften. Leider werden sie jedoch allzu häufig wie Varianten der Physik praktiziert. Doch das Leben ist kein Messzylinder, seine Vorgänge sind mit dem kleinen Einmaleins allein nicht recht zu fassen. Und die beliebte Praxis, Ergebnisse von Experimenten, die einfach zu seltsam scheinen, schlicht dem Papierkorb zu überantworten, hat dazu beigetragen, dass eines der wichtigsten Prinzipien des Lebens bis heute nicht die Beachtung bekommt, die ihm zusteht.

Es geht im Leben eigentlich – von der Politik über die Wirtschaft und das Soziale bis hin zu Sport und persönlicher Erfüllung – immer nur um eine Frage. Sie lautet: Mehr oder weniger? Manchmal gilt weniger als erstrebenswert, etwa beim CO2-Ausstoß oder hierzulande sehr oft beim Körpergewicht. Meist soll es aber mehr sein: mehr Wachstum, Reichtum, Kitaplätze, Liebe, Sex, Schönheit, Lebensjahre, Quadratmeter, Megapixel, Gigabytes, Likes … Und natürlich mehr gesundes Essen, siehe voriges Kapitel. Und je mehr von diesem Mehr erreicht werden kann, desto besser.

Wir glauben also nicht nur an die Macht des Lineals. Wir glauben auch, und noch inbrünstiger, an die Macht der Dosis. Höhere Dosis, mehr von der gleichen Wirkung, geringere Dosis, geringere Wirkung.

Unsere Welt dreht sich um die Dosis-Frage, die Mehr-oder-weniger-Frage. Und wir verlassen uns auf den gleichmäßigen Zusammenhang von Dosis und Wirkung. Genau darin aber liegt einer der wichtigsten Gründe, warum eben jene unsere Welt und das, was in ihr passiert, oft recht kompliziert ist: Denn die Wirklichkeit folgt zwar häufig genug genau diesem Prinzip, so häufig, dass wir kaum einen Grund sehen aufzuhören, uns darauf zu verlassen. Aber sie folgt sehr oft eben auch nicht diesem Prinzip. Und dann sind wir überrascht, verstört, gekränkt sogar. Schon als Kleinkinder spüren wir das Paradox, dass wir, obwohl wir Kevin oder Nancy in der Kita heimlich, als die Erzieherin nicht guckte, den Teddy weggenommen haben, danach nicht unbedingt froher sind. In der Schule merken wir, dass doppelt so viel Lernen nicht zwingend zur Halbierung des Notenschnitts führt. Als Teenager helfen uns weder doppelte noch tausendfache Liebesbekundungen, das Herz von Sabine oder Andreas auch nur ein bisschen schneller für uns schlagen zu lassen. Als Erwachsene sind wir frustriert, wenn doppeltes Engagement im Job uns nicht doppelt so schnell voranbringt und weder doppelt so viele Joggingkilometer noch halb so viel Schokolade sich in der erhofften Weise an den Hüften bemerkbar machen.

Und auch keine Zentralbank kann sich darauf verlassen, dass sie nur die Dosis der Finanzspritzen genügend erhöhen muss, um die Wirtschaft endlich gesunden zu sehen.24

Auch doppelt so viele Kitaplätze bedeuten noch lange keine doppelt so gute Qualität der Kinderbetreuung.

Auch der Besuch eines dreimal so teuren Restaurants bringt nur selten die erhoffte Vervielfachung der Gaumenfreuden.

Am absurdesten wird das alles, wenn der Schuss buchstäblich nach hinten losgeht, wenn also mit einer Dosiserhöhung ein Verlust der Wirkung einhergeht oder diese sich gar ins Gegenteil umkehrt. Als Nicolas Sarkozy sich beim Trauermarsch für die Opfer der Anschläge auf Charlie Hebdo und einen Supermarkt für koschere Waren im Januar 2015 in die erste Reihe vorgedrängelt hatte, landete er in der Wahrnehmung der Welt trotzdem ganz hinten auf der Eselsbank. Nachdem Warner Bros. 1996 einen Rekord-Plattenvertrag mit der Band R.E.M. abgeschlossen hatte, war das Ergebnis dieser Mega-Investition von 80 Millionen Dollar eine kommerziell erfolglosere Platte nach der anderen, und eine zunehmend lustlose Band. Wer extra viel Dünger auf seine Beete schmeißt, wird sogar eine mickrigere Ernte einbringen als ganz ohne. Und wer während eines Langstreckenlaufes den Tipp, reichlich zu trinken, besonders gewissenhaft beherzigt, erhöht nicht die Wahrscheinlichkeit, schneller ins Ziel zu kommen, sondern die einer lebensgefährlichen Wasser-Intoxikation25.

Was Sie schon immer über komplex wissen wollten

All diesen Fällen, bei denen das reale Ergebnis dem, was man bei einer linearen Abhängigkeit von Dosis und Wirkung eigentlich erwarten sollte, deutlich widerspricht, ist eines gemein: Sie tragen sich zu in komplexen Systemen, also solchen, wo A nicht direkt und ohne andere Einflüsse zu B führt, sondern ein paar Stationen dazwischengeschaltet sind. Man kann sich auf lineare Dosis-Wirkungszusammenhänge eigentlich nur dann verlassen, wenn alles ganz, ganz simpel ist und wenn alle Faktoren mathematisch eindeutig bestimmbar sind: Ein Messzylinder, in dem sich ein halber Liter Wasser befindet, wird, wenn man einen weiteren halben Liter hinzugibt, danach eine doppelt so hohe Wassersäule anzeigen. Doch schon das trifft nur dann zu, wenn Idealbedingungen herrschen, wenn also zum Beispiel nichts verdunsten kann. Eine Oma, die am Samstag zwei statt nur einen Lottoschein ausfüllt, hat die doppelte Chance auf einen Sechser, so gering diese insgesamt auch sein mag.

Aber mit solchen und ähnlich einfachen Beispielen erschöpft es sich dann auch schon. Man kann ja noch nicht einmal sagen, dass man zum Lesen von zwei Seiten dieses Buches genau doppelt so lang brauchen wird wie zum Lesen von einer. Denn auf einer der Seiten stehen wahrscheinlich ein paar mehr Wörter, oder auf der anderen stehen ein paar etwas kompliziertere, oder die Absätze sind im Durchschnitt etwas kürzer etc.

Zusatzfaktoren, so zeigt dieses Beispiel, spielen also schon bei ganz simplen Alltagsvorgängen eine Rolle. Sie sind zahlreich und in ihren Auswirkungen schwer bis gar nicht zu quantifizieren. Denn weder die zusätzliche Zahl von Buchstaben, Wörtern, Konsonanten, Silben oder Kommata noch eine Kombination von alldem wird jemanden in die Lage versetzen, genau vorherzusagen, wie viel länger ein Leser brauchen wird. Schon hier wird es also komplex und nichtlinear. Und niemanden wird überraschen, dass die Sache natürlich noch komplexer wird, sobald Faktoren eine Rolle spielen, die das System selbst hervorbringt. Die Vorerfahrung von jemandem, der während des Versuches die Seite bereits einmal gelesen hat, wäre ein solcher. Um hier einen Effekt bestimmen zu können, müsste man entweder sehr tief in jenen Leser hineinschauen können, sich unter anderem in seinen Neurotransmittern und im Sprachzentrum seines individuellen Gehirns sehr gut auskennen. Oder man müsste zumindest vorab schon viele sehr ähnliche Versuche mit ihm gemacht haben, um seine Reaktion einigermaßen vorhersagen zu können.

Black Box Leben

Zwei Dinge sind also von extremer Bedeutung bei der Prognose der Auswirkungen einer Dosisveränderung: Zum einen sollte man sich mit den Mechanismen rund um das System, aber auch im Inneren des Systems gut auskennen. Zum anderen sollte man mit diesem oder sehr ähnlichen Systemen schon sehr viel Erfahrung haben.

Beides ist nicht trivial.

Denn in ein komplexes System hineinzuschauen und all seine relevanten Teile und dort ablaufenden Mechanismen zu verstehen und zu beziffern ist immer kompliziert. Es ist sogar bislang trotz aller Computer-Power dieser Welt nie zu hundert Prozent möglich.

Und auch per Experiment und Beobachtung ein solches System so gut kennenzulernen, dass man dessen Output unter den verschiedensten Input-Bedingungen vorhersagen kann, ist nicht ohne. Aber zumindest muss man dafür nicht jedes Schräubchen und jede Zusammensetzung einer Legierung kennen.

Wenn man sich nun nicht mehr Messzylindern oder Buchseiten zuwendet, sondern dem Inneren biologischer Systeme, wird es nicht einfacher. Denn das Leben ist noch immer eine »Black Box«. Wenn man jedoch den Zusammenhang der Dosis eines Reizes oder einer Substanz mit der Wirkung auf den Organismus, zumal einen individuellen Organismus, ergründen will, muss man genau das versuchen.

Und genau das ist in der biomedizinischen Forschung der letzten gut hundert Jahre viel zu wenig passiert.

Was dagegen passiert ist, war Folgendes:

1. Bei der Aufklärung von Mechanismen im komplexen System namens »Leben« oder »Menschlicher Organismus« hat man sich vor allem winzige Teile und Teilvorgänge herausgegriffen. Die sagen darüber, was letztlich der Output des Systems, die Wirkung eines Stoffes, eines Reizes auf jenes große Ganze sein wird, oft gar nichts aus. Sie weisen manchmal in die richtige Richtung, manchmal aber auch in die falsche. Es ist hier oft so, als würde sich ein Physiker den Flug des schon erwähnten von Roberto Carlos geschossenen Balls auf den ersten 50 Zentimetern ansehen, ein anderer zwischen Meter drei und vier, und wieder ein anderer bei Meter sieben. Der nächste Physiker nimmt sich den Ball vor, ein weiterer Fuß und Schuh des berühmten Linksverteidigers. Aber an der Stelle, wo die entscheidende Richtungsänderung stattfindet, schaut niemand genau hin. Würden sich diese fünf Physiker zusammentun und einen Artikel in einem Fachjournal publizieren, sie würden die Frage, wo der Ball letztlich hingeflogen ist, vollkommen falsch beantworten.

2. Bei der Beobachtung dessen, was ein bestimmter Reiz in welcher Dosis im System Leben letztlich bewirkt, hat man genauso wenig die ganze Breite im Blick gehabt. Man hat schlicht und einfach weitestgehend versäumt, Experimente zu machen, die die Wirkung bestimmter Dosen all dieser Reize und Substanzen untersuchen. Und wenn man diese Experimente doch gemacht hat, hat man die Ergebnisse, die sehr häufig unerwartet – weil nichtlinear – waren, oft nicht ernst genommen. Um bei Roberto Carlos zu bleiben: Es ist, als hätte man ihn ein paar Mal Probe schießen lassen, aber nur mit 40, 50 und 60 Prozent seiner verfügbaren Schusskraft. Unter diesen Voraussetzungen wäre der Ball in diesen Versuchen nie um die Ecke geflogen. Und wenn er doch einmal voll hätte zutreten dürfen, dann wäre den Experimentatoren die Flugkurve so seltsam vorgekommen, dass sie ihren Augen oder dem Ball oder dem Wind nicht getraut und das seltsame Ergebnis aus ihrem Protokoll gestrichen hätten.

Lohn der Reaktion

Wie schon erwähnt funktioniert unser lineares Denksystem häufig gut genug. Es funktioniert allerdings an ganz entscheidenden Stellen überhaupt nicht. Es ist ein bisschen so wie mit der ebenfalls auf Linearität ausgelegten newtonschen Physik. Sie ist vollkommen alltagstauglich und reicht aus, um auf dem Wochenmarkt Tomaten zu wiegen und sogar dafür, Verkehrssünder mit überhöhter Geschwindigkeit zu überführen. Aber schon wenn es um die Steuerung von Wettersatelliten geht, geschweige denn die Beantwortung der fundamentalen Fragen des Kosmos und der Atome, versagt sie.