Hotel Alpha - Mark Watson - E-Book

Hotel Alpha E-Book

Mark Watson

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Beschreibung

Willkommen im Hotel Alpha!

Mit Hotel Alpha legt der britische Bestsellerautor Mark Watson sein bislang größtes Romanprojekt vor. In dem Buch erzählt er die ergreifende und dennoch amüsante Geschichte zweier gegensätzlicher Figuren, die doch eines gemeinsam haben: dass sich ihr Leben so gut wie komplett in dem Londoner Nobelhotel Alpha abspielt. Neben der Buchausgabe hat Watson weitere 100 Kurzgeschichten geschaffen, die in dem Hotel spielen und den Romankosmos auf wunderbare Art erweitern.

Seit den Sechzigerjahren ist das Hotel Alpha eine regelrechte Institution in London, was nicht zuletzt an dem Besitzer des Fünfsternehauses liegt: Howard York ist smart und charismatisch, mit der wunderschönen und klugen Sarah-Jane verheiratet und ein gefeierter Held, seit er 1984 bei einem Brand den kleinen Chas rettete und ihn adoptierte, nachdem dessen Mutter in den Flammen umkam. Obwohl seit diesem Unglück blind, ist der Junge ein aufgewecktes und fröhliches Kerlchen, das allerdings die Öffentlichkeit scheut, die Tage im Hotel verbringt und sich zum Computerexperten entwickelt. Und da ist Graham Adam, der seit der Eröffnung im Hotel Alpha als Concierge tätig ist und zu Chas’ väterlichem Vertrauten wird. Er ist das gute Gewissen des Hotels, doch der schöne Schein ist nicht ganz ohne trügerisches Licht.

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Seitenzahl: 441

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Das Buch

Seit den Sechzigerjahren ist das Hotel Alpha eine regelrechte Institution in London, was nicht zuletzt an dem Besitzer des 5-Sterne-Hauses liegt: Howard York ist smart und charismatisch, mit der wunderschönen und klugen Sarah-Jane verheiratet, und ein gefeierter Held, seit er 1984 bei einem Brand den kleinen Chas rettete und ihn adoptierte, nachdem dessen Mutter in den Flammen umkam. Obwohl der Junge seit diesem Unglück blind ist, ist er ein aufgewecktes und fröhliches Kerlchen, das allerdings die Öffentlichkeit scheut, die Tage im Hotel verbringt und sich zum Computerexperten entwickelt. Und da ist Graham Adam, der seit der Eröffnung im Hotel Alpha als Concierge tätig ist und zu Chas’ väterlichem Vertrauten wird. Er ist das gute Gewissen des Hotels, doch der schöne Schein ist nicht ganz ohne trügerisches Licht.

Der Roman wird ergänzt um 100 Kurzgeschichten, die auf www.hotelalphastories.de zu finden sind.

Der Autor

Mark Watson, geboren 1980 in Bristol, ist Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator und international erfolgreicher Stand-up-Comedian. Er ist außerdem Fußball-Experte, studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist. Er ist bekannt für Marathonauftritte, die 24 Stunden und länger dauern. Mark Watson lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London. Ich könnte am Samstag (Hardcover: Elf Leben) war sein erster ins Deutsche übersetzter Roman, zuletzt erschien von ihm Überlebensgroß.

MARK WATSON

HOTELALPHA

Roman

Aus dem Englischenvon Andrea Kunstmann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem TitelHOTEL ALPHA bei Picador, an imprint of Pan Macmillan,a division of Macmillan Publishers Limited

Copyright © Mark Watson 2014

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Kristof Kurz

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung von shutterstock.com

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-14832-4

www.heyne.de

Teil 1

1

GRAHAM

Das Alpha stand in Flammen. In einem Zimmer im obersten Stockwerk war ein Feuer ausgebrochen und fraß sich nun durch das ganze Hotel. Das Gebäude, dem ich seit zwanzig Jahren mein Leben widmete, drohte komplett auszubrennen. Doch noch glitt ich eine Viertelmeile entfernt im Mercedes dahin, ohne etwas zu ahnen.

Es war ein warmer Sommerabend des Jahres 1984, ich hatte eben einen Gast zum Flughafen Heathrow gebracht. Als ich den Westway verließ und zurück Richtung Hotel fuhr, sah ich überall Menschen: Sie standen vor dem Globe Pub und trödelten lachend auf den Zebrastreifen herum, bis ich sie scherzhaft hupend dazu brachte, mich weiterfahren zu lassen. Ich selbst verbrachte nicht viel Zeit im Freien, aber ich konnte verstehen, warum alle dieses Wetter so liebten: In der Luft lag die köstliche Vorahnung eines langen glanzvollen Abends. In diesem Augenblick hätte ich mir unmöglich vorstellen können, fünf Minuten später mit der schlimmsten Katastrophe meines Berufslebens konfrontiert zu werden.

Als ich anhielt, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte: Der Vorplatz war voller Menschen, die entweder davonrannten oder einen Blick ins Hotel erhaschen wollten. Da kam es mir vor, als wüsste ich bereits seit zwanzig Jahren, dass dieser Moment kommen würde.

Den Brand hatte ich natürlich nicht vorausgeahnt. Aber in einem abergläubischen Winkel meines Gehirns, dessen Existenz ich mir eigentlich nicht eingestehen wollte, hatte ich immer gefürchtet, aus dem Paradies des Hotels Alpha eines Tages vertrieben zu werden. Aus einem ähnlich zwanghaften Impuls heraus stellte ich mir immer den Verlust meiner Frau Pattie oder meiner Kinder vor, ich wappnete mich gewissermaßen gegen das Schlimmste, indem ich es mir ausmalte.

Das Alpha war nur ein Gebäude, und doch hatte es sich von dem Augenblick vor zwanzig Jahren an, in dem ich es zum ersten Mal betrat, angefühlt wie ein Blutsverwandter. Immer wenn ich auch nur kurz weg war, hatte ich völlig absurde Fantasien: dass es verschwunden sein oder sich als Einbildung, als Traumwelt erweisen könne.

Vielleicht erfasste mich deshalb neben der Panik, die mir beim Aussteigen aus dem Auto in die Glieder schoss, zugleich auch eine Spur kalter Entschlossenheit. Ich stürzte ins Haus – durch die Mahagonitüren, die ich jede Woche wachste und polierte, über den Boden im Schachbrettmuster, den ich zur Belustigung der Putzfrauen manchmal auf Knien schrubbte, weil ich Schmutz oder Streifen darauf nicht ertragen konnte. Ich blieb neben meinem Rezeptionstresen stehen und sah hinauf zu den Galerien, die in jedem Stockwerk rund um das Atrium liefen, übereinander angeordnet wie Tortenschichten. Die oberste Galerie war bereits von einer Wolke schwarzen Rauchs verdunkelt, und die Leute trampelten die Treppen hinunter. Das Schrillen unseres antiquierten Feueralarms konkurrierte mit einem Crescendo von Stimmen, in denen Angst oder so etwas wie schuldbewusste Faszination schwang.

Zu dieser Uhrzeit waren viele Zimmer leer, weil die Gäste sich in einem der zahllosen Londoner Abendlokale vergnügten. Trotzdem war ich mir sicher, dass nicht alle aus dem obersten Stockwerk entkommen waren. Ich erkämpfte mir einen Weg durch die Menge, die Richtung Ausgang flutete, und umrundete diejenigen, die zu der immer dichter werdenden Rauchwolke hochgafften. Durch die Halle lief ich zur Hintertreppe. Obwohl ich von der Hitze, den Schreien, der Panik durch die Wand getrennt war, spürte ich all das wie Nadelstiche auf meiner Haut, als ich zwei Stufen auf einmal nehmend hinaufstürmte. In der letzten Biegung, dem Zugang zum obersten Stock, rannte ich Howard York in die Arme.

Dieser Mann hatte den Ruf, alles hinzubekommen. Er war in den letzten zwanzig Jahren zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden, und manchmal konnte man fast den Eindruck gewinnen, ganz London gehe es ähnlich. Er hatte das Alpha als junger Mann erworben und aus dem leer stehenden, heruntergekommenen Gemäuer das bekannteste Hotel der Stadt gemacht. Die Menschen kamen zu ihm und in sein Hotel auf der Suche nach Lösungen für ihre Probleme oder nach etwas, das sie nirgendwo sonst finden konnten. Wenn er im Raum war, hatte man das Gefühl, alles sei möglich. Die Unterhaltungen erstarben, wenn er sich näherte, die Umstehenden stupsten sich an, und die Realität selbst stellte sich darauf ein, sich den Vorgaben seiner Fantasie anzupassen.

Doch nun war da keine Spur mehr von jenem Magier und Geschichtenerzähler, der einen Nacht um Nacht an der Bar unterhalten hatte, dem begnadeten Geschäftsmann oder dem Romantiker, keine Spur mehr von all den schillernden Facetten Howards, an die wir uns so gewöhnt hatten. Nun sah er aus wie ein verlorener kleiner Junge. In seinen Augen standen Tränen, sein Gesicht war so rot wie rohes Fleisch, sein Oberkörper nackt. Er packte mein Handgelenk mit einer Verzweiflung, die jeden Augenblick in Gewalttätigkeit umschlagen konnte.

»Zimmer 77, Graham«, brachte er hervor und fing an zu husten, »77, 77.«

Einer von uns beiden musste sich durch den Rauch kämpfen, bevor das Desaster endgültig zur Tragödie wurde. Einer von uns oder wir beide zusammen. Oder wir blieben, wo wir waren, und vertrauten einmal mehr auf Howards sprichwörtliches Glück.

Damit waren wir bisher ziemlich gut gefahren. Aber Howard zufolge war das Glück sowieso keine unberechenbare Laune des Schicksals. Für ihn war es ein Produkt, das man herstellen oder kaufen konnte. Das war eines der ersten Dinge, die ich über ihn erfuhr. Als wir uns kennenlernten, waren wir beide Mitte zwanzig, aber im Gegensatz zu ihm wusste ich nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte, was allmählich zu einem ziemlich drängenden Problem für mich geworden war.

Unter dem Einfluss, oder sollte ich besser sagen, auf Geheiß meines Vaters, eines hochrangigen Offiziers, ging ich zum Militär. Aus seiner Sicht war ich dafür ausgesprochen gut geeignet, weil ich Autoritäten respektierte und auf blitzsaubere Schuhe achtete. Er hatte dabei allerdings übersehen, dass ich in anderer Hinsicht sehr schlecht dafür geeignet war: Insbesondere verabscheute ich Kälte und Schlamm, konnte weder schnell rennen noch ein Zelt aufstellen, hielt nicht viel von Schlafsälen und wollte vor allem keine anderen Menschen töten.

Als ich meinem Vater all dies darlegte, erlaubte er mir schließlich, den Militärdienst zu quittieren, sprach aber daraufhin nie mehr ein Wort mit mir. Ich musste mich und meine Frau Pattie nun also alleine durchbringen. Ich begegnete dieser Situation anfangs mit einer gewissen Großspurigkeit, die sich aber nach ein paar Jahren schlecht bezahlter und unsicherer Jobs verflüchtigte.

Ich arbeitete als Gehilfe bei einem Schneider, war Friseurlehrling (was bedeutete, dass ich die Haare auf dem Boden zusammenfegte) und Oberkellner im Grosvenor-House-Hotel und im Ritz. Dort, umgeben von schweren Holzmöbeln und Marmor, von Kronleuchtern, Vasen, Telefonen und pseudoklassischem Stuck, verspürte ich ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl. Wie ich feststellte, waren diese Grandhotels auf ähnliche Weise wie ich selbst betulich und altmodisch. Leider gab es dort nur sporadisch Arbeit für mich. Pattie und ich kamen deshalb, wie man so schön sagt, gerade so über die Runden.

Pattie beschwerte sich nie über unsere schäbige Wohnung oder darüber, dass es jeden Abend nur Schinken und Backofen-Pommes gab. In gewisser Weise machte ihre Duldsamkeit die Sache nur noch schlimmer. Es war beschämend, wie sie für mich die Kleinanzeigen im Evening Standard durchforstete oder vorschlug, einen Kredit aufzunehmen oder eine Sekretärinnenausbildung zu machen. Als sie auf die Anzeige stieß, die mein Leben verändern sollte, war ich eigentlich zu schlecht gelaunt, um sie überhaupt ausreden zu lassen.

»Wie wäre es damit, pass auf: ›Gesucht wird ein erstklassiger Chefportier …‹«

»Also ›erstklassig‹ bin ich ja nun wirklich nicht, oder? Und als Portier habe ich auch noch nie gearbeitet. Ich weiß überhaupt nicht, was …«

»Jetzt sei mal still! ›für Londons bestes Hotel‹ steht hier.« Und sie fuhr fort: »›Keine Erfahrung notwendig.‹ – Da hast du’s. – ›Gefordert sind Effizienz, Integrität und Abenteuerlust‹.«

»Effizient bin ich, würde ich sagen, aber von Abenteuerlust kann nicht die Rede sein.«

»Ach, ich bin sicher, daran kannst du arbeiten«, sagte Pattie. »Soll ich das Anschreiben für dich aufsetzen oder machst du es selbst?«

»Wo ist das denn? Welches Hotel?«

Pattie lachte. »Tja, das ist das Lustige. Hier steht: ›Hinweis: Das Hotel ist noch nicht eröffnet‹.«

Ganz kurz hatte ich mir die schöne Illusion gestattet, elegant gekleidet an der Rezeption des Dorchester zu stehen, aber angesichts des letzten Satzes löste sich diese Vorstellung in Luft auf. »Das ist doch bloß ein Scherz«, sagte ich, »und ich werde einen Teufel tun und mich mit der Schreibmaschine abmühen, nur um mich auf etwas zu bewerben …«

»Das wird sogar noch seltsamer!«, sagte sie und schenkte meinem Missmut zu Recht keine Beachtung. »Du musst nicht mal eine Bewerbung schreiben. Hier steht: ›Interessierte melden sich bitte am 1. Mai um 11 Uhr bei Howard York‹.«

»Das wird wohl ein Aprilscherz sein oder so«, brummte ich.

»Dummkopf! Aprilscherze macht man am 1. April. Außerdem steht da auch eine Adresse: ›Hotel Alpha, Vanessa Mews, Ecke Euston Road, N1‹.«

Die Adresse kam mir bekannt vor, und mir fiel ein, dass es sich bei dem neuen Hotel um das Etablissement handeln musste, das früher Royal hieß. In der viktorianischen Epoche war es ein prachtvolles Bahnhofshotel gewesen, hatte dann seinen Lebensabend traurig als Behelfssanatorium und Regierungsarchiv gefristet, bevor es in den Fünfzigern ganz geschlossen wurde. Das hatte mir der einzige Freund erzählt, den ich beim Militär gefunden hatte: ein Oberst im Ruhestand, der dort mehrere Wochen interniert gewesen war, nachdem er sich in Indien Typhus zugezogen hatte. Er hatte mir das feudale Interieur beschrieben: ein riesiges Atrium, in dem ganze Pferdekutschen Platz finden konnten, die Galerien, die prunkvollen, aber inzwischen heruntergekommenen Räume. Er hatte auch erwähnt, wie unheimlich dieser Ort gewesen war, der einst vor Leben und Luxus strotzte und in dem nun Krankheit und Tod regierten. Vor einigen Jahren war ich an einem nebligen Tag an diesem maroden Gebäude vorbeigelaufen und hatte mich kurz gefragt, wie lange es wohl noch dauerte, bis man es abriss. Doch nun war genau das Gegenteil passiert: Ein neues Hotel würde dort eröffnen, das Hotel Alpha.

»Na gut, ich denke mal drüber nach«, murmelte ich.

Der Rest des Tages verging wie immer: Ich ging Schinken kaufen, wir hörten Radio und lösten gemeinsam das Kreuzworträtsel in der Times. Der erste Mai rückte näher, und ich tat so, als hätte ich das Ganze vergessen, doch je stärker ich die Gedanken daran zu verdrängen versuchte, desto häufiger kreisten sie um das Hotel Alpha.

Am Vorabend des Bewerbungsgesprächs bügelte Pattie meinen Anzug, suchte eine passende Krawatte heraus, und gemeinsam probten wir mögliche Fragen:

»Was würden Sie als Ihre herausragenden Eigenschaften bezeichnen?«

»Also, äh, meine Bescheidenheit verbietet mir, äh …«

»Nein, das tut sie nicht«, schimpfte sie mich, »komm bloß nicht auf die Idee, morgen bescheiden zu sein.«

»Okay, okay«, seufzte ich, »ich bin pünktlich und verlässlich, habe noch nie einen Tag in der Arbeit gefehlt und ein ausgezeichnetes Gedächtnis …«

»Und du bist der liebenswerteste Mann, den ich kenne«, beendete Pattie den Satz für mich. »Vergiss nicht, das zu erwähnen. Und jetzt zu deinen Hobbys und Interessen.«

»Ich löse gerne Kreuzworträtsel und bin ein leidenschaftlicher Rugby-Fan.«

»Das ist auch nicht wirklich gut«, sagte sie. »Du musst irgendwie aus der Masse herausstechen. Behaupte doch, du seist in einer Volkstanzgruppe oder so.«

»Mein Gott, was soll das denn bringen? Ich könnte es genauso gut gleich lassen. Da werden garantiert …«

Pattie legte mir einen Finger auf die Lippen. Sie hatte eine Blume im Haar, und an ihrer Hand waren Spuren von Tinte.

»Du wirst umwerfend sein«, sagte sie, »und wenn du den Job nicht kriegst, dann geht die Welt auch nicht unter.«

Ich schlief schlecht, und weil ich nicht wusste, was ich sonst mit mir anfangen sollte, stieg ich morgens sofort in den Bus zum Hotel und traf dort zwei Stunden vor der angegebenen Zeit ein. Das Gemäuer sah noch genauso massiv und verwittert aus, wie ich es in Erinnerung hatte, aber es waren neue Fenster eingebaut worden, und auf der imposanten Flügeltür aus Mahagoni prangte ein silbernes A in Jugendstil-Optik. Ich blickte hinauf zu den Zedern, die den Vorplatz säumten. Sie hatten mir etwas voraus: Sie standen bereits seit Generationen hier und schienen zu wissen, wie die Dinge sich entwickeln würden. Hinter diesen Türen, so schienen die Bäume zu sagen, werden aufregende Dinge passieren. Vielleicht wirst du daran teilhaben, vielleicht auch werden sie ganz einfach ohne dich geschehen.

Etwa eine Stunde vor Mittag begann sich eine Schlange zu bilden, und je länger sie wurde, desto mutloser wurde ich. Die große Mehrheit dieser vierzig oder fünfzig Männer strahlte Jugendlichkeit und Unbekümmertheit aus. Ich selbst fühlte mich, obwohl ich erst fünfundzwanzig war, mit meiner Aktenmappe und meinem altmodischen Haarschnitt wie ein Relikt aus alten Zeiten. Ich war ganz anders als diese Leute, die den Rauch ihrer Zigaretten nach dem Vorbild irgendwelcher Popstars lässig in die Luft bliesen und die Bemerkungen ihres Gegenübers mit einem wissenden Grinsen quittierten. Sie würden den Hotelgästen die richtigen Bars empfehlen oder die angesagten Läden in der Carnaby Street. Sie, nicht ich, waren das, was dieses Etablissement brauchte.

Während ich mich darum bemühte, diese pessimistische Einschätzung zu unterdrücken, wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Mann in einem zerschlissenen alten Mantel gelenkt. Er sorgte für Aufruhr, weil er mit einer Flasche Whisky in der Hand zwischen die fahrenden Autos gelaufen war. Er hatte nur kurz gezögert, dann den Arm gehoben, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren, und war mitten auf die Fahrbahn gesprungen, wo die Fahrzeuge mit einem Hupkonzert um ihn herumkurvten. Ein Bus gab ein tiefes Brüllen von sich – wie ein Tier, in dessen Revier man eingedrungen ist. Ich sah mich um. Einige meiner Mitbewerber schauten neugierig, ja sogar amüsiert zu; andere nestelten an ihrem Haar oder warfen einen Blick auf ihre Armbanduhren. Niemand schien sich um den Typen Gedanken zu machen, der nun reglos dalag. Ohne lange zu überlegen, ließ ich meine Mappe fallen und stürzte auf die Straße.

»Geht es Ihnen … brauchen Sie Hilfe?«, fragte ich.

»Sehr nett von Ihnen«, sagte er mit einer Stimme, die genauso ruhig klang wie meine eigene, »würden Sie mir wohl auf den Gehsteig helfen?«

Ich streckte ihm einen Arm hin, half ihm auf die Beine und führte ihn zum Bordstein.

»Sehr mutig von Ihnen, einfach so auf die Fahrbahn zu laufen«, sagte der Mann.

»Ich dachte, die würden schon nicht so weit gehen und mich geradewegs überfahren.«

»Ganz genau.« Er bedachte mich unvermittelt mit einem listigen, abschätzenden Blick. »Autos wollen einen gar nicht überfahren, Schlangen wollen einen nicht beißen, und Flugzeuge wollen nicht, dass man sie verpasst. Wissen Sie, was ich meine?«

Ich stimmte ihm zu, obwohl ich in Wahrheit dachte, dass er vermutlich vollkommen verrückt war. Und dann tat dieser Fremde etwas, das ich nie vergessen werde: Er streifte den Mantel ab, unter dem er eine Smokingjacke aus violettem Knittersamt trug, griff in sein strähniges, wirres Haar und riss es sich mit einem Ruck vom Kopf. Unter der Perücke kam eine unkonventionelle Wuschelfrisur zum Vorschein, und ich stand plötzlich einem Mann in etwa meinem Alter gegenüber.

»Ich heiße Howard York«, sagte er. »Sie waren der Einzige, der mir geholfen hat – von all den Leuten da.« Er deutete auf die Reihe der Umstehenden, von denen viele nun reichlich verblüfft dreinblickten. »Wie heißen Sie?«

»Graham Adam, Mr. York.«

»Sie haben den Job, Graham Adam«, sagte er.

Einen Moment lang war ich sprachlos, aber wirklich nur einen Moment: »Sind Sie sicher, Sir?«

»Vergessen Sie das Sir«, sagte er, »Howard. Und ja, ich bin sicher. Gehen Sie rein und wenden Sie sich an eine Dame mit sehr langen braunen Haaren. Das ist meine Frau Sarah-Jane. Ich erkläre inzwischen den anderen Jungs hier, dass ihr Bewerbungsgespräch bereits stattgefunden hat.«

Benommen passierte ich die Schlange von Bewerbern und traf in der großen Halle auf die junge Dame, die er beschrieben hatte. Sie nahm mich mit einem ironischen Lächeln in Empfang.

»Herzlich willkommen«, sagte sie mit leichtem Yorkshire-Akzent. »Gut gemacht. Der Idiot wollte sich diesen Schwachsinn einfach nicht ausreden lassen.«

Sie nahm meinen Arm – was ich normalerweise ziemlich forsch von ihr gefunden hätte, aber dazu war ich zu verwirrt – und begann, mich im Hotel herumzuführen. Wie im Traum nahm ich die Eindrücke in mir auf: die individuell eingerichteten Suiten, den weitläufigen Vorratskeller mit seiner großen Auswahl jahrzehntealter Weine, den vornehmen Rauchsalon. Wir sprachen über das Gehalt, obwohl ich die vor mir liegenden Formulare auch unterschrieben hätte, wenn sie mir Kekse als Bezahlung vorgeschlagen hätten.

Als ich schließlich diesen Leuten – aber nicht dem Zauber, den sie auf mich ausübten – entkommen war, ging ich Richtung Westen, wo ich von einer Telefonzelle gegenüber der grünen Kuppel des Planetariums Pattie anrief. Ich ging in ein Pub, bestellte mir einen Whisky und spendierte aus einem Impuls heraus eine Runde für zwanzig fremde Leute. Erst im Regent’s Park gab ich mich endlich meinen Gefühlen hin und vollführte hinter einer Statue einen kleinen Tanz – vielleicht beobachteten mich dabei aus den Fenstern der weißen Villen reiche Menschen und dachten, ich sei durchgedreht.

Meine erste Aufgabe bestand darin, die Einladungen für die große Eröffnungsparty des Alpha zu versenden. Die Gästeliste bestand aus Hunderten von Namen, manche davon so berühmt, dass selbst ich schon von ihnen gehört hatte. Wir nahmen auch bereits die ersten Zimmerreservierungen entgegen, wobei Howard York eine höchst eigenartige Methode vorgab. Wenn jemand wegen eines Zimmers anrief, so hatte er mich angewiesen, solle ich sagen, dass wir für die ersten drei Wochen ausgebucht seien und dass derjenige sich später am Abend nochmals melden solle, ob etwas frei geworden sei. Dabei machte mir nicht die harmlose Lüge zu schaffen – Howard war mein Chef und ich würde grundsätzlich tun, was er sagte. Vielmehr erschien mir das Vorgehen außerordentlich leichtfertig. Warum sollte sich ein nagelneues Hotel auf diese Weise Einnahmen durch die Lappen gehen lassen? Würde ich in sechs Wochen wieder ohne Job dastehen?

Aber so gut wie alle riefen wieder an, und wenn diesmal – wie durch ein Wunder – doch ein freies Zimmer für sie gefunden werden konnte, waren sie so überaus dankbar und erleichtert, dass ich fast selbst an meine Lüge glaubte. Es sprach sich herum, dass es bereits jetzt praktisch unmöglich war, ein Zimmer im Alpha zu bekommen. Die Anfragen verdoppelten und verdreifachten sich, das alte Telefon aus Bakelit auf meinem Tresen klingelte alle paar Minuten, und so wurde das Märchen von der unaufhaltsam wachsenden Beliebtheit des Hotels Alpha im Handumdrehen Wirklichkeit.

Die Eröffnungsparty funktionierte auf ähnliche Weise. Es waren zwar zahlreiche Berühmtheiten eingeladen worden, viel mehr jedoch blieben ohne Einladung. Es war unvermeidlich, dass diese völlig willkürliche Einteilung in die beiden Gruppen den Beteiligten höchst bedeutungsvoll erschien. Bald unternahm die zweite Gruppe angestrengte Versuche, doch noch eine Einladung zu bekommen, umso mehr, als in einer Reihe angesagter Klatschmagazine darüber spekuliert wurde, wer es »auf die Liste geschafft« hatte und wer nicht. Schon da wurde mir klar, dass Howard ein großes Talent besaß, bestimmte Dinge in der Presse zu lancieren, um sie dann wie unumstößliche Fakten dastehen zu lassen. Zugleich jedoch richtete er gerne Unfug an und hatte einen Hang zum Chaos. Er konnte einen halben Tag damit zubringen, einen kurzen Auftritt von Mary Quant auf die Beine zu stellen, dann wieder lud er völlig unbedeutende Leute ein, beispielsweise einen Mann, dessen Hund ihn auf der Euston Road angefallen hatte und beißen wollte. Am Tag vor der Party waren die Vorratskeller des Hotels so voll, dass wir den Hof des Sonnenkönigs hätten verköstigen können, obwohl wir schon längst den Überblick verloren hatten, ob wir mit fünfzig oder fünftausend Gästen rechnen mussten. Weil Pattie Freunde außerhalb von London besuchte, konnte ich den ganzen Tag mithelfen, alles vorzubereiten.

»Was meinst du, wie lange wird es wohl dauern?«, fragte ich Sarah-Jane. Dabei beobachtete ich besorgt, wie sie, auf Zehenspitzen auf einem Hocker balancierend, versuchte, eine Lichterkette über dem Tresen der Rezeption zu drapieren. »Und soll ich dir dabei vielleicht helfen?«

Sie drehte sich um, ihr Gesicht war leicht gerötet, und um mich zu erheitern, hängte sie sich den Lichterstrang um den Hals. »Vielleicht sollte ich sie einfach so tragen? – Ach so, wie lange es dauert? Ich würde das Unerwartete erwarten.«

»Ich will ja kein Spielverderber sein, aber ich ziehe es vor, das Erwartete zu erwarten«, sagte ich.

Ein Lachen erschien auf Sarah-Janes Gesicht: »Tja«, sagte sie, »es könnte schon um Mitternacht vorbei sein, aber auch bis ein Uhr oder – Gott bewahre – bis zwei dauern, Graham. Die Überstunden bekommst du natürlich bezahlt!«

»Es geht mir gar nicht ums Geld, ich möchte einfach nur vorbereitet sein.«

Aber bereits eine Stunde, nachdem sich die Mahagonitüren geöffnet und der erste Schwall von Besuchern hereingekommen war, wurde deutlich, dass dies kein Ereignis war, auf das man vorbereitet sein konnte. Die Halle bebte unter der Energie der Leiber, von den Galerien erschallte Gelächter, manchmal so schrill und demonstrativ, als wolle der Lachende damit seine Cleverness unter Beweis stellen, dann wieder wild und unkontrolliert. Die Champagnerkorken knallten wie Schüsse aus einem Spielzeuggewehr. Viele Male ging ich in den Keller, um für Nachschub an Spirituosen zu sorgen; ich servierte Platten mit Lachs, Frischkäse und Krabbencocktail, um nur Minuten später die Reste abzuräumen. Das Hotel Alpha war erfüllt von lärmender Freude. Das ganze Gebäude war wie ein Mensch, der nach langer krankheitsbedingter Abwesenheit endlich wieder in die Gesellschaft zurückkehrt.

Das Stückchen Himmel, das durch das Glasdach zu sehen war, wandelte sich von einem dunklen Violett über ein unklares Flieder in ein blasses Bläulichweiß, und noch immer war kein Ende der Party absehbar. Die Leute hatten sämtliche Zimmer okkupiert. Auf der obersten Galerie stehend, hörte ich ein heiseres Lied vom Ende des Flurs, und in einem Zimmer ganz in der Nähe schien ein junges Paar in einer ganz anderen Angelegenheit zusammenzuarbeiten. Ich musste feststellen, dass von mir abgesehen das gesamte Haus unter dem Einfluss von Alkohol oder anderer Drogen stand. Weitere Gesänge und Geschrei drangen von der Halle herauf wie Geräusche von einem entfernten Radio. Ein paar Leute lagen in ihren grellen Partyklamotten auf dem Schachbrettboden, als wären sie dort notgelandet; andere krochen wie Insekten von einer Ecke in die nächste. Und mittendrin sah ich Howard, der eine seiner Partynummern zum Besten gab: Er balancierte einen Stuhl auf seinem Kopf. Er streckte seine Arme zur Seite, um das Gleichgewicht zu halten, doch von meinem Standpunkt sah es aus, als signalisiere er seinem Publikum: »Schaut mich an!« Ich sah wieder hinauf zum Glasdach, und plötzlich fiel es mir schwer, zu glauben, dass außerhalb dieser Ziegelmauern überhaupt irgendetwas von Bedeutung existierte.

Um neun Uhr morgens ging ich mit schweren Gliedern und zerknautschter Kleidung nach Hause. Die Luft draußen war kalt und dünn, und die Menschen, die ich zur Arbeit gehen sah, wirkten wie in einem Traum. Ich sperrte die Wohnung auf, schlief ein paar Stunden, nahm ein Bad und ging gleich wieder zurück ins Alpha, nachdem ich Pattie bei ihren Freunden angerufen hatte.

»Wie war die Party?«

»Sie war … also genau genommen ist sie noch gar nicht zu Ende.«

»Meine Güte«, sagte Pattie, »ich hoffe, diese Leute wissen, was sie tun.«

In dieser Hinsicht konnte ich sie nicht beruhigen. Als ich aus dem Bus stieg und die Euston Road entlangschlenderte, vorbei an Leuten, denen das Lächeln, das sich auf mein Gesicht gestohlen hatte, gleichgültig war, fragte ich mich, ob das Hotel Alpha seinen kometenhaften Aufstieg zur Berühmtheit fortsetzen würde. Gut möglich, dass die Polizei inzwischen alle rausgeworfen hatte und das Hotel in seinen alten Zustand geisterhafter Verlassenheit zurückgefallen war oder sich ganz in Luft aufgelöst hatte.

Ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen. Die Türen mit dem eckigen A hingen so unerschütterlich fest in ihren Angeln wie zuvor, und das Chaos dahinter befand sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Howard und Sarah-Jane tanzten, flankiert von anderen Paaren, einen Lindy Hop zu den Rhythmen eines Jazzquartetts, das in abgewetzten Smokings aus dem Nichts aufgetaucht war. Noch immer hatte jeder einen Drink in der Hand, und auf den Galerien, in der Bar und dem Rauchsalon herrschte nach wie vor fieberhafte Aktivität. Die Polizei war irgendwann nachts aufgetaucht und wieder weggeschickt worden. Sarah-Jane hatte, abgesehen von einem Paar Socken unbekleidet, einem verunsicherten jungen Wachtmeister die Tür geöffnet.

»Wollen Sie nicht etwas anziehen, Madam?«, hatte er vorgeschlagen.

»Wir haben doch Musik an«, sagte Sarah-Jane und streckte den Arm aus, um den Polizisten hereinzubitten. Er blieb für ein paar Drinks, bevor er sich anstandslos wieder auf den Weg machte.

Nirgendwo hing eine Uhr, und der Himmel war nur durch das Glasdach zu sehen, sodass sich nicht nur die Zeit, sondern auch das Konzept von Zeit generell verflüchtigt zu haben schien. Das Raster der Stunden zerbarst wie morsches Holz, und wir fielen hindurch. Erst als es zum zweiten Mal Mitternacht wurde, begann die Party sich aufzulösen. Benebelte Gäste taumelten hinaus auf die Euston Road. Sie blinzelten und starrten in die Luft, als habe man sie wochenlang in einem dunklen Keller gefangen gehalten. Alle wurden mit herzlichen Worten und einem Klaps auf den Rücken von dem nach wie vor beschwingten Howard verabschiedet – eingeschlossen der Mann mit Hund, der aus einer Laune heraus eingeladen worden und letztendlich siebzehn Stunden geblieben war.

Mittlerweile hatte ich mit dem Aufräumen begonnen. Ich ging die Galerien entlang und inspizierte mit einer gewissen Beklemmung ein Zimmer nach dem anderen. Ich sammelte Dosen, Flaschen und andere, nicht sofort identifizierbare Gegenstände ein, die ich nur mit spitzen Fingern anfasste. Der schwarze Sack auf meiner Schulter, in den ich alles stopfte, wurde immer schwerer und schwerer, so als würde man den Auftritt eines Weihnachtsmanns rückwärts abspulen. Ich stellte erleichtert fest, dass trotz der Unordnung keine wirklichen Schäden angerichtet worden waren – schon jetzt fühlte es sich an, als gehöre das Haus mir. Als ich hinunter in die Lobby kam, ging ich an Howard und Sarah-Jane vorbei, die mitten auf dem Marmorboden lagen und sich eine Zigarette teilten. Sie dachten wohl, ich sei außer Hörweite, oder es war ihnen egal, denn Sarah-Jane rappelte sich hoch, und auf den Ellenbogen gestützt sagte sie: »Er ist ein richtiger Glücksgriff.«

Mir wurde klar, dass sie über mich sprachen, und ich bekam rote Ohren.

»Ja, er ist wirklich spitze«, stimmte Howard ihr zu. »Aber wir sind unseres Glückes Schmied, Captain. Captain ist ab heute dein Spitzname.«

»Warum das?«

»Weil ich es so entschieden habe«, sagte er mit gespielter Grandezza. Ich schaute noch einmal hin und dann gleich wieder weg, weil er sich über sie beugte und sie auf die Nase küsste. Sie legte den Kopf auf seine Schulter, und dann lagen die beiden da, die große Kulisse des Alpha um und über sich. Die Stille, die eingekehrt war, erschien mir vergänglich. Das Gefühl jedoch, das ich in den letzten paar Tagen empfunden hatte – der glückliche Gast einer Party zu sein, die meine Erwartungen weit überstieg –, hat mich in den Jahren, die folgten, nie mehr wirklich verlassen. Nicht für eine sehr lange Zeit jedenfalls.

Ich zweifelte nicht länger daran, dass Howard in der Lage war, das Hotel mit Gästen zu füllen. Was wir dann mit ihnen anfangen sollten, war eine andere Frage. Sicher, Howard wusste, wie man ein Geschäft aufzieht und eine Party schmeißt, aber er hatte kaum eine Vorstellung davon, wie man ein Hotel führt. Das würde meine Aufgabe sein.

Zumindest schien es so. Meine Berufsbezeichnung »Portier« traf es eher vage. Howard hatte sie ebenso wie »Page« aus den amerikanischen Thrillern übernommen, die ihn überhaupt erst dazu verleitet hatten, das Vermögen seiner Familie ins Hotelgewerbe zu stecken. Meine Position würde das sein, was ich daraus machte. Und ich machte daraus etwas Beachtliches.

Ich leitete die Rezeption, und schon der dazugehörige Tresen war eindrucksvoll: Der Block aus holländischem Walnussholz schien fast so groß, wie der Baum ursprünglich einmal gewesen sein mochte. Darauf standen das Telefon aus Bakelit, das riesige Reservierungsbuch mit seinen cremeweißen Seiten, ein Füllfederhalter und eine Registrierkasse. In den Tresenschubladen bewahrte ich nützliche Dinge auf: diverse Sprachführer, Zugfahrpläne, Faltblätter für die hiesigen Sehenswürdigkeiten und Ähnliches. Wenn das Telefon läutete, nahm ich die Reservierung entgegen und schrieb den Namen in das Reservierungsbuch, das eigentlich ein Skizzenbuch für Künstler war. Pattie und ich hatten jede Doppelseite sorgfältig in siebenundsiebzig Rechtecke unterteilt, sodass ich immer den Überblick bewahrte, wer wo wohnte. Am 15. Mai 1963 empfing ich den ersten Gast mit einer Reihe von Regeln, die ich mir mehr oder weniger aus den Finger gesogen hatte, die aber in der Folge zu unserem Mantra wurden:

»Frühstück gibt es von sechs bis zehn Uhr. Wir haben einen Spielsaal und einen Rauchsalon, aber selbstverständlich können Sie auch auf Ihrem Zimmer rauchen. Wenn Sie im Restaurant reservieren möchten …«

Die Zimmerschlüssel hingen an einem Brett und waren an hölzernen Anhängern in Form eines A befestigt, die Howard zu horrenden Kosten aus der Schweiz hatte kommen lassen. Es machte mir großen Spaß, sie herunterzunehmen und dem Gast auszuhändigen, das Geld entgegenzunehmen und in die Kasse zu legen oder die Schecks sorgfältig in einer Schublade zu verstauen, von wo aus sie dann freitags zur Lloyd-Bank gebracht wurden. Mir unterstanden die zwölf Angestellten des Hotels. Ich trug einen eleganten grauen Anzug, und die Leute nannten mich »Mr. Graham«. Pattie fiel auf, dass ich nun morgens das Haus pfeifend verließ.

»Ich habe dich nie so glücklich gesehen, Graham.«

Darin steckte mehr Wahrheit, als sie ahnte. Ich hatte etwas gefunden, wonach ich mein Leben lang unbewusst gesucht hatte: etwas, worin ich wirklich gut war, einen Ort, an dem ich das Kommando hatte. Natürlich behielten Howard und Sarah-Jane das Oberkommando, aber wir sprachen miteinander wie Gleichgestellte. Als Howard vorschlug, das Frühstück auf sieben zu verschieben – »Die Köche haben es dann leichter, und außerdem sind mir Leute suspekt, die schon um sechs Uhr morgens fertig angezogen sind« –, schlug ich als Kompromiss vor, den Gästen das Frühstück auf Wunsch früher auf ihrem Zimmer zu servieren und den Restaurantbetrieb erst um sieben aufzunehmen.

»Meinetwegen«, sagte Howard. »In ihren Zimmern müssen sie wenigstens nicht bekleidet sein.« Und dann lachte er wie immer über meinen Gesichtsausdruck, weil ich wieder einmal nicht wusste, wie ich die Bemerkung auffassen sollte.

Es war, als sei ich für eine gigantische Modelleisenbahn verantwortlich, so eine, wie ich sie als kleiner Junge besessen hatte, bevor mein Vater sie in einem seiner Wutanfälle ins Feuer geworfen hatte. Je mehr Kurven und Schleifen ich für mich einbaute, desto geschickter wurde ich bei der Steuerung. Ich begann die Gäste aufzufordern, sich einfach an der Rezeption zu melden, wenn sie etwas bräuchten, und freute mich auf die Herausforderungen, vor die mich diese Anrufe stellten. Wann fährt der Zug von der Euston Station nach Liverpool Lime Street? Gibt es in der Nähe Restaurants, die zu so später Stunde noch offen haben? Manchmal waren die Fragen anspruchsvoller: Könnte ich eine bestimmte Schachregel erklären? Wäre ich so nett, die Schlagzeilen der Morgennachrichten zusammenzufassen, damit der Anrufer nicht aufzustehen brauchte? Bald erkannte ich, dass es nicht reichte, die Informationen nachzuschlagen – mir jedenfalls reichte es nicht. Ich wollte in der Lage sein, sofort zu antworten.

Also lernte ich Zugfahrpläne auswendig. Ich erstellte ein mentales Telefonverzeichnis von Howards vielen nützlichen Freunden – Oberkellner, Nachtclubbesitzer und Theaterdirektoren. Ich prägte mir Londons Straßen so präzise ein wie ein Taxifahrer. Ich hatte die verschiedenen Zeitzonen präsent oder die Adresse, wo man nachts um eins frischen Hefekuchen bekam, oder die Namen von Gästen, die vor Wochen bei uns logiert hatten. Wenn jemand den Schlüssel im Zimmer vergessen hatte und mit verlegenem Gesicht bei mir an der Rezeption um einen Ersatzschlüssel bat, wusste ich Namen und Zimmernummer, ohne dass derjenige ihn sagen musste.

Ich hatte schon immer ein exzellentes Gedächtnis. Als Kind hatte ich versucht, mir die Namen von Königen oder U-Bahn-Haltestellen in der richtigen Reihenfolge zu merken, um mich von anderen Dingen abzulenken. Aber ich hatte diese Fähigkeit nie besonders zu schätzen gewusst. Beim Militär diente mein Gedächtnis ausschließlich dazu, mich daran zu erinnern, wie viel schöner mein Leben gewesen war, bevor ich mich verpflichtet hatte. Im Hotel Alpha war ein gutes Gedächtnis ein echter Pluspunkt, weil es dazu beitrug, den Gästen das zu verschaffen, was sie brauchten. Und Letzteres war eine der wenigen Anweisungen, die Howard mir gab: »Finde heraus, was die Leute wünschen. Erfülle ihre Wünsche. Dazu ist das Alpha da.«

Seine Vorstellung davon, was das bedeutete, war jedoch deutlich aufwendiger als meine, wie ich im Laufe der Monate und Jahre herausfinden sollte.

Im Jahr 1965 bekam ich eines Tages die Schlüssel zum hoteleigenen Mercedes ausgehändigt und wurde gebeten, einen Herrn nach Heathrow zu fahren – »ein bisschen schneller, als die Geschwindigkeitsbegrenzung es zulässt«, so Howards Worte.

»Das ist natürlich illegal«, machte ich deutlich.

»Ach, so illegal nun auch wieder nicht«, meinte Howard ungeduldig, »aber das Problem ist, dass mein Freund hier Gefahr läuft, seinen Flug zu verpassen.« Er deutete auf einen Spanier, der nervös auf und ab ging und gelegentlich Worte ausstieß, die ich nicht besonders leiden konnte.

»Wann geht das Flugzeug?«

»In zwanzig Minuten.« Aus Howards Mund klang das wie eine Lappalie. »Graham, ich habe dir doch gesagt, dass Flugzeuge nicht wollen, dass man sie verpasst. Du bringst ihn hin, so schnell du kannst. Ich leite alles Nötige in die Wege, damit das Flugzeug nicht rechtzeitig starten kann. Wenn du am Flughafen bist, geh zum British-Airways-Schalter und sag meinen Namen, dann wird es schon klappen.«

Ich zog die Autohandschuhe an, die ich mit Pattie zusammen in der Savile Row gekauft hatte, um das schöne elfenbeinfarbene Lenkrad zu schonen, und ließ den Wagen an. Als wir uns dem Stadtrand näherten – etwa auf der Höhe der Fuller’s-Brauerei, deren weiße Mauern in der regnerischen Nacht glänzten und im Licht der Scheinwerfer wie geschmolzen aussahen –, begann der Mann über Esperanto zu sprechen, für dessen Verbreitung er Gelder aufzutreiben versuchte. Meine Fahrgäste eröffneten oft in der Nähe der Brauerei eine Konversation. Wenn sie zum ersten Mal in London waren, war dies der Moment, in dem die Stadt ihre unverwechselbare Gestalt annahm und vor ihren Augen lebendig wurde. Wenn sie jemanden nach Heathrow begleitet hatten, wurde ihnen an diesem Punkt bewusst, dass dieser Mensch jetzt wirklich fort war.

ENDE DER LESEPROBE