How To Be an Antiracist - Ibram X. Kendi - E-Book
SONDERANGEBOT

How To Be an Antiracist E-Book

Ibram X. Kendi

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wir alle sind Rassisten, ob wir es merken oder nicht. Ibram X. Kendi, Historiker, Professor an der University of Washington, Schwarz, behauptet auch von sich selbst, früher Rassist gewesen zu sein. In seinem so brillanten wie mitreißenden Buch zeigt er anhand der eigenen Geschichte, dass Neutralität im Kampf gegen Rassismus keine Option ist: Wir sind in unserer Ignoranz so lange Teil des Problems, bis wir Teil der Lösung werden und aktiv antirassistisch handeln. Kendi zerstört den Mythos der postrassischen Gesellschaft und entwirft ein grundlegend neues Verständnis von Rassismus - was er ist, wo er sich verbirgt, wie er zu identifizieren ist und was wir dagegen tun können. Denn wir sind entweder rassistisch oder antirassistisch, dazwischen gibt es nichts.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 496

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Wir alle sind Rassisten, ob wir es merken oder nicht, doch das Schöne ist, dass wir unsere Haltung ändern können. Ibram X. Kendi, Historiker, Professor an der Boston University, Schwarz, behauptet auch von sich selbst, früher Rassist gewesen zu sein. In seinem so brillanten wie mitreißenden Buch zeigt er anhand der eigenen Geschichte, dass Neutralität im Kampf gegen Rassismus keine Option ist: Wir sind in unserer Ignoranz so lange Teil des Problems, bis wir Teil der Lösung werden und aktiv antirassistisch handeln. Kendi entwirft ein grundlegend neues Verständnis von Rassismus - was er ist, wo er sich verbirgt, wie er zu identifizieren ist und was wir dagegen tun können. Denn wir sind entweder rassistisch oder antirassistisch, dazwischen gibt es nichts.

Zum Autor

IBRAM X. KENDI, geboren 1982 in New York, ist Gründungsdirektor des Antiracist Research and Policy Center, Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen und er hat die renommierte Andrew-W.-Mellon-Professur in the Humanities an der Boston University inne, die als besondere Auszeichnung für akademische und gesellschaftliche Leistung gilt und seit ihrer Gründung 1973 nur von Elie Wiesel besetzt war. Für sein Buch »Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika« erhielt er 2016 den National Book Award. »How to Be an Antiracist« ist sein neues, viel beachtetes Buch, New-York-Times-Nummer-1-Bestseller, in dem er anhand der eigenen Geschichte die Mechanismen von Rassismus sichtbar macht und nicht weniger als die radikale Neuorientierung unseres Bewusstseins fordert.

IBRAM X. KENDI

HOW TO BE AN ANTIRACIST

Aus dem amerikanischen Englisch von Alina Schmidt

Die amerikanische Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »How to be an Antiracist« bei One World, Penguin Random House, New York erschienen.Anmerkungen des Verlags zur Übersetzung:Das englischsprachige »race« entspricht in keinster Weise dem deutschen Begriff »Rasse«, der ein rein biologisches Konzept beschreibt – und keine politische und soziale Kategorie umfasst, wie dies im Angloamerikanischen der Fall ist. Wir haben deshalb auf eine entsprechende Übersetzung ins Deutsche verzichtet und verwenden im Text durchgehend »Race«.Historische Zitate werden aufgrund des jeweiligen Kontextes, in dem sie genannt werden und zu dessen Erklärung sie beitragen, zum Teil nicht mit der im Text verwendeten Terminologie oder Schreibweise übersetzt. Das N-Wort wird durch den Platzhalter »N*« markiert.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Ibram X. Kendi

Covergestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Greg Mollica

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25643-2V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

An das Überleben

INHALT

Meine rassistische Einführung

1. Definitionen

2. Das duellierende Bewusstsein

3. Macht

4. Biologie

5. Ethnizität

6. Körper

7. Kultur

8. Verhalten

9. Color

10. Weiss

11. Schwarz

12. Klasse

13. Raum

14. Gender

15. Sexualität

16. Scheitern

17. Erfolg

18. Überleben

Dank

Anmerkungen

MEINE RASSISTISCHE EINFÜHRUNG

ICHHASSTEANZÜGE und Krawatten. Siebzehn Jahre lang war ich von Anzug und Krawatten tragenden und gut behüteten Kirchenleuten umgeben gewesen. Meine Garderobe als Teenager war der lautstarke Protest eines Predigerkindes.

Es war der 17. Januar 2000. Über dreitausend Schwarze Menschen – und ein paar versprengte weiße Menschen – hatten sich an jenem Montagmorgen in ihrem besten Sonntagsstaat in der Hylton Memorial Chapel in Northern Virginia versammelt. Meine Eltern trafen in einer Art Schockzustand ein. Ihr orientierungsloser Sohn hatte es irgendwie in die Endrunde eines zu Ehren von Martin Luther King Jr. veranstalteten Redewettbewerbs des Prince William County geschafft.

Anders als der Großteil meiner Konkurrentinnen und Konkurrenten trat ich nicht im weißen Hemd unter einem dunklen Anzug und der passenden dunklen Krawatte an. Ich trug stattdessen ein gewagtes goldbraunes Jackett mit einem glänzenden schwarzen Hemd und einer in leuchtenden Farben gestreiften Krawatte. Der Saum meiner schwarzen Baggy Pants stauchte über meinen cremefarbenen Stiefeln. Beim Seriositätstest war ich bereits durchgefallen, bevor ich auch nur ein einziges Wort von mir gegeben hatte, aber meine Eltern, Carol und Larry, strahlten dennoch über das ganze Gesicht. Sie konnten sich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Krawatte und Jackett getragen hätte, egal, wie auffällig und verrückt.

Aber nicht nur meine Garderobe passte nicht so recht ins Bild. Meine Konkurrentinnen und Konkurrenten waren akademische Wunderkinder. Ich nicht. Mein Notendurchschnitt war nicht atemberaubend; beim SAT, Studierfähigkeitstest, hatte ich mit Mühe und Not 1000 Punkte erreicht. Renommierte Hochschulen warben meine Konkurrentinnen und Konkurrenten an. Ich konnte mir schon etwas darauf einbilden, dass ich überraschenderweise von den beiden Colleges eine Zusage erhalten hatte, bei denen ich mich halbherzig beworben hatte.

Ein paar Wochen zuvor war ich gerade mit meiner Mannschaft auf dem Basketballplatz beim Aufwärmen vor einem Spiel. Wir übten Korbleger, als plötzlich mein Vater mit seinen imposanten 1,90 Meter und 90 Kilo am Eingang der Sporthalle auftauchte. Er ging langsam übers Basketballfeld und wedelte mit den Armen, um mich auf sich aufmerksam zu machen – und mich vor dem »weißen Richter« zu blamieren. Typisch Dad. Was voreingenommene weiße Leute von ihm dachten, war ihm so was von egal. Ganz selten wenn überhaupt setzte er eine falsche fröhliche Miene auf, verstellte seine Stimme auf bewusst ruhig, verbarg seine Meinung oder vermied es, eine Szene zu machen. Ich liebte und hasste meinen Vater dafür, dass er nach seinen eigenen Regeln in einer Welt lebte, die Schwarzen Menschen eigene Regeln normalerweise verweigert. Das war die Art von Trotz, die in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort dazu geführt hätte, dass ihn ein Mob gelyncht hätte – oder die heute dazu führt, dass ihn ein Uniformierter mit Dienstabzeichen lyncht.

Ich trabte zu ihm, bevor er mit seinen rudernden Armen mitten durch unsere Übungsreihe brach. Seltsam aufgedreht reichte er mir einen braunen Umschlag.

»Der ist heute für dich gekommen.«

Er bedeutete mir ungeduldig, den Umschlag zu öffnen, direkt hier auf dem Spielfeld, vor den Augen der weißen Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer.

Ich zog den Brief heraus und las: Ich war an der Hampton University im südlichen Virginia aufgenommen worden. Nach dem ersten Schock empfand ich ein unaussprechliches Glücksgefühl. Ich umarmte meinen Dad und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Tränen mischten sich mit dem Schweiß des Aufwärmtrainings auf meinem Gesicht. Die wertenden weißen Blicke um uns herum verschwanden.

Ich hatte geglaubt, ich wäre dumm, zu doof fürs College. Sicher, Intelligenz ist so subjektiv wie Schönheit. Aber ich zog für mich immer wieder »objektive« Standards heran, etwa Testergebnisse und Zeugnisse. Kein Wunder, dass ich mich nur an zwei Universitäten bewarb: an der Hampton University und an der Hochschule, wo ich schließlich studierte, an der Florida A&M University. Weniger Bewerbungen bedeuteten auch weniger Absagen – und ich rechnete fest damit, dass mich diese beiden historischen afroamerikanischen Universitäten ablehnen würden. Warum sollte eine Universität einen Idioten aufnehmen, der keine Ahnung von Shakespeare hatte? Ich kam damals nicht auf die Idee, dass ich mich vielleicht gar nicht richtig bemüht hatte, Shakespeare zu verstehen, und dass ich deshalb den Kurs Englisch II fürs International Baccalaureate in meinem letzten Jahr an der Highschool abgebrochen hatte. Andererseits las ich in der Zeit eigentlich so gut wie gar nichts.

Wenn ich damals ein paar Geschichtsbücher gelesen hätte, hätte ich vielleicht etwas mehr über die historische Bedeutung der Stadt erfahren, in die meine Familie 1997 aus New York City gezogen war. Ich hätte von all den Denkmälern der Konföderierten erfahren, die mich in Manassas, Virginia, umzingelten wie die toten Soldaten von Robert E. Lees Armee. Ich hätte erfahren, warum so viele Touristinnen und Touristen zum Manassas National Battlefield Park pilgern, um die ruhmreichen Siege der Konföderierten in den Schlachten am Bull Run während des Bürgerkriegs wieder aufleben zu lassen. Es ist der Ort, an dem General Thomas J. Jackson aufgrund seines hartnäckigen Einsatzes auf der Seite der Konföderierten den Spitznamen »Stonewall« erhielt. Die Einwohnerinnen und Einwohner im Norden Virginias hielten diesen »Abwehrwall« all die Jahre intakt. Ob wohl irgendjemandem die Ironie aufgefallen war, dass mein freies Schwarzes Leben beim Redewettbewerb zu Ehren Martin Luther Kings ausgerechnet die Stonewall Jackson High School repräsentierte?

DIEENTZÜCKENDENORGANISATORINNENder Veranstaltung, Mitglieder der Delta Sigma Theta Sorority, saßen zusammen mit stolzen Würdenträgerinnen, Würdenträgern und den Wettbewerbsteilnehmenden auf einem Podium im Altarraum. Die Sitzplätze für das Publikum zogen sich um das lange, gebogene Podium, so dass die Rednerinnen und Redner genügend Platz hatten, um während ihres Vortrags auf und ab zu schreiten, von einer Seite der Kirche zur anderen; fünf Stufen boten zudem die Möglichkeit, zum Publikum hinunter zu gehen, wenn wir wollten.

DIESCHÜLERINNENUNDSchüler der Mittelstufe hatten bereits ihre erstaunlich reifen Reden gehalten. Der Kinderchor war hinter uns erklungen. Das Publikum setzte sich wieder und schwieg in Erwartung der drei Highschool-Rednerinnen und -Redner.

Ich war als erster dran. Endlich näherte ich mich dem Höhepunkt einer Erfahrung, die mein Leben bereits verändert hatte. Seitdem ich vor einigen Monaten den Redewettbewerb an meiner Highschool gewonnen hatte und dann einige Wochen später bei einem landesweiten Wettbewerb zum »Sieger der Jury« gekürt worden war, regnete ein steter Schauer akademischen Zuspruchs auf mich nieder. Wenn ich nach dieser Erfahrung nur so durchtränkt war von Selbstbewusstsein fürs College, dann hatte ich zuvor auf der Highschool eine lange Dürre erlebt. Heute frage ich mich, ob mein geringes Selbstwertgefühl für meine geringe Meinung über meine Leute verantwortlich war. Oder sorgte die geringe Meinung über meine Leute dafür, dass ich auch eine geringe Meinung von mir selbst hatte? Wie bei der berühmten Frage nach dem Huhn und nach dem Ei ist die Antwort weniger wichtig als der Kreislauf, den sie beschreibt. Rassistische Vorstellungen bewirken, dass People of Color sich selbst weniger positiv sehen, was sie wiederum anfällig für rassistische Vorstellungen macht. Rassistische Vorstellungen vermitteln weißen Menschen ein positiveres Selbstwertgefühl, weshalb sie sich wiederum zu rassistischen Vorstellungen hingezogen fühlen.

Ich hielt mich für einen unterdurchschnittlichen Schüler und wurde mit Botschaften bombardiert – von Schwarzen Menschen, weißen Menschen, den Medien –, die mir vermittelten, dass mir der Grund dafür ins Gesicht geschrieben stand … was mich noch mehr entmutigte und meine Motivation als Schüler noch mehr dämpfte … was die rassistische Vorstellung, Schwarze Menschen seien nun einmal nicht sonderlich lernfreudig, bei mir weiter verstärkte … wodurch meine Verzweiflung und mein Desinteresse weiter zunahmen … und so weiter. Dieses Gedankenkarussell wurde an keiner Stelle durch eine tiefgründige Analyse meiner spezifischen Situation und Defizite unterbrochen oder durch einen kritischen Blick auf die Vorstellungen einer Gesellschaft, die mich beurteilte – stattdessen verstärkte der Gedankengang die rassistischen Vorstellungen in meinem Innern, bis ich sie schließlich auch anderen predigte.

ICHDENKESEHRgerne an diesen Redewettbewerb zurück. Aber wenn ich an die rassistische Rede denke, die ich damals hielt, überkommen mich noch immer Gefühle der Scham.

»WIEWÜRDEDR. Kings Botschaft für das neue Jahrtausend lauten? Stellen wir uns doch einmal einen wütenden einundsiebzigjährigen Dr. King vor …« So begann mein Remix von Martin Luther Kings »I Have a Dream«-Rede. Unsere Befreiung aus der Sklaverei sei ein freudiger Moment gewesen, erklärte ich. »Doch heute, einhundertfünfunddreißig Jahre später, ist der N* noch immer nicht frei.« Ich sprach bereits im donnernden Tonfall, wütend, mehr Malcolm als Martin. »Das Denken unserer Jugend befindet sich immer noch in Gefangenschaft!«

Ich sagte nicht, dass sich das Denken unserer Jugend in der Gefangenschaft rassistischer Vorstellungen befindet, wie ich es heute formulieren würde.

»Sie meinen, es wäre in Ordnung, dass sie diejenigen sind, die man in unserer Gesellschaft am meisten fürchtet!« Ich sagte das so, als ob es der Fehler der Jugendlichen wäre, dass man sie so fürchtete.

»Sie denken, es wäre okay, nicht zu denken!«, lautete mein nächster Vorwurf, mit dem ich die klassische rassistische Vorstellung wiedergab, dass Schwarze Jugendliche Bildung nicht so schätzen wie ihre nicht Schwarzen Altersgenossen. Es schien niemanden zu stören, dass sich diese abgedroschene Idee über Anekdoten verbreitet hatte, aber nie bewiesen worden war. Das Publikum ermutigte mich mit seinem Applaus. Ich machte weiter, feuerte eine unbewiesene und widerlegte rassistische Idee nach der anderen ab, während ich aufzählte, was mit der Schwarzen Jugend alles nicht stimmte – ironischerweise bei einem Anlass, bei dem offen zu Tage trat, was sehr wohl stimmte mit der Schwarzen Jugend.

Ich schritt wie wild auf dem Podium auf und ab und redete mich immer mehr in Rage.

»Sie meinen, es wäre okay, wenn sie schon als Teenager schwanger werden!« Applaus. »Sie meinen, es wäre okay, ihre Träume auf Sport und Musik zu beschränken!« Applaus.

Hatte ich vergessen, dass ich – und nicht die »Schwarze Jugend« – derjenige war, der seine Träume auf Sport beschränkt hatte? Und ich redete von der Schwarzen Jugend in der dritten Person Plural? Für wen hielt ich mich? Offensichtlich hatte mich mein Auftritt auf dieser illustren Bühne aus dem Reich der gewöhnlichen – und damit minderwertigen – Schwarzen Jugendlichen herausgehoben und in das Reich der seltenen und außergewöhnlichen versetzt.

Bei meinen von Applaus aufgepeitschten rhetorischen Höhenflügen war mir nicht klar, dass man, wenn man die Defizite einer racial Gruppe nennt, diese Gruppe auch als minderwertig deklariert. Mir war nicht klar, dass man, wenn man eine minderwertige Eigenschaft einer racial Gruppe nennt, eine rassistische Vorstellung äußert. Ich dachte, ich würde etwas für meine Leute tun, dabei tat ich etwas für die rassistischen Vorurteile gegenüber meinen Leuten, denen ich eine rassistische Vorstellung nach der anderen vorsetzte. Der »Schwarze Richter« schien das alles zu schlucken und mich mit einem Schulterklopfen zu ermuntern, immer weiter zu reden. Und ich kam der Aufforderung gerne nach.

»Ihr Denken wird gefangen gehalten, und das Denken unserer Erwachsenen ebenso«, sagte ich und deutete auf das Publikum. »Weil sie denken, dass die kulturelle Revolution, die an dem Tag einsetzte, an dem mein Traum geboren wurde, vorbei sei.

Doch wie kann sie vorbei sein, wenn wir in vielen Fällen nur deswegen keinen Erfolg haben, weil es uns an innerer Stärke mangelt?« Applaus.

»Wie kann sie vorbei sein, wenn unsere Kinder aus dem Haus gehen, ohne zu wissen, was sie aus sich machen sollen? Sie wissen nur, was sie nicht aus sich machen wollen!« Applaus.

»Wie kann sie vorbei sein, wenn all das innerhalb unserer Gemeinschaft geschieht?«, fragte ich und senkte die Stimme. »Daher sage ich Ihnen, meine Freunde, selbst wenn diese kulturelle Revolution nie vorbei sein wird, habe ich immer noch einen Traum …«

ICHHABEIMMERnoch einen Albtraum – die Erinnerung an diese Rede, wann immer ich den Mut aufbringe, sie mir erneut ins Gedächtnis zu rufen. Heute kann ich mir nur schwer vorstellen, wie ich im Jahr 2000 die Highschool abschließen und dabei so viele rassistische Vorstellungen von mir geben konnte. Eine rassistische Kultur hatte mich mit der nötigen Munition ausgestattet, um Schwarze Menschen unter Beschuss zu nehmen, mich selbst unter Beschuss zu nehmen, und ich nahm die Munition und legte los. Internalisierter Rassismus ist das wahre Verbrechen, das Schwarze Menschen gegen Schwarze Menschen begehen.

ICHWAREINTölpel, ein Dummkopf, der die anhaltenden Probleme der Schwarzen Menschen am Martin Luther King Day 2000 sah und zu dem Schluss kam, dass Schwarze Menschen selbst das Problem seien. Genauso funktionieren rassistische Ideen und Mechanismen – und generell jede Form der Intoleranz: Wir werden dahingehend manipuliert, dass wir die Menschen als das Problem sehen und nicht die Politik, die sie hereinlegt.

Die Sprache, die der 45. Präsident der Vereinigten Staaten verwendet, ist ein typisches Beispiel dafür, wie diese Form des rassistischen Sprachgebrauchs und Denkens funktioniert. Lange bevor Donald Trump Präsident wurde, sagte er gerne: »Faulheit ist typisch für Schwarze.«1 Als er sich entschied, für die Präsidentschaft zu kandidieren, wollte er Amerika wieder »great« machen, indem er lateinamerikanische Einwandernde als Kriminelle und Vergewaltiger verunglimpfte und Milliarden für den Bau einer Mauer an der Grenze verlangte, die sie fernhalten sollte.2 Außerdem versprach er »ein totales und vollständiges Einreiseverbot für Muslime in die USA«.3 Als Präsident bezeichnete er seine Schwarzen Kritiker und Kritikerinnen regelmäßig als »dumm«.4 Außerdem behauptete er, Eingewanderte aus Haiti hätten »alle Aids«,5 während er Anhänger und Anhängerinnen der White-Supremacy-Bewegung im Sommer 2017 als »sehr gute Leute« bezeichnete.6

Wenn ihn jemand auf das Offensichtliche hinwies, reagierte Trump regelmäßig mit verschiedenen Variationen eines vertrauten Refrains: »Nein, nein. Ich bin kein Rassist. Ich bin der am wenigsten rassistische Mensch, den Sie je interviewt haben«,7 »den Sie je getroffen haben«,8 »dem Sie je begegnet sind«.9 Trumps Verhalten sticht vielleicht heraus, aber sein Leugnen ist normal. Wenn man jemanden auf eine rassistische Äußerung anspricht, wird typischerweise abgestritten, dass diese Vorstellung rassistisch sei. Wenn man rassistische Maßnahmen anspricht, wird abgestritten, dass die Maßnahmen rassistisch seien.

Leugnen ist der Herzschlag des Rassismus, der quer durch alle Ideologien, Races und Nationen pulsiert.10 Er schlägt in uns. Viele, die Trumps rassistische Ideen anprangern, leugnen ihre eigenen. Wie oft gehen wir instinktiv in die Defensive, wenn jemand etwas, was wir getan oder gesagt haben, als rassistisch bezeichnet? Wie viele von uns würden folgender Erklärung zustimmen: »›Rassistisch‹ ist keine beschreibende, sondern eine abwertende Bezeichnung. Genauso gut könnte man sagen: ›Ich mag dich nicht.‹«11 Diese Äußerung stammt von Richard Spencer, einem Anhänger des White-Supremacy-Konzepts, der sich wie Trump als »nichtrassistisch« bezeichnet. Wie viele von uns, die die Trumps und White Supremacists dieser Welt verachten, teilen die Selbstbeschreibung »nichtrassistisch«?

Aber wo liegt das Problem, wenn man sich als »nichtrassistisch« bezeichnet? Die Behauptung soll Neutralität signalisieren: »Ich bin nichtrassistisch, aber auch nicht vehement gegen Rassismus.« Doch im Kampf gegen Rassismus gibt es keine Neutralität. Das Gegenteil von »rassistisch« ist nicht »nichtrassistisch«, sondern »antirassistisch«. Wo liegt der Unterschied? Entweder befürwortet man die Vorstellung einer rassistischen Hierarchie und ist damit ein Rassist oder man befürwortet die Vorstellung von der Gleichstellung aller Races und ist damit ein Antirassist. Entweder glaubt man, Probleme seien in bestimmten Gruppen veranlagt, und ist damit ein Rassist, oder man verortet die Ursachen der Probleme in den Machtverhältnissen und der Politik und ist damit ein Antirassist. Entweder lässt man zu, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund von Race weiterbesteht, und ist damit ein Rassist, oder man wendet sich gegen die Ungleichbehandlung und ist damit ein Antirassist. Es gibt kein bequemes Dazwischen als Nichtrassist. Die Behauptung einer nichtrassistischen Neutralität ist verschleierter Rassismus. Das klingt vielleicht hart, doch es ist wichtig, dass wir von Anfang an ein Grundprinzip des Antirassismus anwenden, das darin besteht, dass wir den Begriff »rassistisch« wieder richtig gebrauchen. »Rassistisch« ist – anders als Richard Spencer argumentiert – keine abwertende Bezeichnung. Es ist nicht das schlimmste Wort im Englischen oder einer anderen Sprache; es ist nicht mit einer Beschimpfung gleichzusetzen. Es ist eine Beschreibung, und der einzige Weg, gegen Rassismus vorzugehen, besteht darin, ihn konsequent aufzuzeigen und zu beschreiben – und ihn dann abzubauen. Der Versuch, diese nützliche Beschreibung in eine Beschimpfung umzuwandeln, die man kaum mehr aussprechen darf, soll natürlich das Gegenteil bewirken: uns in Untätigkeit einzufrieren.

DIEWEITVERBREITETEIdee der Color-Blindheit ist ähnlich einzuordnen wie der Begriff »nichtrassistisch« – wie der nicht-rassistische Mensch übersieht die oder der Color-blinde Einzelne den Rassismus, indem er vorgibt, Race nicht wahrzunehmen, und verfällt in eine rassistische Passivität. Die Sprache der Color-Blindheit verschleiert – wie der Begriff »nichtrassistisch« – den Rassismus. »Unsere Verfassung ist farbenblind«, erklärte John Harlan, Richter am Obersten Gerichtshof der USA und als einziger der acht Richter im Fall Plessy versus Ferguson von 1896 der Meinung, dass getrennte Einrichtungen für Schwarze Menschen und weiße Menschen gegen die Verfassung verstießen, in seiner Stellungnahme. »Die weiße ›Race‹ sieht sich selbst als die dominierende in diesem Land«, fuhr Richter Harlan fort. »Sie wird es, daran habe ich keine Zweifel, für alle Zeiten sein, wenn sie ihrem großartigen Erbe treu bleibt.«12 Eine Color-blinde Verfassung für ein Amerika der weißen Vorherrschaft.

DIEGUTENACHRICHTist, dass Rassisten und Antirassistinnen nicht auf ihre Rolle festgelegt sind. Wir können im einen Augenblick Rassistin und im nächsten Antirassist sein. Was wir über Race sagen, wie wir uns verhalten, bestimmt in jedem Moment, was – und nicht wer – wir sind.

Ich war früher meistens Rassist. Aber ich ändere mich. Ich identifiziere mich nicht mehr mit Rassistinnen und Rassisten, indem ich behaupte, nichtrassistisch zu sein. Ich verstecke mich nicht mehr länger hinter der Maske der Neutralität von Race. Ich lasse mich nicht mehr von rassistischen Vorstellungen manipulieren und betrachte bestimmte racial Gruppen auch nicht mehr als problematisch. Ich glaube nicht mehr länger, dass eine Schwarze Person nicht rassistisch sein kann. Ich lasse nicht mehr jede meiner Handlungen davon bestimmen, wie ein imaginärer »weißer« oder »Schwarzer Richter« sie beurteilen würde, versuche nicht mehr, weiße Menschen davon zu überzeugen, dass ich ein gleichwertiger Mensch bin, und Schwarze Menschen davon, dass ich eine Race gut vertrete. Ich schere mich nicht mehr länger darum, wie die Handlungen anderer Schwarzer Menschen auf mich zurückfallen, denn keiner von uns ist ein Repräsentant von Race, und kein Individuum ist verantwortlich für die rassistischen Vorstellungen eines anderen. Und ich habe erkannt, dass die Entwicklung vom Rassisten zum Antirassisten ein andauernder Prozess ist – der es erforderlich macht, dass man Rassismus, der auf Grundlage von Biologie, Ethnizität, Körper, Kultur, Verhalten, Hautfarbe, Raum und Klasse passiert, versteht und widerlegt. Und darüber hinaus bedeutet diese Entwicklung, sich bereitzuhalten und Rassismus zu bekämpfen, der sich mit anderen Formen der Diskriminierung überlagert.

INMEINEMBUCHgeht es um den grundlegenden Kampf, den wir alle austragen, dem Kampf, ein Mensch zu sein, und zu erkennen, dass die anderen auch alle nur Menschen sind. Ich teile mit Ihnen meine eigene Reise, wie ich in einer Familie der Schwarzen Mittelschicht in der Reagan-Ära aufwuchs, mit ihrem duellierenden Bewusstsein von Race, wie ich dann nach rechts auf den zehnspurigen Highway des gegen Schwarze Menschen gerichteten Rassismus abbog – einen Highway, auf dem es mysteriöserweise keine Polizei gab, dafür aber immer reichlich Treibstoff –, um anschließend auf die zweispurige Straße des gegen weiße Menschen gerichteten Rassismus abzubiegen, wo der Treibstoff knapp ist und die Polizei allgegenwärtig, bevor ich dann die unbeleuchtete Schotterpiste des Antirassismus fand, auf der ich mich seitdem bewege.

Nach der aufreibenden Reise über den holprigen Weg des Antirassismus kann die Menschheit auf die Lichtung einer potenziellen Zukunft stoßen: eine antirassistische Welt in all ihrer unvollkommenen Schönheit. Diese Welt kann Wirklichkeit werden, wenn wir uns auf Machtverhältnisse anstatt auf Personen konzentrieren, wenn wir uns darauf konzentrieren, nicht eine bestimmte Gruppe Menschen, sondern die Politik zu verändern. Eine antirassistische Welt ist möglich, wenn wir unseren Zynismus überwinden und aufhören zu glauben, dass Rassismus ewig bestehen wird.

Wir wissen, wie man rassistisch ist. Wir wissen, wie man so tut, als ob man nichtrassistisch wäre. Jetzt müssen wir nur noch lernen, wie man antirassistisch wird.

DEFINITIONEN

RASSISTIN, RASSIST: eine Person, die mit ihren Handlungen oder ihrer Untätigkeit eine rassistische Politik unterstützt oder eine rassistische Idee äußert.

ANTIRASSISTIN, ANTIRASSIST: eine Person, die mit ihren Handlungen eine antirassistische Politik unterstützt oder eine antirassistische Idee äußert.

SOULLIBERATIONWIEGTEN sich auf der Bühne in der Halle der University of Illinois und ließen bunte Dashikis und Afros auf und ab hüpfen wie geballte Fäuste – ein erstaunlicher Anblick für die 11000 Studierenden im Publikum. Soul Liberation waren so völlig anders als die weißen Ensembles in ihren Anzügen, die in den zwei Tagen nach Weihnachten ihre Hymnen gesungen hatten.

Die Schwarzen Studierenden hatten durchgesetzt, dass die InterVarsity Christian Fellowship, eine an Universitäten aktive evangelikale christliche Organisation, den zweiten Abend der Konferenz der Schwarzen Theologie widmete. Über fünfhundert Schwarze Teilnehmende aus dem ganzen Land waren gekommen. Darunter waren auch meine Eltern.

Sie saßen nicht nebeneinander. Wenige Tage zuvor waren sie im selben Bus angereist, vierundzwanzig Stunden waren sie unterwegs gewesen, die sich wie zweiundvierzig angefühlt hatten, von Manhattan durch Pennsylvania, Ohio und Indiana, bis sie endlich tief in Illinois angekommen waren. Einhundert Schwarze New Yorkerinnen und New Yorker waren zu der von InterVarsity organisierten Jugendmissionskonferenz Urbana ’70 angereist.

Meine Mutter und mein Vater hatten sich einige Wochen zuvor an Thanksgiving kennengelernt, als Larry, der am Baruch College in Manhattan Rechnungswesen studierte, in seiner Kirche in Jamaica im Stadtteil Queens eine Veranstaltung mitorganisierte, bei der Teilnehmende für die Urbana ’70 rekrutiert werden sollten. Carol war eine von dreißig Interessierten, die zu der Veranstaltung kamen – sie studierte am Nyack College, einer kleinen christlichen Hochschule, die gut siebzig Kilometer weiter nördlich vom Haus ihrer Eltern in Far Rockaway lag, und war über die Feiertage heim nach Queens gekommen. Das erste Zusammentreffen verlief ereignislos, doch immerhin hatte Carol Larry bemerkt, einen überaus ernsten Studenten mit einem gewaltigen Afro, das Gesicht unter dichtem Bartgestrüpp verborgen, und Larry fiel Carol auf, eine zierliche Neunzehnjährige mit dunklen Sommersprossen auf dem karamellfarbenen Teint. Allerdings wechselten die beiden nur ein paar höfliche Worte. Sie hatten unabhängig voneinander beschlossen, zur Urbana ’70 zu gehen, als sie gehört hatten, dass Tom Skinner predigen und Soul Liberation auftreten würden. Mit seinen 28 Jahren hatte sich Skinner seinen Ruf als charismatischer Prediger der Schwarzen Befreiungstheologie hart erarbeitet.13 Als ehemaliges Gangmitglied und Sohn eines Baptistenpredigers erreichte er mit seiner wöchentlichen Radiosendung und seinen landesweiten Auftritten Tausende, wenn er an so symbolträchtigen Orten wie dem Apollo Theater in seinem Heimatviertel Harlem vor einem dichtgedrängten Publikum predigte. 1970 veröffentlichte Skinner sein drittes und sein viertes Buch, How Black Is the Gospel? und Words of Revolution.14

Carol und Larry hatten beide Bücher verschlungen wie eine Melodie von James Brown oder einen Kampf von Mohammed Ali. Carol hatte Skinner über dessen jüngeren Bruder Johnnie entdeckt, der ebenfalls am Nyack College studierte. Larrys Verbindung war eher ideologischer Natur. Im Frühjahr 1970 hatte er sich für den Kurs »Schwarze Ästhetik« angemeldet, den der am Baruch College lehrende legendäre Literaturwissenschaftler Addison Gayle Jr. gab.15 Zum ersten Mal las Larry James Baldwins The Fire Next Time, Richard Wrights Native Son, Amiri Barakas herzzerreißende Stücke und das verbotene revolutionäre Manifest The Spook Who Sat by the Door von Sam Greenlee.16 Es war ein Erweckungserlebnis. Nach Gayles Kurs suchte Larry nach einem Weg, seinen Glauben mit seinem neu gefundenen Schwarzen Bewusstsein zu verbinden. Seine Suche führte ihn zu Tom Skinner.

SOULLIBERATIONSTIMMTENihre berühmte Hymne »Power to the People« an.17 Die Schwarzen Studierenden, die vor zur Bühne geströmt waren, bewegten sich im Takt zum hämmernden Schlagzeug und zum wummernden Bass, die zusammen mit dem synkopischen Klatschen an den Rhythm and Blues einer Erweckungsveranstaltung in den ländlichen Südstaaten erinnerten.

Der Rhythmus griff auch auf die Tausenden weißen Körper in der Halle über. Schon bald waren auch sie aufgesprungen, wiegten sich und sangen zu den Soulklängen von Black Power.

Jeder Akkord von Soul Liberation schien die Vorfreude auf den anschließenden Auftritt zu steigern. Als die Musik endete, war es so weit: Tom Skinner, im dunklen Anzug mit roter Krawatte, trat ans Rednerpult und begann mit ernster Stimme seine Geschichtsstunde.18

»Die evangelische Kirche … unterstützte den Status quo. Sie unterstützte die Sklaverei; sie unterstützte die Segregation; sie predigte gegen jeden Versuch des Schwarzen Mannes, auf eigenen Beinen zu stehen.«

Skinner erzählte, wie er früher einen elitären weißen Jesus anbetete, der die Menschen durch »Regeln und Vorschriften« gängelte, einen Erlöser, der Richard Nixons Vorstellung von Gesetz und Ordnunganhing. Doch eines Tages erkannte Skinner, dass er Jesus falsch verstanden hatte. Jesus war nicht Mitglied bei den Rotariern und auch kein Polizist. Jesus war ein »radikaler Revolutionär mit Haaren auf der Brust und Dreck unter den Fingernägeln«. Skinners neue Vorstellung von Jesus basierte auf einer neuen Interpretation des Evangeliums, dem er sich verschrieben hatte. »Denn ein Evangelium, das sich nicht … mit dem Thema Sklaverei auseinandersetzt«, mit »Ungerechtigkeit« und »Ungleichheit – ein Evangelium, das nicht dorthin gehen will, wo die Menschen hungern und arm sind, das die Menschen nicht im Namen Jesu Christi befreien will –, ist kein Evangelium.«

Zu Lebzeiten Jesu »gab es ein System, das genau wie heute funktionierte«, erklärte Skinner. Aber »Jesus war gefährlich. Er war gefährlich, weil er das System veränderte.« Die Römer sperrten diesen »Revolutionär« ein, »nagelten ihn ans Kreuz«, töteten ihn und begruben seinen Leichnam. Doch drei Tage später war Jesus »aus dem Grab wiederauferstanden«, um Zeugnis zu geben für uns heute. »Verkündet den Gefangenen ihre Befreiung, predigt den Blinden das Sehen«, und »geht in die Welt und sagt allen, die mental, spirituell und körperlich geknechtet werden: ›Der Befreier ist gekommen!‹«

Der letzte Satz pulsierte in der Menge. »Der Befreier ist gekommen!« Die Studierenden sprangen förmlich von ihren Sitzen und applaudierten begeistert – sie nahmen die Botschaft dieses neuen Evangeliums in Empfang. Die Befreier waren gekommen.

Meine Eltern waren sehr empfänglich für Skinners Ruf nach evangelikalen Befreiern und besuchten im Laufe der einwöchigen Konferenz eine Reihe von Veranstaltungen, bei denen Skinners Forderung jeden Abend aufs Neue bekräftigt wurde. Bei der Urbana ’70 verabschiedeten sich meine Ma und mein Dad von ihrer bisherigen zivilisierenden, rassistischen Kirche, die die bestehenden Zustände bewahren wollte. Sie wurden von der Schwarzen Befreiungstheologie gerettet und schlossen sich der kirchenlosen Kirche der Black Power-Bewegung an.19 Die gesamte Schwarze Welt war hingerissen gewesen von der Bewegung der Schwarzen Solidarität, des kulturellen Stolzes und der Schwarzen ökonomischen und politischen Selbstbestimmung, die im Gefolge von Malcolm X, Fannie Lou Hamer, Stokely Carmichael und anderen Antirassisten und Antirassistinnen, die sich gegen die Segregationisten und Assimilationisten der 1950er- und 1960er-Jahre wandten, aufkamen. Und jetzt, 1970, waren meine Eltern hingerissen von der Black Power-Idee. Sie überlegten nicht mehr, wie sie die Seelen der Schwarzen Menschen retten, sondern wie sie sie befreien konnten.

Im Frühjahr 1971 kehrte meine Ma ans Nyack College zurück und beteiligte sich an der Gründung einer Schwarzen Studierendenvertretung, die eine rassistische Theologie infrage stellte, sich gegen Konföderiertenflaggen an Wohnheimtüren wandte, gegen zu wenige Schwarzen Studierenden und fehlende Kursangebote mit Schwarzen Inhalten. Sie fing an, Kleider mit afrikanischen Mustern zu tragen, und umwickelte ihren wachsenden Afro mit afrikanisch gemusterten Tüchern. Und sie träumte davon, als Missionarin in ihr Mutterland zu reisen.

Dad kehrte in seine Kirche zurück, verließ jedoch seinen berühmten Jugendchor. Er begann, Veranstaltungen zu organisieren, bei denen provokante Fragen gestellt wurden: »Ist das Christentum eine Religion der Weißen?« oder »Welche Bedeutung hat die Schwarze Kirche für die Schwarze Gemeinde?« Er las die Bücher und Texte von James Cone, dem Theologen und Vater der Schwarzen Befreiungstheologie sowie Autor des einflussreichen Theology & Black Power von 1969.20

Eines Tages im Frühjahr 1971 nahm Dad seinen Mut zusammen, fuhr nach Harlem und besuchte eine Vorlesung von James Cone am Union Theological Seminary. Cone sprach über sein neues Buch, A Black Theology of Liberation.21 Nach der Vorlesung sprach Dad Professor Cone an.

»Wie lautet Ihre Definition eines Christen?«, fragte Dad in seiner ernsthaften Art.

Cone sah Dad genauso ernst an und antwortete: »Ein Christ ist jemand, der nach Befreiung strebt.«

James Cones Definition eines Christen basierte auf einer Christenheit der Versklavten, nicht auf einer Christenheit der Sklavenhalter. Diese Definition war für meinen Dad eine Offenbarung. Ma hatte einen ähnlichen Moment der Offenbarung in ihrer Schwarzen Studierendenvertretung – die Erkenntnis, dass es im Christentum um Kampf und Befreiung ging. Unabhängig voneinander waren meine Eltern zu einem Glauben gekommen, der ihr Leben formen sollte; sie wollten die Art von Christentum leben, zu dem sie der Revolutionär Jesus inspiriert hatte. Diese neue Definition eines Wortes, das sie bereits ohnehin als Kernidentität für sich gewählt hatten, veränderte sie natürlich.

MEINEEIGENE, IMMERnoch andauernde Entwicklung zum Antirassisten begann bei der Urbana ’70. Was meine Ma und meinen Dad veränderte, sollte auch das Leben ihrer beiden ungeborenen Söhne verändern – die neue Definition eines christlichen Lebens wurde zum Glaubensbekenntnis, das die Grundlage für das Leben meiner Eltern und das Leben ihrer Kinder bildete. Ich kann die Bestrebungen meiner Eltern, ein christliches Leben zu führen, nicht von meinen eigenen säkularen Bestrebungen trennen, ein antirassistisches Leben zu führen. Und die wichtigste Handlung für meine Eltern wie für mich bestand darin, bestimmte Begriffe zu definieren, damit wir anfangen konnten, die Welt und unseren Platz darin zu beschreiben. Definitionen verankern uns in Prinzipien. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen: Wenn wir nicht die Grundlagenarbeit leisten und nicht die Art von Mensch definieren, die wir sein wollen, und zwar in einer Sprache, die stabil und beständig ist, dann können wir auch nicht auf ein stabiles, beständiges Ziel hinarbeiten. Einige meiner folgenreichsten Schritte auf dem Weg zum Antirassisten geschahen dann, wenn ich grundlegende Definitionen festlegte. Eine Antirassistin, ein Antirassist sein heißt, klare Definitionen von Rassismus/Antirassismus, rassistischer/antirassistischer Politik, rassistischen/antirassistischen Vorstellungen, rassistischen/antirassistischen Menschen zu schaffen. Eine Rassistin, ein Rassist sein heißt, die Begriffe »Rassistin« und »Rassist« immer wieder so zu definieren, dass sie die Veränderungen im eigenen Verhalten, den eigenen Vorstellungen und der eigenen Persönlichkeit rechtfertigen.

Legen wir also einige Definitionen fest. Was ist Rassismus? Rassismus ist die Verbindung von rassistischer Politik und rassistischen Ideen, die Ungleichheit zwischen Races hervorbringt und normalisiert. Gut, und was sind dann rassistische Vorstellungen und eine rassistische Politik? Wir müssen die beiden Begriffe getrennt voneinander definieren, um zu verstehen, warum sie so eng miteinander verbunden sind und so gut miteinander funktionieren. Lassen wir diese Definitionen zunächst einmal ruhen und betrachten die Definition eines weiteren wichtigen Begriffs: racial Ungleichheit.

Racial Ungleichheit besteht, wenn zwei oder mehr racial Gruppen nicht annähernd gleichgestellt sind. Hier ist ein Beispiel: 71 Prozent der weißen Familien in den USA lebten 2014 in einer Immobilie, die ihnen selbst gehörte, bei Latinx Familien waren es hingegen 45 Prozent und bei Schwarzen Familien nur 41 Prozent.22 Gleichheit besteht, wenn zwei oder mehr racial Gruppen relativ gleichgestellt sind. Ein Beispiel wäre, wenn der Anteil der Eigenheimbesitzer bei allen drei Gruppen relativ gleich wäre, also etwa in einem Bereich um die 40 Prozent, 70 Prozent oder noch besser 90 Prozent liegen würde.

Eine rassistische Politik ist jede Maßnahme, die racial Ungleichheit zwischen verschiedenen racial Gruppen schafft oder bewahrt. Eine antirassistische Politik ist jede Maßnahme, die Gleichheit zwischen racial Gruppen schafft oder bewahrt. Mit Maßnahme meine ich geschriebene oder ungeschriebene Gesetze, Regeln, Verfahren, Prozesse, Vorschriften und Richtlinien, die das Leben der Menschen bestimmen. So etwas wie eine nichtrassistische oder Race-neutrale Politik gibt es nicht. Jede Maßnahme in jeder Institution, in jeder Gemeinschaft und in jedem Staat schafft oder bewahrt entweder Ungleichheit oder Gleichheit zwischen racial Gruppen.

Rassistische Politik wurde auch schon mit anderen Begriffen beschrieben, etwa mit »institutionellem Rassismus«, »strukturellem Rassismus« oder »systemischem Rassismus«. Aber diese Begriffe sind vage im Vergleich zu »rassistischer Politik«. Wenn ich sie verwende, muss ich, wie ich festgestellt habe, auch gleich erklären, was ich damit meine. »Rassistische Politik« ist greifbarer und genauer und wird auch von Leuten (oder Opfern), die in der Rassismus-Terminologie nicht so firm sind, meist sofort verstanden. »Rassistische Politik« nennt das Problem beim Namen und zeigt, wo die Ursachen liegen. »Institutioneller Rassismus«, »struktureller Rassismus« und »systemischer Rassismus« sind redundant. Rassismus an sich ist institutionell, strukturell und systemisch.

»Rassistische Politik« dringt auch besser zum Kern des Rassismus vor als »rassistische Diskriminierung«, eine weitere häufige Formulierung. »rassistische Diskriminierung« ist die unmittelbare und sichtbare Manifestierung einer zugrundeliegenden rassistischen Politik. Wenn jemand eine Person in einer racial Gruppe diskriminiert, setzt er eine politische Maßnahme um oder zieht Nutzen aus dem Umstand, dass eine schützende Maßnahme fehlt. Wir alle haben die Macht zur Diskriminierung. Nur ganz wenige haben die Macht, Politik zu machen. Wenn wir uns auf die »rassistische Diskriminierung« konzentrieren, verlieren wir die zentralen Akteure des Rassismus aus den Augen: eine rassistische Politik und rassistische Politikerinnen und Politiker oder das, was ich unter dem Begriff rassistische Macht zusammenfasse.

Seit den 1960er-Jahren nimmt die rassistische Macht den Begriff »rassistische Benachteiligung« für sich in Beschlag und hat dabei den Akt der Diskriminierung, begründet durch die scheinbare Zugehörigkeit zu einer Race, in einen grundsätzlich rassistischen Akt verwandelt. Aber wenn man rassistische Benachteiligung als die Art und Weise definiert, wie man eine Person aufgrund ihrer Race-Zugehörigkeit behandelt, sie aufgrund dessen betrachtet, bevorzugt oder benachteiligt, dann ist racial Diskriminierung nicht grundsätzlich rassistisch. Die entscheidende Frage lautet, ob die Diskriminierung Gleichheit oder Ungleichheit schafft. Wenn die Diskriminierung Gleichheit schafft, ist sie antirassistisch. Wenn die Diskriminierung Ungleichheit schafft, ist sie rassistisch. Jemand, der Ungleichheit schafft, indem er einer überrepräsentierten racial Gruppedauerhaft zu Wohlstand und Macht verhilft, unterscheidet sich völlig von jemandem, der diese Ungleichheit infrage stellt, indem er vorübergehend eine unterrepräsentierte racial Gruppeunterstützt und ihr zu Wohlstand und Macht verhilft, bis Gleichheit besteht.

Das einzige Mittel gegen rassistische Diskriminierung ist antirassistische Diskriminierung. Das einzige Mittel gegen frühere Diskriminierung ist aktuelle Diskriminierung. Das einzige Mittel gegen aktuelle Diskriminierung ist zukünftige Diskriminierung. Wie Präsident Lyndon B. Johnson bereits 1965 sagte: »Man kann jemandem, der jahrelang durch Ketten behindert wurde, nicht einfach die Ketten abnehmen, ihn an die Startlinie eines Wettrennens stellen und sagen: ›Du bist frei und kannst dich jetzt mit allen anderen messen‹ und dann glauben, man habe völlig fair gehandelt.«23 Oder wie Harry Blackmun, Richter am Obersten Gericht, 1978 schrieb: »Um Rassismus zu überwinden, müssen wir zunächst einmal ›Race‹ berücksichtigen. Es gibt keinen anderen Weg. Und um manche Menschen gleich zu behandeln, müssen wir sie anders behandeln.«24

Die rassistischen Befürworter und Befürworterinnen einer rassistischen Diskriminierung, mit der rassistische Benachteiligung bis in die 1960er-Jahre aufrechterhalten wurde, sind heute die rassistischen Gegner und Gegnerinnen einer antirassistischen Diskriminierung, mit der diese rassistische Benachteiligung beseitigt werden soll. Die bedrohlichste rassistische Bewegung ist nicht die aussichtslose Kampagne der Alt-Right-Bewegung für einen unwahrscheinlichen White Ethnostate, sondern die Kampagne ganz normaler Amerikaner und Amerikanerinnen für einen »Race-neutralen« Staat. Tatsächlich nährt das Konstrukt einer Neutralität die Mär, weiße Nationalisten seien die wahren Opfer, indem es die Vorstellung postuliert, dass eine Politik, die nichtweiße Amerikanerinnen und Amerikaner schützt oder fördert, um ihre Gleichstellung zu erreichen, »umgekehrte Diskriminierung« sei.

So kann rassistische Macht Maßnahmen der positiven Diskriminierung, die eine Verringerung der rassistischen Benachteiligung bewirken, als »Race-bewusst« bezeichnen, und standardisierte Tests, die rassistische Benachteiligung schaffen, als »Race-neutral« bezeichnen. So kann man das Verhalten ganzer racial Gruppen für die Ungleichheiten zwischen verschiedenen racial Gruppenverantwortlich machen und trotzdem behaupten, die eigenen Vorstellungen seien nichtrassistisch. Aber so etwas wie eine nichtrassistische Vorstellung gibt es nicht, es gibt nur rassistische und antirassistische Vorstellungen.

Was also ist eine rassistische Vorstellung? Eine rassistische Vorstellung ist jede Vorstellung, die andeutet, dass eine racial Gruppe einer anderen in irgendeiner Hinsicht unterlegen oder überlegen ist.25 Rassistische Vorstellungen postulieren, dass die Unterlegenheit oder Überlegenheit einer racial Gruppe rassistische Benachteiligung in der Gesellschaft erklären können. Bereits Thomas Jefferson behauptete ein Jahrzehnt nach der Erklärung der Unabhängigkeit für weiße Amerikaner und Amerikanerinnen: »Die Schwarzen, ob nun ursprünglich eine bestimmte ›Race‹ oder im Lauf der Zeit und aufgrund der Umstände zu einer gemacht, sind den Weißen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Talente unterlegen.«26

Eine antirassistische Vorstellung ist jede Vorstellung, die besagt, dass racial Gruppen trotz aller offensichtlichen Unterschiede gleich sind – und dass es an einer bestimmten dieser Gruppen nichts Richtiges oder Falsches gibt. Antirassistische Vorstellungen gehen davon aus, dass eine rassistische Politik die Ursache für rassistische Benachteiligung ist.

Nachdem wir die Unterschiede zwischen rassistischer Politik und antirassistischer Politik, zwischen rassistischen Vorstellungen und antirassistischen Vorstellungen geklärt haben, können wir zu unserer grundlegenden Definition zurückkehren. Rassismus ist eine Bündelung wirkmächtiger politischer Maßnahmen einer rassistischen Politik, die zu rassistischer Benachteiligung führt und auf rassistischen Vorstellungen gründet. Antirassismus ist eine wirkmächtige Ansammlung antirassistischer Politik, die zu Gleichheit zwischen Menschen, die durch Race-Kategorien beschrieben werden, führt und auf antirassistischen Vorstellungen gründet.

NACHDEMWIREINEsolide Definition von Rassismus und Antirassismus haben, können wir uns mit der Welt um uns herum und direkt vor uns befassen, die als »racialized« bezeichnet werden muss, und versuchen, sie zu erklären. Meine Großeltern mütterlicherseits, Mary Ann und Alvin, zogen mit ihren Familien in einer der letzten Phasen der Great Migration (der Abwanderung der Afroamerikaner und -amerikanerinnen aus den Südstaaten in den industrialisierten Norden) in den 1950er-Jahren nach New York City, weil ihre Kinder fern von den gewalttätigen Segregationisten Georgias aufwachsen und der harten Arbeit auf den Baumwollfeldern unter der zunehmend heißen Sonne Georgias entgehen sollten.27

Damit entzogen sie aus heutiger Sicht ihre Familie auch den Auswirkungen des Klimawandels. Die politische Tatenlosigkeit angesichts des Klimawandels ist rassistisch, weil die überwiegend nichtweiße Südhalbkugel der Erde unter dem Klimawandel mehr leidet als die überwiegend weiße Nordhalbkugel, obwohl die Industrieländer auf der Nordhalbkugel intensiv zu seiner Beschleunigung beitragen.28 Von Florida bis Bangladesch steigen die Meerespegel und Temperaturen. Dürren und Lebensmittelknappheit fordern bei der Bevölkerung in Ost- und Südafrika ihren Tribut, einer Region, in der bereits 25 Prozent der unterernährten Bevölkerung weltweit leben. Menschengemachte Umweltkatastrophen, bei denen unverhältnismäßig viele People of Color zu Schaden kommen, sind keine Seltenheit. So ist beispielsweise die Bleibelastung in fast viertausend Regionen in den USA – in denen überwiegend arme und nichtweiße Personen leben – deutlich höher als in der Stadt Flint in Michigan (die 2016 durch die hohe Bleikontamination des Trinkwassers in die Schlagzeilen geriet).29

Zwischen mir und meinen Vorfahren, die für ein paar Cent im immer wärmeren Klima von Guyton in der Nähe von Savannah Baumwolle pflückten, liegt eine Generation. In Guyton beerdigten wir 1993 meine Großmutter. Die Erinnerungen an die tröstliche Ruhe, die sie ausstrahlte, an ihren dunkelgrünen Daumen und die großen, mit Weihnachtsgeschenken vollgestopften Müllsäcke, die sie bei ihren Besuchen mitbrachte, begleiteten uns auf dem Weg von ihrer Beisetzung zurück nach New York. Am nächsten Tag fuhr mein Vater ins Viertel Flushing in Queens, um seine alleinstehende Mutter zu besuchen, die wie meine andere Großmutter Mary Ann hieß. Sie hatte eine unglaublich klare dunkelbraune Haut, ein Lächeln, das einen umarmte, und eine Schlagfertigkeit, die einen umhaute.

Als mein Vater die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, roch er schon den Rauch vom Herd, den sie angelassen hatte, aber er roch auch noch etwas anderes. Da seine Mutter nirgends zu sehen war, eilte er durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Und dort fand er seine Mutter, als ob sie schlafen würde, doch sie sollte nie wieder aufwachen. Ihr Kampf gegen Alzheimer, eine Krankheit, die Afroamerikanerinnen und -amerikaner immer häufiger trifft, war vorüber.30

Vermutlich ist kein weißes Privileg so weitreichend wie das Leben an sich. Weiße Leben zählen in den USA um etwa 3,5 Jahre mehr als Schwarze Leben,31 doch das ist nur die auffälligste von vielen statistischen Ungleichheiten im amerikanischen Gesundheitssystem. Das fängt schon im Säuglingsalter an; die Sterblichkeit bei Schwarzen Babys ist doppelt so hoch wie bei weißen Babys.32 Aber zumindest habe ich meine Großmütter noch kennengelernt, wir haben Zeit miteinander verbracht, wir haben uns geliebt. Meinen Großvater väterlicherseits habe ich nie kennengelernt. Auch Alvin, meinen Großvater mütterlicherseits, habe ich nie getroffen, er starb drei Jahre vor meiner Geburt an Krebs. In den USA ist die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, für Afroamerikaner und -amerikanerinnen um 25 Prozent höher als für Weiße.33 Mein Vater hat Prostatakrebs überlebt, eine Krebsform, an der doppelt so viele Schwarze wie weiße Männer sterben. Auch die Sterblichkeit bei Brustkrebs ist bei Schwarzen Frauen deutlich höher.34

Drei Millionen Afroamerikaner und -amerikanerinnen und vier Millionen Latinx Personen haben durch den Affordable Care Act eine Krankenversicherung erhalten, wodurch die Zahl der Nichtversicherten am Ende von Präsident Obamas Amtszeit bei beiden Gruppen auf etwa 11 Prozent zurückging.35 Aber immer noch waren 28,5 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen nicht versichert, eine Zahl, die sicher noch steigen wird, nachdem der Kongress 2017 die Versicherungspflicht wieder abgeschafft hat.36 Zudem wird es für People of Color immer schwieriger, Politiker abzuwählen, die für diese Maßnahmen zur Verkürzung ihres Lebens verantwortlich sind. Die rassistischen Wahlgesetze haben sich weiterentwickelt, anstelle der früheren Jim Crow-Gesetze, die Schwarzen Menschen das Wahlrecht entzogen, werden diese heute durch massenhafte Inhaftierungen und verschärfte Bedingungen für die Wählerregistrierung, etwa die Gesetze zur Wähleridentifikation, am Wählen gehindert.37 Manchmal ist die Absicht dieser Maßnahmen so offenkundig, dass sie abgeschmettert werden: North Carolina hat ein derartiges Gesetz zur Wähleridentifikation verabschiedet, das jedoch im Juli 2016 vom zuständigen Berufungsgericht mit der Begründung wieder aufgehoben wurde, die Bestimmungen würden sich »mit fast chirurgischer Präzision gegen Afroamerikaner richten«.38 Andere derartige Gesetze blieben jedoch in Kraft und zeigen Wirkung. Man schätzt, dass das strenge Gesetz zur Wähleridentifikation in Wisconsin bei den Wahlen von 2016 bis zu 200000 Wählerinnen und Wähler von der Urne fernhielt – und wieder handelte es sich hauptsächlich um Wählerinnen und Wähler of Color. Donald Trump gewann diesen wichtigen Swing State mit einem Vorsprung von 22748 Stimmen.39

Die rassistische Benachteiligung ist überall, gut sichtbar in Gesetzen, weniger offensichtlich in unseren privaten Gedanken. Für jede und jeden von uns stellt sich die Frage: Auf welcher Seite der Geschichte werden wir stehen? Ein Rassist ist eine Person, die eine rassistische Politik durch ihr Handeln oder Nichthandeln unterstützt oder rassistische Vorstellungen äußert. Eine Antirassistin ist eine Person, die eine antirassistische Politik durch ihr Handeln unterstützt oder antirassistische Vorstellungen äußert. Die Bezeichnungen »Rassistin« und »Antirassist« sind Etiketten, die man anbringen oder abmachen kann, je nachdem, was man tut oder nicht tut, was man im jeweiligen Moment unterstützt oder sagt. Diese Etiketten sind keine dauerhaften Tätowierungen. Niemand wird endgültig zum Rassisten oder zur Antirassistin. Wir können uns nur bemühen, das eine oder andere zu sein. Wir können uns unbewusst bemühen, eine Rassistin zu sein. Wir können uns bewusst bemühen, ein Antirassist zu sein. Wie im Kampf gegen eine Sucht erfordert Antirassismus ständige Selbstkontrolle, kontinuierliche Selbstkritik und regelmäßige Selbsterforschung.

Rassistische Vorstellungen definieren unsere Gesellschaft seit Anbeginn und können so natürlich und offensichtlich erscheinen, dass sie geradezu banal wirken. Antirassistische Vorstellungen hingegen sind nach wie vor schwer zu verstehen, was unter anderem auch daran liegt, dass sie dem Lauf der Geschichte widersprechen. Oder wie die Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde 1980 sagte: »Wir sind alle darauf programmiert, auf die menschlichen Unterschiede zwischen uns mit Angst und Abscheu zu reagieren und diesem Unterschied auf dreierlei Art zu begegnen: ihn zu ignorieren, und wenn das nicht möglich ist, ihn nachzuahmen, wenn wir ihn für dominierend halten, oder ihn zu zerstören, wenn wir ihn für minderwertig halten. Aber wir haben kein Verhaltensmuster, über diese menschlichen Unterschiede hinweg Kontakte zu knüpfen und andere wie unseresgleichen zu behandeln.« Antirassistisch zu sein ist angesichts dieser Vorgeschichte eine radikale Entscheidung, die eine radikale Neuorientierung unseres Bewusstseins erfordert.

DAS DUELLIERENDE BEWUSSTSEIN

ASSIMILATIONISTIN, ASSIMILATIONIST: eine Person, die die rassistische Vorstellung vertritt, eine racial Gruppe sei aufgrund ihrer Kultur oder ihres Verhaltens unterlegen, und die kulturelle und verhaltensbezogene Förderprogramme unterstützt, um diese Gruppe weiterzuentwickeln.

SEGREGATIONISTIN, SEGREGATIONIST: eine Person, die die rassistische Vorstellung vertritt, eine racial Gruppe sei dauerhaft unterlegen und könne sich niemals weiterentwickeln, und die eine Politik unterstützt, die diese Gruppe von anderen trennt.

ANTIRASSISTIN, ANTIRASSIST: eine Person, die die Vorstellung vertritt, dass alle racial Gruppen gleich sind und keine Entwicklung benötigen, und die eine Politik unterstützt, die rassistische Benachteiligung reduziert.

MEINEELTERNHATTEN sich seit der Busfahrt zur Urbana ’70 nicht mehr gesehen. Dann kam Weihnachten 1973. Soul Liberation gaben in der berühmten Broadway Presbyterian Church in Harlem, die geradezu Kultstatus genoss, ein Konzert, bei dem sich viele New Yorker Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Urbana ’70 wiedersahen. Auch Ma und Dad waren da. Es war wie ein Treffen unter alten Freunden, aber da lag auch etwas Neues in der Luft. Nachdem die letzten Akkorde von Soul Liberation verklungen waren, kam es zu einer längeren Unterhaltung zwischen meinen Eltern, bei der endlich der Funke übersprang.

Einige Tage später rief Dad meine Ma an und wollte sich mit ihr verabreden. »Ich habe einen Ruf als Missionarin erhalten«, antwortete Ma. »Im März reise ich ab.«

Ma und Dad hielten Kontakt, auch in der Zeit, in der Ma neun Monate lang in einem Dorf im ländlichen Liberia in der Nähe der Hauptstadt Monrovia als Lehrerin arbeitete. Acht Jahre später waren sie verheiratet und wagten es, mich, ihren zweiten Sohn, Ibram zu nennen, was »erhabener Vater« bedeutet, obwohl ich in eine Welt geboren wurde, in der es nicht üblich war, Schwarze Menschen zu erhöhen. Kurz vor meiner Geburt, am 24. Juni 1982, dem Tag, an dem meine schwangere Mutter ihren 31. Geburtstag feierte, hatte Präsident Reagan ihrem noch ungeborenen Kind den Krieg erklärt: »Wir müssen dem Drogenmissbrauch mit Hilfe eines strengeren Gesetzesvollzugs zu Leibe rücken«, verkündete Reagan im Rosengarten des Weißen Hauses.40

Aber natürlich sollte nicht dem Drogenmissbrauch zu Leibe gerückt werden, sondern Menschen wie mir, die unter diesem Regime eines »strengeren Gesetzesvollzugs« heranwuchsen. Die härteren Urteile bei Drogendelikten – und nicht etwa ein Anstieg der Delikte – sorgten dafür, dass sich die Zahl der Inhaftierten in amerikanischen Gefängnissen in den Jahren 1980 bis 2000 vervierfachte.41 Während normalerweise etwa die Hälfte der Gefängnisinsassen wegen Gewaltdelikten einsaßen, befanden sich von 1993 bis 2009 jedes Jahr mehr Personen wegen Drogendelikten in Haft als wegen Gewaltdelikten.42 Bei weißen Menschen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Drogen verkaufen, höher als bei Schwarzen Menschen und Latinx Menschen. Der Konsum ist bei allen Gruppen etwa gleich.43 Dennoch landen Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen viel häufiger wegen Drogendelikten hinter Gittern als Weiße. Nichtgewalttätige Schwarze Drogentäter bleiben etwa genauso lange (58,7 Monate) in Haft wie weiße Gewalttäter (61,7 Monate).44 2016 waren Schwarze und Latinx Menschen unter den Gefängnisinsassen mit 56 Prozent immer noch stark überrepräsentiert, der Anteil war doppelt so hoch wie ihr Anteil an der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung.45

Der sogenannte Krieg gegen Drogen wurde jedoch gar nicht von Reagan ins Leben gerufen, wie die Historikerin Elizabeth Hinton erklärt.46 Präsident Lyndon B. Johnson war der Erste, der uns zu Leibe rückte, als er 1965 als das Jahr bezeichnete, »in dem dieses Land einen gründlichen, intelligenten und effektiven Krieg gegen Drogen begann«.47 Meine Eltern waren auf der Highschool, als Johnson den Krieg gegen Drogen ausrief und damit seinen bisherigen Krieg gegen die Armut, der kaum Unterstützung fand, ins Lächerliche zog, wie ein schwer bewaffneter Schütze, der den unzureichend ausgestatteten Unfallchirurgen verhöhnt. Präsident Richard Nixon verkündete 1971 seinen Krieg gegen Drogen, um seine schärfsten Kritiker kaltzustellen – Schwarze und Antikriegsaktivistinnen und -aktivisten.48 »Wir konnten ihre Anführer verhaften, ihre Häuser durchsuchen, ihre Versammlungen auflösen und sie Abend für Abend in den Nachrichten diffamieren«, erklärte John Ehrlichman, Nixons innenpolitischer Berater, Jahre später einem Reporter von Harper’s. »Wussten wir, dass wir in Bezug auf die Drogen logen? Natürlich wussten wir das.«49

Schwarze Menschen schlossen sich der Verleumdungskampagne in der Überzeugung an, dass all »die mühsam erkämpften Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung« durch das Treiben der mordenden Drogendealer, bewaffneten Gangster und räuberischen Heroinsüchtigen »in die Binsen gingen«, wie es 1981 in einem Kommentar in The Washington Afro-American hieß.50 Einige, wenn nicht sogar die meisten Schwarzen Anführer vollführten eine Kehrtwendung im Bemühen, angesichts dieser Bedrohung als Retter zu erscheinen, und erklärten Schwarze Kriminelle zusammen mit weißen Rassisten und Rassistinnen zu Volksfeinden.

Die scheinbar widersprüchlichen Forderungen, Schwarze Menschen einzusperren, aber gleichzeitig auch zu retten, lieferten sich nicht nur in den Gesetzen auf bundesstaatlicher und Bundesebene ein Duell, sondern auch in den Köpfen der Amerikanerinnen und Amerikaner. Schwarze Führungspersönlichkeiten schlossen sich Republikanern von Nixon bis Reagan und Demokraten von Johnson bis Clinton an und forderten mehr Polizei, härtere Urteile und eine Mindeststrafenregelung sowie den Bau weiterer Gefängnisse. Doch gleichzeitig verlangten sie ein Ende der Polizeigewalt, mehr Arbeitsplätze, bessere Schulen und Entzugsprogramme. Allerdings stießen diese Forderungen auf deutlich weniger Begeisterung.

Als ich 1982 auf die Welt kam, war die Scham über Verbrechen, die von Schwarzen Menschen gegen Schwarze Menschen verübt wurden, kurz davor, den Stolz einer ganzen Generation auf »Black is Beautiful« zu erdrücken. Viele nichtSchwarze Amerikanerinnen und Amerikaner sahen voller Abscheu auf Schwarze Drogensüchtige herab – aber auch zu viele Schwarze Leute blickten beschämt auf die Abhängigen.

Meine Eltern kamen beide aus armen Familien, die Familie meines Vaters stammte aus einem sozial schwachen Stadtviertel im Norden, die Familie meiner Mutter aus dem ländlichen Süden. Beide meisterten ihren Aufstieg in die Mittelschicht in den 1980er-Jahren dank Bildung und harter Arbeit. Während sie die soziale Leiter erklommen, bekamen sie immer wieder rassistische Erklärungen zu hören, dass Schwarze Menschen gar nicht aufsteigen wollten, sondern sich viel lieber mit Heroin oder Crack zudröhnten, gerne klauten und von kriminell erschlichener Sozialhilfe lebten, also vom schwer verdienten Geld der aufstiegswilligen Amerikanerinnen und Amerikaner abhängig waren.

1985 wandte sich die angesehene Bürgerrechtsanwältin Eleanor Holmes Norton an die New York Times und erklärte, die Lösung bestehe nicht einfach darin, »Notwendigkeiten und Chancen bereitzustellen«, wie Antirassisten behaupteten. Sie drängte stattdessen auf einen »Sturz der verwickelten, raubtierhaften Ghetto-Subkultur«. Menschen wie meine Eltern mit ihrer »Ghetto-Herkunft« forderte sie auf, die »Ghetto-Männer« und »-Frauen« zu retten, indem sie ihnen Werte wie »harte Arbeit, Bildung und Respekt für die Familie« vermittelten, um »ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen«.51 Für ihre Position, dass es gewissen »Ghetto-Schwarzen« an diesen Werten mangle, lieferte Norton allerdings keine Belege.

Doch meine Eltern schenkten wie viele andere in der neuen Schwarzen Mittelschicht diesen Vorstellungen Glauben. Diejenigen, die in den 1950er- bis 1970er-Jahren rassistische Politik infrage gestellt hatten, begannen in den 1980er- und 1990er-Jahren, das Verhalten anderer Schwarzer Menschen infrage zu stellen. Antirassismus wirkte nun wie unangebrachte Nachsicht angesichts des selbstzerstörerischen Verhaltens, das sie überall in ihrem Umfeld erlebten. Meine Eltern folgten Nortons Anweisung: Sie trichterten mir ein, dass mich Bildung und harte Arbeit voranbringen würden, denn genauso waren sie aufgestiegen und genauso würden am Ende alle Schwarzen Menschen aufsteigen. Meine Eltern waren – obwohl sie sich ihres Schwarzseins bewusst waren – empfänglich für die rassistische Vorstellung, dass Schwarze Menschen aufgrund ihrer Faulheit nicht den Aufstieg schafften, deshalb verwendeten sie mehr Aufmerksamkeit darauf, Schwarze Menschen zu kritisieren, als auf Reagans Politik, die die Sprossen der Leiter des sozialen Aufstiegs durchsägte und dann die Leute dafür bestrafte, dass sie abstürzten.52

Denn die sogenannte Reagan-Revolution war tatsächlich eine Revolution, allerdings eine Revolution zugunsten derjenigen, die bereits Macht hatten.53 Amerikanerinnen und Amerikaner mit hohem Einkommen wurden noch reicher, weil sie weniger Steuern zahlen mussten. Die staatliche Regulierung wurde eingeschränkt, dafür wurde der Verteidigungshaushalt massiv erhöht und die Macht der Gewerkschaften eingeschränkt. 70 Prozent der Schwarzen Menschen mit mittlerem Einkommen gaben 1979 an, sie sähen »erhebliche rassistische Diskriminierung«, und das zu einer Zeit, bevor die Anhängerinnen und Anhänger der Reagan-Revolution die Umsetzung der Bürgerrechtsgesetze und Maßnahmen zur positiven Diskriminierung rückgängig machten und anschließend die Finanzmittel für die bundesstaatliche und kommunale Verwaltung reduzierten, deren Aufträge und Arbeitsplätze sichere Einnahmequellen der Schwarzen Mittelschicht gewesen waren, mit denen sie unter anderem ihr Eigenheim in der Stadt finanzierten. In jenem Juni 1982, in dem Reagan am Geburtstag meiner Ma seinen Krieg gegen die Drogen verkündete, zerschnitt er auch das soziale Netz der bundesweiten Sozialhilfeprogramme und der Gesundheitsfürsorge Medicaid und trieb damit noch mehr Schwarze Menschen mit niedrigem Einkommen in die Armut. Durch sein Programm des »härteren Strafvollzugs« gerieten mehr Schwarze Menschen in die Hände gewalttätiger Polizisten. Anfang der 1980er-Jahre kamen auf jede weiße Person, die durch Polizeigewalt ums Leben kam, 22 Schwarze Personen. Die Arbeitslosenquote bei Schwarzen Jugendlichen war 1985 viermal so hoch wie 1954. Doch nur wenige brachten den Anstieg der Arbeitslosigkeit mit der Zunahme der Gewaltdelikte in Verbindung.

Amerikanerinnen und Amerikaner sind schon lange daran gewöhnt, Defizite eher bei den Menschen als in der Politik zu suchen. Dieser Fehler unterläuft einem sehr leicht: Die Menschen haben wir direkt vor Augen. Die Politik ist fern. Besonders schwer fällt es uns, die Politik zu sehen, die hinter den Problemen der Menschen steht. Und so wandten sich meine Eltern ab von den Problemen der Politik und sahen nur noch die Probleme der Menschen – und nahmen die Tradition wieder auf, Schwarze Menschen zu retten und zu zivilisieren, anstatt sie zu befreien. Diese Theologie der Zivilisierung erschien angesichts des steigenden Crack-Konsums und des dadurch entstehenden Schadens für Schwarze Menschen nicht nur meinen Eltern, sondern auch vielen anderen Kindern der Bürgerrechts- und Black Power-Bewegung als geeigneter Ansatz. Doch in vielerlei Hinsicht blieb die Befreiungstheologie die philosophische Heimat meiner Eltern, ihr Zuhause, in dem auch ich aufwuchs.

TIEFINIHREMInnern brannten meine Eltern immer noch für die Befreiungstheologie, die sie bei der Urbana erlebt hatten. Ma träumte immer noch davon, als Missionarin der Befreiung durch die Schwarze Welt zu reisen, ein Traum, den ihre Freunde in Liberia 1974 unterstützten. Dad träumte davon, Gedichte der Befreiung zu verfassen, ein Traum, zu dem ihn Professor Addison Gayle 1971 ermuntert hatte.

Ich frage mich heute noch, was gewesen wäre, wenn sich meine Eltern nicht durch ihre nachvollziehbaren Ängste von ihren Träumen hätten abhalten lassen. Meine Ma als Globetrotterin, die ihren Beitrag zur Befreiung der Schwarzen Welt leistet. Mein Dad, der sie begleitet und dabei Inspiration für seine Freiheitslyrik findet. Stattdessen entschied sich meine Mutter für eine Karriere in einem medizintechnischen Unternehmen. Dad wurde Buchhalter. Sie stiegen in die amerikanische Mittelschicht auf – die damals wie heute von einer unverhältnismäßig großen weißen Mehrheit definiert wird – und begannen, sich selbst und ihre Leute nicht nur durch ihre eigenen Augen zu betrachten, sondern auch »durch die Augen der anderen«. Sie schlossen sich anderen Schwarzen Menschen an, die versuchten, sich in diese weiße Umgebung einzufügen und sich gleichzeitig treu zu bleiben und ihre Leute zu retten. Sie trugen keine Maske, sondern spalteten ihren Geist in zwei Teile auf.

Dieses konzeptuelle Doppel spiegelt das wider, was W. E.B Du Bois 1903 so eindringlich in The Souls of Black Folk zum Ausdruck brachte: »Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen.« Er wollte weder »Amerika afrikanisieren« noch »die Seele des N* in einer Flut weißen Amerikanismus’ bleichen«. Stattdessen hatte Du Bois den Wunsch, »beides zu sein: N* und Amerikaner«. Du Bois wollte in gegensätzlichen Konstrukten leben. Amerikaner oder Amerikanerin sein heißt, weiß sein. Weiß sein heißt, nicht Schwarz sein.54

Was Du Bois als doppeltes Bewusstsein bezeichnet, lässt sich vielleicht zutreffender mit duellierendem Bewusstsein beschreiben. »Stets fühlt man seine Zweiheit«, erklärte Du Bois, »als Amerikaner, als N*. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren.« Du Bois erläuterte auch, wie dieser Kampf in seinem eigenen Dunklen Körper ausgetragen wurde, wenn er einerseits Schwarz sein wollte und andererseits »in der Masse der Amerikaner ähnlich wie die Iren und Skandinavier untertauchen« wollte.

Diese sich duellierenden Vorstellungen existierten 1903 und waren auch in meinen Eltern präsent – und sie bestehen bis heute. Das Duell innerhalb des Schwarzen Bewusstseins wird meist zwischen antirassistischen und assimilationistischen Vorstellungen ausgetragen. Du Bois glaubte an das antirassistische Konzept der Relativität, daran, dass jede racial Gruppe sich mit den eigenen Augen betrachtet, aber gleichzeitig auch an das assimilationistische Konzept der racial Standards, also daran, »sich selbst durch die Augen anderer wahrzunehmen«, in seinem Fall durch die Augen der Weißen. Anders ausgedrückt, er wollte Schwarze Menschen von Rassismus befreien, sie aber auch verändern, sie vor den »Relikten des Barbarismus« bewahren. Du Bois argumentierte 1903, dass Rassismus und »das niedrige gesellschaftliche Niveau eines Großteils der ›Race‹« für die »Herabsetzung der N*« verantwortlich seien. Die Assimilation sollte Teil der Lösung sein.55

Assimilationistische Vorstellungen sind rassistische Vorstellungen. Assimilationisten können jede racial Gruppe zum überlegenen Standard erklären, an der sich eine andere racial Gruppe messen soll, zur Richtgröße, die es zu erreichen gilt. Normalerweise erklären Assimilationisten weiße Menschen zum überlegenen Standard. »Denken Amerikaner je darüber nach, dass es in diesem Land eine Million Männer mit N*-Blut gibt … [die] gemessen an jedem Standard, das volle Ausmaß der besten Form europäischer Kultur erreicht haben? Ist es gerecht, ist es anständig, ist es christlich …, dieses Streben kleinzureden?«, fragte Du Bois 1903.56

AUFMEINEELTERN