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Warum kämpfen so viele Menschen mit Übergewicht und seinen Folgeerkrankungen? Die Antwort liegt in unseren Genen! Von Natur aus ist unser Körper darauf angelegt, Nahrung zu suchen und die aus ihr gewonnenen Nährstoffe zu speichern. Aus dieser jahrtausendealten notwendigen Anpassung an natürlich vorhandene Nahrungsressourcen haben sich bei unseren Vorfahren die Gene durchgesetzt, die ihnen das bestmögliche Überleben sicherten: Nämlich jene Gene, die es ihnen ermöglichten, Fett schnell zu bilden und zu speichern. In einer Zeit häufiger Nahrungsknappheit war dies ein entscheidender evolutionärer Vorteil. Das Problem: Auch heute, wo in vielen Teilen der Welt Nahrung frei verfügbar ist, ist dieser "Fettschalter" weiterhin aktiviert, da unsere genetische Ausstattung sich noch nicht an unsere modernen Lebensverhältnisse angepasst hat. So wird, was früher ein entscheidender Überlebensvorteil war, heute für uns zur "fetten" Falle. Die gute Nachricht: Mit der richtigen Ernährung und einer Umstellung der Lebensweise kann dieser genetische Schalter wieder zu unseren Gunsten von Fettspeicherung auf Fettverbrennung umgelegt werden. Wie das funktioniert, erklärt der Medizinprofessor Richard Johnson in seinem Buch, in dem er erstmals seine wegweisenden Forschungen zu den Ursachen von Übergewicht und Diabetes zusammenfasst. Er klärt darüber auf, dass der "Fettschalter" nicht nur für Übergewicht verantwortlich ist, sondern auch hinter zahlreichen Zivilisationskrankheiten der westlichen Welt, wie Herzinfarkt, Krebs, Demenz und sogar Suchterkrankungen oder ADHS, stecken kann. Im praktischen Ratgeberteil erläutert er schließlich, wie wir über unsere Ernährungsweise den "Fettschalter" an- und abschalten und damit selbst regulieren können, ob unser Körper Fett einlagert oder Energie produziert, und er erklärt, welche wichtige Rolle unser Fruktose- und Wasserhaushalt, die Versorgung mit Vitamin C und unser Salz-Konsum für einen gesunden Stoffwechsel spielen. So können wir aktiv gegensteuern und nicht nur Übergewicht bekämpfen, sondern auch weiteren Erkrankungen vorbeugen.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2023
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VAK Verlags GmbH Kirchzarten bei Freiburg
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Nature Wants Us to Be Fat, ISBN 978-1-63774034-7
Copyright © 2022 Richard J. Johnson
Published by Arrangement with BENBELLA BOOKS, INC.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Hinweise des Verlags
Verlag und Übersetzerin haben sich um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht. Die englische Sprache kennt keine weiblichen und männlichen Formen von Substantiven, für den deutschen Text mussten daher Anpassungen vorgenommen werden. Alle Angaben beziehen sich selbstverständlich auf Angehörige aller Geschlechter. Außerdem wurde darauf verzichtet, bei Nennung von Marken und Produkten mit eingetragenem Markenzeichen dies gesondert aufzuführen.
Dieses Buch dient der Information über Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge. Wer sie anwendet, tut dies in eigener Verantwortung. Autor und Verlag beabsichtigen nicht, Diagnosen zu stellen oder Therapieempfehlungen zu geben. Die hier vorgestellten Vorgehensweisen sind nicht als Ersatz für professionelle Behandlung bei ernsthaften Beschwerden zu verstehen. Die Erwähnung von Produkten ist nicht gleichzusetzen mit einer Empfehlung durch Autor oder Verlag.
Offenlegung
Dr. Johnson hat Fördergelder von den National Institutes of Health (NIH, Nationale Gesundheitsinstitute), vom Verteidigungsministerium, der Veterans Health Administration, einer der Hauptabteilungen des US-Kriegsveteranenministeriums, sowie vom Bundesstaat Colorado erhalten. Seine Forschungen und die seiner Gruppe haben zu Patenten mit Bezug zum Fruktose- und Harnstoffwechsel geführt. Er hat Aktienbeteiligungen an XORTX Therapeutics und Colorado Research Partners LLC, Firmen, die Medikamente zur Senkung des Harnsäurespiegels beziehungsweise zur Blockierung des Fruktosestoffwechsels herstellen. Dr. Johnson war auch als Berater für Horizon Pharmaceuticals tätig und erhielt Honorare von Danone.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
VAK Verlags GmbH
Eschbachstraße 5
79199 Kirchzarten
Deutschland
www.vakverlag.de
© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2022
Übersetzung: Rotraud Oechsler
Lektorat: Sibylle Duelli
Layout: Richard Kiefer
Umschlag: Kathrin Steigerwald, unter Verwendung einer Abbildung von © Adobe Stock/doublebubble_rus
Satz & Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Augsburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-86731-262-2 (Paperback)
ISBN 978-3-95484-454-8 (ePub)
ISBN 978-3-95484-455-5 (PDF)
Widmung
Für alle, die mir mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung beratend zur Seite standen und mir Vorbild waren, zu denen auch mein Vater J. Richard Johnson gehört: für William Couser, Seymour Klebanoff, Craig Tisher, Tomas Berl und Steven Benner. Für meine Familie, Olga, Tracy und Ricky, und für meine Patientinnen und Patienten, denen ich dankbar für die Chance bin, sie betreuen zu dürfen
Vorwort von David Perlmutter
Vorwort von Kai Hahn
Einführung: Der Beginn einer Epidemie
Teil I Warum die Natur möchte, dass wir Fett ansetzen
KAPITEL 1: Die Kraft des Fettes
KAPITEL 2: Geheime Gründe: Warum Dicksein hilfreich ist
KAPITEL 3: Der Überlebensaktivator
KAPITEL 4: Darum werden wir dick
KAPITEL 5: Eine unangenehme Überraschung: Es ist nicht allein die Fruktose
Teil II Fettaktivator und Krankheit
KAPITEL 6: Die Brot- und Butter-Krankheiten der Menschheit
KAPITEL 7: Wie der Überlebensaktivator Psyche und Verhalten beeinflusst
Teil III Die Natur überlisten
KAPITEL 8: Welcher Zucker steckt in unserer Nahrung?
KAPITEL 9: Die optimale Ernährung, um den Fettaktivator zu blockieren
KAPITEL 10: Ihr ursprüngliches Gewicht wiederherstellen und Ihre Lebensspanne an gesunden Jahren verlängern
Ein paar Worte zum Schluss
Eine Ode an den Zucker
Glossar
Referenzen
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Danksagungen
Über den Autor
Die natürliche Selektion – oder besser gesagt, die genetische Selektion – ist der Prozess, durch den die Umwelt, in der ein bestimmter Organismus lebt, spezifische Abweichungen von der genetischen Konstitution, die für das Überleben am vorteilhaftesten sind, „selektiert“, und diese werden dann von Generation zu Generation weitergegeben. Somit kommt es nicht besonders darauf an, ob die genetische Ausstattung eines Organismus sich als gesund erweist oder nicht, denn er steht im Zusammenhang mit der Umwelt, in der er zu überleben versucht.
Die meisten umweltbedingten Veränderungen, die das Leben auf unserem Planeten beeinflussten, gingen immer relativ langsam vonstatten. Dieser naturgemäß stufenweise Wandel von Variablen wie Temperatur und Verfügbarkeit von Nahrung harmonierte daher gut mit der Auswahl zufälliger genetischer Variationen, die für das Überleben angesichts der neuen, durch die Umwelt geschaffenen Herausforderungen programmiert waren – ein dynamischer Prozess, der für die ständige Fortentwicklung des Genoms eines jeden lebenden Organismus von zentraler Bedeutung ist.
Wie Dr. Johnson so wortgewandt aufzeigt, waren unsere Urahnen unter den Primaten vor vielen Millionen Jahren einer derartigen ökologischen Herausforderung ausgesetzt. Ein sich ebenfalls über Millionen von Jahren abkühlender Planet und die daraus folgende Verschlechterung des Nahrungsangebots erzeugte einen ökologischen Druck, der solche Gene begünstigte, die das bestmögliche Überleben sichern konnten. Diese neue genetische Ausstattung bot einen Überlebensvorteil, denn sie ermöglichte unseren fernen Vorfahren, Fett schneller zu bilden und zu speichern, ein hochwirksamer physiologischer Vorteil in Zeiten von Nahrungsknappheit.
Zweifelsohne profitierten sogar unsere jüngeren menschlichen Vorfahren von diesen genetischen Veränderungen, deren Erfolg beim Jagen und Sammeln nicht immer garantiert war. Tatsächlich war während nahezu der gesamten Menschheitsgeschichte die Nahrungssicherheit prekär.
Doch mit der Entwicklung der Landwirtschaft vor etwa fünfzehn- bis siebzehntausend Jahren änderte sich diese Situation ziemlich plötzlich und einschneidend. Der Ackerbau, ein Ereignis, das als neolithische oder Erste Agrarrevolution bezeichnet wird, konfrontierte die Physiologie des Menschen mit enormem Stress ganz anderer Art. Innerhalb weniger Jahrtausende waren Kalorien, die hauptsächlich von kohlenhydratreichen Nutzpflanzen stammten, im Überfluss vorhanden und bestimmten schließlich die menschliche Ernährung. Die Veränderung ging so schnell vor sich, dass die Genetik nicht mithalten konnte. Somit kam es zu einer bedrohlichen ökologischen/evolutionären Fehlanpassung, die bis heute immer noch unsere Gesundheit gefährdet. Unsere genetische Ausstattung bereitet den Körper nach wie vor auf eine Nahrungsknappheit vor und bildet und speichert Fett, wann immer wir übermäßig viele Kohlenhydrate, insbesondere Fruktose, zu uns nehmen. (Alle herkömmlichen natürlichen Zuckerarten gelten als Kohlenhydrate; Anm. d. Übers.) Im Grunde genommen bereiten wir uns ständig auf einen Winter vor, der nie kommt.
Die neolithische Agrarrevolution wird als eine der größten Segnungen für die Menschen betrachtet – und zwar zu Recht. Infolge der verbesserten Nahrungssicherheit hat die Menschheit unglaubliche Entwicklungssprünge gemacht. Doch mit Blick auf die Herausforderung, die es für die Fähigkeit unseres Erbguts bedeutet, uns gesund zu erhalten, wie durch mehr als zwei Milliarden übergewichtige oder fettleibige Menschen auf unserem Planeten belegt wird, besteht Grund dazu, infrage zu stellen, ob diese verhängnisvolle Veränderung in der Ernährung des Menschen noch immer allgemeingültig zu befürworten ist. In seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit schreibt Yuval Noah Harari dazu:
Das ist für Menschen in den heutigen wohlhabenden Gesellschaften schwer nachzuvollziehen. Da wir Wohlstand und Sicherheit genießen und da Wohlstand und Sicherheit auf Grundlagen beruhen, die von der (Ersten) Agrarrevolution gelegt wurden, gehen wir davon aus, dass die (Erste) Agrarrevolution eine wunderbare Verbesserung war.
Wir haben ein „sparsames“ Erbgut, eines, das darauf ausgerichtet ist, unsere Physiologie so zu steuern, dass unsere Überlebenschancen angesichts einer Nahrungsknappheit maximiert werden – eine Situation, die die meisten Menschen in den Industrieländern gar nicht kennen. Und wie Dr. Johnson erklärt, können die Folgen dieser ökologischen/evolutionären Fehlanpassung sehr gut nicht nur der Grund für die Gewichtszunahme, sondern auch für eine ganze Menge anderer Stoffwechselerkrankungen, darunter Diabetes und Bluthochdruck sein.
In einem Kommentar, der vor einem halben Jahrhundert in der Tageszeitung Miami Herald veröffentlicht wurde, ging ich den gesundheitlichen Auswirkungen unserer ökologischen/evolutionären Fehlanpassung nach und schloss mit der Frage: „Doch was ist mit den Menschen von heute, die mit der veralteten Maschinerie nicht zurechtkommen?“ Unsere „Maschinerie“, gemeint ist unsere Physiologie, ist eine Manifestation der durch unsere Gene bereitgestellten und von allen unseren Vorfahren an uns weitergegebenen Informationen. Und tatsächlich eignet sich die Physiologie des Menschen, die so gut an die Umgebung unserer Ahnen angepasst ist, weniger für unsere moderne Welt, insbesondere was die Nahrung betrifft.
Wenn wir eine bessere Gesundheit erreichen wollen, besteht unsere Mission darin, Umwelt und Genetik besser miteinander in Einklang zu bringen. Wir können zwar den evolutionären Prozess bisher nicht beschleunigen oder spezifische Veränderungen in unserem Erbgut auslösen, um es besser an die Welt anzupassen, in der wir leben, doch wir können auf die umweltbedingte Seite dieser Beziehung absolut Einfluss nehmen.
In diesem Buch setzt Dr. Johnson mehr als zwei Jahrzehnte engagierter und ausführlicher Forschung sowohl am Tiermodell als auch in Studien mit Menschen wirksam ein, um ein Programm zu kreieren, das optimale Voraussetzungen für eine harmonische Beziehung zu Ihrer DNA schafft. Er legt offen, inwiefern der Fruchtzucker Fruktose in einzigartiger Weise als entscheidendes Signalmolekül dient, um den Körper darauf aufmerksam zu machen, dass er sich auf eine Nahrungsknappheit vorbereiten soll, indem er Fett als kalorische Reserve verstärkt bildet und speichert sowie die Insulinresistenz erhöht, den Vorboten des Typ-2-Diabetes.
Und schließlich gewährt Dr. Johnson einen tiefen Einblick in die faszinierende, fast vollständig von ihm selbst entwickelte Wissenschaft, die die zentrale Rolle der Harnsäure, das dem Fruktosestoffwechsel nachgelagerte Endprodukt, bei den ständig zunehmenden globalen, mit allen Arten von Stoffwechselkrankheiten verbundenen Problemen hervorhebt.
Wenn wir verstehen, inwiefern unsere heutigen alltäglichen Entscheidungen auf der Genetik unserer Vorfahren beruhen, öffnen wir das Tor, um Veränderungen in der Lebensweise umzusetzen und dadurch langersehnte gesundheitliche Ziele zu erreichen. Und das ist ein Geschenk, das die Selbstverantwortung wahrhaft stärkt.
Dr. med. David Perlmutter, FACN (Mitglied des American College of Nutrition), Huntsville, Ontario, Canada, Juli 2021
Als ich Rick Johnson 2014 erstmals auf einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie über Fruktose und Harnsäure habe sprechen hören, war ich sofort fasziniert über die Art seines Vortrags. Er vermochte es in einzigartiger Weise, die Effekte dieser beiden Substanzen im menschlichen Körper mit wissenschaftlichen Studienergebnissen derart verständlich und anschaulich darzustellen, sodass man als Zuhörer gefesselt war.
Übergewicht und Fettleibigkeit sind bereits seit vielen Jahrzehnten die Treiber von zunehmenden Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck.
Dabei wurden immer wieder das Cholesterin und eine fettreiche Ernährung als Hauptverdächtige bei dieser Entwicklung beschuldigt. Erst in den letzten Jahren rückt mit dem Zucker und insbesondere dem Fruchtzucker ein anderer Täter in den Mittelpunkt des krank machenden Geschehens. Denn es sind offensichtlich die besonderen Eigenschaften des Fruchtzuckers (Fruktose), die Stoffwechselvorgänge und Mechanismen in unserem Körper aktivieren, die heutzutage zu Erkrankungen wie Fettleber, Gewichtszunahme, Zucker- und Fettstoffwechselstörung sowie Gicht und Bluthochdruck führen können. Doch gerade die Besonderheiten des Zucker- bzw. Fruchtzuckerstoffwechsels ermöglichten uns in unserer Entwicklungsgeschichte einen Überlebensvorteil. Diese Zusammenhänge hat Rick Johnson mit seinen Kollegen seit vielen Jahren erforscht und beschrieben und neben vielen wissenschaftlichen Artikeln auch in bislang zwei populärwissenschaftlichen Büchern veröffentlicht. Nun kommt mit Hüftgold und Winterspeck – vom Evolutionsvorteil zur Fettfalle sein drittes Buch. Und wieder gelingt es Rick in unnachahmlicher Weise, Wissen aus Biochemie, Biologie und Zoologie mit Ereignissen in unserer Entwicklungsgeschichte erzählerisch so verständlich und unterhaltsam, miteinander zu verknüpfen, dass man die Zusammenhänge auch als medizinischer Laie versteht. Dem Leser erschließt sich anschaulich, wie ein in der Vorzeit überlebenswichtiger Nährstoff und sein besonderer Stoffwechsel sich bei unserer heutigen Ernährung in ein krank machendes Übel verwandelt. Rick Johnson führt den Leser durch die Entwicklungsgeschichte unserer Spezies und zeigt, dass die Anpassungen unseres Organismus, die uns in der Vorzeit halfen zu überleben, heute zu massiven gesundheitlichen Nachteilen führen. Er zeigt aber auch, wie man sich aus der krank machendes „Fruchtzucker-Fettfalle“ mit der richtigen Ernährung und der passenden Bewegung befreien kann.
Hüftgold und Winterspeck – vom Evolutionsvorteil zur Fettfalle fasziniert durch eine sehr verständliche und unterhaltsame Darstellung eines komplexen naturwissenschaftlichen Themas, das für unsere Gesundheit immer bedeutsamer wird.
Dr. med. Kai Hahn, Facharzt für Innere Medizin
An einem regnerischen Morgen, es war der 1. Mai 1893, eröffnete US-Präsident Grover Cleveland die Weltausstellung in Chicago vor mehr als 129 000 Menschen und beendete seine Ansprache mit der Betätigung eines gold- und elfenbeinfarbenen Knopfes, wodurch das gesamte, mehr als 240 Hektar große Messegelände in elektrisches Licht getaucht und die bisherige Beleuchtung mit Gaslaternen ersetzt wurde. Während der sechsmonatigen Dauer der Messe waren insgesamt 27 Millionen Menschen durch die Tore geströmt und hatten sie zur größten Ausstellung des 19. Jahrhunderts und zu einem der größten Ereignisse der bisherigen Menschheitsgeschichte gemacht.
Mit der Messe wurde der 400. Jahrestag der ersten Reise von Christoph Columbus nach Amerika begangen, daher lautete ihr offizieller Name „Columbus-Ausstellung“. Und tatsächlich wurde die Vergangenheit in vielerlei Hinsicht gefeiert. Nachbildungen seiner Schiffe Niña, Pinta und Santa María in Originalgröße lagen am Lake Michigan, dem See in der Nähe des Jackson Parks und ganz neugierige Gäste, die wissen wollten, wie ihre Reise nach Amerika wohl gewesen wäre, konnten sogar an Bord gehen. Ebenfalls in der Nähe der Ausstellung fand Buffalo Bills berühmte Wild West-Show statt, in der an die Abenteuer des Westens mit Pferdevorführungen, „indianischen“ Tanzgruppen, Scharfschützen-Darbietungen von Annie Oakley und Erzählungen von Calamity Jane erinnert wurde.
Die meisten Menschen interessierten sich jedoch nicht so sehr für die Vergangenheit, denn bei der Chicagoer Weltausstellung ging es auch um die Zukunft und diese war in der Geschichte der Menschheit noch nie so strahlend gewesen. Zusätzlich zur elektrischen Beleuchtung gab es nun auch das Telefon; ein paar Monate zuvor war die erste Telefonverbindung zwischen New York City und Chicago eingerichtet worden. Das erste amerikanische Automobilunternehmen war gerade eröffnet und verkaufte Autos mit dem neuen gasbetriebenen Motor. Kurz zuvor war das Grammophon erfunden worden, und man konnte entsprechende Salons besuchen, um Aufnahmen von Konzerten und Musik zu hören.
Die Messe selbst quoll über von den Wundern des modernen Zeitalters, wozu auch das erste Riesenrad und das erste elektrische Laufband gehörten sowie elektrisch betriebene Gondeln, die die Menschen über Kanäle und Wasserwege transportierten sowie die erste Küche, die mit einem Elektroherd, einem elektrischen Wasserkocher und einer Geschirrspülmaschine prahlen konnte. Die Messe bot auch neue süße Leckereien, etwa Karamell-Popcorn und saftige Fruchtgummis sowie die neu eingeführten Limonaden, die aus Getränkespendern gezapft wurden.
Ähnlich wie Industrie und Technik erlebte auch die Medizin ein goldenes Zeitalter. Jahrhundertelang waren Infektionskrankheiten die große Bedrohung gewesen, wobei Diphtherie, Lungenentzündung, Typhus und Cholera die Zahl der Todesopfer in die Höhe trieben. Die Tuberkulose war besonders gefürchtet, denn sie konnte hohes Fieber und chronischen Bluthusten verursachen; oft war das Opfer nur noch ein Schatten seiner selbst, bevor es der Krankheit erlag. Die Tuberkulose streckte viele Berühmtheiten nieder, darunter den 7. Präsidenten der USA Andrew Jackson, den Komponisten Frédéric Chopin, den britischen Dichter John Keats und die britische Schriftstellerin Jane Austen. Niemand war vor ihr sicher.
Die Medizin machte große Fortschritte. Infektionskrankheiten wurden schließlich durch einfache Hygienemaßnahmen wie Händewaschen sowie durch die ersten Impfstoffe gegen Cholera und Tollwut bekämpft. Emil von Behring ging noch einen Schritt weiter und entwickelte die erste Behandlung für häufige bakterielle Infektionen. Durch die Immunisierung von Pferden konnte er Antitoxine zur Behandlung von Diphtherie herstellen, die, wie er bald zeigte, Kinder mit dieser schrecklichen Krankheit heilen konnten. Außerdem hatte erst zehn Jahre zuvor Robert Koch die wissenschaftliche Welt in sprachloses Erstaunen versetzt, als er die als Ursache der Tuberkulose verantwortlichen Bakterien identifizierte. Nun würde es also sicher bald wirksame Behandlungen geben. Es war eine Zeit der Freude: Das Übel der Infektionskrankheiten konnte bekämpft werden und es gab die große Hoffnung, dass uns eine Zeit des großen Glücks bevorstand, mit sonnigen Tagen, Regennächten und dem Versprechen eines langen, sicheren und gesunden Lebens. Passend zum Zeitgeist hatte ein Arzt namens Arthur Conan Doyle gerade The Adventures of Sherlock Holmes (zu Deutsch: Die Abenteuer des Sherlock Holmes) veröffentlicht, wo es darum ging, wie die Kräfte der Erkenntnis und Beobachtung selbst das schwierigste Problem oder Rätsel lösen können.
Ohne dass die Menschen damals davon wussten, war die Welt jedoch im Begriff, eine Epidemie gewaltigen Ausmaßes zu erleben. Nicht, dass die Krankheit in den 1890er Jahren ihren Ursprung hatte; wie wir noch sehen werden, lässt sie sich viel weiter zurückverfolgen. Ein Wendepunkt war allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts erreicht, als Krankheiten, die einmal als selten galten, in der Allgemeinbevölkerung deutlich zuzunehmen begannen. Bei dieser Epidemie handelte es sich nicht nur um eine Krankheit, sondern um ein Gemisch aus mehreren Krankheiten. Und sie tobt noch heute durch Amerika und die ganze Welt.
Diese neue Epidemie hat Millionen von Menschen auf dem Gewissen und befindet sich damit auf Augenhöhe mit historischen Epidemien wie der Pest (die zwischen 1347 und 1350 circa 40 Millionen Menschen das Leben kostete) oder der Spanischen Grippe (mit 45 Millionen Toten, was zwischen 1918 und 1920 fünf Prozent der Weltbevölkerung entsprach). Ein Unterschied zu diesen früheren Epidemien besteht darin, dass sie nicht im herkömmlichen Sinn ansteckend ist, da sie nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird; ferner ist kein Virus, Bakterium oder Parasit daran beteiligt. Sie verursacht kein Fieber oder eine andere Art von akuter Krankheit, zumindest nicht in ihren frühen Stadien. Sie tötet auch nicht in Tagen, Wochen oder Monaten, sondern über Jahrzehnte.
Die Epidemie ist auch so weit verbreitet, dass den heutigen Ärztinnen und Ärzten beigebracht wird, dies seien die normalen Krankheiten unserer Bevölkerung. Ich spreche hier nicht nur von der Adipositas, sondern auch von den Erkrankungen, die heute unsere Krankenhäuser füllen, insbesondere Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfälle und Herzkrankheiten. Manche haben sie auch schon als die heute weltweit auftretenden nichtübertragbaren Krankheiten bezeichnet, und auch wenn sie nicht durch Übertragung verbreitet werden können, hinterlassen sie dennoch eine Schneise von Krankheit und Tod.
Adipositas hat in den Vereinigten Staaten (und nicht nur dort) im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch zugenommen. Dargestellt ist ihre Prävalenz (definiert als Body-Mass-Index oder kurz BMI von mehr als 30) bei Männern im Alter von 53 Jahren. (Adaptiert aus: Ann Hum Biol 2004; 31174-182)
Im Jahre 1890 waren nur drei Prozent der amerikanischen Erwachsenen von der Adipositas – gemäß unserer heutigen Definition – betroffen und an Diabetes litten lediglich zwei oder drei Menschen pro Hunderttausend. Bluthochdruck hatten weniger als fünf Prozent der amerikanischen Bevölkerung unter 65 Jahren, und es wurde nur vermutet, dass eine koronare Herzkrankheit die Ursache eines seltenen, beklemmenden, als Angina bekannten Schmerzes in der Brust ist. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich all das verändert.
Der Anstieg von Diabetes in den Vereinigten Staaten seit 1860. Die Grafik zeigt die Diabetes-Prävalenz als Diabetes-Sterberate pro 100 000 Menschen bis zur Einführung von Insulin in den 1920er Jahren, als die Sterberate zu sinken begann. (Adaptiert aus: Ann Hum Biol 2004; 31174-182)
Heutzutage sind 30 bis 40 Prozent der US-Bevölkerung adipös und 10 bis 12 Prozent haben Diabetes. In manchen Teilen der Welt, etwa in Samoa, haben 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Diabetes. Zugleich leidet ein Drittel der Erwachsenen an Bluthochdruck, und Herzkrankheiten sind die Haupttodesursache. Es gibt fast niemanden, bei dem nicht ein Familienmitglied oder ein ihm nahestehender Mensch von einer dieser Krankheiten betroffen ist.
Die Beobachtung, dass Adipositas, Diabetes, Bluthochdruck und die koronare Herzkrankheit alle in den 1890er-Jahren stark anzusteigen begannen, wirft die Frage nach einem Faktor als möglicher treibender Kraft auf. Was war an der Zeit so besonders, dass es zur Entstehung von Adipositas und diesen damit zusammenhängenden Krankheiten kam? War es die gewaltige Verbesserung der Technik, die unsere Lebensweise veränderte? Hing es mit den wirtschaftlichen Veränderungen oder einer konkreten Veränderung in unserer Ernährung zusammen? Wir kommen später auf diese Zeit zurück, um die Hauptursache herauszufinden. Was zunächst am meisten hervorsticht, ist, dass weder die Öffentlichkeit noch die Ärzteschaft wusste, was bevorstand.
Diese Grafik zeigt die Prävalenz (Häufigkeit einer Krankheit in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, Anm. d. Verl.) von diagnostiziertemDiabetes in der erwachsenen Bevölkerung in Prozent. Nimmt man die nicht diagnostizierten Diabetesfälle dazu, ist der Prozentsatz höher. Zum Beispiel wurde 2020 die Gesamtheit der diagnostizierten und nicht diagnostizierten Diabetesfälle in den Vereinigten Staaten auf 10,5 Prozent der Gesamtbevölkerung oder 13 Prozent der Menschen ab 18 Jahren geschätzt. (Adaptiert aus: http:www.cdc-gov/diabetes/data; Am J Pub Health 1946; 36: 26-33)
Seit der Zeit jener ersten Weltausstellung werden große Anstrengungen zur Bekämpfung von Adipositas, Diabetes sowie Herzkrankheiten unternommen und es wurden schon enorme Fortschritte erzielt, zumindest in Bezug auf die Behandlung der beiden Letzteren.
Wir haben eine ganze Sammlung von neuen Behandlungsmethoden für Diabetes, einschließlich zahlreicher Insulin-Typen und anderer Medikamente, die den Blutzuckerspiegel unter Kontrolle bringen. Wir haben auch ein Arsenal von Medikamenten zur Behandlung von Bluthochdruck. Und für Herzkrankheiten haben wir sogar noch mehr Alternativen. Die Kampagnen gegen das Rauchen haben zum Rückgang von Herzinfarkten geführt, und wir können Ihren Cholesterinspiegel medikamentös senken, wir haben Thrombozytenhemmer, die die Wahrscheinlichkeit von Blutgerinnungsstörungen verringern und wir können sogar Katheder in Ihr Herz einführen, um die Koronararterien wieder durchgängig zu machen. Wir können sogar Ihr Herz auswechseln. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen waren großartig, und die Sterblichkeitsraten, insbesondere infolge einer koronaren Herzkrankheit, sind im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich gesunken. Doch trotz dieser Fortschritte bleibt die Herzerkrankung die Haupttodesursache. Und diese anderen Epidemien wüten weiter.
Das Problem ist, dass wir trotz der bahnbrechenden Entwicklungen in der Behandlung und Handhabung die Ursache oder die Ursachen, die diesen Epidemien zugrunde liegen und sie antreiben, noch immer nicht richtig verstehen. Wirksame Behandlungen sind großartig, aber wäre es nicht besser, wenn wir wüssten, wodurch das Problem überhaupt verursacht wurde? Mir gefällt der Gedanke nicht besonders, dass ich mir einen Katheder in mein Herz schieben lassen soll. Selbst angesichts der großen Fortschritte in der Medizin beeinträchtigt uns ein Diabetes und eine Herzkrankheit schwebt wie ein Damoklesschwert über uns. Wir müssen wissen, warum wir von diesen Krankheiten betroffen werden. Wir müssen verstehen, wie wir der Adipositas und den damit in Zusammenhang stehenden Krankheiten vorbeugen und wie wir sie heilen können. Das ist umso wichtiger, da die Prävalenz von Adipositas und Diabetes seit den 1970er Jahren Fahrt aufgenommen hat.
Wir müssen über den Tellerrand hinausschauen und einen anderen Typ von „Doktor“ zu Rate ziehen.
Im Laufe der Jahrhunderte gab es viele weise Menschen, doch mein Favorit ist ein „Doktor“, dessen Arbeiten ich als Kind verschlungen habe und auf dessen guten Rat ich mich auch heute noch verlassen kann. Der angesehene Dr. Seuss (amerikanischer Kinderbuchautor, der unter anderem dieses Pseudonym benutzte; in Europa vor allem bekannt als Erfinder des weihnachtshassenden Grinch; Anm. d. Übers.) schrieb: „Denke links und denke rechts und denke niedrig und denke hoch. Oh, alle die Gedanken, die du dir ausdenken kannst, versuche es doch!“
Als Student an der University of Wisconsin hatte ich einen bemerkenswerten Mathematiklehrer, der uns am ersten Tag unseres Kurses des Mathe-Kurses fragte, wie wir einen Löwen in der Wüste mithilfe der Mathematik fangen können. (Natürlich antwortete jemand von uns, dass das nicht möglich sei, da Löwen nicht in der Wüste leben, worauf mein Lehrer erwiderte, in diesem speziellen Fall schon und das mache ihn nur noch hungriger.) Ich dachte kurz darüber nach, hatte aber keine Ahnung, was ich sagen sollte. Als niemand diese Frage beantworten konnte, erklärte er, die Antwort sei ganz einfach. Zuerst baut man einen Zaun mit vier gleichlangen Seiten durch die Wüste. Dann stellt man mithilfe eines Fernglases fest, auf welcher Seite sich der Löwe befindet und zäunt diesen Abschnitt gleichermaßen ein. Das macht man so lange, bis sich der Löwe schließlich in einem eng umzäunten Raum befindet. Die Lösung nutzt das mathematische Konzept, einen Raum mehrfach um jeweils die Hälfte zu reduzieren, eine Gleichung, bei der die Lösung niemals Null sein kann, doch letztlich jedes Tier von endlicher Größe einfangen wird. Das war für mich eine großartige Lektion: Man muss nicht immer einen Standardansatz wählen. Die „weniger befahrene Straße“ zu nehmen kann sich lohnen.
Dieses Buch stellt eine unkonventionelle Vorgehensweise vor, an die viele Mitglieder meines Teams und ich uns gehalten haben, als wir versuchten, die fundamentale Frage zu beantworten, warum wir Adipositas und damit zusammenhängende Krankheiten wie Diabetes, Herzkrankheiten, Bluthochdruck und viele andere mehr bekommen. (Unsere Arbeit hat ergeben, dass andere Krankheiten, die nicht zur typischen Gruppe von Adipositas und Diabetes gehören, offenbar ebenfalls in Zusammenhang damit stehen, unter anderem Krebs, Demenz und verschiedene Verhaltensstörungen.) Unsere Methode besteht darin, die Frage aus vielen Blickwinkeln zu untersuchen und auch die klinischen Studien und Laborversuche sowie das, was die Natur, die Geschichte und die Evolution uns lehren, zu nutzen. Als Kind bewunderte ich Sherlock Holmes, der die unmöglichsten Fälle durch die Kräfte der Beobachtung und Ableitung knacken konnte. Ich nehme ganz sicher nicht für mich in Anspruch, ein ähnliches Talent zu besitzen. Trotzdem hat mich meine berufliche Laufbahn, ganz ähnlich wie die des fiktionalen Detektivs, zu vielen Ermittlungen geführt, bei denen ich Fragen stellen, nach Anhaltspunkten suchen, falsche Spuren verwerfen und solide Fakten aufdecken musste, in der Hoffnung, der Wahrheit immer näher zu kommen. Mein Ziel war dem meines kreativen Mathe-Lehrers nicht unähnlich, doch in diesem Fall war der Löwe, den ich einzäunen wollte, die tiefere Ursache, die diese Krankheiten vorantreibt.
Ich bin zwar Nephrologe, der weiterhin Patienten mit Nierenproblemen behandelt, doch ich verbringe viel Zeit mit Forschung. Wie bei den meisten wissenschaftlich tätigen Menschen beruht meine Forschungsarbeit ursprünglich auf der Thematik meines Fachgebiets. Jede Erkenntnis hat mir jedoch ihren eigenen Weg gewiesen, der in vielen Fällen in andere Bereiche führte. Meine Arbeit und die Arbeit meines Teams dehnten sich von den Nierenkrankheiten auf die Gebiete Bluthochdruck, Diabetes und sogar Krankheiten wie Alzheimer und Krebs aus. Ich habe gelernt, wenn dies geschieht – wenn ich aus meiner Komfortzone heraustrete –, mich nicht zu scheuen, entsprechende Fachleute zu suchen, mit denen ich zusammenarbeiten kann.
Als mich meine Forschung in den Bereich von Adipositas führte, wurde mir klar, dass es hier hinsichtlich der zugrundeliegenden Ursache noch immer so viel gab, was man nicht verstand. Wenn es so einfach wäre, dass man nur zu viel isst und sich zu wenig bewegt, wie jahrzehntelang propagiert worden war, dann hätte es ein Leichtes sein sollen, Adipositas dauerhaft zu heilen. Doch dann stünden nicht so viele Diätpläne und Trainingsprogramme zur Wahl; es gäbe auch nicht so viele Debatten über die beste Methode. Wie sich herausstellt, besteht das Problem nicht in der Gewichtsabnahme an sich, denn diese wird mit den meisten Programmen erreicht. Es geht vielmehr darum, dass wir unser neues niedrigeres Gewicht kaum halten können, als gebe es einen unterschwelligen Prozess, der dafür verantwortlich ist, dass wir das Fett wieder zunehmen, um dessen Verlust wir so mühsam gekämpft haben. Sind wir erst einmal übergewichtig, werden die überschüssigen Pfunde für die folgenden Jahre zu einem unerwünschten Begleiter.
Ich fragte mich, ob irgendetwas fehlte, eine treibende Kraft, die noch im Verborgenen lag, eine schwer fassbare Geschichte, die entdeckt werden wollte. Anscheinend musste man einfallsreich sein, um die Ursache zu finden. Obwohl Laborversuche und klinische Studien wichtige Erkenntnisse liefern, bieten sie für sich genommen immer nur einen Teil jeder Geschichte. Wenn wir alle relevanten Gebiete nutzen – von der klassischen Physiologie, der Genetik, der Sportmedizin sowie der Ernährung bis zu Gebieten außerhalb der Medizin, unter anderem Geschichte, Evolution und Naturforschung –, bekommen wir ein größeres Bild. Daher erstreckte sich unsere Arbeit auch auf das Studium von Tieren in der Natur (wie Eichhörnchen und Bären im Winterschlaf) und auf die Geschichte (von der Geschichte Europas im 19. Jahrhundert bis zurück zu den Menschen in der Eiszeit). Ich bin dankbar, dass wir nach links, nach rechts, nach oben oder nach unten gehen konnten, wohin die Hinweise uns führten.
Im Zuge unserer Forschung erkannten wir einen biologischen Prozess, den Tiere nutzen, um zu überleben. Dieser wird meist durch das Futter ausgelöst, das sie zu sich nehmen, wobei sich Fruktose1– eine häufige, in unseren Nahrungsmitteln enthaltene Zuckerart – als besonders wichtig erweist, obwohl andere Nahrungsmittel ihn auch stimulieren. Wir nennen ihn den Überlebensaktivator, da er eine ganze Reihe von Veränderungen in der Physiologie und im Stoffwechsel sowie Verhaltensweisen aktiviert, die Tiere in der freien Natur schützen, wenn es nichts zu fressen gibt. Zu den Merkmalen des Aktivators gehört, dass er dem Tier hilft, Fett zu speichern, das zur Energiebereitstellung abgebaut werden kann, wenn es kein Futter gibt.
Bei vielen Menschen heutzutage ist dieser Aktivator auch eingeschaltet und bleibt dauerhaft aktiv, und die Folge ist, dass sie Fett ansetzen. Daher ist ein ehemaliger Überlebensaktivator, der zu unserem Schutz gedacht war, jetzt ein Fettaktivator, der Adipositas fördert. Noch besorgniserregender ist vielleicht, was neuere Studien nahelegen, nämlich, dass dieser Aktivator nicht nur Adipositas und Krankheiten verursacht, die wir schon lange damit in Zusammenhang bringen, wie etwa Diabetes, sondern möglicherweise eine wichtige Rolle bei anderen Erkrankungen spielt, zum Beispiel bei Herzkrankheiten, Krebs und Alzheimer. Eine der zentralen Erkenntnisse ist, dass Adipositas nicht die Ursache dieser anderen Erkrankungen ist, sondern vielmehr, dass sie alle durch denselben zugrundeliegenden biologischen Prozess, den Überlebensaktivator, angetrieben werden.
Ursprünglich schrieb ich 2012 über diesen Aktivator in meinem Buch The Fat Switch (zu Deutsch etwa: Der Fettaktivator, zurzeit nur in englischer Sprache erhältlich), doch seither haben wir viele neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie er funktioniert, was ihn aktiviert und, was am spannendsten ist, wie man ihn deaktiviert. Auch wenn Fruktose, die in Zuckern unseren Nahrungsmitteln und Getränken zugesetzt wird, dieses Programm als Hauptschuldige fördert, haben wir noch andere Nahrungsmittel und andere Faktoren gefunden, die den Überlebensaktivator anschalten. Diese Forschung hat zu neuen Erkenntnissen für die Vorbeugung und Behandlung dieser Krankheiten geführt. Manche Maßnahmen werden bereits häufig eingesetzt, zum Beispiel kohlenhydratarme Ernährungsweisen und das Intervallfasten. Doch wir haben auch andere Lösungen gefunden, die nicht so bekannt sind und normalerweise nicht empfohlen werden. Ich freue mich darauf, diese neuen Ansätze in diesem Buch zur Diskussion zu stellen.
Unsere Arbeit wird zwar noch nicht von der gesamten Fachwelt voll und ganz akzeptiert, doch das ist nicht ungewöhnlich, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zum ersten Mal vorgelegt werden.
Wichtig ist, dass unsere Arbeit auf streng wissenschaftlicher Basis beruht und in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurde; vieles davon wird von klinischen Studien gestützt.
Lassen Sie uns also bei dem Versuch, das Rätsel der größten Epidemie aller Zeiten zu lösen, über den Tellerrand hinausschauen. Doch wo sollten wir anfangen? Hier könnten wir uns an den guten Rat von Sherlock Holmes halten: „Bevor wir zu ermitteln beginnen, lassen Sie uns versuchen festzustellen, was wir schon wissen, um das Beste daraus zu machen und um das Wesentliche vom Nebensächlichen zu trennen.“ Lassen Sie uns damit anfangen zu verstehen, inwiefern Adipositas gut sein kann. Dazu sollten wir von der Natur lernen – denn hier können wir vielleicht einige der frühesten Hinweise darauf finden, warum Tiere, uns eingeschlossen, Fett ansetzen.
Adipositas, allgemeinsprachlich als Fettleibigkeit bezeichnet – der Zustand, wenn man übermäßig viel Fett auf den Rippen hat –, gilt gemeinhin als schlecht und ungesund. Ein Grund dafür ist, dass damit oft ein erhöhter Blutdruck, hohe Triglyceridwerte (ein Fetttyp, der im Blut und in der Leber vorkommt) und ein hoher Blutzuckerspiegel einhergeht. Diese klinischen Merkmale entsprechen einer sogenannten prädiabetischen Stoffwechsellage, und tatsächlich entwickeln viele adipöse Menschen im Laufe der Zeit einen Diabetes. Diese Gesamtsituation wird als metabolisches Syndrom bezeichnet und als anormal, als Krankheit betrachtet.
In der Natur ist die Fettleibigkeit nicht unerwünscht, sie ist sogar oft geplant. Ein ordentliches Fettpolster ist die Rettung, die den Tieren in strengen Wintern oder bei Dürreperioden und Naturkatastrophen das Überleben sichert. Somit haben wir also ein Paradoxon: Fett ist schlecht, außer Fett ist gut. Wie ist es dann zu verstehen, warum es so aussieht, dass Fett für uns ein Problem ist?
Eine Lösung könnte sein, dass wir damit beginnen, Adipositas nicht gleich mit Diabetes und Herzkrankheit in Zusammenhang zu bringen, sondern mit ihren Vorteilen und damit, warum die Natur das ganz anders sieht als wir. Wenn wir verstehen, inwiefern Fett segensreich ist, können wir vielleicht herausfinden, warum und wie Tiere dafür sorgen, dass sie zunehmen. Diese Informationen könnten uns dann die ersten Hinweise zur Lösung des Rätsels geben, was bei uns zur Gewichtszunahme führt, warum das mit einer schlechten Gesundheit einhergeht und warum dieses zugenommene Gewicht so schwer wieder loszuwerden ist.
Lassen Sie uns mit einem der Meister der Fettleibigkeit beginnen, dem Kaiserpinguin, der in meinen Augen der König der Dicken ist.
Es gab vor langer Zeit zwar einen Pinguin, den Riesenpinguin, mit einer Größe von mehr als 1,80 m, doch heute sind die Kaiserpinguine weltweit die größten und gehören zu einer in der Antarktis beheimateten Art. Es sind majestätische Vögel, die bis zu 1,20 m groß werden können, normalerweise 18 bis etwa 22 Kilo wiegen und an der Küste leben, wo sie mit Fisch, Krill und Kalmaren richtig schlemmen können. Sie sind schnelle Schwimmer und großartige Taucher, die 20 Minuten lang unter Wasser bleiben und eine Tiefe von gut 450 m erreichen können, wodurch sie die am tiefsten tauchenden Vögel sind.
Während des antarktischen Winters nisten sie. Einen oder zwei Monate zuvor beginnen die Kaiserpinguine zuzunehmen und verdoppeln bis zum Nahen des frühen Winters fast ihr Gewicht. Sie sammeln Fett im ganzen Körper an und sehen dadurch auf komische Weise stattlich aus. Dann watscheln die Vögel mit einer Geschwindigkeit von bis zu drei Stundenkilometern etwa 40 bis 60 Kilometer ins Landesinnere, um sich vor ihren Fressfeinden an der Küste, etwa den Seeleoparden und den Killerwalen, in Sicherheit zu bringen und paaren sich dort. Das Weibchen legt ein einziges Ei und kehrt dann zum Meer zurück, um mehr Futter zu besorgen. Inzwischen harrt das Männchen aus und wiegt das Ei zwischen seinen Beinen und dem Gesäß, um es warm zu halten, da die Temperaturen bis auf -40° Celsius sinken können. Bei heftigem Wind kann sich der Pinguin mit Artgenossen zusammenkuscheln, um sich vor der Kälte zu schützen.
Zwei Monate lang sitzt er ruhig über dem Ei, um es zu schützen und nimmt die ganze Zeit keine Nahrung zu sich. Die große Fettmenge, die er angesammelt hat, ist einerseits eine Isolierschicht gegen die frostigen Temperaturen und liefert andererseits die Kalorien, die er während des Brütens zum Leben braucht. Das Pinguinmännchen ist größer als das Weibchen und kann länger ohne Nahrung überleben, da es mehr Fett angesammelt hat. Doch sollten die Fettspeicher zur Neige gehen, bevor das Junge schlüpft, gibt es das Ei auf und versucht zurück zum Meer zu kommen, um Nahrung zu suchen und zu überleben. Meist verfügt das Pinguinmännchen jedoch über genügend Fettreserven, und bis das Junge geschlüpft ist, ist das Weibchen wieder zurück, oft mit Futter, das es für das Kleine hervorwürgen kann. Dann kann sich das Männchen auf den Weg machen, um zu fressen und wieder zuzunehmen.
Andere Tiere legen zu bestimmten Zeiten im Jahr Fettvorräte an, um Perioden von Nahrungsknappheit zu überstehen. Zugvögel zum Beispiel, die weite Strecken zurücklegen, fressen im Allgemeinen mehr vor ihrer langen Reise. Diese Vögel setzen ziemlich viel Fett an und haben dadurch die Energie, die sie für ihren Weg brauchen. Die europäische Gartengrasmücke riskiert die Überquerung der Sahara in ihr Winterquartier im südlichen Afrika, sobald sie genügend Fett gespeichert hat. Den Entfernungsrekord bricht jedoch die Pfuhlschnepfe, ein Küstenvogel, der mit seinem langen Schnabel Sand oder Schlamm nach Insekten und Krustentieren durchsucht und im Spätherbst vor dem Zug in den Süden Fettspeicher am Körper und in der Leber anlegt. Der achttägige Nonstop-Flug einer Pfuhlschnepfe über eine Entfernung von mehr als 11 000 Kilometer von Alaska nach Neuseeland ist dokumentiert.
Tiere, die Winterschlaf halten, erhöhen ebenfalls ihre Futteraufnahme im Herbst, um zur Vorbereitung auf den bevorstehenden kalten Winter Fettspeicher anzulegen. Um ihren Energieverbrauch zu senken, drosseln sie den Stoffwechsel, die lebensnotwendigen chemischen Reaktionen im Körper. Durch mehr Futteraufnahme bei weniger Energieverbrauch wird mehr Nahrung in Fett umgewandelt. Während des Winterschlafs senken diese Tiere ihre Körpertemperatur bis nahe an den Gefrierpunkt ab, um die Herzfrequenz und den Stoffwechsel noch weiter zu verlangsamen, sodass es beinahe scheint, als seien sie tot.
An der Universität, wo ich arbeite, haben wir ein sogenanntes Hibernaculum, einen Raum, dessen Temperatur und Helligkeit gemäß den Bedingungen während des Winterschlafs gesteuert werden, was uns ermöglicht, das Verhalten von Tieren im Winter zu beobachten, darunter das des Dreizehnstreifen-Erdhörnchens. Während des Winterschlafs senken diese Tiere ihre Körpertemperatur auf 4 Grad Celsius ab. Auch wenn sie fast bretthart zu sein scheinen, wenn man sie hochhebt, sind sie nicht leblos; ihr Herz schlägt, ihr Atem geht ganz langsam, und sie verbrennen auch das überschüssige Fett langsam, das sie mit der für das Überleben während der langen Wintermonate nötigen Energie versorgt.
Im Amazonas lebt der Schwarze Pacu, ein Fisch, der wie ein großer Piranha ohne dessen scharfen Zähne aussieht. Er ist Vegetarier, sein Lieblingsfutter ist Obst. Jedes Jahr wartet er darauf, dass die schweren Regenfälle den Amazonas überfluten; der Fluss steigt 9 bis 12 Meter an, breitet sich meilenweit über den Dschungel aus und überschwemmt sage und schreibe 70 000 Quadratkilometer Wald. Viele Früchte reifen während der Flut und fallen ins Wasser. Der Schwarze Pacu liebt sie und frisst so viele davon, dass sich sein Fettanteil verdreifacht. Wenn die Flut zurückgeht, wird der Amazonas wieder zum Fluss, und die Früchte stehen nicht mehr zur Verfügung. Der Schwarze Pacu lebt bis zu sechs Monaten ohne Nahrung und sichert sein Überleben durch das angesammelte Fett, bis der Amazonas erneut überflutet wird und es wieder Früchte gibt.
Wie Sie sehen können, ist Fett gar keine so schlechte Sache, wenn man in der Wildnis lebt. Natürlich sollten Sie nicht so viel Fett haben, dass es Sie bei der schnellen Flucht vor einer Gefahr behindert, doch es ist der wichtigste Schutz, wenn es nichts zu essen gibt. In diesem Fall könnte es sich lohnen, noch einmal neu über ein Naturgesetz nachzudenken: Es ist nämlich vielleicht nicht immer der Fitteste, der überlebt. In manchen Situationen ist es vielleicht der Fetteste.
Wir halten Fettleibigkeit beim Menschen im Allgemeinen für einen Nachteil. Doch vielleicht haben wir sie bisher nicht aus dem Blickwinkel der Natur betrachtet. Befassen wir uns angesichts dieses Paradoxons noch einmal mit ihr und beginnen mit zwei Beispielen zu fasten.
Mehr als 20 Jahre lang führte ein bescheidener Anwalt mit Namen Mahatma Gandhi eine Kampagne für die Unabhängigkeit Indiens vom britischen Empire an. Er trug ein Lendentuch, das traditionelle Kleidungsstück der Armen und aß nur Gemüse, denn er glaubte nicht, dass man Tiere töten müsse, um sich zu ernähren. Er drückte seinen Protest dadurch aus, dass er lange Fußmärsche machte; man hat ausgerechnet, dass er während dieses Zeitraums von zwanzig Jahren im Durchschnitt 16 Kilometer täglich ging, was etwa einer zweimaligen Umrundung der Erde entsprach. Eine seiner wirksamsten Protestmöglichkeiten war, dass er drohte, sich zu Tode zu hungern. Insgesamt siebzehn Mal hat er das gemacht; seine längste Fastendauer betrug 21 Tage. In einer Welt, in der Protest so häufig gewalttätig abläuft, hatte die Überzeugung eines bescheidenen Mannes, als ein Akt des gewaltlosen Widerstands sich zu Tode zu hungern, eine enorme Wirkung. Zum Teil aufgrund seiner Führungsstärke und seines Einsatzes wurde Indien am 15. August 1947 von England in die Unabhängigkeit entlassen.
Gandhis Arbeit endete jedoch nicht mit der Unabhängigkeit. Indien war die Heimat mehrerer unterschiedlicher religiöser Gruppen, darunter der Hindus, Muslime und Sikhs, zwischen denen es Dissonanzen gab. Im Rahmen der indischen Unabhängigkeitserklärung teilte England das Land in Indien und Pakistan, was bedeutete, dass in Indien die Hindus und in Pakistan die Muslime leben sollten.
Leider brachte dieGründung von Ländern auf der Basis ihrer Religion die jeweils dort lebenden religiösen Minderheiten in eine schwierige Lage, und kurz nach der Unabhängigkeit gab es örtliche Aufstände und Ausschreitungen. Hindus und Sikhs wurden in Pakistan niedergemetzelt, Muslime in Kalkutta und Delhi. Gandhi rief zur moralischen Verantwortung auf und forderte von der Regierung sowie von den religiösen Gruppen die Einstellung der Kämpfe und den Schutz der religiösen Minderheiten in beiden Ländern. Leider stiegen die Opferzahlen weiter.
Schließlich kündigte Gandhi im Januar 1948 an, dass er bis zu seinem Tod oder bis „der Friede in Delhi wiederhergestellt ist und ein Muslim sich allein in der Stadt frei bewegen kann“ fasten würde. Nach einer Mahlzeit aus Ziegenmilch, Gemüse und Obstsaft begann er in Neu-Delhi zu fasten. Er war damals 77 Jahre alt und wog bei einer Größe von 1,65 m nur etwa 45 Kilo. Abgemagert und entschlossen, einen Schal um seinen schwächlichen Körper geschlungen, trat er jeden Abend aus seinem Zimmer heraus, um zu beten und mit leiser, fast unhörbarer Stimme zu den Menschenmengen zu sprechen. Am dritten Tag war er deutlich viel schwächer. Ein amerikanischer Reporter, der ihn aufsuchte, während er auf seiner Pritsche schlief, vermerkte, dass sein Gesicht von Leiden gezeichnet war. Am fünften Tag waren die Ärzte ernsthaft um seine Gesundheit besorgt, doch Gandhis Willenskraft blieb stark. Die Menschen in Delhi sowie auf der ganzen Welt waren aufgewühlt von diesem Mann, der für seine Überzeugungen verhungern wollte. Am sechsten Tag trafen sich die Anführer der Hindus, Muslime und Sikhs mit Verantwortlichen der Regierung und unterschrieben ein Versprechen, Gandhis Forderung nachzukommen, und dieser beendete sein Fasten, schwach aber siegreich.
Siebzehn Jahre später und tausende von Kilometern entfernt, meldete sich ein 27 Jahre alter Mann namens Angus Barbieri in einem Krankenhaus im schottischen Dundee an, weil er abnehmen wollte. Er hatte mehrere Jahre im Fisch- und Chips-Laden seines Vaters gearbeitet, ständig zugenommen und am Tag seiner Aufnahme die 2-Zentner-Marke gerade überschritten. Er war an einer relativ neuen Behandlungsmethode für Adipositas interessiert, die in einem mehrwöchigen Fasten bestand. Laut einer Arbeit, die ein Jahr zuvor im Journal of the American MedicalAssociation veröffentlicht wurde, hatten Menschen sogar sage und schreibe 100 Tage gefastet.
Angus durfte Tee, Kaffee und Wasser trinken sowie Vitamine nehmen, aber nichts essen oder trinken, was Kalorien enthielt. Obwohl der ursprüngliche Plan ein Fasten über „nur“ ein paar Wochen vorsah, klappte es bei ihm so gut, dass er es Monat für Monat fortsetzte, bis schließlich mehr als ein Jahr vergangen war, ohne dass er irgendetwas gegessen hatte. Erstaunlicherweise zeigten sich bei ihm keinerlei Symptome. Während dieser Zeit verlor er fast 125 Kilo – so viel, dass nun drei Leute mit seinem neuen Gewicht in seine ursprünglichen Hosen gepasst hätten. Triumphierend brach er das Fasten mit einem einzigen gekochten Ei und etwas Brot und Butter. Im Laufe der folgenden Jahre konnte er sein Gewicht unter 90 Kilo halten, noch 25 Jahre leben und eine Familie gründen.
Beide Geschichten zusammen erzählen etwas Wichtiges über das Überleben und die Kraft des Fettes. Wenn wir nicht essen, müssen wir uns auf die Nahrung verlassen, die wir in unserem Gewebe speichern: in erster Linie unser Fett, obwohl etwas Energie aus den in der Leber, den Muskeln und anderen Geweben gespeicherten Kohlenhydraten, dem sogenannten Glykogen,stammt. Gandhi hatte fast kein Fett, daher brachte ihn das fünftägige Fasten beinahe um, wohingegen Angus problemlos 382 Tage ambulant fasten konnte. Paradoxerweise ist einer der Gründe, warum Gandhi politisch so überzeugend sein konnte, der, dass er minimale Fettspeicher hatte – wäre er dick gewesen, wäre die Wirkung seines Fastens verpufft.
Die Quintessenz ist, dass Fett den Brennstoff liefert, den wir zum Überleben brauchen, wenn es nichts zu essen gibt. Je mehr Fett wir haben, desto länger können wir fasten. Natürlich fasteten Gandhi und Angus aus freien Stücken.1 Doch was ist, wenn man keine Wahl hat?
Als ich am Krankenhaus der University of Washington in Seattle arbeitete, ging ich zwei- bis dreimal in der Woche über die Straße in die Sporthalle der Universität. Obwohl ich nie ein großer Sportler war, verbrachte ich dort eine halbe bis dreiviertel Stunde mit Gewichtheben. Ich traf auch oft einen Freund, der Bodybuilder war. Er war unglaublich muskulös und fit, und an ihm war absolut kein Gramm Fett zu sehen. Er war zehn oder sogar fünfzehn Jahre älter als ich, sah aber zehn Jahre jünger aus. Er war mein Vorbild dafür, wie ich aussehen wollte und sein Anblick inspirierte mich, noch öfter in die Sporthalle zu gehen.
Dann war er eines Tages nicht da, und ich erfuhr, dass er mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Ich machte ihn dort ausfindig und war entsetzt, als ich sah, dass viele seiner Muskeln im Laufe von wenigen Tagen verschwunden waren. Er sah älter aus und sogar etwas schwach, doch sein Lächeln war noch das gleiche, und ich ging mit einem Gefühl der Hoffnung. Im Laufe der nächsten paar Tage erholte er sich ganz und schließlich konnte er seine Kraft zurückgewinnen, allerdings dauerte das viele Wochen.
Sein Problem war, dass er nur Muskeln hatte und kein Fett. Das ließ ihn in der Sporthalle natürlich fantastisch aussehen, doch als er krank wurde, war es nicht ideal. Als er die Lungenentzündung bekam, verlor er den Appetit und aß nur ganz wenig, obwohl er Energie brauchte, um das Fieber durchzustehen und gegen die Infektion zu kämpfen. Ohne Nahrungszufuhr und ohne Fettreserven, die er verbrennen konnte, baute sein Körper Muskelmasse ab, um ihn mit der benötigten Energie zu versorgen. Als die Muskeln dahinschwanden, sah er plötzlich aus, als würde er sterben – denn wenn die Muskeln abgebaut werden, beginnen andere Systeme zu versagen, auch die Leber und die Nieren. Dann ist die Hölle los. Wäre mein Freund nicht ausgerechnet so fit gewesen – hätte er stattdessen ein bisschen Fett zu verbrennen gehabt –, wären seine Muskeln verschont geblieben, und er wäre nicht so krank geworden.
Viele Studien haben sich mit dem Idealgewicht oder der Fettmenge beschäftigt, die ein Mensch braucht, um länger zu leben. Angesichts dessen, was wir besprochen haben, sollte es Sie nicht überraschen, dass Menschen mit einem Risiko für schwere Erkrankungen wie Krebs, Herzkrankheiten und Nierenversagen sowie solche über 70 Jahre eine bessere Überlebensperspektive haben, wenn sie ein wenig übergewichtig sind (BMI2 von 27). Manche Studien legen sogar nahe, dass ein leichtes Übergewicht ganz allgemein mit einem höheren Durchschnittsalter einhergehen kann.
Doch wie erklären wir dann alle jene Studien, die zu dem Schluss kommen, dass Kalorienbeschränkung mit einem längeren Leben einhergeht? In den meisten Laborstudien, die die Auswirkungen der Kalorienbeschränkung untersucht haben, bekommen die Mäuse etwa 70 Prozent der normalerweise aufgenommenen Kalorien; sie haben letztendlich sehr wenig Körperfett, leben jedoch länger als die normal gefütterten und die dicken Mäuse. Einige Studien legen sogar nahe, dass sie langsamer altern als normal gefütterte Mäuse.
Es gibt auch einige Hinweise darauf, dass sich das vielleicht auf Menschen übertragen lässt. Die Insel Okinawa ist dafür berühmt, dass dort die weltweit meisten hundert- und überhundertjährigen Menschen leben, und eine Studie über die Nahrungsaufnahme von dortigen Schulkindern hatte nahegelegt, dass die Bewohner Okinawas vielleicht etwa ein Drittel weniger Nahrung zu sich nehmen als die Japaner, die in anderen Landesteilen leben. Weiter unterstützt wird die These, dass die lokalen Essgewohnheiten für ihre erhöhte Lebensdauer verantwortlich sein können, durch die Feststellung, dass Einwohner, die in andere Gebiete Japans abwandern, letztendlich eine ähnliche Lebenserwartung haben wie ihre neuen Nachbarn.
Ich glaube, dass niedrigkalorisch ernährte Tiere länger leben, liegt daran, dass das Ansetzen von Fett auch seinen Preis hat. Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, wird entweder sofort zur Energieversorgung den Zellen bereitgestellt (wir nennen diese Hauptenergiespeicher der Zellen das Adenosintriphosphat oder ATP) oder in Speicherenergie (wie Fett) umgewandelt. Normalerweise werden die Kalorien, die wir zu uns nehmen, in sofort verfügbares ATP umgewandelt. Um diese Kalorien stattdessen für später zu speichern, müssen unsere Zellen die ATP-Bildung absenken und die überschüssigen Kalorien zur Fettbildung abzweigen. Nach Erkenntnissen unserer Forschungsgruppe geschieht dies dadurch, dass die „Energiefabriken“ der Zellen (die Mitochondrien), in denen das meiste ATP gebildet wird, einem Phänomen, dem sogenannten oxidativen Stress ausgesetzt werden. Somit ist der Preis der Fettspeicherung ein gewisser oxidativer Stress für unsere Energiefabriken. Bleibt es jahrzehntelang so, kann das zu einer verringerten Funktion in diesen – und sogar zu einem Verlust dieser – Fabriken führen, die dafür verantwortlich sind, die benötigte Energie für die volle Einsatzfähigkeit des Körpers bereitzustellen.
Was ist also oxidativer Stress? Wann immer unser Körper Sauerstoff nutzt, kann etwas davon in giftige sauerstoffhaltige chemische Substanzen umgewandelt werden, die zu Gewebeschädigungen führen können.3 Es wird angenommen, dass die eigentliche Ursache des Alterns geringgradiger oxidativer Stress über die Zeit hinweg ist (etwa durch das langfristige Speichern von großen Fettmengen), zum Teil aufgrund wiederholter Schädigungen unserer Energiefabriken, die uns schneller altern lassen. Daher kann eine Reduzierung der Kalorienzufuhr dafür sorgen, dass Sie sowohl jünger aussehen, als auch länger leben.
Da gibt es jedoch einen Haken. Ja, Tiere, die auf eine niedrigkalorische Ernährung gesetzt werden, leben länger. Das gilt insbesondere für Labortiere, denn ihre tägliche Nahrungszufuhr ist gesichert. Wenn diese Tiere jedoch in die Wildnis entlassen würden, wäre ihr Überleben einem Risiko ausgesetzt: Sie hätten keine Fettspeicher und daher keinen Schutz, sollte es zu einem unvorhergesehenen Nahrungsmangel kommen, etwa durch eine Flut oder eine Dürre, einen Schneesturm oder durch Feuer. Es würde gar nicht viel dazugehören, sie in Bedrängnis zu bringen.
Aber was ist mit uns? Ist es sinnvoll, dass wir unsere Nahrungsspeicher verkleinern, damit uns unsere Energiefabriken erhalten bleiben? Für viele von uns ist das vielleicht sinnvoll, da es eine Menge Schutzmaßnahmen gibt, die uns vor dem Verhungern bewahren. In einem durchschnittlichen (amerikanischen) Supermarkt gibt es mehr als vierzigtausend verschiedene Nahrungsmittel. Krankenhäuser haben viele Möglichkeiten, um kranke Menschen mit Nahrung zu versorgen. Dennoch kann eine Krankheit so schnell zuschlagen, dass Sie keine Möglichkeit haben zu reagieren, wie es bei meinem Bodybuilder-Freund der Fall war.
Außerdem haben heute zahlreiche Menschen keinen konstanten Zugang zu Nahrungsmitteln, ob aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen. Einer Schätzung zufolge leidet jeder neunte Mensch auf der Welt dauerhaft an Hunger. Hungersnöte sind insbesondere in afrikanischen Ländern wie Äthiopien und dem Sudan häufig. Die meisten davon werden durch Dürren verursacht, doch einige sind auch einem Krieg geschuldet (während dessen Verlauf die Nahrungsmittelversorgung gekappt wird) sowie Ernteausfällen durch Krankheit oder Überschwemmung und anderen Gründen. Im Jahre 1950 kam es in Kanada zu einer Hungersnot, als sich das Zugverhalten der Rentiere änderte und zu Hunger unter den Inuit führte, für die das Rentierfleisch Hauptnahrungsquelle war. Hungersnöte können zu hohen Todeszahlen führen. Die Hungersnot im indischen Bengalen 1943 forderte mehr als 2 Millionen Todesopfer.
Angesichts dieser Überlegungen gibt es keinen idealen Prozentsatz an Körperfett, den ein Mensch haben sollte, da die optimale Menge davon abhängt, in welcher Situation Sie sind. Wenn Sie sehr schlank sind und in einer Gesellschaft, in der Nahrung reichlich vorhanden ist, Ihre Kalorienzufuhr niedrig halten, wird es Ihnen wahrscheinlich gut gehen und Sie werden lange leben. Wenn Sie jedoch chronisch krank sind oder ein höheres Alter haben, wenn Ihnen Nahrungsmittel nicht immer problemlos zugänglich sind oder wenn Sie in einer Region leben, in der das Risiko einer Hungersnot besteht, dann sollten Sie sich lieber ein wenig Extrafett zulegen.
Bisher haben wir nur davon gesprochen, inwiefern Fett das Überleben eines Einzelnen unterstützen kann. Fett spielt jedoch auch eine Rolle beim Überleben einer Art. Dazu ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie sich fortpflanzen kann, und es gibt vielleicht keine andere Situation, in der genügend Fettspeicher noch wichtiger sind.
In der Schwangerschaft ist es wichtig, dass die Mutter über ausreichend Nährstoffe verfügt, um ihr sich entwickelndes Kind versorgen und nach der Geburt stillen zu können. Das ist einer der Gründe, weshalb der Fettanteil bei normalgewichtigen Frauen im Allgemeinen entwicklungsbedingt höher ist (durchschnittlich 25 Prozent des Körpergewichts) als bei Männern (mit durchschnittlich 15 Prozent). Rose Frisch, eine namhafte Biologin, ermittelte, dass Frauen mindestens 22 Prozent Körperfett brauchen, um ein Kind auszutragen. Laut Frisch brauchen sie gut 15 Kilo zusätzliches Fett, um genügend Kalorien während der Schwangerschaft bereitzustellen und das Kind in den ersten drei Monaten zu stillen.
In unserer Gesellschaft können sich die meisten Frauen reichlich mit Nahrungsmitteln versorgen, sodass ein Verhungern des Babys im Mutterleib kein Thema ist. Wir haben jedoch medizinische Aufzeichnungen von Hungersnöten in der modernen Zeit, die es uns ermöglichen, ihren Einfluss auf schwangere Frauen und ihre Babys zu beurteilen. Ein Beispiel ist die holländische Hungersnot von 1944-45 während des Zweiten Weltkriegs. Die Niederlande waren 1940 an Deutschland gefallen, doch bis zum Sommer 1944 war ein großer Bereich ihres südlichen Landesteils von den Alliierten befreit worden. Im September jenes Jahres, als Deutschland allmählich schwächer wurde, riefen die in London lebenden geflüchteten holländischen führenden Politiker zu einem Bahnstreik auf, um die Nazis zu bremsen. Die Nazis rächten sich, indem sie die Nahrungs- und Treibstofflieferungen in die westlichen Niederlande, einschließlich von Städten wie Amsterdam, blockierten. Dies setzte zusammen mit einem harten Winter 4,5 Millionen Menschen der Gefahr aus zu verhungern. Sechs oder sieben Monate lang standen Nahrungsmittel nur begrenzt zur Verfügung und mussten rationiert werden. Anfänglich gab es pro Person 1000 Kalorien täglich (etwa die Hälfte der normalen Menge), doch als sich die Hungersnot verschlimmerte, wurde die Kalorienzahl auf 500 reduziert. In einer seltenen freundlichen Geste gestattete Deutschland der englischen Königlichen Luftwaffe, der kanadischen Luftwaffe und der Luftwaffe der Vereinigten Staaten, die hungernden Menschen im April und Mai 1945 zu versorgen. Es wurden mindestens 11.000 Tonnen an Versorgungsgütern abgeworfen, vor allem Nahrungsmittel in Dosen, Trockennahrung und Schokolade. Doch trotz dieser Maßnahmen starben etwa zwanzigtausend Menschen.
Die Hungersnot wirkte sich erheblich auf erfolgreiche Schwangerschaften aus. Auf ihrem Höhepunkt war die Geburtenrate um zwei Drittel gesunken. Diejenigen Frauen, die entbunden hatten, hatten während der Schwangerschaft im Vergleich zu Frauen in den vorherigen Jahren weniger zugenommen und diejenigen, die am wenigsten zunahmen oder sogar abnahmen, bekamen Babys unter der normalen Größe. Bei sehr kleinen Säuglingen können sich viele gesundheitliche Probleme unmittelbar und auch mit Verzögerung einstellen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen und ihr Risiko, als Erwachsene Adipositas und Bluthochdruck zu bekommen, kann sogar erhöht sein. Während der Hungersnot fiel auch die Empfängnisrate stark ab, was sich in der Geburtenrate neun Monate später widerspiegelte. Fällt der Fettanteil des weiblichen Körpers erst einmal unter 15 Prozent, sinkt die Fähigkeit der Eierstöcke zum Eisprung und der Körper kann die Menstruation sogar einstellen. Diese Phänomene – das Ausbleiben von Menstruation und Ovulation – wurden auch bei Frauen mit Anorexie, bei Balletttänzerinnen und Marathonläuferinnen beobachtet. Hungern verringert auch die Spermienbildung bei Männern.
Zusätzliches Körperfett mag in der modernen Gesellschaft zwar nicht so ausschlaggebend für das Überleben sein, doch in unserer Vergangenheit war es sehr wichtig. Ganz sicher war es während Hungersnöten wichtig. Sie dauern meist ein paar Monate oder Jahre. Im Jahre 2200 v. Chr. (also vor etwa 4200 Jahren) gab es eine Dürrezeit, die ein ganzes Jahrhundert anhielt und so extrem war, dass man annimmt, sie habe eine bedeutende Rolle für den Zusammenbruch des ägyptischen Pharaonenreichs und des Akkadischen Großreichs von Mesopotamien gespielt.
Es gab noch eine weitere Zeit der Nahrungsmittelknappheit in den Anfängen der Menschheitsgeschichte, die nicht so drastisch gewesen sein mag, aber dennoch einen Rekord aufstellte, da sie mehr als zehntausend Jahre dauerte. Die frühe Kunst der damaligen Zeit brachte oft Figürchen hervor, die wie übergewichtige und/oder schwangere Frauen anmuten. Welche Geheimnisse offenbart uns diese prähistorische Zeit?
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