Hugo von Hofmannsthal: Grenzenlose Verwandlung - Elsbeth Dangel-Pelloquin - E-Book

Hugo von Hofmannsthal: Grenzenlose Verwandlung E-Book

Elsbeth Dangel-Pelloquin

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Beschreibung

»Nur im Wechsel ertragen wir unser Leben« Hugo von Hofmannsthal  Unter den großen Autoren der literarischen Moderne ist Hugo von Hofmannsthal ein faszinierender Sonderfall, reich an Widersprüchen und vielfältig in seiner weitgespannten Produktivität. Figuren wie der Rosenkavalier, Lord Chandos oder Jedermann beleben seit über hundert Jahren die Text- und Bühnenwelt. Diese große Gesamtdarstellung zeigt die Texte und Projekte Hofmannsthals in ihren unablässigen Verwandlungen. Besonderen Stellenwert haben die in unterschiedliche künstlerische Welten ausgespannten Netzwerke und Freundschaften, etwa mit Arthur Schnitzler, mit Max Reinhardt oder Richard Strauss. Die Krisen und Konstanten dieses Lebenswerks werden ausgeleuchtet vor dem geschichtlichen Hintergrund eines dramatischen Zeitenwechsels – von der nervösen Jahrhundertwende über die Erschütterungen des Weltkriegs bis hin zur Unübersichtlichkeit der späten zwanziger Jahre. Eine große, fesselnde Biographie und das beeindruckende Porträt eines Schaffens, das erstaunlich lebendig geblieben ist.

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Seitenzahl: 1528

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Elsbeth Dangel-Pelloquin | Alexander Honold

Hugo von Hofmannsthal: Grenzenlose Verwandlung

Biographie

 

 

Über dieses Buch

 

 

Unter den großen Autoren der literarischen Moderne ist Hugo von Hofmannsthal ein faszinierender Sonderfall, reich an Widersprüchen und vielfältig in seiner weitgespannten Produktivität. Figuren wie der Rosenkavalier, Lord Chandos oder Jedermann beleben seit über hundert Jahren die Text- und Bühnenwelt. Diese große Gesamtdarstellung zeigt die Texte und Projekte Hofmannsthals in ihren unablässigen Verwandlungen. Besonderen Stellenwert haben die in unterschiedliche künstlerische Welten ausgespannten Netzwerke und Freundschaften, etwa mit Arthur Schnitzler, mit Max Reinhardt oder Richard Strauss. Die Krisen und Konstanten dieses Lebenswerks werden ausgeleuchtet vor dem geschichtlichen Hintergrund eines dramatischen Zeitenwechsels – von der nervösen Jahrhundertwende über die Erschütterungen des Weltkriegs bis hin zur Unübersichtlichkeit der späten zwanziger Jahre. Eine große, fesselnde Biographie und das beeindruckende Porträt eines Schaffens, das erstaunlich lebendig geblieben ist.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Prof. Dr. em. Elsbeth Dangel-Pelloquin lehrte Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni­ver­sität Basel. Stellvertretende Vorsitzende der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft. Buchpublikationen zu Schnitzler, Hofmannsthal und Jean Paul, Aufsätze u.a. zu Keller, Stifter, Aichinger, zur Literaturgeschichte des Kusses, der Tränen und der Scham, zu komparatistischen Themen (u.a. zu Maurice Blanchot) und zu Au­torinnen der Gegen­wartslite­ratur

 

Alexander Honold, geb. 1962 in Valdivia/Chile, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn u. a. nach New York, Stanford, Santa Barbara, Hamburg, München und Wien. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Kulturtheorie der Moderne, Erzählforschung, Landschafts- und Reisetexte, Literatur und Musik. Publikationen u. a.: »Poetik der Infektion. Zur Stilistik der Ansteckung bei Thomas Mann«, Berlin 2021; »Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften«, Stuttgart 2017.

 

Hugo von Hofmannsthal, 1874 in Wien geboren, gewann mit seinen Gedichten und Dramen schon in jungen Jahren hohes Ansehen. Nach der Jahrhundertwende wandte sich Hofmannsthal vom Ästhetizismus ab und begann eine intensive Auseinandersetzung mit der europäischen Literaturtradition. Mit seinen Dramen, u.a. »Jedermann«, und seinen Opernlibretti für Richard Strauss, u.a. »Der Rosenkavalier« und »Ariadne auf Naxos«, wurde er weltberühmt. Er starb 1929 in Rodaun bei Wien.

Inhalt

Zum vorliegenden Buch

I. Teil Kindheit und Jugend in Wien (1874–1890)

1. Herkunft. Der ungeschriebene Generationenroman

Die Herkunftsfamilien

Börsenkrach und Zeugungsakt

Großmutter und Enkel

Die heilige Familie: Vater – Mutter – Kind

Kinderspiele, Age of innocence

Sommerfrische

Symbiose: So grenzenlos verbunden

Nerven – Zustände – die gute Mama

2. Lesen und Spektakelfreuden: Bildung – Theater – Schule

Die Welt der Bücher

Hausdichter eines imaginären Burgtheaters

Akademisches Gymnasium und Schulkameraden

II. Teil Neue Verknüpfung mit der Welt (1890–1899)

3. Ins Junge Wien. Hofmannsthal und seine Generation

Aufnahme ins Kampfblatt

Kaffeehausdekadenzmoderne

Romantiker der Nerven – Stimmungsakrobaten

Gestern – das dramatische Debüt

Merkworte der Epoche und Publikationsforen

Theater- und Festspielereignisse

Leben in der Großstadt, in Gärten und Parks

Das Dorf im Gebirge

Bicycle und Reiselied

4. Und mein Teil ist mehr. Briefe und Freundschaften für die Unsterblichkeit

Werben um Zuneigung und Teilhabe

Arthur Schnitzler

Richard Beer-Hofmann

Hermann Bahr

Felix Salten

5. Beziehungen der Geschlechter, Verwirrungen der Gefühle

Weibliche Maskeraden

Alle meine Buben

Männerfreundschaften und Familienverband

Edgar Karg von Bebenburg

Clemens und Georg von Franckenstein

Leopold von Andrian-Werburg

Hans Schlesinger

6. Der Symbolist geht um: Stefan George

Die Ereignisse 1891/1892

Blätter für die Kunst

Beziehungsdynamik

7. Die Jünglingslegende: Arbeit am Frühwerk

Die schönste Gestalt der Weltliteratur

Die Texte des frühen Essayisten

Das schöne Leben verarmt einen

Bildende Kunst und bildlicher Ausdruck

Das Scheitern der großen Form

Eklektizistische Tragödie: Ascanio und Gioconda

Biographisches Experiment: Roman des inneren Lebens

8. Meine Israeliten: Hofmannsthal und das Judentum

Die jüdische zweite Gesellschaft

Josephine von Wertheimstein

Ein jüdischer Familienroman

Mit jedem Menschen eine neue Welt

9. Die erotische Akademie: Frauen in den neunziger Jahren

Das Glück am Weg

Einige Flirtations: Marie von Gomperz

Lili von Hopfen

Elsa Cantacuzène

Elisabeth (Lisl) Baronin Nicolics

Minnie Benedict

10. Berufssuche, Geld, Militär: Prüfungen auf dem Weg zum Dichterberuf

Armer Hugo! so brav!

Die unaufhörliche Geldsorge

So verlassen wie noch nie: Militärdienst

Hässliche Hunde, kranke Pferde und neue poetische Mittel

11. Augenblicke, in denen man Gott erkennt: Das Jahr 1897

Produktionsweisen und Produktionsrhythmen

Der Glückssommer in Varese

12. Der lange Weg zum Theater

Bühnenträume

Zarter weißer Fächer – grelles Rampenlicht: Die Dramen ab 1897

Der Abenteurer und die Sängerin

Ein Triumph und eine böse Presse

Das Bergwerk zu Falun als Abschluss der lyrisch-subjektiven Epoche

Lektüren

1. Gewebe aus Worten. Hofmannsthals Gedichte

Vorfrühling (1892)

Lyrische Sprachmagie

Divergenzen der gesellschaftlichen Welt

2. Prologe, Rollengedichte und lyrische Dramen – Theater aus den Abgründen der Zeit

Gestern – ein Grundwort der Existenz

Szenische Traumbilder der Vergänglichkeit

Also spielen wir Theater: Auftrittsbewusstes Sprachhandeln und das Eigenleben der Prologe

Der Tod des Tizian (1892)

Der Tor und der Tod (1893)

Die Frau im Fenster (1897)

Ausblick auf die Prologe der Nachkriegszeit

3. Traumwandlerischer Kontrollverlust: Die frühen Erzählungen

Unter Pferden und Männern: das Elend der Soldatengeschichte (1896)

Das Pferd als Medium der Traumarbeit: die Reitergeschichte (1899)

Tod eines Orientprinzen: Das Märchen der 672. Nacht (1895)

III. Teil Vom Wiener Lyriker zum Berliner Theaterdichter (1900–1914)

Nach der Jahrhundertwende

13. Die Parisreise 1900

Abschied von den Eltern

Pariser Damen und Künstler

Enttäuschungen

14. Der glückliche Mangel an Schwere. Gerty Schlesinger-von Hofmannsthal

Küssen und Sprechen

Rodaun

Herzige Brieferl

Simultanlieben

Mein gutes Wesen

Drama Ehe

15. Neue Freundschaften und Netzwerke

Eberhard von Bodenhausen

Harry Graf Kessler

Der verborgene Helfer des Rosenkavalier

Alfred Walter Heymel, Rudolf Alexander Schröder und die Insel

Rudolf Borchardt

Schröder, Borchardt und der Hesperus

Die schönen Tage von Monsagrati

16. Die kleinen Dinge und ein epochemachender Brief

Erfundene Gespräche und Briefe

Programmschrift wider Willen: Ein Brief

17. Am Ende bin ich doch ein Theaterdichter?

Den Schauer des Mythos neu schaffen: Elektra

Experimente in Darmstadt, Weimar und die Bühne als Traumbild

Stoffe wie leuchtende Wolkeninseln

Venedig wird nicht gerettet

Großer Erfolg: die Ödipus-Dramen

Der Visionär der Bühne: Max Reinhardt

18. Um 1907: Der Classiker von Rodaun

Der Dichter und diese Zeit

Ausgaben, Herausgaben und idyllische Landschaften

Das Jahr der visionären Texte

19. Alte Meister und lebende Kollegen

Vorbilder: Shakespeare, Calderón, Molière, Goethe

Contemporaneität: Rainer Maria Rilke

Rudolf Kassner

Gerhart Hauptmann

Thomas Mann

20. Frauenfreundschaften – geselliges Leben – Ottonie von Degenfeld

Künstlerinnen und adelige Damen

Einige Porträts: Ria Schmujlow-Claassen

Christiane Gräfin Thun-Salm

Marie Fürstin Thurn und Taxis

Helene von Nostitz

Mechtilde Fürstin Lichnowsky

Grete Wiesenthal

Geselliges Leben und große Szenen

Der umgekehrte Pygmalion und Ottonie von Degenfeld

Ottonie selbdritt

21. Entgrenzungen des Wortkunstwerks. Tönende Musik und stummes Spiel

Der geborene Librettist: Hofmannsthal und Richard Strauss

1910–1914: Das stumme Spiel und ernste Worte

Lektüren

4. Das ewige »Compendium«: der Andreas-Roman

Eine amphibische Situation

Wo der Hund begraben liegt

Auf Meisters Spuren

5. Hofmannsthals Komödie mit den Komödien

Die Versuchsreihe der Komödien

Cristinas Heimreise (1910)

Silvia im »Stern« (1909)

6. Heilender Zauber im Opernwerk

Der Rosenkavalier (1911)

Ariadne auf Naxos (1912/1916)

Die Frau ohne Schatten (1919)

IV. Teil Ein Bergsturz, der Europa unter sich begräbt (1914–1919)

22. Das alte Reich im Krieg

Geistige Kriegsführung

Kriegsengagements

Neue Mission auf Reisen

Die sinnlose Fortdauer des Krieges

23. Letzte Kriegsjahre: Eine neue Epoche der Produktion

Die Lästigen

Das Ereignis Rudolf Pannwitz

Ins innere Leben der Nation mit Josef Nadler

1917/18: Hausdichter eines realen Burgtheaters

24. Weltkriegsende und Europa

Einen Krieg verlieren und die Schuldfrage

Europa und das Gegenmodell Frankreich

25. Bloßliegende Nerven: 1919

Nicht Herr im eigenen Hause

Ein proletarisierter Haushalt

Gesichterpoetik und das Märchen Die Frau ohne Schatten

Carl Jacob Burckhardt

V. Teil Denn es geht Alles immer weiter (1920–1929)

Im Vorwort zu seiner Zeitschrift

26. Festspiel aller Festspiele

Hofmannsthals Ideenpanorama zu Festspielen in Salzburg

Aufführungen: Jedermann und Das Salzburger Große Welttheater

27. Gegen die Zerrüttung der Zeit: Die frühen zwanziger Jahre

Gegenerlebnis und die Ironie der Dinge

Buch der Freunde

Die Bremer Presse

Die Sprache ist ein großes Totenreich: Der Anthologist

Neue Deutsche Beiträge

Walter Benjamin

28. Selbsterfindungen und Kanonisierungsversuche

Die formidable Einheit des Werks: Ad me ipsum

Neue Verwandlungen

Arbeit am Turm

Verfehlung des Nobelpreises und anderer Preise

Der fünfzigste Geburtstag

29. Die bewegten Zwanziger: Reisen, Beschleunigung, Film

Ungeheure Zusammenkunft: Sizilien

Ins Innere eines Granatapfels: Marokko

Intellektuelle Großstadtbegegnungen: Paris und London

Neue Medien: Der Film als Ersatz für die Träume

30. Die Berührung der Sphären: 1926–1929

Expressionistische Experimente: Das Theater des Neuen

Europa in Wien

Der geistige Raum

Der geisterhafte Raum

Letzte Lebensjahre: Verdunkelungen und Gegenkräfte

Letzte Projekte zwischen Tradition und Innovation

Lektüren

9. Metaphysik der Schaubühne: Jedermann und Das Salzburger Große Welttheater

Anfangsgründe und Vorbilder des Jedermann-Stoffs

Entwicklungsstufen des geistlichen Spiels

Vom Sprachspiel des Subjekts zur Leistungsbilanz der Werke

Die Salzburger Festspiele

Das Salzburger Große Welttheater (1922)

10. Raumgreifend in Rede und Schrift: Hofmannsthals politische Essayistik

Persönlich-publizistische Standortbestimmungen

Diesseits und jenseits der Sprachgrenze: Beethoven

Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927)

31. Letzte Dinge

Christiane, Raimund und unser armer Franz

Tod und Verklärung

Nachlass und Nachleben

Anhang

Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben

Hugo von Hofmannsthal: Werke

Hugo von Hofmannsthal: Briefe und Briefwechsel

Weitere Briefwechsel

Tagebücher

Sammelbände, Zeitschriften, Archive

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Zeittafel

Dank

Werkregister

Personenregister

Tafelteil

Die Schriftsteller des Jungen Wien

Die »Buben«

Freunde mit Einfluss

Zum vorliegenden Buch

Von der biedermeierlichen elterlichen Wohnung in der Salesianergasse 12 im innerstädtischen Wiener Bezirk Landstraße bis zum barocken Wohnhaus in Rodaun im südöstlichen Außenviertel Liesing sind es etwa 13 Kilometer, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln in weniger als einer Stunde zurückgelegt werden können, wobei es gut und gerne den halben Radius des Wiener Stadtgebiets zu durchqueren gilt. In biographischer Hinsicht liegen zwischen der Geburtsstätte Hugo von Hofmannsthals und seinem Wohnhaus und Sterbeort etwas mehr als 55 Lebensjahre; auch nach damaligen Begriffen noch keine wirklich lange Spanne an menschlicher Existenz.

Dieser kleine topographische Radius bildet den Rahmen eines Lebens, das von einer unruhigen Reisetätigkeit, einem bewegten kulturpolitischen Engagement und einem kaum zu überblickenden Bekanntenkreis erfüllt war, wovon ein immenses Briefwerk zeugt. In literarischer Hinsicht weitet sich der begrenzte Raum auf ein vielgestaltiges, an den Rändern offenes Werk, das sich in allen Gattungen und über die Grenzen des Sprachkunstwerkes hinaus zu den nichtsprachlichen Künsten hin bewegt, das mit der gesamten europäischen Tradition ein ›unendliches Gespräch‹[1] führt und mit seinem teilweise fragmentarischen Charakter auf eine moderne, prozessuale Ästhetik setzt.

 

In Hofmannsthals Geburtsjahr 1874 lag die Ringstraßen-Euphorie bereits ein paar Jahre zurück, der Gründerkrach vom Mai des Vorjahres wirkte noch nach. Das letzte Jahrhundertviertel konnte sich im Rahmen einer äußerlich vergleichsweise stabilen Friedenszeit entfalten, in der allerdings die innere gesellschaftliche Ordnung der Habsburgermonarchie unter den Druck verschärfter politisch-ethnischer Konflikte und sozialer Ungleichheit geriet. In Wien machte sich die von internationalen Handelsbeziehungen beförderte wirtschaftliche Expansion durch ein enormes demographisches Wachstum bemerkbar. Das kulturelle Gefüge der Residenzstadt wiederum wurde – offenkundig in stärkerem Ausmaß, als das in mancher anderen traditionellen Kunstmetropole geschah – durch mehrere Modernisierungswellen in vehemente Bewegung versetzt, an denen die spätere Fin de Siècle-Generation beteiligt war.

Hofmannsthals künstlerisches Wirken entfaltet sich vor dem Hintergrund der Wiener Moderne mit ihrer spannungsreichen Verbindung aus Traditionslast und Aufbruch, quirligen Verkehrsformen und problematischer Seelenzergliederung. Sein Werk hat an zwei Jahrhunderten teil. Die jugendlichen Anfänge in den neunziger Jahren standen im Zeichen einer strahlenden Meisterschaft, von Dichterkollegen und Publikum als »Wunder früher Vollendung« (Stefan Zweig) bestaunt. Die Schwelle des Säkulums bedeutet auch in Hofmannsthals Schaffen eine einschneidende Zäsur, sie fällt mit dem Abschied vom mühelos-genialen lyrischen Frühwerk zusammen. 1902 erschien sein wohl folgenreichster Text Ein Brief (als ›Brief des Lord Chandos‹ bekannt), der im fiktionalen Medium eine grundlegende Infragestellung der Register sprachlichen Darstellens, ja des begrifflichen Zugriffs auf die Wirklichkeit überhaupt formuliert. Die Folgejahre führten zu einer verstärkten Öffnung für das Zusammenspiel mit nichtsprachlichen Zeichen- und Ausdrucksformen wie Musik, Tanz und Pantomime.

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende begann Hofmannsthal, sich bewusst und konsequent vom überkommenen Konzept der einsamen Schreibtisch-Autorschaft zu lösen, und ging eine Reihe von wagemutigen künstlerischen Kooperationen ein. Einmal mit dem Theatermagier Max Reinhardt und noch folgenreicher mit dem Komponisten Richard Strauss. Fast ein Dutzend Opern- und Ballettwerke brachte das so unterschiedlich temperierte Duo Strauss/Hofmannsthal in den knapp zweieinhalb Jahrzehnten seiner Zusammenarbeit hervor, darunter unsterbliche Meisterwerke, die von den Bühnen der Welt nicht mehr wegzudenken sind.

Hofmannsthal avancierte in den Jahren zwischen 1906 und 1914 zu einem auch in Deutschland und darüber hinaus angesehenen Dichter. Wenn überhaupt sich die Hochphase seines literarischen und öffentlichen Erfolges in einer konkreten Zeitspanne fassen lässt, so ist sie in diesem Zeitraum zu sehen, dessen Ende wiederum nahe heranreicht an eine neuerliche Epochenschwelle. Der Ausbruch des Weltkriegs, der trotz einer Fülle von unheilvollen Vorzeichen für Hofmannsthal wie für viele andere völlig überraschend geschah, riss ihn jäh aus seinen erfolgreichen Projekten.

Er nahm sich nun mit Kulturvorträgen, Herausgebertätigkeiten und einer erheblichen Zahl an ideologisch übersteuerten Kriegsartikeln jahrelang der ›Forderung des Tages‹ an – nur um dann auf seiner Prag-Mission 1917 schmerzvoll erkennen zu müssen, dass im scheinbar so glorreichen Vielvölkerhaus Habsburg etliche der Nationen entschieden nicht mehr wohnen wollten. Hatte der Dichter im Rosenkavalier und sogar noch im Plan des Schwierigen dem alten Österreich bewegende Abschiedsgesänge gewidmet, so machte der Weltkrieg die Verlorenheit jener elegischen Traumwelten unwiderruflich klar.

Für sein langgehegtes Unterfangen einer österreichischen Literatur- und Traditionspflege, das während des Weltkriegs auf die staatlich-politische Geographie des alten Reiches bezogen gewesen war, nahm Hofmannsthal nach der Niederlage nun andere, ›geistige‹ Dimensionen in den Blick. Mit der Gründung der Salzburger Festspiele setzt seine dritte große Werkphase zu Beginn der zwanziger Jahre mit einem Geniecoup ein. Aller kulturkonservativen Gewandung zum Trotz sind dort, etwa in der spektakulären Entgrenzung der Spielstätten und im Einbezug vorrealistischer, performativer Theaterkonzepte, die experimentierfreudigen Impulse von ehedem wirksam geblieben. Durch die damit geschaffene neue Intensität des Theatererlebnisses wurde Hofmannsthals und Reinhardts Salzburger Festspielunternehmen nach schwierigen Anfangsjahren zu einer Erfolgsgeschichte ohnegleichen und gab – wie immer man dies bewerten mag – einen der frühsten Inkubationsorte der gegenwärtigen kunstmedialen Eventkultur ab.

Während dem Dichterjüngling von einst die Proben eleganter Verskunst leicht von der Hand gegangen zu sein schienen, bereitete das Schreiben Hofmannsthal später manchmal Mühe, wovon die vielen Fragmente zeugen. Gleichwohl hat er mit Beharrlichkeit in den zwanziger Jahren einige seiner bedeutendsten Werke geschaffen. Von seinem Endpunkt her gesehen, dem tödlichen Schlaganfall im Juli 1929, der Hofmannsthal vor der Beerdigung seines Sohnes traf, stellt sich dieses Schriftstellerleben wie ein Schauplatz verlassener und unvollendeter Projekte dar. Den Lauf dieses Lebens allein von den Auspizien eines fast tragisch anmutenden Endes her zu betrachten, wäre freilich ebenso unangemessen wie andererseits die Verengung auf die dichtende Jünglingsgestalt.

 

Hofmannsthal, der als einer der wichtigsten Repräsentanten der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende und als der bedeutendste Vertreter der literarischen Wiener Moderne gilt, hat von früher Jugend an bewusst und konsequent das Leben eines Dichters geführt und seinen Platz in der Literaturwelt einzunehmen verstanden. Sein Denken und sein Selbstgefühl waren auf große literarische Vorbilder (wie Goethe, Molière, Calderón) bezogen und entwickelten sich aus dem Wechselspiel der Aneignung von etablierten Formen und ihrer fortwährenden, oft wie traumwandlerisch in Gang gesetzten Verwandelung.

Die Anerkennung seiner Dichtungen durch Kollegen und Publikum war Hofmannsthal zwar durchaus wichtig, doch stellte sie nicht die vorrangige Antriebskraft für seine literarische Karriere dar. Diese fand ihre Quelle in der von Daseinsschwere befreienden Kraft der Imagination, die ihm unzählige poetische Inspirationen für Motive, Figuren, Szenen und Gefühlsausdrücke eingab. Zwar litt Hofmannsthal zeitlebens auch immer wieder am Stocken dieser Inspiration und an langen unproduktiven Phasen, aber niemals zog er seine bereits als Schüler realisierte Einsicht in Zweifel, dass er über ein ganzes Bündel höchst außergewöhnlicher sprachkünstlerischer Begabungen verfügte (Rhythmusgefühl, feines Gehör, visuelle Empfänglichkeit, Gesichtersinn, Figuren- und Rollengespür, Vielsprachigkeit und rhetorische Versatilität) und damit die Vollmacht und auch Verpflichtung besaß, kraft seiner Worte den Zauber der Dichtung in die Welt zu bringen.

Hofmannsthal lebte sein Leben stets auch als ein Beobachter und Verfasser seiner selbst. Dem Befund einer vermeintlichen »Ich-Verschwiegenheit«, wie er bei Hermann Broch gedeutet wird, widerspricht eine überwältigende Menge an Aufzeichnungen und Briefen, in denen dieses Ich sich minutiös ausspricht und mitteilt, und auch die Fülle der Sozialbeziehungen, in welchen es sich spiegelt. Hofmannsthal dichtete sich gleichsam ›in sein Leben hinein‹, ohne aber – wie andere Kollegen hauptsächlich auf dem Prosagebiet – das Material der eigenen Biographie zum Stoff der literarischen Werke zu machen.

›Biographie‹ ist ein mehrdeutiger Terminus. Sie meint nicht nur das Buch, das im Nachhinein über ein gelebtes Leben geschrieben wird, sondern ist auch im Gegenstand des Beschreibens selbst als Formprinzip je schon präsent. Man lebt und formt fortlaufend seine eigene Biographie, während und solange man in den Dingen des Lebens steht; man entspricht den geforderten Verbindlichkeiten, indem man Entscheidungen trifft und Erarbeitetes fixiert, und ist dabei immer der Stromgewalt des Wandels unterworfen, der von alledem am Ende wenig bestehen lässt. Wenn es dabei, wie hier, um das Leben, die Biographie eines Dichters geht, kommen sich die beiden Verwendungsweisen des Begriffes bedenklich nahe. Denn der Schreibende und dabei Lebende, Lebende und dabei Schreibende legt bei allem, was in diesen Arbeits- und Lebensvollzügen geschieht, in mitlaufender Selbstdeutung einen ganzen Musterkoffer an biographischen Handlungsmustern und Bewertungsaspekten an.

Vielleicht war es Hofmannsthal deshalb eine ziemlich befremdliche Vorstellung, dass auch über ihn eines Tages Biographien von fremder Hand würden geschrieben werden. Eine integrale Betrachtung und Durchdringung seines Werks, welches für das zeitgenössische Publikum noch gar nicht zu überschauen war, hat sich der Autor in seiner zweiten Lebenshälfte allerdings immer gewünscht, und diesem Anliegen auch in den Korrespondenzen mit Vertrauten zunehmend dringlichen Ausdruck verliehen.

Äußerungen zum Biographischen waren dagegen meist ablehnend, die Rede vom »läppischen Biographismus«[2] ist nur der bekannteste Ausdruck davon. »Das persönliche ist das furchtbare«, notiert Hofmannsthal in den Aufzeichnungen über »grosse Männer«, nur das Werk allein habe zu gelten.[3] Indessen faszinierten ihn Biographien immer wieder, und bei allen Vorbehalten war er mit Genuss deren Leser und beteuerte mehrfach, wie sehr ihm »jede […] Biographie lesenswert« erscheine, wenn sie nur »ins Detail« gehe und »viele Lebenszüge« enthalte.[4] Der späte Essay Biographie gibt dafür eine Begründung: »Aber der Anblick fremder Existenzen setzt unser ganzes geheimes Ich in Bewegung.«[5]

An Interpretationen und vergleichenden Studien zu Hofmannsthals Werk besteht nach mehr als einhundert Jahren der Forschung (fast) kein Mangel mehr. Die unvergleichliche literarische Produktivität Hofmannsthals ist mittlerweile durch eine nach fünfzigjähriger Arbeit abgeschlossene, vierzigbändige Werkausgabe aufs Stattlichste belegt. Doch ist die Zahl jener Darstellungen, die einen biographisch ausgerichteten Blick wagen und dabei die Betrachtung der literarischen Arbeiten Hofmannsthals mit derjenigen ihrer Lebensumstände verbinden, bis heute erstaunlich gering geblieben. Kaum eine Handvoll biographischer Versuche sind es bislang;[6] das ist für einen, der seinerseits zur Handvoll bedeutendster moderner deutschsprachiger Dichter zählt, nicht viel.

Die Lebensumstände und Schaffensepochen Hugo von Hofmannsthals sind gut dokumentiert, sie liegen dank ausführlicher, täglich geführter Briefkorrespondenzen gleichsam offen zutage. Und doch ist es kein Leichtes, diesen Dichter und Sprachkünstler in den Verbindungslinien von Vita und Werk darzustellen. Ist es die tendenzielle Überforschtheit der Wiener Jahrhundertwende insgesamt, die bei der Beschäftigung mit Hofmannsthals Leben zögern lässt? Sind es gar die skeptischen Äußerungen Hofmannsthals gegenüber dem Genre Biographie? Oder vielmehr die fast grenzenlose Vielfalt seines Werks und die Versatilität ihres Verfassers, der sich nicht ohne Grund in Jugendjahren als Chamäleon bezeichnet hat? Und liegt nicht schon in der Beschränkung auf einen singulären Akteur, eine aufs Podest gestellte geniale Schöpferfigur, das Problem – wo es des Zusammenwirkens von vielen bedarf, um herausragende Erfolge zu erzielen und künstlerisch kreativ zu sein?

Im Hinblick auf ein Dichter- oder Schriftstellerleben ist allerdings schon die Frage erlaubt, was die Aufarbeitung der Verfasserbiographie denn im Einzelnen dazu beitragen kann, mit den Werken selbst in Bekanntschaft zu treten und dabei Orientierung zu finden. Denn genau dies ist, wie hier im Falle der Dichterbiographie Hofmannsthals, eigentlich stets das Ziel: dass aus dem möglichst plastischen Nachvollzug der Lebenswege die innere Welt der Dichtungen selber aufgehe.

Die Annahme, dass sich ein Literaturwerk in seiner Komplexität durch präzise Kenntnisse von Lebensverhältnissen und Laufbahnstationen seines Autors vielseitiger rezipieren und damit letztlich auch besser verstehen lasse, ist – trotz gewisser akademischer Vorbehalte, die sich noch aus strukturalistischen Theoriekonzepten speisen – keinesfalls abwegig. Sie hat sich in etlichen Bereichen der Literaturvermittlung und anhand vielfältiger Lektüreerfahrungen bestätigt gefunden und reicht im Übrigen auch schon weit zurück. Selbst der von Hofmannsthal hochgeschätzte Goethe hatte sein Unterfangen, mit Dichtung und Wahrheit gegen Ende der produktivsten Jahre ein großes autobiographisches Selbstporträt vorzulegen, einleitend mit der Absicht gerechtfertigt, damit eine Verständnishilfe für die geneigte Leserschaft zu bieten.

Gleichwohl sind life and letters, wie der Texttyp traditioneller Literaturmonographien im anglophonen Raum früher einmal formelhaft überschrieben war, in beiden ihrer Bestandteile nicht als homogene oder objektivierbare Gegenstände zu betrachten, ihre Beziehung zueinander ist weniger von kausaler als von komplementärer und korrespondierender Art. Nicht einmal die zu Lebzeiten gedruckten Schriften (umso weniger der Nachlassbestand) bilden ein vom Autor verbindlich fixiertes Substrat, auf das als Gegebenes verwiesen werden kann; sie bestehen jeweils in Form von Ausgaben, Lesarten und Zitaten, deren Versionen eine gewisse Schwankungsbreite ausfüllen. Und das Nämliche gilt auch für ihren Verfasser. Sind Elektra, der Jedermann, der Rosenkavalier denn überhaupt ›von Hofmannsthal‹?

Die Antwort hängt ab vom jeweils angesetzten Begriff der Urheberschaft. Oftmals bediente sich Hofmannsthal – das ist nachgerade ein Markenzeichen – bereits vorhandener Texte, Stoffe und Geschichten, bezog seine Figuren und Motive unbedenklich aus dem Füllhorn der Weltliteratur, um sie sich in kreativer Umgestaltung anzueignen und dadurch zu seinen ureigenen Geschöpfen zu machen. Er selbst hat es das »Heranbringen fremder Welten« genannt, die er sich in »aneignender Kraft« in seine Welt verwandelte.[7] So ›schrieben‹ also Sophokles und Euripides, Calderón und Shakespeare, Molière und Goethe komplizenhaft mit, wenn Hofmannsthal seine Stücke und Erzählungen bearbeitete, und er schrieb sich seinerseits durch Stoffwahl und Umformung nachträglich in ihre Werke und Welten mit hinein. Die postmoderne Idee des remake ist ein gebräuchliches Verfahren in Hofmannsthals Poetologie, wie man etwa an der von E.T.A. Hoffmann übernommenen Geschichte des verschütteten schwedischen Bräutigams in den Bergwerken zu Falun sehen kann. Hofmannsthal macht daraus ein Theaterstück, das den romantischen Raum nochmals abgründiger in die Triebkräfte des Unbewussten hinab ausweitet; aus Hoffmann wird im Zeitalter Freuds, buchstäblich, Hofmannsthal.

Doch zeigt Hofmannsthals dichterisches Profil zugleich in allen Bereichen ureigenen schöpferischen Esprit und überrascht mit Kreationen von unverwechselbarer Einzigartigkeit. Scheinbar mühelos schuf Hofmannsthal Gedichte, die einen unerhört neuen Ton in die Literatur brachten, stellte ganz eigene Gattungen auf, erfand unvergesslich charakteristische Figuren wie die Marschallin oder den Schwierigen, oder führte seine Erzählhandlungen in filmreif beklemmende Situationen hinein.

Hofmannsthal hatte, anders als die nonkonformistische Generation danach, kein Interesse an der bloßen Provokation; ganz freimütig strebte er nach dem Ehrentitel des Klassikers. Und doch ist seine Weise, sich in die Literaturlandschaften klassischer Zeiten einzuschreiben, das Ergebnis einer erst in der Moderne möglich gewordenen Überwindung des traditionellen Autorschaftsbegriffs. In seiner sensiblen Aufnahme- und Adaptionsfähigkeit pflegte Hofmannsthal mit Vorliebe osmotisch, mimetisch und responsiv zu arbeiten: anempfindend, anverwandelnd und antwortend. Als homme des lettres wusste er die eigene dichterische Kunstausübung respektvoll von dem Bewusstsein getragen, dass hier keine demiurgische Welterzeugung vonstatten ging, sondern ein Sich-Verständigen mit Bestehendem, ein in Schriftform entwickeltes Zwiegespräch.

 

Die vorliegende Studie, verfasst von zweien, die Hofmannsthal und seinem Werk seit langem zugewandt sind, hat sich die Pluralität von Sichtweisen als Modell zu eigen gemacht. Die lebensgeschichtlichen Kapitel verfasste ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN. Sie ergeben in ihrer Abfolge eine biographische, durch kurze Werkbetrachtungen angereicherte Darstellung, die den persönlichen wie literarischen Weg Hofmannsthals in seinen Etappen und Verwandlungen, seinen Glanzpunkten und Krisenmomenten nachzeichnet. Die Lektüren, in welchen jeweils die Entwicklung einzelner Werkformen, Gattungen oder Kooperationsbeziehungen in ihren literarischen Dimensionen beleuchtet und an ausführlich kommentierten Einzeltexten exemplarisch untersucht wird, stammen von ALEXANDER HONOLD. Dieses Wechselspiel soll die Besonderheiten des Dichterlebens in seiner produktiven Beweglichkeit übermitteln. Die beiden Darstellungsstränge können konsekutiv, je für sich oder in interessegeleiteter Kombination gelesen werden. Nicht nur zwischen Ende und Anfang laufen hierbei die Fäden mehrfach hin und her; Ziel war es ebenso, die Entwicklungslinien der Lebensgeschichte mit einlässlichen Werkbetrachtungen derart zu verknüpfen, dass dabei etwas von der Dynamik zwischen erreichten Gestaltungen und erneuten Verwandlungen sichtbar werden kann.

Das Entscheidende liegt im Falle Hofmannsthals oftmals in den Zwischenzonen, auf der Schwelle zwischen zwei Werkphasen oder Kunstformen. Deshalb ist es das Bestreben des hier vorgelegten Bandes, die Lebens- und Schaffenswelt des Dichters als einen mitten in die Herausforderungen der Moderne hinein aufgespannten Möglichkeitsraum auszuloten. Einen Raum des Schwebezustands gleichsam, in dem frühe und spätere Werkstufen oftmals in eine frappante Gleichzeitigkeit zusammentreten, in dem viele Themen und Stoffe in unterschiedlichen Gattungsformen erprobt werden, und bei dem sich das künstlerische Individuum in zahlreiche innovative Kooperationsbeziehungen begibt. Die Oberfläche behandelte er mit Tiefsinn, die Schwierigen mit komödiantischer Leichtigkeit, zu den Mythengestalten der Antike pflegte er ein ebenso produktives Verhältnis der imaginativen Anverwandlung wie zu den zeitgenössischen Medien des Theaters und des Films. Es ist diese erstaunliche, zu jeder Lebensphase und in unterschiedlichsten Arbeitsformen immer wieder wirksame poetische Geschmeidigkeit, die im Buchtitel mit der Formel von der »grenzenlosen Verwandlung« angesprochen ist.

I. TeilKindheit und Jugend in Wien (1874–1890)

1. Herkunft. Der ungeschriebene Generationenroman

Aus Hofmannsthals Kindheit ist eine Anekdote überliefert, die der Vater berichtet und Olga Schnitzler aufgeschrieben hat. Der Knabe habe, »zu dritt bei Tisch mit den Eltern, bei den häuslichen Mahlzeiten eine fiktive vierte Person« eingeführt: »einen Kardinal aus längst entschwundenen Zeiten. Mit diesem Schatten führt er nun Gespräche, richtet an ihn die Fragen, Gedanken und munteren Bemerkungen, die er den Eltern direkt nicht sagen mag. Er entschuldigt sich in feierlicher Form bei Seiner Eminenz, wenn beispielsweise ein Gericht aufgetragen wird, das er nicht liebt … Wie wagt man es nur, dem so erlauchten Gast dergleichen vorzusetzen!«[1]

Die Miniaturerzählung beschreibt einen engen Familienkreis aus Vater – Mutter – Kind, den die rege Phantasie eines begabten Kindes aufbricht und erweitert. Man kann die Erzählung lesen als Zeugnis einer familiären Grundkonstellation von Hofmannsthals Kindheit und zugleich als frühe szenische Gestaltung einer Reflexion über Dichtung, die Hofmannsthal rund zehn Jahre später an Richard Beer-Hofmann richtet: »Ich glaub immer noch, dass ich im Stand sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. Wir sind zu kritisch um in einer Traumwelt zu leben, wie die Romantiker; mit unseren schweren Köpfen brechen wir immer durch das dünne Medium, wie schwere Reiter auf Moorboden. Es handelt sich freilich immer nur darum ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkin’sche Dörfer aufzustellen, aber solche an die man selber glaubt.«[2] Diese Überlegung erkennt die (Schwer-)Kraft und den Raum des Wirklichen an, lässt aber zugleich der Imagination die Freiheit, an den Grenzen Traumkulissen zu errichten, die ihrerseits den Anspruch erheben, glaubhaft zu sein. Im Kinderspiel am Esstisch der Familie Hofmannsthal wird diese imaginative Erweiterung des Lebens vorweggenommen. Das Kind schafft sich einen Freiraum, in dem es spielerischer agieren kann als in der beschwerlichen Wirklichkeit der familiären Dreierkonstellation. Und dies geschieht in einer sehr spezifischen Form, die Hofmannsthal später für »eine Stärke [s]eines Talents« hielt: nämlich durch die Erfindung von Gestalten. Er könne solche »in infinitum hinstellen« und »ziemlich hübsche«, schreibt er einmal.[3] Oft sind in seinen fiktiven Welten gerade solche Gestalten versammelt, die wie der Kardinal »aus längst entschwundenen Zeiten« stammen, und sogar der Kardinal selbst ist ein Vorläufer von Figuren, die später das bunte und schier endlose Figurenkabinett ihres Erfinders bevölkern: als Kardinal von Ostia im dramatischen Erstling Gestern, leicht variiert als »violette Monsignori« im Prolog zu dem Buch Anatol oder als Abate Gamba im Abenteurer und die Sängerin, schließlich in einer späten und unheimlichen Inkarnation als Grossalmosenier im Turm. Die Entgrenzung der realen Welt und ihre Verwandlung durch fiktive Welten und Gestalten ist in der Miniaturszene aus der Kindheit angelegt.

Die Herkunftsfamilien

Der enge Familienkreis aus Vater – Mutter – Kind, den die kindliche Fiktion erweitert, war indessen keine isolierte Entität, sondern stand in einem größeren Familiengefüge mit einer komplexen Herkunftsgeschichte. In dieser weiteren Herkunft war der christliche Bezugsrahmen, den die kleine Szene suggeriert, nicht immer gegeben. Von den Ahnen Hofmannsthals ist vor allem ein Zweig gut erforscht und bekannt, der männliche, der ihm auch den Namen gegeben hat. Er geht auf den jüdisch geborenen Großvater August von Hofmannsthal zurück, der bereits zum Katholizismus konvertiert war.[4] Dennoch wurde Hofmannsthal immer wieder dem jüdischen Wien zugerechnet, so noch manchmal bis heute.[5] Wenn auch das Judentum die genealogische und religiöse Zugehörigkeit über die Mutter regelt, mag doch der vielfach in Wien präsente Name der wohlhabenden väterlichen Linie zu dieser Zuordnung beigetragen haben. Hinzu kam, dass fast alle Schriftstellerfreunde des ›Jungen Wien‹ Juden waren, dass Hofmannsthal regen Kontakt zum jüdischen Großbürgertum hatte, schließlich, dass er selbst eine jüdische Frau heiratete, wenn auch nicht nach jüdischem, sondern nach katholischem Ritus, wofür die Braut konvertieren musste.

Hofmannsthal selbst hat sich gegen diese Einordnung ins Judentum wiederholt gewehrt, und ebenso hat ihn das damit verbundene Gerücht von seinem angeblichen Reichtum aufgebracht. »Jüdischer Millionärssohn«, apostrophiert Arthur Schnitzler ihn einmal scherzhaft, wohl im Wissen um seine diesbezüglichen Empfindlichkeiten.[6] Aber gerade diese beiden ihm fälschlich unterstellten Merkmale haben bereits in Hofmannsthals Herkunftsgeschichte für einen dramatischen Verlauf gesorgt, der ausreichend Material für einen Mehrgenerationenroman geboten hätte.

Isaak Löw Hofmann, Hofmannsthals Urgroßvater väterlicherseits, geboren 1759, war ein Selfmademan: Er kam, wie viele Juden, aus dem Osten der Habsburgermonarchie, genauer aus Prostibor in Böhmen, nach Wien und hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet. Wie so viele Ostjuden zu der Zeit profitierte er vom Toleranzpatent Joseph II. für Wien von 1782, das den Juden relative Gewerbefreiheit zugestand. Zunächst als Großhändler, dann als Seidenfabrikant und Hoflieferant (Hoffaktor) unterhielt Isaak Löw 36 Betriebe und verschaffte Tausenden von Menschen Arbeit. Am 13. August 1835 wurde ihm von Kaiser Ferdinand I. der erbliche Adelsstand verliehen mit dem Prädikat »Edler von Hofmannsthal«.[7] Dieser erfolgreiche Unternehmer war sehr aktiv im jüdischen Leben Wiens, er war Vorstand der israelitischen Gemeinde, Oberaufseher der Schule und Leiter des Baus der neuen Synagoge. Mit seiner Frau Therese, geborene Schefteles, die bei der Eheschließung 1788, wie in jüdischen Familien üblich, 15 Jahre alt war, bekam er 13 überlebende Kinder. Alle heirateten sie in angesehene jüdische Familien ein, bis nach Stuttgart und Hamburg, führten das väterliche Unternehmen weiter, waren Großhändler, Seidenfabrikanten, Börsenmakler, Ärzte. Wie in der Heiratspolitik des österreichischen Herrscherhauses – »Tu felix Austria nube« – erweiterten die jüdischen Familien durch Heiraten und Verschwägerungen ihren Einflussbereich.

Alle blieben ihrer jüdischen Tradition verpflichtet, die Männer zum Teil als bedeutende Würdenträger der jüdischen Gemeinde, etwa Dr. med. Ignaz von Hofmannsthal als Präsident der jüdischen Kultusgemeinde. Alle bis auf einen. Das jüngste, dreizehnte Kind, das wie im Märchen sprichwörtlich überzählige, erhielt den Namen Baruch, nach einem frommen mütterlichen Vorfahren und dem früheren Geschäftspartner des Vaters. Seine Eltern waren bei seiner Geburt 42 und 55 Jahre alt. Er allein scherte aus der jüdischen Tradition aus und trat zum katholischen Glauben über, empfing in der christlichen Taufe den Namen August und heiratete christlich. Tat er es aus Überzeugung? War er das schwarze Schaf der Familie? Wie auch immer, dieser August, Sohn eines reichen jüdischen Emporkömmlings und Großvater eines bedeutenden österreichischen Dichters, scheint selbst auf der Verliererseite gestanden zu haben.

Als Vertreter des väterlichen Unternehmens in der damals zu Österreich gehörenden Lombardei lernte er in Mailand eine gleichaltrige Mailänderin kennen, Hofmannsthals Großmutter, Petronilla Antonia Cäcilia Ordioni, geborene von Rhó. Sie stammte, wie ihr Sohn später schrieb, »aus dem uralten mailänder Patrizierhause der Rhó« und hatte im »bekannten Mädchenpensionat in Monza eine ungewöhnlich sorgfältige Erziehung genossen«. Sie heiratete mit 17 Jahren Pietro Ordioni und war mit 19 Jahren bereits Witwe.[8] August von Hofmannsthal bekam mit ihr ein Kind, das unehelich gezeugt und 1841 geboren wurde. Im Herrschaftsbereich der Habsburger bestand ein Heiratsverbot zwischen Juden und Christen, einer der beiden hätte zum jeweils anderen Glauben übertreten oder konfessionslos werden müssen, was offensichtlich für beide nicht in Frage kam.[9] Das Kind, ein Sohn, wurde heimlich in Wien geboren. Vielleicht in Vertuschung der Schwangerschaft vor den italienischen Verwandten der Frau? Vielleicht weil August von seinem Vater aus der Lombardei zurückberufen worden war? Es wurde in der Dominikanerkirche St. Rotunda im ersten Bezirk katholisch getauft: Hugo August Peter. Der Eintrag ins Taufregister nennt keinen Vater und einen falschen mütterlichen Namen, der aber in der Urkunde als zweifelhaft markiert ist: »angeblich Anna Dohna«. Als Patin wird nur die Hebamme genannt.[10]

Wo lebte dieses Kind? Welchen Namen trug es? Der jüdische Großvater jedenfalls wusste mit Sicherheit nichts von der Existenz dieses unehelichen Enkels. Er musste seinen Sohn für einen Junggesellen halten, ein im Judentum schlecht geduldeter Stand, gegen den dieser wohl manches Heiratsprojekt abwehren musste. August von Hofmannsthal wagte offensichtlich zu Lebzeiten seiner Eltern nicht, zu konvertieren und eine christliche Frau nach christlichem Ritus zu heiraten. Man kann die damit einhergehende Dramatik nur ahnen. Da sein Vater neunzig Jahre alt wurde, musste das Paar bis zur Ehe und das Kind bis zur Legitimation eine zermürbende Wartezeit von neun Jahren aushalten, eine lange Zeit, in der ein Kind schon vollen Einblick in die unordentlichen Verhältnisse seiner Geburt bekommt. Zu den italienischen Verwandten scheint kein Kontakt bestanden zu haben, die kleine Familie lebte also wahrscheinlich isoliert.[11] Auch weitere Kinder durfte es nicht geben.

Auffallend ist, wie prompt die Konversion Baruchs und seine Eheschließung auf den Tod seiner Eltern erfolgte: Am 8. April 1850, drei Monate nach dem Tod des Vaters und nur elf Tage nach dem der Mutter, mit eiliger Konversion und Dispens, heiratete der nunmehr August getaufte die Mutter seines Sohnes. Solche Konversionen aus Gründen der Legalisierung eines Verhältnisses wurden oft in der raschen Abfolge von stiller Taufe, Dispens vom Aufgebot und stiller Verehelichung vorgenommen, um den Kindern den »Makel der Unehelichkeit« zu nehmen.[12]

Damit legitimierte August von Hofmannsthal – wie ein Nachtrag im Taufregister zeigt – am 14. Oktober 1850, in Gegenwart zweier Zeugen, den Sohn, der nun, mit fast neun Jahren, ebenfalls seinen Namen wechselte: er hieß von nun an Hugo August Peter von Hofmannsthal. Er ist der Vater des Dichters Hofmannsthal. Das spätere Familiennarrativ vertuschte den Makel seiner unordentlichen Geburt. Die beschönigende familiäre Sprachregelung lautete: »Im Jahre 40 heiratete sie den Papa, August v.Hofmannsthal […] Diese Ehe war wegen eines gesetzlichen Mangels bei der Eheschließung ungiltig und so mußte nachträglich in Wien eine neuerliche Ehe geschlossen werden, durch welche der 1841 geborene Sohn Hugo per matrimonium subsequens legitimiert wurde.«[13] In Wahrheit wurde die Ehe erst 1850 geschlossen.

Die Verbindung von August und Petronilla hatte einen hohen Preis. Sie war für die Beteiligten mit Verheimlichung gegenüber Eltern, Verwandten und kirchlichen Instanzen, dem Skandal des unehelichen Kindes, der jahrelangen Randexistenz in der bürgerlichen Gesellschaft für Mutter und Kind, mit unsicherem langem Warten auf eine Legalisierung und schließlich mit nachträglichen Beschönigungen verbunden.

Nach der Eheschließung seiner Eltern bekam Hugo August Peter noch zwei ehelich geborene Brüder, Silvio und Guido von Hofmannsthal. Alle drei Söhne August von Hofmannsthals stiegen nicht mehr in das in ihrer Jugendzeit noch florierende väterliche Unternehmen ein, sondern wählten Berufe im Angestelltenstatus.

Der älteste Sohn aus der jüdisch-christlichen Familie, Hugo von Hofmannsthal senior, lebte als Erwachsener das Leben eines katholischen österreichischen Bürgers, das hat Hermann Broch in seinem Buch Hofmannsthal und seine Zeit anschaulich geschildert.[14] Die Assimilation war bei ihm vollkommen vollzogen. Er war von einer italienischen Katholikin erzogen worden und verheiratet mit einer christlichen Frau, die von österreichischen Bauern abstammte. Ein fleißiger Kirchgänger scheint er nicht gewesen zu sein, aber die Kasualien und Feste wurden selbstverständlich in christlich-katholischer Weise ausgeübt.

Nicht stimmen kann indessen Hermann Brochs Behauptung, Hofmannsthal senior habe sich »weder von außen noch von innen her […] an die jüdische Abkunft erinnert.«[15] Sie war schon allein dadurch präsent, dass die Familie weiterhin im Kontakt mit ihren jüdischen Verwandten blieb. Das weitläufige Verwandtschaftsnetz des jüdischen Familienverbands schloss auch die christliche Kleinfamilie nicht aus, das wird aus den überlieferten Briefwechseln deutlich, in denen Cousinen des Vaters, Großtanten zweiten Grades und andere jüdische Verwandte Erwähnung finden.[16] Die Religionszugehörigkeit scheint eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Das zeigt sich auch an Hofmannsthals späterer Heirat mit einer jüdischen Frau, wozu nicht der geringste Vorbehalt seitens seiner Eltern überliefert ist.

Börsenkrach und Zeugungsakt

August von Hofmannsthal war gegen Ende seines Lebens nicht nur aus Gründen der Konfession eine Ausnahmefigur unter seinen Geschwistern. Dieses jüngste und dreizehnte Kind einer reichen Familie starb völlig verarmt als Habenichts. Er verlor im Wiener Bankenkrach vom 9. Mai 1873, an dem der Börsenverkehr zusammenbrach, sein gesamtes Vermögen, liquidierte die Firma 1875 und war ab diesem Zeitpunkt von den Zuwendungen seiner älteren Geschwister, ja sogar von denen seiner Söhne abhängig, wie erwähnte Schulden im Testament bezeugen. So wurden auch seine Söhne noch zu Opfern dieses ›schwarzen Freitags‹, der in Wien bis weit in Hofmannsthals Geburtsjahr 1874 hinein zu zahlreichen Selbstmorden führte und Hofmannsthals Vater als Jurist an einer Bank noch bis 1911 mit der Sanierung der Folgeschäden beschäftigte.[17] Inwieweit sich August von Hofmannsthal zuvor zu gewagten Spekulationen hatte hinreißen lassen, ist nicht mehr ermittelbar. Jedenfalls schienen seine Geschwister, darunter sein Bruder Emanuel, ein Börsesensal (Börsenmakler), weniger von der Katastrophe betroffen gewesen zu sein. Dies belegen die Briefe Augusts an seinen Sohn Hugo senior. In diesen Briefen dreht sich fast alles um das Geld: nämlich um das Geld der anderen. Es geht um Zuwendungen der Geschwister Emanuel und Sigmund für Kuraufenthalte Augusts, um kleine Intrigen, wie man mit dem Geld verfahren wolle. Es geht darum, wie man die kinderlose Schwester Elise beerben könne, die dann aber August von Hofmannsthal überlebte. Die Bittgänge verarmter Familien bei dem reichen Onkel, wie sie besonders Lucidor/Arabella thematisiert, wie sie auch im Andreas mit dem reichen Griechen und dem demütig bettelnden Neffen inszeniert werden, mag Hofmannsthal als ganz frühen Kindheitseindruck erhalten haben. Aber auch Schnitzlers ›Geld‹-Texte, etwa Fräulein Else oder die mit einem Bankenkrach einsetzende Komödie der Verführung nehmen sich wie eine literarische Verarbeitung dieses realhistorischen Bankrotts und seiner Folgen aus. Das Testament, das August von Hofmannsthal hinterließ, liest sich dann allerdings eher wie eine satirische Posse Nestroys: Er setzte darin seine Frau zur Universalerbin ein von – fast nichts. Das »rückgelassene Vermögen« – so der amtliche Vermerk – bestand »in Leibeskleidung, Wäsche und einiger Zimmereinrichtung, zusammen im beiläufigen Werte von 200 Gulden.«[18] Die Aufzählung von Socken und Schnupftüchern im Aktivstand des Vermögens lassen die Tragödie hinter diesem Armutszeugnis ahnen.

Und doch hat er etwas hinterlassen, was für Hofmannsthal von Bedeutung wurde: »Bilder und diverse Kunstgegenstände« ohne einen »irgend erheblichen Wert«.[19] Noch 1904 erinnert sich Hofmannsthal: »Die zärtliche Liebe meines väterlichen Großvaters zu seinen kleinen Besitzthümern: den Bildern die er auf dem Mailänder Markt zusammengekauft hatte, chinesischen Vasen, alten Stoffen, Schnitzereien, dem ganzen Inhalt des Glaskastens«.[20] Diese kunstgewerblichen Gegenstände, vom Vater dann geerbt, beschäftigten die kindliche Phantasie. Sie sind die Keimzelle von Hofmannsthals intensivem Interesse an bildender Kunst und Kunstgewerbe und von seiner Liebe zum Kunstbesitz. Später schreibt er dazu: »es liegt im Blut übrigens. Ob wir arm sind oder weniger arm, wir laufen seit Generationen Bildern nach«.[21] So trug auch dieser glücklose Vorfahre etwas zur Einbildungskraft des begabten Enkels bei – im wörtlichen Sinn durch Bilder.

Dank seines gesicherten Berufs hatte der Börsenkrach für Hofmannsthals Vater zwar keine unmittelbare Armut zur Folge, aber doch eine tiefsitzende Verlustangst bei allen Beteiligten. Hofmannsthals spätere Sorge um das liebe Geld, die »Unsinnigkeit [s]eines angespannten Denkens an Geld«, wie er es einmal selbst diagnostiziert,[22] und auch das Sicherheitsbedürfnis seines Vaters, der den Sohn unbedingt in eine bürgerliche feste Anstellung drängen wollte, werden aus dieser Vorgeschichte vom Absturz des Großvaters verständlich. Und gerade dieses ererbte Trauma wiederholte sich für Hofmannsthal selbst: Nach dem Ersten Weltkrieg verlor er sein selbst erworbenes Vermögen, das er – wie so viele – in Kriegsanleihen angelegt hatte.

In doppelter Hinsicht wirkt in der lebensweltlichen Konstellation vor Hofmannsthals Geburt der »Name des Vaters« beschädigt, zumindest erscheint er in einem zweifelhaften Licht. Eine verschwiegene Unbürgerlichkeit und eine dramatische Verlusterfahrung sind das übermittelte Erbe. Der Aufstieg Isaak Löws wurde schon durch sein jüngstes und dreizehntes Kind wieder rückgängig gemacht.

 

Hofmannsthals Vater studierte und promovierte in Jura und war seit 1871 bei der Österreichischen Central-Boden-Credit-Bank angestellt. Zunächst als juristischer Beirat, daneben war er »beeideter Gerichts-Dolmetsch« für Französisch und Italienisch. Ab 1874 führte er den Titel eines Vizedirektors, ab 1903 den Titel eines Direktors. So konnte er – nur mit seinem Gehalt – einen zwar nicht üppigen, aber doch angemessenen wohlbürgerlichen Lebensstil garantieren.

Er heiratete am 5. Mai 1873 Anna Maria Fohleutner, die Tochter des Notars Laurenz Fohleutner und seiner Frau Josephine. Wie und wo sich das Paar kennengelernt hatte, ist nicht überliefert, aber der Bräutigam war zum Zeitpunkt der Heirat noch ein vermögender Jurist und wohl ein attraktiver Kandidat. Über die Vorfahren der Braut ist im Vergleich zur Familie Hofmannsthal wenig bekannt. Sie kamen aus dem Bauern- und Handwerkerstand, von Niederösterreich und aus Schwaben. Die Mutter der Braut war die Tochter von Christian Schmid aus Günzburg und Theresia Kraus aus Wien, deren Vater ist als »Essigsieder und Hausbesitzer« auf der Wieden vermerkt, Hofmannsthal selbst nennt seine mütterliche Großmutter in einem Brief die Tochter eines Gastwirts. Sie war zuerst mit einem Handwerkermeister verheiratet, wurde aber – in verblüffender Parallelität zur italienischen Großmutter väterlicherseits – mit 19 Jahren Witwe und heiratete dann Laurenz Fohleutner, einen Notar und Grundgerichtsschreiber, dessen Vorfahren Weinbauern waren.[23] Aufgrund dieser Ahnenreihe notiert sich Hofmannsthals Freund Leopold von Andrian-Werburg in der zeitüblichen Denkweise voller Bewunderung die »großartige langsame alles umfassende Rassenmischung durch die der Hugo entstanden ist«.[24]

Ein Atelierbild der Familie Fohleutner von 1871 zeigt eine gutbürgerliche wohlgekleidete Familie mit ihren erwachsenen Kindern, die sich mit allen Insignien des Bildungsbürgertums, mit Klavier und Büchern, ablichten ließ.[25] Die Aussteuer, die Anna von Hofmannsthal mit in die Ehe brachte, erlaubte es dem jungen Paar, sich eine angemessene Einrichtung anzuschaffen.[26]

Auf der Hochzeitsreise wurde dem jungen Ehemann nach dem 9. Mai 1873 ein Telegramm nachgeschickt, in dem er vom Bankrott des väterlichen Geschäfts und damit vom Verlust des gesamten Vermögens erfuhr, das gewiss auch als Grundlage der gerade geschlossenen Ehe gedacht war. Ein gravierender Einbruch in die Flitterwochen, den besonders die junge Ehefrau sehr schlecht verkraftete.

Über die dramatischen Ereignisse, die Hofmannsthal als Grundstein seiner dichterischen Existenz ansah, berichtet ein Tagebucheintrag Harry Graf Kesslers: »In diesem Zusammenhang erzählte Hofmannsthal dann, dass seine Ahnen, für ihn offenbar, einen sehr starken Einfluss auf seine Entwicklung zum Dichter gehabt hätten, und zwar speziell die Umstände, unter denen er und seine Mutter empfangen und geboren seien. Seine Mutter sei während der Revolution von 48 geboren, als ihre Eltern, die Schwarzgelb waren, vor den Kugeln des Pöbels in den Keller flüchten mussten. Daher habe offenbar die das Pathologische streifende Sensibilität seiner Mutter gestammt. Diese sei so weit gegangen, dass sie eine hässliche Figur in einem Roman nicht ertragen und deshalb schliesslich garnichts mehr gelesen habe, weil sie von solchen Erlebnissen ganz krank wurde. Er selbst sei gerade während des Bankkrachs von 73, in dem sein Vater sein ganzes Vermögen verloren habe, empfangen worden. Auf der Hochzeitsreise in Neapel habe sein Vater das Telegramm erhalten, dass er ruiniert sei. Er glaube, dass die besondre Sensibilität der Nerven, die diese Umstände bei seiner Mutter und seiner eigenen Geburt erzeugt hätten, das sei, was ihn zum Dichter gemacht habe.«[27]

So bildet die doppelte Katastrophe am Lebensbeginn ein Schicksalsnarrativ, das auf den künftigen Dichter hinführt. Eine pathologische Konstellation wird zum Grundstein des Künstlerischen. So erstaunlich die Neigung zu deterministischer Kausalität auch anmutet: Die Konstellation war in der Zeit verbreitet, man denke etwa an Thomas Mann und seine Buddenbrooks, und sie hätte auch hier den Stoff für einen schicksalsschweren Generationenroman bereitgestellt, der aus all den Verwerfungen zu dem Wunderkind Hofmannsthal hätte hinführen können. Hofmannsthal hat ihn nicht geschrieben.

Hugo von Hofmannsthal, das Kind, um dessen Zeugung sich diese Katastrophenberichte ranken, wurde genau neun Monate nach der durch die wirtschaftliche Katastrophe gestörten Hochzeitsreise, am 1. Februar 1874 geboren. Börsenkrach und Zeugungsakt fielen zusammen. Hofmannsthal, so dramatisch empfangen von einer später nervenkranken Ehefrau, blieb das einzige Kind dieser Ehe.[28]

Großmutter und Enkel

Hofmannsthal war zudem zwölf Jahre lang der einzige Enkel seiner beiden Großeltern, dazu der einzige Neffe der fünf kinderlosen Tanten und Onkel beider Seiten. Erst spät bekam er noch drei Cousins, den letzten, als er selbst schon Vater wurde. Alles spitzte sich in beiden Familien auf diesen einen Nachfahren zu, das einzige Kind weit und breit, umgeben nur von Erwachsenen.

Hugo Laurenz August von Hofmannsthal war schon durch die väterlichen und großväterlichen Namen mit der ganzen Tradition der beiderseitigen Familien belehnt. Er war der Erbe schlechthin. Dieses Thema, das sein Frühwerk prominent durchzieht, so im Lebenslied, »Den Erben laß verschwenden«, so in Der Tor und der Tod und im Märchen der 672. Nacht, hat biographische Wurzeln. Das Kind war Mittelpunkt, unendlich umsorgt und geliebt, aber zugleich mit der schweren Hypothek belastet, dass sich alle Liebe und Zuwendung, jedoch auch alle Erwartungen und Hoffnungen der Erwachsenen auf dem einen Kinderhaupt versammelten. Es war Glanz und Bürde in einem. Der kleine Hugo musste nicht nur seine Eltern glücklich machen, sondern auch die Großeltern. In einer Art ›Familienaufstellung‹ berichtet Hofmannsthal später von den Großeltern: »Meine beiden Großväter, der Notar und der Seidenfabrikant waren, jeder nach seiner Art, rechtliche gesellige, in allen menschlichen Verhältnissen heimische Männer.«[29] Hofmannsthal hat sie wenig gekannt, da sie bereits 1881 und 1882 starben. Umso mehr die Großmütter: »Meine Großmütter waren zwei merkwürdige Frauen: die italienische die Urbanität selber, und die deutsche eine Frau, in deren Kopf die Privatverhältnisse von tausenden von Menschen Platz hatten, die sich mindestens mit der Phantasie, in zahllose Existenzen mischte.«[30]

Hofmannsthal führte, seit er schreiben konnte, einen Briefwechsel mit beiden, wie er überhaupt vom Kleinkindalter an zur Familienkorrespondenz beitrug. Und damit als Kind bereits jene Rolle übernahm, die später zur Signatur von Leben und Werk werden sollte: diejenige des möglichst alle einbeziehenden Vermittlers. Wenige Briefzeugnisse sind zur väterlichen Großmutter Petronilla von Hofmannsthal (Großmama Nilla) erhalten, die 1898 starb. Aber auch sie sind aussagekräftig: So berichtet der Vater 1897: »Großmama Nilla schreibt mir ganz glücklich dß du bei ihr warst u streicht sich den Tag im Kalender roth an.«[31]

Dagegen ist ein beachtlicher Briefwechsel mit der Großmutter mütterlicherseits, mit Josephine Fohleutner (Großmama Pepi) überliefert. Ein Atelierbild vor einer Mauerattrappe mit der behäbigen Großmutter zeigt den etwa Achtjährigen mit einem hochnäsigen und zugleich ängstlichen Blick, dandyhaft ausgestattet mit Samtanzug, eleganten Stiefeln, Gamaschen, Vatermörder und Melone, das Spazierstöckchen lässig in der einen Hand. Ein arroganter und verletzlicher Narzisst, von Kindlichkeit keine Spur.

In den Briefen an den einzigen Enkel gibt die Großmutter ständig Versicherungen ab, wie einzigartig Hugo in ihrem Leben sei. Das steigert sich proportional zum Heranwachsen des Enkels, seiner Orientierung außerhalb der Familie und der zunehmenden Unverfügbarkeit als Erwachsener. »Mein lieber, lieber theurer Schatz«, »meine einzige Freude, Du und alles was von Dir kommt«,[32] beteuert die Großmutter unentwegt. Ihren Liebesschwüren ist oft die Klage über zu seltenes Sehen beigemischt. Diese Art von liebendem Besitzanspruch wird vom Enkel meist geduldig aufgenommen. Der großmütterliche Stolz auf den berühmten Enkel war ambivalent: Denn das, worauf sie stolz war, seine Publikationen, entfernte ihn auch von ihr. Geradezu absurde Ausmaße nahm das großmütterliche Liebesbegehren bei Hofmannsthals Verlobung an, bei der die Großmutter eifersüchtig mit der Braut konkurrierte: »Ich hänge mit allen Fasern meines Leben’s an Hugo […] will ich das beste hoffen und mich bemühen zu vergessen, daß sie mir das Liebste raubt […] hoffend daß Hugi seiner ersten Freundin nicht vergisst und seiner Grossmutter manchmahl gedenkt!?«[33] Und an Hofmannsthal selbst: »Für mich arme Großmutter, und treuen Kameraden wird wohl noch weniger Zeit übrig sein, und ich werde mich mit der glücklichen Erinnerung begnügen müssen«.[34]

Hofmannsthal hat der ungewöhnlichen Konkurrenz im Gedicht Großmutter und Enkel von 1899 eine poetische Form gegeben, worin eine Großmutter sich im Tode noch einmal als junge Frau fühlt, an die der Enkel denken soll, wenn er bei seiner Liebsten ist. Hofmannsthals Sensibilität für alte Frauen mag im Umgang mit der Großmutter erworben worden sein; jedenfalls erwuchs der Großmutter lange vor der Verlobung eine Konkurrentin, die älter war als sie selbst und zudem noch eine Namensschwester: Josephine von Wertheimstein.

Die heilige Familie: Vater – Mutter – Kind

Was von der Großmutter gilt, betrifft noch intensiver den engsten Nukleus der Kleinfamilie. Wenn der Sechsjährige zum Geburtstag des Vaters dichtet: »O, könnte doch mein klopfend’ Herz, das, was es fühlt auch sagen; es will ja immer nur für Dich und für die Mutter schlagen«,[35] so gibt er damit nicht nur einen frühen Beweis seiner dichterischen Begabung, wenn auch in der konventionellen Form eines Spruchs fürs Poesiealbum, sondern benennt zugleich die enge und innige Verstrickung der familiären Dreierkonstellation. Die Trias Vater – Mutter – Kind war der exklusive Bezirk, auf den sich die drei Familienmitglieder ständig bezogen. »Ich hab ja nichts Heiligeres auf der Welt, als Papa und Dich!«, schreibt Hofmannsthals Mutter am 27. August 1897 an ihren bereits berühmten Sohn.[36] Diese Heilige Familie bestand aus einem Elternpaar, das auf den einzigen Sohn konzentriert war, der ihnen Lebenssinn und Lebensglück bedeutete.

Die Eltern charakterisiert Hofmannsthal in seiner späteren ›Familienaufstellung‹ so: »Meine Mutter konnte an Leuten, die sie nur dem Namen nach und aus Erzählungen kannte, einen unglaublichen Anteil nehmen: fremde Schicksale konnten bei ihrer geheimnisvoll erregbaren Natur die schönste Lebhaftigkeit in ihr entfesseln und die schwersten Verdüsterungen verursachen. Wie mein Vater aus seinem Amt die Verhältnisse von zahllosen Menschen, Gutsherren, Finanzleuten, Agenten, Geldjuden, Beamten, Politikern in sich herumträgt und so viel Widersprechendes eben so scharf auffasst als […] mit Humor sich gefallen lässt, ist unvergleichlich und dazu ist noch seine liebste Lectüre das Lesen von Memoiren, Selbstbiografien, historischen Charakteristiken, von denen er jährlich seine zweihundert Bände hinter sich bringt, sodass er die Porträts von so viel Menschen vielleicht in sich trägt wie Browning oder Dickens – wo soll da die Einsam[keit], Weltscheu herkommen«?[37]

 

Die Familie wohnte in der Salesianergasse 12 im dritten Wiener Bezirk in einer großzügigen spätbiedermeierlichen Stadtwohnung. Gegenüber lag das später verlassene Palais der Gräfin Vetsera, deren Tochter Mary 1889 mit Kronprinz Rudolf auf dem Jagdschloss Mayerling in den Tod ging. Eine schwere Erschütterung der Monarchie, die auch den fünfzehnjährigen Hofmannsthal beschäftigt haben dürfte. In der elterlichen Wohnung lebte Hofmannsthal bis zu seiner Heirat 1901. Die enge familiäre Symbiose ist in dieser Wohnung ins Räumliche übersetzt: Hofmannsthals Kinderzimmer und späteres Arbeitszimmer hatte die Fenster zum Hof, es war eingerahmt von einer Kammer, in der wohl zu Beginn die Amme schlief, und vom Elternschlafzimmer, das er durchqueren musste, um ins Bad zu gelangen. Hofmannsthal sprach einmal von dem »halbfinstern Zimmer in der engen Salesianergasse«.[38] So war das Kind und später der Erwachsene von allen Seiten umhegt oder besser: eingeschlossen und sogar von der Straße abgeschirmt.

In den Berichten, die das Kind der Großmutter über seine Erlebnisse gibt, tritt die familiäre Dreieinigkeit auffällig als ein »wir« in Erscheinung: das kindliche Universum ist ausschließlich mit Unternehmungen der Eltern angefüllt. In altklugem Ton gibt der Zehnjährige zu Protokoll: »Donnerstag waren wir bei Tante Laura. Ihr Garten ist jetzt wirklich ein Paradies en miniature.« »Abends gingen wir in den ›Tannhäuser‹, der von Vogel entzückend gesungen wurde.« »Nachmittags wollten wir mit Max Mautners einen Ausflug machen, als es aber häßlich wurde, verwandelten wir die Landpartie in eine sehr lustige, gemüthliche Tarockpartie.«[39] Derlei förmliche Rechenschaftsberichte machen evident, wie vollkommen das Kind in das Leben der Erwachsenen integriert war, es beteiligte sich an allen sozialen Unternehmungen der Eltern, ging als Zehnjähriger in Wagneropern und Shakespearedramen, war bei Ausflügen dabei, spielte bei der Tarockrunde mit wie ein Erwachsener. Es kommentiert die »wir«-Unternehmungen mit gesetzten Worten und begleitet sie mit konventionellen Floskeln, die kaum an ein Kind denken lassen. Eine Kindheit, die von Anfang an Partizipation am Erwachsenenleben war.

Aus den erhaltenen Dokumenten spricht ein überbraves und überfunktionierendes Kind, das offensichtlich bemüht war, die Erwartungen der Erwachsenen bestens zu erfüllen. Der Sechsjährige schrieb flüssige Briefe und gereimte Gedichte, teilweise auf Englisch, was – selbst wenn geholfen wurde – eine überragende und frühreife Leistung zeigt. Zugleich fällt die wiederholte Selbstinszenierung als angeblich »Schlimm u.frech u. übermüthig« auf,[40] aber dies in einem seltsam unkindlichen höflichen Ton, somit als genaues Gegenteil dessen, was behauptet wird. Dieser Sohn musste nicht gegen neugeborene Konkurrenten aufbegehren und um seine Königsrolle kämpfen, er musste kein Geschirr zerschlagen, wie Goethe in der von Freud interpretierten Kindheitsszene,[41] sein Narzissmus erfuhr keine Einbuße, aber er konnte sich dadurch auch nie ganz von seiner Rolle des lieben Kindes befreien.

Die Kontakte des Zehnjährigen sahen so aus: »Dienstag waren wir im Volksgarten, wo ich einige Bekannte fand und mich sehr gut unterhielt.«[42] Wer immer diese »Bekannten« waren, von anderen Kindern ist fast nie die Rede. Spielkameraden wurden von den Eltern ausgesucht und kontrolliert: Kinder von Kollegen, entfernte Cousins, Spielfreunde in der Sommerfrische.[43] Einsam war dieses Kind gleichwohl nicht. Oder genauer: Es war nicht allein, sondern beständig von Erwachsenen umgeben.

Kinderspiele, Age of innocence

Ungeachtet der fürsorglichen Aufsicht scheint der kleine Hugo in einer ganz eigenen Phantasiewelt gelebt zu haben. Briefliche Zeugnisse der Kindheit lassen eine Lust und eine Begabung zu Kostümierung und Wechsel in fremde Stilarten erkennen, wie es später Hofmannsthals literarisches Schaffen und manchmal auch sein persönliches Auftreten charakterisiert. Früh übte sich das Kind im Rollenspiel: witzige, sprachspielerische Hofbulletins im pluralis maiestatis an die Großmutter,[44] eine Pastiche im barocken Stil an die »wohlehrsamben Gattensleut Hugonus Annáque Courtisani«[45] sind Zeugnisse eines phantasiebegabten, aufnahmebereiten Heranwachsenden, der die vielen Lese- und Theatereindrücke mit einem stupenden Nachahmungstalent imitieren konnte. Darin zeigt sich bereits die Gabe Hofmannsthals zum Schreiben in einem bestimmten Stil oder Versmaß, die ihm oft den Plagiatsvorwurf eintrug. Darin zeigt sich aber auch die Gefahr für das Proprium des eigenen Schreibens: »Ich habe sehr früh […] statt ich zu bleiben eine Rolle ergriffen«, heißt es im Roman des inneren Lebens.[46] Auffallend an den kindlichen Verkleidungen ist zudem, welche Rolle das umworbene Kind für sich reserviert. Es ist diejenige, die ihm von den Erwachsenen angetragen wurde: die eines Hof haltenden Königssohns, selbst wenn er – wie im Märchen der 672. Nacht – eigentlich ein Kaufmannssohn ist, der den Königssohn, genau wie Hofmannsthal selbst, nur imaginiert. Die infantile Wunschphantasie, alles um sich zu gruppieren, das Zentrum zu bilden wie Der Kaiser von China im späteren Gedicht oder im Einakter Der Kaiser und die Hexe, findet in der Rolle des Königssohns ihre spielerische Umsetzung. Sie hat in der familiären Konstellation ihren Ursprung und wirkt später im Umgang mit den Freunden so bestimmend wie befremdend.

Über seine Kinderspiele hat Hofmannsthal im fiktionalen Medium geschrieben. Eines seiner frühesten Erzählfragmente von 1892 ist Age of innocence, geplant als »psychologische Novelle«. Der ausgeführte erste Teil mit dem Arbeitstitel Das Kind versucht die Erzählung einer Kindheit, die – wie sonst bei Hofmannsthal fast nie – deutlich autobiographische Anklänge zeigt. Es sind Erinnerungsstücke von einer dichten Atmosphäre, die alle Sinne miteinbezieht. Was aber – wie der Titel suggeriert – aus nachträglicher Perspektive eine kindliche Unschuld zu inszenieren scheint, ist vor allem Ausdruck von deren Unmöglichkeit und ihrer Dekonstruktion. Diese Aporie der Kindheit gilt im gemeinsamen »Wiener Sumpfboden« auch schon ein paar Jahre vor Freud. Geschildert wird eine den Erwachsenen verborgene Seite kindlicher Erlebnisse. Eine Szene gilt dem Freiheitsdrang des Kindes: Beim Spazierengehen reißt sich die Erzählfigur von dem Fräulein los und irrt in der Stadt herum: »Zu Hause waren sie geängstigt und böse; er hatte den Geschmack von unsäglicher schaler bitterer Enttäuschung auf der Zunge«.[47] Ein solcher Versuch, der Allgegenwart Erwachsener zu entkommen, bleibt in der Erzählung ein Einzelfall. Was sich hingegen für die Erwachsenen als unzugänglich erweist, sind die einsamen Spiele, angeleitet durch das reiche Innenleben des Kindes. Die Überschrift Age of innocence verweist auf ein englisches Buch dieses Titels, über das sich ein kindlicher Icherzähler wundert, weil er die dort abgebildeten Kinder »mit den stilisierten Stumpfnäschen der Unschuld und der wohlerzogenen Drolligkeit« gar nicht als seinesgleichen erkennt: »Er spielte anders, schon weil er meistens allein war.«[48] Diese Spiele illustrieren plastisch das später so benannte ›Drama des begabten Kindes‹, und zwar als Selbstquälerei, aus der aber dann die Einsicht in die eigenen Fähigkeiten resultiert. Die Spiele werden zu »heimlichen Orgien und er liebte die Augenblicke, vor denen ihm graute – –.« Ein Knieen vor dem brennenden Ofen, ein gefährliches Weit-aus-dem-Fenster-Hängen, Berührungen ekelerregender Tiere und asketische Verzichtleistungen, dies sind die heimlichen ›jeux interdits‹, denen sich die Erzählerfigur hingibt, um in der Selbstquälerei »Vergnügen« zu empfinden. Das Kind zeigt auch zwanghafte Züge: Es opfert seine »Martern der heiligen Dreifaltigkeit«, ist besessen von der Zahl drei, entwickelt ein »fieberhaftes Verlangen nach Besitz, nach Übersicht, Eintheilung, Ordnung« und zugleich ein »ängstliches Denken an den Tod«.[49]

Bereits in diesem frühen Text ist die Urphysiognomie aller bösen Kinder in Hofmannsthals Werk angelegt: der Blick in den Spiegel »mit stieren, hervorstehenden Augen, wo man das Weiße unten sieht, und verzerrten Lippen«. Nicht anders sieht sich in Der goldene Apfel das kleine Mädchen, das die Katastrophe ins Rollen bringt: Es erprobt vor dem Spiegel die physiognomische Verzerrung, die bei Hofmannsthal immer ein Kippmoment zum Bösen anzeigt, die »blinkenden Zähne« und »bös zurückgenommenen Lippen«. Mit demselben mimischen Muster der verzerrten Züge stirbt der Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht, »die Lippen so verrissen, daß Zähne und Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen fremden, bösen Ausdruck gaben«. Und der Roman des inneren Lebens spricht von der Sicht auf sich selbst als »verzerrt schadenfroh dämonisches Kind«.[50]

Eine Freude an den eigenen Qualen, die »Schauder des Mordes« und »Grauen des Opfers« sind die Begleitempfindungen der imaginierten Gewaltexzesse. Sie sind Vorläuferszenen für all die gewalttätigen und grausamen Handlungen im Werk, die meist von männlichen Jugendlichen Tieren angetan werden, so der rituelle Tiermord in der Knabengeschichte, die Tötung des Hündchens in Andreas und die Abwehr des widerlichen Kleingetiers im Turm.

Die Gewaltszenen des Kindes in Age of innocence bestehen indessen nur aus Sensationen und Stimmungen: »ein Vorhang, ein dolchartiges Messer, ein Tuch, sein eigener Körper, die Beweglichkeit seiner Mienen, die Kleider, die man an- und ausziehen kann, Lampenlicht und Halbdunkel und vollständiges Dunkel, das waren ihm die Ereignisse unzähliger Dramen oder eigentlich eines einzigen monatelangen Mysteriums.« Die kleine impressionistische Skizze stellt – vor allem mit ihren Lichtnuancen – in Miniaturform ein poetisches Universum des jungen Hofmannsthal zusammen. Die masochistischen Phantasien haben für die Erzählfigur einen wichtigen Ertrag: Er wird mit der Kraft der eigenen Imagination konfrontiert; er erkennt »die Geheimnisse seines Innern«, »die Scala seiner Empfindlichkeiten, sein eigenes reiches Reich«.

Die innere Erfahrung führt zur Geburt der Selbstreflexion, die seit der Romantik immer ein Blick von außen auf sich selbst ist: »Das Erwachen kam über ihn und das Erstaunen über sich selbst und das verwunderte Sich-leben-zusehen«. Die Icherfahrungen, die bestimmend für Hofmannsthals Frühwerk sind, wurden im Text von 1892 in die Kindheit zurückverfolgt. Und mit dieser Geburt des Selbstbewusstseins rückt mit einem Mal die Abgrenzung von und das Interesse für andere ins Zentrum: »Er empfand plötzlich eine Sehnsucht darnach, in fremde Zimmer hineinzuschauen und fremde Menschen fühlen zu fühlen. Die ›Anderen‹ hatten für ihn einen Sinn bekommen …«[51]

Sommerfrische

Die Ferien verbrachte Hofmannsthal regelmäßig mit seinen Eltern in Bad Fusch, einem Heilort für die angegriffenen Nerven der Mutter. Als Hofmannsthal 1897 den neurasthenischen Leopold von Andrian dorthin einlud, betonte er, man schicke »direct schwer Nervenkranke« hin.[52] Anschließend ging man dann jeweils nach Strobl am Wolfgangsee. Für das Kind waren an beiden Orten Ferienaktivitäten vorgesehen, die eher einem Kind entsprechen, wie Bergsteigen und Rudern. Hier gab es auch Kontakte zu anderen, hauptsächlich weiblichen Kindern: in Bad Fusch zu den Speyer-Mädchen, Bekannten der Mutter, und in Strobl zu den Geschwistern Sobotka, mit denen der Zwölfjährige dann in Wien einen lebhaften Briefwechsel führte und gelegentliche Theaterbesuche vereinbarte.