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Im Winter 2019 fällt für die fünfköpfige Familie der Autorin die Entscheidung, aus beruflichen Gründen für drei Jahre nach Shanghai zu ziehen. Um die Kinder nicht mitten im Schuljahr aus ihrer vertrauten Umgebung zu reißen, begibt sich ihr Mann kurz darauf zunächst alleine auf die Reise. Gemeinsam möchten sie auf beiden Seiten der Welt ihren Umzug vorbereiten, um nach den Sommerferien ihren neuen Wohnort in China zu beziehen. Doch als sich im Januar 2020 genau dort Corona zur Pandemie entwickelt, drohen ihre Pläne zu scheitern. Die Autorin erzählt, wie die Familie es dennoch schafft, ihr Vorhaben zu realisieren und schildert die Anstrengungen und Hürden, die mit den Vorbereitungen in Deutschland verbunden sind. In China angekommen, berichtet sie von den zahlreichen Erlebnissen unter dem starken Einfluss von Covid-19, beginnend mit der strapaziösen Einreise und der darauffolgenden zweiwöchigen Quarantäne in Qingdao über die erstaunlich positiv verlaufende Anfangszeit und den Aufbau eines neuen Lebens in Shanghai bis hin zum zweimonatigen harten Lockdown in 2022. Es zeigt sich, dass die Pandemie durchaus auch positive Auswirkungen auf das freundschaftliche Zusammenleben in einem deutsch-französischen Compound haben kann. Die Bewohner werden so zusammengeschweißt, dass selbst eine für deutsche Verhältnisse unvorstellbar konsequente Ausgangssperre mit Engpässen bei der Lebensmittellieferung der engen Expatgemeinschaft nichts anhaben kann. Neben Corona werden dabei Themen wie Einreisebestimmungen, Schule, das Erlernen der chinesischen Sprache, soziale Kontakte, Reisen und die Bewältigung des alltäglichen Lebens in China behandelt, ebenso wie die besonderen kulturellen Eigenheiten, die für Ausländer voller Tücken stecken. Auf den strengen Lockdown mit all seinen Schrecken und damit einhergehenden psychischen Belastungen folgt die abrupte und unfreiwillige Beendigung der Auslandsentsendung, die für die gesamte Familie inmitten der Herausforderungen des umgekehrten Kulturschocks zur Zerreißprobe wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Das Buch
Im Winter 2019 trifft die fünfköpfige Familie die Entscheidung, aus beruflichen Gründen für drei Jahre nach Shanghai zu ziehen. Doch als sich im Januar 2020 genau dort die Corona-Pandemie entwickelt, drohen ihre Pläne zu scheitern. Trotz zahlreicher Herausforderungen, beginnend mit der strapaziösen Einreise und den Vorbereitungen sowie der darauf folgenden Quarantäne in Qingdao, gelingt es ihnen, sich ein neues und aufregendes Leben in China aufzubauen. Sie durchleben den strengen Lockdown mit all seinen Schrecken und den damit verbundenen psychischen Belastungen, nur um schließlich abrupt und unfreiwillig die Auslandsentsendung zu beenden. Diese Herausforderung wird für die gesamte Familie inmitten der Anpassungen an den umgekehrten Kulturschock zur Zerreißprobe.
Die Autorin
Petra Kindermann-Erfort ist Diplom-Übersetzerin für Englisch und Französisch. Sie wurde 1969 in Rotenburg/Wümme geboren und wuchs im Saarland auf. Dort studierte sie an der Universität des Saarlandes Angewandte Sprachwissenschaften sowie Übersetzen und Dolmetschen. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebte sie von 2020 bis 2022 in Shanghai.
Für
Hedi, Greta, Liv und Mathias
Petra Kindermann-Erfort
Hui Jia!
Shanghai, ich will noch nicht gehen
© 2023 Petra Kindermann-Erfort
ISBN
Softcover
978-3-384-16908-2
e-Book
978-3-384-16909-9
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Einleitung
1. Anfang und Ende reichen einander die Hände
2. Besser auf neuen Wegen etwas stolpern, als in alten Pfaden auf der Stelle zu treten
3. Wie rasch ist Abschied genommen, wie lange dauert es bis zum Wiedersehen!
4. Eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt
5. Das Leben ist wirklich einfach, aber wir bestehen darauf, es komplizierter zu machen
6. Aller Anfang ist schwer
7. Lernen ist ein Schatz, der seinem Besitzer immer folgt
8. Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben
9. In jedem Körnchen Reis steckt ein Tröpfchen Schweiß
10. Auf einem weiten Weg erkennst du die Kraft eines Pferdes, an einem langen Tag erkennst du das Herz eines Menschen
11. Ein einziger Tag, ein Schritt daneben, nicht ausgetilgt in hundert Leben
12. Ob du eilst oder langsam gehst, der Weg ist immer derselbe
13. Von Natur aus sind die Menschen fast gleich; erst die Gewohnheiten entfernen sie voneinander
14. Ein Freund mehr, ein Weg mehr
15. Das Reisen führt zu uns zurück
16. Es gibt niemanden, der nicht isst und trinkt, aber nur wenige, die den Geschmack zu schätzen wissen
17. Die Jungen lieben Kleider, die Alten lieben das Essen
18. Schönheit liegt im Auge des Betrachters
19. Dreimal täglich Lächeln ersetzt jede Medizin
20. Feiere, und deine Hallen sind gefüllt, faste, und die Welt geht vorüber
21. Der Hungrige findet jedes Essen gut, der Durstige jedes Getränk
22. Ein Schiff kann sowohl schwimmen als auch sinken
23. Das schönste Morgen bringt das Gestern nicht zurück
24. Auch der schönste Traum endet mit dem Erwachen
Ende
Dank
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1.: Anfang und Ende reichen einander die Hände
24.: Auch der schönste Traum endet mit dem Erwachen
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Einleitung
Ein Umzug in ein recht weit entferntes Land mit einer völlig anderen Kultur – und das während einer ganz besonderen Zeit. In einen Ort, der genau zu diesem Zeitpunkt entweder der richtige oder der falsche war.
Für uns, eine fünfköpfige Familie, trifft auf jeden Fall Ersteres zu. Obwohl Corona die Welt fest im Griff hatte, stand unserem Abenteuer in China dies nicht im Weg.
Mein Buch erzählt von all den Erlebnissen und Abenteuern während dieser unglaublich schönen, aber auch durch Corona schwierigen Zeit und den damit verbundenen Einschränkungen, insbesondere während des zweimonatigen harten Lockdowns in Shanghai im Jahr 2022. Es soll keineswegs ein Reiseführer mit genauen Daten sein. Dafür ändern sich die Dinge in China viel zu schnell und waren vielleicht schon kurze Zeit nach unserer Ausreise überholt. Vielmehr möchte ich ganz subjektiv schildern, wie es uns in dieser Zeit erging, angefangen bei den nicht ganz stressfreien und mit vielen Hindernissen verbundenen Vorbereitungen über unser Ankommen und Leben im Reich der Mitte bis hin zu einer viel zu abrupten und recht schmerzvollen Rückkehr, die unser aller Leben komplett ins Wanken brachte.
Dazu gehören natürlich auch die ein oder anderen Hinweise und Empfehlungen, die die unterschiedlichen Phasen eines solchen Aufenthalts betreffen. Schließlich sollte sich jeder, der das Glück hat, eine solche Auszeit von seinem Leben zu nehmen – so wie wir es sehen –, im Klaren darüber sein, dass damit leider auch ein paar Unannehmlichkeiten verbunden sind.
Ich habe vor meinem Aufenthalt in Shanghai einige Bücher über Expataufenthalte in China gelesen und musste dort immer wieder schmunzeln, wenn ich ähnliche und teilweise auch recht lustige Erfahrungen machte. Hätte ich jedoch vorab noch mehr gewusst über das, worüber ich unter anderem hier schreibe, wäre mir gegebenenfalls so manches doch noch etwas leichter gefallen. Meiner Meinung nach kann man sich gar nicht genug über die neuen Herausforderungen informieren und darüber, was in einem ganz anderen Teil der Welt so alles passieren kann.
Neben den vielen liebenswerten Menschen, denen wir dort begegnet sind, gilt mein besonderes Interesse den kulturellen Unterschieden. Möglicherweise helfen meine zu Papier gebrachten Erfahrungen auch ein wenig dabei, die ein oder andere damit in Zusammenhang stehende Schwierigkeit zu überwinden oder Vorurteile abzubauen.
Als wir Freunden und Bekannten in Deutschland zum ersten Mal erzählten, dass wir wegen meines Mannes und dieser aus beruflichen Gründen nach Shanghai ziehen würden, waren die Reaktionen nämlich nicht ausnahmslos positiv. Es gab durchaus Personen, die sich mit uns freuten und uns ganz viel Spaß wünschten. Überwiegend jedoch reagierte man leider eher verhalten oder geradezu negativ, als von China die Rede war. Wie würden wir uns in einer der größten Städte der Welt zurechtfinden? Mit einer Sprache, die wir unmöglich verstehen würden, und mit Menschen, die sich in bestimmten Situationen ganz anders benehmen? Ganz zu schweigen von der von vielen abgelehnten Politik.
Einige kündigten an, dass wir mit einem Besuch keinesfalls rechnen dürften, was man sich wegen der um sich greifenden Pandemie sowieso sparen konnte. Die Meisten nannten uns recht diplomatisch „mutig“, wenn sie so gar nichts mit unserer Neuigkeit anfangen konnten. Dabei empfand ich uns absolut nicht als mutig. Schließlich waren wir keine Auswanderer wie in einer bekannten Fernsehserie. Es war zudem keineswegs für immer und ewig. Vor allem würde die Firma für das Wichtigste sorgen. Leichter lässt sich solch ein Abenteuer doch gar nicht realisieren, dachte ich mir.
Auch möchte ich von den fantastischen Reisen berichten, die trotz Corona innerhalb Chinas Grenzen stattfanden. China ist ein äußerst spannendes Land mit seiner umwerfenden Natur und einer Vielzahl an Sehenswürdigkeiten. Wir hatten das Glück, Seiten und Gegenden von China zu entdecken, die Touristen üblicherweise niemals zu sehen bekommen und gewiss nicht Bestandteil von Standardreisen sind.
Vor allem – und dies mag für Eltern von enormer Bedeutung sein – möchte ich die Bedenken derjenigen zerstreuen, die vor einer ähnlichen Entscheidung stehen wie wir vor ungefähr dreieinhalb Jahren: ihre Kinder aus der gewohnten Umgebung herauszureißen und von deren Freunden zu trennen.
Covid stellte für viele Menschen sowieso ein absolutes Ausschlusskriterium dar, seinen Wohnsitz temporär in das Land des Lächelns zu verlegen. Wer uns jedoch kennt, weiß, dass wir, sollten wir uns für etwas entschieden haben, es auch durchziehen. Und wir sind dankbar für unsere Geduld und Hoffnung, dass Corona uns nicht alles verderben würde. Wir haben alle fünf China nicht nur überlebt, sondern haben dieses für viele so fremdartige Land und seine Menschen auf eine Weise kennen und schätzen gelernt, dass wir uns vor dem „hui jia“ regelrecht fürchteten.
„Hui jia“ bedeutet „heimkehren“ und wurde uns von den Wachleuten unseres Compounds auf deren Rundgängen zugerufen, nachdem wir die obligatorischen PCR-Tests während des Shanghaier Lockdowns „absolviert“ hatten. Wir sollten also so schnell wie möglich wieder in unsere Häuser zurückkehren. Nach Hause in Deutschland hingegen wollten wir so schnell gar nicht mehr. Vieles können wir uns nämlich von den Chinesen abschauen, und so bewunderte ich insbesondere deren Gelassenheit und Weisheit.
In diesem Zusammenhang stieß ich nach unserer Rückkehr immer bewusster auf chinesische Sprichwörter, die man auch in jenen Glückskeksen findet und die mich im Nachhinein zum Nachdenken brachten. Einige, von denen jedoch tatsächlich nicht alle aus China stammen, inspirierten mich so sehr, dass ich sie zu Überschriften der jeweiligen Kapitel werden ließ.
Mein Buch soll jedoch niemandem eine gegenteilige Meinung aufdrängen. Über Politik beispielsweise möchte ich – wie die Chinesen es auch zu tun pflegen – überhaupt nicht „reden“. Jeder soll seine eigene Ansicht vertreten, und es liegt mir fern, darüber irgendwelche Diskussionen zu entfachen. Ich war in China zu Gast und respektierte dessen Regeln, worauf ich auch hier sehr viel Wert lege.
Ich hoffe eher, dass all meine Schilderungen nicht nur interessante Einsichten und Einblicke in dieses Land liefern, sondern auch ein wenig unterhaltsam sind. Daher habe ich versucht, einige Situationen mit einer guten Prise Humor wiederzugeben und hoffe, damit in keiner Weise auf jemanden beleidigend zu wirken.
Dieser Humor ist mir bei der Schilderung unserer Rückkehr weitgehend abhandengekommen. Aber mir ist es wichtig zu vermitteln, dass der umgekehrte Kulturschock bei der Heimkehr überraschenderweise sehr viel schwieriger zu bewältigen sein kann als der beim Eintreten in eine fremde Kultur.
Ich lade Sie nun ganz herzlich ein, sich mit mir auf meine bisher längste Reise meines Lebens zu begeben. Eine Reise, die meinen Familienmitgliedern und mir die bisher eindrucksvollsten und faszinierendsten Jahre unseres Lebens beschert und unseren Blick auf viele Dinge und uns selbst für immer auf – wie wir meinen – sehr positive Weise verändert hat.
Unsere Reise nach Shanghai!
1.
Anfang und Ende reichen einander die Hände
(Chinesisches Sprichwort)
Heute, am 24.07.2022, sitze ich hier in unserer für zehn Tage gemieteten hübschen Poolvilla in Phuket und überlege mir, wie ich anfangen soll. „Am Anfang“ würden viele sagen, was leichter gesagt ist als getan.
Beginnt der Anfang am Ende, wenn das Flugzeug auf der Startbahn immer schneller wird und es sich so anfühlt, als ob man dabei ist, vor seinem eigenen Leben davonzurollen? Oder beginne ich damit, wie mein Mann und ich mit unseren drei Töchtern eigentlich auf die Idee kamen, für drei Jahre (so war es zumindest geplant) nach China auszuwandern?
Ich entscheide mich für den traurigen Start in unser neues „altes Leben“. Kaum waren wir in der Luft, fiel es uns zusehends schwerer, die Fassung zu bewahren. An etwas Angenehmes zu denken und sich abzulenken, half nicht wirklich weiter, so dass wir nur noch krampfhaft versuchten, unsere Tränen zurückzuhalten. Sogar mein Mann, den ich noch nie zuvor so traurig erlebt hatte, schien mit sich zu kämpfen. In jenem „Startmoment“ waren wir mehr als niedergeschlagen und ausgesprochen deprimiert, vor allem auch, weil das Ende unserer größtenteils wirklich traumhaften Zeit in Shanghai eigentlich noch gar nicht gekommen war. Wir waren noch nicht bereit für eine Rückkehr nach Deutschland und hatten uns diese zudem auch noch völlig anders vorgestellt. Unsere älteste, zu jenem Zeitpunkt aber noch minderjährige Tochter war nämlich bis kurz vor Abflug in einem Hotel in der Stadtmitte in Shanghai aufgrund eines Covidfalls festgehalten worden, was beinahe unsere Ausreise verhindert hätte.
Auch wenn wir in den letzten Stunden um unsere Tochter bangen mussten und wir die Null Covid-Politik Chinas in diesem Moment verfluchten, wollten wir dennoch nicht wirklich weg. Die Zeit vor der Verhängung des großen Shanghaier Lockdowns Anfang April 2022 hatte jeder Einzelne von uns als sehr schön empfunden und wird stets unvergesslich bleiben.
Direkt nach Deutschland wollten wir auf gar keinen Fall fliegen. Viel zu schmerzhaft war diese Vorstellung, und viel zu groß war die Angst, in ein tiefes Loch zu fallen. Gerade mal fünf Wochen zuvor war uns mitgeteilt worden, dass wir nach Deutschland zurückkehren und unser lieb gewonnenes Shanghai verlassen müssten. Daher sitzen wir nun in Thailand, um uns sowohl von all den Strapazen, dem Umzugsstress und vor allem dem Schock zu erholen als auch, um uns seelisch auf den zu plötzlich stattfindenden Wiedereinstieg in Deutschland so gut wie möglich vorzubereiten.
Das alles klingt so, als ob wir fast 100 Jahre unterwegs gewesen wären. Einige werden lachen und fragend denken: „Was stellen die sich eigentlich so an?“
Wir haben während unserer kurzen Zeit dort viele Expats (wie man in ausländische Zweigstellen entsandte Fachkräfte und deren Familienangehörige nennt) kennengelernt, die schon sehr viel länger in Shanghai gelebt hatten und sogar immer noch dort sind. Tatsächlich waren es bei uns nur zwei viel zu schnell vergangene Jahre (für meinen Mann immerhin 2,7 Jahre), die wir in dieser aufregenden Stadt verbringen durften.
Wer Kinder hat, weiß, wie schnell zwei Jahre vergehen können, und niemand befolgt wirklich den gut gemeinten Rat, jeden Tag nach dem Motto „Carpe Diem“ vollends zu genießen. So ging es uns auch in Shanghai. Die Zeit verrann richtiggehend.
Aufgrund des Erlebten kommt uns dieser eigentlich relativ kurze Zeitraum dennoch wie 20 Jahre vor. Wir besuchten 86 Restaurants, gingen auf 46 Partys und weitere 53 Events, wenn ich noch alles richtig im Kopf habe. Während dieser Zeit erlebten wir jedoch nicht nur Schönes. Wir waren nämlich genau zu der Zeit dort, als Corona 2020 die ganze Welt fest im Griff hatte. Diejenigen, die zu dieser Zeit oder währenddessen nach China einreisten, wissen ganz genau, wovon ich hier spreche.
Den Entschluss, letztendlich ein Buch über diese wunderbare Zeit zu schreiben, hatte ich schon vor einer Weile, als ich noch in Shanghai sein durfte. Wie heißt es auch so schön in einem chinesischen Sprichwort: „Ein Buch ist ein Garten, den man immer mit sich tragen kann.“
Ich schrieb fast jeden Tag meinen beiden noch aus meiner Kindheit vertrauten Freundinnen Sylvia und Katja Nachrichten auf WhatsApp und fragte mich nach einiger Zeit, ob ich mir nicht besser ein Tagebuch zulegen sollte. Hauptsächlich zu Anfang war ich doch ziemlich aufgewühlt und verspürte den Drang, das Erlebte jemandem zu erzählen. Mich plagte darüber hinaus häufig das schlechte Gewissen, dass nicht alle meiner zahlreichen Nachrichten nach Deutschland wirklich interessant für Außenstehende sein könnten.
Telefonieren war nie meine große Leidenschaft. Der Zeitunterschied von sechs bis sieben Stunden je nach Jahreszeit war lästig und noch mehr Termine oder Absprachen konnte ich in meiner Zeit in Shanghai nicht auch noch unterkriegen. Das Leben am anderen Ende der Welt war nämlich alles andere als langweilig. Besonders während längerer Autofahrten in das Zentrum (Staus gab es jede Menge) hatte ich mehr Zeit, Nachrichten oder Fotos an alle Daheimgebliebenen zu schicken.
Beim morgendlichen Zähneputzen kam mir dann die Idee, sämtliche Ereignisse schriftlich festzuhalten. Eine meiner Töchter fand diesen Einfall geradezu grandios und meinte: „Mama, so kannst Du all Deine Emotionen besser verarbeiten und hast eine ganz besondere Erinnerung für Dich, das wird Dir guttun!“
Ich wollte aber keinen weiteren Ratgeber. Dafür gibt es genug über Shanghai und sicherlich auch Professionelleres. Es gibt tatsächlich auch schon verschiedene von Expats veröffentlichte Bücher, von denen die mir bekannten auch schon etwas älter sind (die Bücher, nicht die Autoren). Zudem hat sich seitdem auch sehr viel in Shanghai verändert.
Eigentlich möchte man auch niemanden mit seinen Erlebnissen langweilen, und gut gemeinte Ratschläge und Tipps waren mir persönlich immer schon zuwider. Besser wissen es sowieso alle, doch jedermann erlebt die Dinge völlig anders.
Ganz ohne Anregungen geht es dann aber doch nicht, zumal Firmen Familien oft entsenden, ohne sie wirklich auf das wahre Leben in China vorzubereiten. Bei uns hieß es lediglich, die Regeln würden sich dort ständig ändern, weshalb man darauf größtenteils verzichten könnte. Ein interkulturelles Training wäre grundsätzlich möglich gewesen, was jedoch zunächst aufgrund der Kürze der Zeit vor der Ausreise bei meinem Mann und aufgrund von Corona bei uns in Deutschland ausgefallen war. Ich spreche aber auch insbesondere von Listen mit Hinweisen über bei der Einreise dringend benötigte Dokumente, die vermeintlich sinnlos seien. Nicht wenige Expats jedoch, die ich später in Shanghai traf, hätten sich diese so wie ich sehnlichst gewünscht und wären eine große Hilfe gewesen. Natürlich ändern sich die chinesischen Gesetze und Regelungen oft, das haben wir leider auch erlebt, aber es gibt dennoch gewisse Dinge, auf die man hätte hinweisen können.
In dieser Hinsicht reicht dann leider auch kein interkulturelles Training, welches wie in unserem Fall erst stattfindet, wenn man schon längst im Land angekommen ist und bereits erste Erfahrungen gesammelt hat.
Bei einer der zahlreichen Feiern in Shanghai lernte ich zufällig eine sehr nette Chinesin kennen, die mit einem deutschen Mann verheiratet ist und sogar solche Art von Trainings anbietet, was ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wusste. Wir waren uns sofort sympathisch und hatten vor lauter Reden überhaupt keine Zeit für Essen oder Tanzen. Emma wurde schon bald eine meiner engsten Freundinnen und etwa ein Jahr später über meinen Mann in der Firma, in der er arbeitete, als Interkulturelle Trainerin engagiert.
Gegen Ende meiner Zeit in Shanghai, bei einem unserer letzten Spaziergänge in unserem Compound – so werden die abgeschlossenen und bewachten Wohnanlagen genannt, in denen nicht nur Expats, sondern auch wohlhabende Einheimische leben –, erzählte ich ihr als Erste von meinem Vorhaben, ein Buch zu schreiben.
Ich war sehr gerührt, als sie mir sagte, dass sie sich dies bei mir tatsächlich gut vorstellen könnte. Ihrer Meinung nach hätte ich China etwas anders erlebt als viele, denen sie in den letzten Jahren begegnet war.
2.
Besser auf neuen Wegen etwas stolpern, als in alten Pfaden auf der Stelle zu treten
(Chinesisches Sprichwort)
Ich hatte mir den Anfang einer Auslandsentsendung immer anders vorgestellt.
In meiner Fantasie kommt der Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause und fragt seine Frau: „Liebling, wie wäre es, wenn wir für einige Zeit ins Ausland gehen würden?“ Dabei hatte ich natürlich (heute kommt mir dieses „natürlich“ einfach nur noch absurd vor) keinesfalls China im Sinn.
Im wahren Leben kommt die Frau aus dem Fitnessstudio, und der Mann überrascht sie mit: „Ich muss mich auf die Liste für Shanghai setzen lassen, wenn ich die Karriereleiter nach oben klettern will.“ Nicht nur ich fiel aus allen Wolken.
Unser Traum, so wie der Traum sicherlich vieler anderer Expats, war es schon immer gewesen, für einige Zeit in die USA zu gehen. Wir hatten dort schon recht viele herrliche Familienurlaube verbracht, und ein Teil unserer Familie hat sogar das Glück, in der Nähe von San Diego zu wohnen. Dort und in New York hatte es uns bisher am besten gefallen. In unseren Träumen sahen wir uns morgens frisch und munter an der Promenade mit Blick auf Manhattan um die Wette joggen.
Daraus wurde leider nichts, und wir führten dennoch recht zufrieden unser Leben in der Nähe von Frankfurt weiter. Wir haben es nicht allzu weit zur Stadt. Eines der größten Einkaufszentren Deutschlands liegt um die Ecke, die Kinder fühlten sich wohl in ihren Schulen, und wir alle hatten genug Freunde und Bekannte. Das Leben nahm seinen Lauf und meinte es gut mit uns. Im Grunde hatten wir sogar etwas Angst vor einer Veränderung, denn wie sagte mein Mann oft so schön: „Never change a running system.“
Und doch schlummerte in uns die Abenteuerlust und Frage, wie es wohl wäre, mal für eine Zeit lang die eigene Komfortzone zu verlassen und etwas Neues und Fremdes zu erleben, anstatt im alltäglichen Trott bis ans Ende seiner Tage weiterzumachen. Die Welt ist so groß und schön, und wir hatten gerade in Asien außer Dubai und Hongkong noch nicht allzu viel gesehen.
So kam es, dass ich mich eines Morgens auf der Arbeit daran erinnerte, dass mein Mann einmal von Singapur gesprochen hatte. Nicht, dass dieser Ort schon immer eines meiner Traumziele gewesen wäre. Wie gesagt, eigentlich bevorzugten wir die USA. Ich wollte jedoch etwas in Bewegung setzen, meinen Mann unterstützen und ihm signalisieren, dass ich (und ich hoffte auch unsere Kinder) ihm überall auf der Welt folgen würde, sollte es ihn beruflich voranbringen.
Einen Umzug nach Singapur hielt ich nicht gerade für wahrscheinlich, weshalb ich ihm in meinem jugendlichen Leichtsinn eine kurze Nachricht zukommen ließ, diesen flächenkleinsten Staat Südostasiens als potentiellen Einsatzort keineswegs auszuschließen.
Verwundert und erleichtert zugleich tat er dies. Aber wer möchte auch schon ein Klotz am „Karrierebein“ sein, weshalb ich meine Idee für eine Weile geradezu großartig fand.
Ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass es nur wenige Wochen später, im Juli 2019, hieß, dass es zwar wohl nicht Singapur werden würde, mit relativ großer Wahrscheinlichkeit aber Kuala Lumpur.
Etwas erschrocken fing ich sofort an zu googeln und fand das, was ich las, gar nicht so schlecht: meistens schönes Wetter (sofern man ein großer Fan von feuchter Hitze ist), köstliches und erschwingliches malaysisches Essen, Häuser mit großen Pools, englischsprechende Menschen und auch eine deutschsprachige Schule.
Unsere Kinder waren natürlich nicht gerade begeistert, schon gar nicht unsere mittlere Tochter Greta, die damit drohte, keinesfalls mitzukommen, sondern bei ihrer besten Freundin Emilia zu bleiben. Sie wollte sich sogar von deren Mutter adoptieren lassen und betete, dass alles so bleiben würde wie bisher. Unsere große Tochter konnte sich mit dem Gedanken recht schnell anfreunden, und unserer relativ pflegeleichten Jüngsten war diesbezüglich sowieso alles egal. Sie war dort glücklich, wo wir es waren.
Im August überraschte uns mein Mann mit der oben erwähnten „Shanghailiste“ und dass dieser Posten noch sehr viel vielversprechender für ihn und seine Karriere sei. Ich reagierte deutlich verstörter als bei der Erwähnung von Kuala Lumpur.
Komplett verwirrt fing ich erneut an, im Internet zu recherchieren, und das Erste, was ich fand, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich stieß auf ein Bild einer Familie an der Chinesischen Mauer, die einen Mundschutz trug, was zu diesem Zeitpunkt noch nichts mit Corona, sondern eher mit der schlechten Luft zu tun hatte. Die Mutter erzählte von ihren Schwierigkeiten in der fremden Kultur, Problemen mit der Sprache und dem fehlenden Zugang zu WhatsApp, Instagram, Facebook oder dergleichen. Weiter las ich von der Großen Firewall, den Nachteilen für Expats aufgrund der Überwachung, der Zensur des Internetverkehrs und davon, dass Shanghai eher ein „China für Fortgeschrittene“ sei. Laut ihrer Meinung sollte man besser zuerst beispielsweise in Singapur „üben“.
„Na toll!“, dachte ich mir. Ich war den Tränen nahe, drohte meinem Mann mit temporärer Trennung und gab ihm zu verstehen, dass ich „nur über meine Leiche“ nach Shanghai gehen würde. Der Arme war verzweifelt und bat Freunde und Familie um Rat.
Pragmatisch, wie ich aber auch sein kann, beruhigte ich mich relativ schnell. Glücklicherweise kam mir bald eine Familie in den Sinn, die wir circa zwei Jahre zuvor auf einer Party in unserer Parallelstraße kennengelernt hatten. Als uns bei jenem Fest die Füße weh taten und wir leidend nach einer Sitzgelegenheit Ausschau hielten, landeten wir neben einem freundlichen Paar, das kurz zuvor einen längeren Auslandsaufenthalt in China verbracht hatte. Höflicherweise hatten wir nach ihren Erfahrungen gefragt. Wir hatten uns nicht alles behalten können, zumal sich unser damaliges Interesse am fernen Osten zugegebenermaßen in Grenzen hielt. Das Meiste davon war aber dennoch recht positiv in unserer Erinnerung haften geblieben.
Gleich machte ich mich also daran, den Kontakt zu dieser Familie wiederherzustellen, und siehe da, sie waren zu einem Treffen bereit, und das zu unserem Glück auch noch nur wenige Tage später.
Bei einem Abendessen in einem netten Thairestaurant gleich bei uns um die Ecke erzählten sie uns dann in schillernden Farben dasselbe noch einmal. Nur dieses Mal hörten wir sehr aufmerksam zu. Sie waren tatsächlich in Shanghai gewesen.
Während ihrer Erzählungen fiel uns das Strahlen in ihren Augen auf. Sie schwärmten von ihrem Viertel, wo sie gewohnt hatten, von den dort teilweise zwar qualitativ etwas mangelhaften, aber sehr großen Häusern mit schönen Gärten und der einem von zahlreichen prächtigen Bäumen und Pflanzen gesäumten Ferienresort ähnlichen Anlage.
Weiter ging es mit den sowohl lieben als auch hilfsbereiten Menschen und natürlich vor allem der riesigen Stadt, der man so gar nichts Kommunistisches anmerken würde. Die zahlreichen Kameras dort würden genauso wenig auffallen wie in London - zufälligerweise eine meiner Lieblingsstädte, weswegen man in diesem Zusammenhang eigentlich kein besseres Beispiel hätte finden können. Die Great Firewall könne man, so erzählten sie am Schluss, auch prima mit VPN (Virtual Private Network) umgehen.
Dieses Netzwerk war mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt, sollte aber in den folgenden zwei Jahren zu einem unserer wichtigsten Begleiter in China werden. Mit dessen Hilfe wird die Internetverbindung verschlüsselt und auf Inhalte außerhalb von China kann wie gewohnt zugegriffen werden. Wichtig hierzu ist im Vorfeld nur zu wissen, welches das beste VPN ist, was ich später verraten werde.
Nun zurück zu unseren „Shanghaiberatern“: Ja, und das Reisen, das wäre auch grandios. Man könne nicht nur kurz mal übers Wochenende nach Kambodscha reisen, auch in China selbst gäbe es interessante Orte zu entdecken.
Was mir immer von ihren Erzählungen im Gedächtnis haften blieb, war die Stadt Harbin im Norden Chinas, die später auch für uns zu einem unserer schönsten und abenteuerlichsten Reiseziele, insbesondere auch aufgrund von Corona werden sollte.
Nach jenem Abend war es um mich geschehen, und ich drängte meinen Mann im wahrsten Sinne des Wortes, sich auf die „Shanghailiste“ setzen zu lassen. „Ich will nach Shanghai!“, hörte ich mich auf unserem Nachhauseweg rufen, und er antwortete, dass er schon längst auf dieser Liste stünde.
„Okay“, dachte ich, „manchmal muss man wohl andere für sich die Wahl treffen lassen“, und ich ahnte damals noch nicht, dass dies die tatsächlich beste Entscheidung in unserem Leben sein würde.
Zwischendurch kamen bei uns Angsthasen dann doch immer mal wieder Zweifel und Bedenken in Bezug auf China auf. Und natürlich nur um auf Nummer Sicher zu gehen (so ganz trauten wir dem Frieden dann doch nicht), hatten wir uns insgeheim irgendwann für Kuala Lumpur umentschieden und gehofft, dass die Firma ihn nach Malaysia schicken würde. Unerträglich war die Zeit, in der wir nicht wussten, welcher Ort es denn nun letztendlich werden würde.
Während wir einmal am Gate auf unseren Boarding-Zeitpunkt am Frankfurter Flughafen warteten, rollte ein soeben gelandetes Flugzeug der Fluggesellschaft Air China an uns vorbei. Beide hatten wir das Flugzeug gleichzeitig erblickt und fragten uns, ob dies ein Zeichen gewesen sei.
Bei sämtlichen folgenden dienstlichen Telefonanrufen, die meine Töchter und ich mitbekamen, zuckten wir zusammen und hielten den Atem an, bis man meinem Mann sehr spät, nur rund sechs Wochen, bevor er seinen Dienst im Ausland antreten sollte, nun endlich auch von offizieller Seite mitteilte: „Alles Gute in Shanghai!“.
3.
Wie rasch ist Abschied genommen, wie lange dauert es bis zum Wiedersehen!
(Konfuzius)
Pünktlich am 1. Januar 2020, wir waren extra früh an Silvester zu Bett gegangen, saß mein Mann im Flieger. Wir hatten ihn natürlich alle recht betrübt zum Frankfurter Flughafen begleitet, und das Letzte, was wir von ihm sahen, war seine blaue Winterjacke von hinten, als er durch die Sicherheitskontrolle ging.
Nun stand ich da mit unseren drei weinenden Töchtern.
Ich riet ihnen, sich einfach vorzustellen, dass ihr Papa auf Dienstreise ging und alle sechs Wochen zu Besuch zurückkommen würde (was noch nicht einmal gelogen war, denn so hatten wir es bis zu unserer eigenen Ausreise zumindest geplant).
Natürlich wären wir alle lieber zu Jahresanfang mit ihm nach Shanghai gegangen. Im Nachhinein hätten wir das auch getan, wenn wir auch nur im Entferntesten geahnt hätten, was auf uns zukommen würde. Wir mochten die Kinder aber nicht aus ihrem Schuljahr reißen und planten, im Juli nachzukommen. Auch hatten wir vor, unser Haus für die vorgesehene Expatzeit von drei Jahren zu vermieten, was sorgfältige Vorbereitung erforderte. Ein sogenannter Look-and-See-Trip für April war ebenfalls geplant, um Stadt und Leute kennenzulernen und uns einen Überblick über in Frage kommende Compounds und Häuser zu verschaffen.
Niemand konnte ahnen, dass alles anders kommen würde - Corona eroberte die Welt und warf all unsere Pläne über den Haufen. Aber nur fast!
Ein guter Anfang ist die Hälfte des Erfolges
(Konfuzius)
Die Killer-App
Was tut man mit seinen drei in Tränen aufgelösten Mädchen, wenn Papa mal kurz auf die andere Seite der Welt jettet? Wir verbrachten noch einige Zeit im Frankfurter Flughafen, aßen eine Kleinigkeit und legten uns schließlich eine umfangreiche, farbenfrohe Koffersammlung zu, um gut vorbereitet auf unseren langen Flug nach Shanghai zu sein. Kurz zuvor hatten wir nämlich während eines Familienurlaubs erlebt, wie es sich anfühlt, vier Tage ohne Koffer auszukommen – eine Erfahrung, die wir in Zukunft tunlichst vermeiden wollten. Dazu besorgten wir natürlich kabinentaugliche Teile, die uns später bei der Ausreise nicht viel nutzten. Unsere Umzugsmänner hatten so schnell gearbeitet, dass die Koffer allesamt im Container unseres Umzugsunternehmens landeten.
Zu Hause angekommen, verfolgten wir gedanklich den Flug meines Mannes. Eigentlich war es nichts Besonderes, wenn er auf Dienstreise ging. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er unterwegs war. Der Unterschied diesmal war die Gewissheit, dass auch wir bald denselben Weg nehmen würden. Wir konnten es jedenfalls kaum erwarten, von ihm zu lesen und zu hören, wie es in unserer zukünftigen neuen Heimat wohl sein würde und wie wir uns trotz der gefürchteten Firewall verständigen könnten.
Alleine unsere große Tochter Hedi hatte es geschafft, WeChat, quasi die chinesische Variante von WhatsApp nur mit sehr viel mehr Funktionen, herunterzuladen. Und hier kommt meine erste und wichtigste Warnung: Ohne WeChat ist man in China aufgeschmissen. Am besten lädt man es sich noch vor der Ausreise herunter. Die Kombination von Handy und WeChat ist in China mehr als unverzichtbar. Hätte mir das jemand vorher gesagt, ich hätte diesem nicht den Vogel gezeigt, sondern Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mir nicht nur diese App zu installieren (was ich bereits getan hatte), sondern auch alles dafür gegeben, dass sie auch einwandfrei funktioniert. Mein Konto wurde nämlich genau einen Tag nach der anfänglich erfolgreichen Installation auf meinem Handy aufgrund angeblicher „illegaler Handlungen“ stillgelegt, obwohl ich es gar nicht genutzt hatte. Ich denke, die Chinesen mochten meine deutsche Nummer einfach nicht. Alle Versuche, wieder Zugriff auf die App zu bekommen, waren erfolglos.
Ich gab auf und beruhigte mich damit, dass ich, solange ich keine chinesische Nummer besaß, einfach wichtige Nachrichten auf dem Handy meiner Tochter Hedi lesen würde. Im Nachhinein hätte ich mir wirklich die Mühe machen sollen, sogar noch in Deutschland eine neue Nummer zu besorgen und es mit dieser zu versuchen. Denn wenn eine Person mit einer bestimmten Nummer quasi zur „persona non grata“ in der WeChat-Welt wird, ist alles vorbei.
Die ursprüngliche Planung sah vor, dass mein Mann mir während einer seiner vorgesehenen Dienstreisen aus China eine chinesische SIM-Karte nach Deutschland mitbringen würde. Mit chinesischen Telefonnummern gibt es in der Regel bei WeChat keine Probleme. Bedauerlicherweise blieb es jedoch bei einem einzigen Besuch, aber auch das konnte man im Voraus nicht wissen.
Zurück zu unserem Abschied: Als wir zu Hause ungefähr kalkuliert hatten, dass mein Mann in seinem neuen Domizil, einem sogenannten Serviced Apartment in der French Concession, einem bei Ausländern sehr beliebten Viertel mit von Platanen gesäumten Straßen, angekommen war, erwarteten wir gespannt irgendeine Art von Nachricht von ihm.
Unsere Freude kannte keine Grenzen, als auf Hedis WeChat plötzlich ein Foto nach dem anderen auftauchte. Zuerst erblickten wir seine uns wohlbekannte blaue Winterjacke vom Frankfurter Flughafen, die auf einer Stuhllehne hing, und riefen alle laut im Chor: „Papa lebt!“.
Er berichtete uns, dass er gut auf dem Flughafen in Pudong gelandet und von seiner Assistentin und seinem Fahrer abgeholt worden war.
WhatsApp funktionierte in den nachfolgenden Tagen gelegentlich, ebenso der Facebook Messenger, meist jedoch nur dann, wenn mein Mann Zugang zu einem stabilen WLAN in China hatte. Ich tröstete mich mit den gut gemeinten Worten einer Bekannten, die häufig nach Shanghai reiste. Sie versicherte mir, dass die Kommunikation viel reibungsloser verlaufen würde, sobald man ein eigenes technisch gut ausgestattetes Zuhause bezogen hätte. Außerdem betonte sie, dass mit einem VPN sowieso alles möglich sei. Ausländern sei dies inoffiziell sogar erlaubt.
Mein Mann hielt uns ständig auf dem Laufenden. Gleich zu Beginn gab es eine Veranstaltung in der etwa 80 Kilometer entfernten Nachbarstadt Suzhou, bei der er zusammen mit seinem Chef und den neuen Kollegen vor Publikum tanzen und eine Antrittsrede halten sollte. Auf den wohlmeinenden Rat seiner bereits in Shanghai tätigen Kollegen hin hatte er sich vorher dafür bereits in Deutschland entsprechend eingekleidet und sich einen Smoking besorgt, den er laut seinen Mitarbeitern sowieso für zahlreiche weitere gesellschaftliche Ereignisse wie den alljährlich in Shanghai stattfindenden Deutschen Ball unbedingt benötigen würde. So hatte er sich vor seiner Abreise einen eleganten Anzug mit Fliege zugelegt, den er letztendlich doch nicht trug.
Stattdessen zeigten uns die zugesandten Fotos Männer in silberfarbenen Anzügen, die große Fliegenbrillen trugen und Mikrofone in den Händen hielten. In einem Video sangen sie fröhlich und schienen bester Laune zu sein. Die gute Stimmung konnten wir geradezu spüren. Seine chinesischen Kollegen wirkten alle recht entspannt und humorvoll. Das beruhigte uns zunächst. Es schien unserem Papa gut zu gehen.
Habe acht auf deinen Namen, denn er wird dir länger bleiben als ein großer Goldschatz
(Chinesisches Sprichwort)
Clare & Co.
Unter den Gästen befand sich auch die Assistentin meines Mannes, die den, wie ich finde, hübschen Namen Clare trug, was mich sofort an eine „Claire“ aus einer berühmten amerikanischen Serie erinnerte. Zwar schrieb sich die chinesische Clare etwas anders, aber phonetisch macht das keinen Unterschied.
Chinesen, die öfters mit dem Ausland zu tun haben, geben sich gerne englische Namen, wurde mir erklärt. Einerseits klingt das natürlich viel cooler, andererseits sind Namen aus dem Westen für uns „laowais“, wie die Chinesen uns Westler nennen - was übersetzt „Langnasen“ bedeutet - viel leichter zu merken und natürlich auch auszusprechen.
Im Laufe der Zeit begegneten mir zum Beispiel eine Apple (meine erste Chinesischlehrerin), eine Summer (die spätere Nachfolgerin von Clare), eine Jenny (meine zweite Nageldesignerin) und, wenn es um männliche Personen ging, ein David (unser erster Fahrer).
Der Nachfolger von David schien nicht allzu viel Gefallen an westlichen Namen zu finden und teilte uns gleich beim ersten Kennenlernen mit, dass er schlicht als Mr. Wang angesprochen werden wollte. „Wang“ ist einer der gebräuchlichsten Familiennamen in China und bedeutet wörtlich „König“. Kein Wunder also, dass er mit seinem Namen trotz der Häufigkeit recht zufrieden zu sein schien.
Was ich zu dieser Zeit noch nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass ich selbst mit meinen beiden typisch deutschen Vornamen (der zweite existiert eigentlich nur auf dem Papier) und meinem viel zu langen Doppelnamen als Nachname (Augen auf bei der Wahl des Ehenamens!) etliche Probleme haben würde. Doch leider konnte ich mir im Gegensatz zu den Chinesen nicht ganz so einfach einen anderen Namen aussuchen.
Wenn ein Drache steigen will,
muss er gegen den Wind fliegen
(Chinesisches Sprichwort)
Corona
Leider blieb nicht lange alles so positiv, wie es bei meinem Mann angefangen hatte. China hatte die mysteriöse Lungenkrankheit eigentlich schon am 31. Dezember 2019 gemeldet, von der wir in unserer Abschiedstrauer am Flughafen tatsächlich nichts mitbekommen hatten oder womöglich auch nichts mitbekommen wollten.
Am 11. Januar 2020 wurde von dem ersten Corona-Toten in China berichtet, und wir überlegten kurz, was das für uns bedeuten könnte. Doch wir schoben diese Gedanken schnell beiseite und freuten uns zunächst über den Besuch meines Mannes, der Ende Januar nach Deutschland kommen sollte. Er hatte natürlich mittlerweile von dem Vorfall erfahren und erzählte, dass er während des Fluges nach Deutschland brav eine FFP3-Maske getragen hatte. Dennoch hatte er bei seinem Abflug aus Shanghai noch keine auffälligen Veränderungen bemerkt. In China sei man solche Epidemien (man erinnere sich an die Vogelgrippe und SARS) gewohnt, hatte ihn sein Fahrer beruhigt.
Am 29. Januar 2020 sprach Deutschlands damaliger Gesundheitsminister bezüglich Corona von „gelassener Wachsamkeit“, und damit war das Thema vorerst für uns erledigt.
Doch schon wenige Tage nach der Ankunft meines Mannes in Deutschland mehrten sich die Fälle in China. Seit dem 23. Januar 2020 stand Wuhan unter Quarantäne, so dass wir gebannt die Berichte im Fernsehen verfolgten und uns immer größere Sorgen machten.