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Wie ihre gesamte Generation sind Kevin und Arthur geplagt von den Sorgen um die Zukunft des Planeten. Als Studenten der Agrarwissenschaften lernen sie sich bei einer Vorlesung über Würmer kennen, werden bald unzertrennliche Freunde und schwören sich, ihren Beitrag zu einem Leben im Einklang mit der Natur zu leisten – mithilfe der Würmer und zum Wohle derselben. Kevin, Sohn von Landarbeitern, gründet ein Start-up-Unternehmen für Wurmkompostierung und erfährt rasanten Erfolg. Arthur, Pariser Stadtkind, versucht, in der Normandie den von Pestiziden ruinierten Acker seines Großvaters zu regenerieren. Beide Freunde sind überzeugt von ihren Projekten und schrecken nicht vor radikalen Vorgehensweisen zurück, doch die Herausforderungen der Realität stellen ihre Ideale auf eine harte Probe. Mit feinem Humor und scharfer Beobachtungsgabe macht Gaspard Koenig die Paradoxien unserer heutigen Zeit erfahrbar und spannt den Bogen zwischen anarchischen Gemüsebauern und weltfremden Ministern, zwischen Hightech und Permakultur, Resignation und Gewaltbereitschaft im Zeichen der ökologischen Katastrophe. Ein Roman über die ehrliche Suche nach Lösungen in einer durch Klassen, Bürokratien und Bequemlichkeiten erstarrten Welt.
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
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GASPARD KŒNIG
Aus dem Französischen von Tobias Roth
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
»Regenwurm ist zunächst kein besonders netter Name, das ist eher eine Kränkung. Besser ist es, vom Lumbricus zu sprechen, um ihm ein wenig wissenschaftliche Würde zurückzugeben. Familie: Lumbricidae. Art: Lumbricus terrestris. Diese Würmer stellen die primäre tierische Biomasse der Erde dar. Anders gesagt, wenn man sie alle auf eine Waage legen würde, dann wären sie schwerer, und zwar bei weitem schwerer als alle Homo sapiens, Elefanten und Ameisen zusammen. Um einen Eindruck der Größenordnung zu geben: Auf einen Hektar kommen zwischen einer und drei Tonnen von ihnen. Jedenfalls wenn man von Böden ausgeht, auf die der Mensch noch nicht seine dreckigen Pfoten gesetzt hat.«
Dieses kurze Video von Professor Marcel Combe, das auf Youtube kursierte, hatte Arthur Lust gemacht, seinen Vortrag zu besuchen. Als er aber den gewaltigen Hörsaal betrat, der so gut wie leer war und sich noch ganz neu anfühlte, und sich zwischen mit Schichtholz verkleideten Wänden wiederfand, die einen »natürlichen« Eindruck erwecken sollten, aber die Glas- und Stahlskelette der Gebäude rundherum nur noch mehr unterstrichen, zudem zwischen Studenten, die in den Sitzreihen verstreut waren und sich gegenseitig keines Blickes würdigten, da verließ Arthur der Mut. So hatte er sich sein Agrarwissenschaftsstudium nicht vorgestellt.
Arthur fragte sich, welche Widersinnigkeiten dazu geführt hatten, den Sitz der AgroParisTech in die Betonwüste des Plateaus von Saclay zu verlegen. Der vorhergehende Jahrgang hatte seine ersten beiden Semester noch auf dem Château de Grignon verbringen dürfen, umgeben von dreihundert Hektar Feldern und Wäldern. Generationen von Studenten hatten hier gelernt, Schafe zu melken und im Unterholz zu vögeln. Stattdessen musste Arthur zwanzigmal am Tag seine Keycard gegen eine Schleuse halten und sich in einem Labyrinth anonymer Gänge zurechtfinden, die sich nur durch die Nummern an den Türen unterschieden. Vor sechs Monaten war er an der Hochschule aufgenommen worden, noch nie in seinem Leben hatte er so selten die Natur gesehen. Draußen zwitscherten nur die Bulldozer, die den Boden aufwühlten. Die Wohnheimzimmer sahen genauso aus wie die Seminarräume und die wiederum glichen Umkleidekabinen im Fitnessstudio. Auf diesem Campus, der alles Nötige versammelte, sparte man gewiss viel Zeit, aber Zeit wofür? Um Pornos zu glotzen, um wieder und wieder an noch besseren chemischen Formeln zu arbeiten? Wer hatte schon Lust, etwas in einer Cafeteria trinken zu gehen, die zweimal am Tag geputzt wurde, oder ein Liedchen in einem Fachschaftsbüro zu singen, das wie ein Goldfischglas auf einem Grünstreifen lag?
Vom ersten Tag an hatte sich Arthur wie im Exil gefühlt. Das Plateau von Saclay, einst einer der fruchtbarsten Böden von ganz Frankreich, war in eine funktionale Wüste verwandelt worden, ein endloses Gewerbegebiet, wo auf den Schildern statt Firmennamen »École polytechnique« oder »Télécom ParisTech« oder »École normale supérieure« stand. Angeblich wurden hier die fähigsten Köpfe Frankreichs versammelt, Studenten wie Wissenschaftler. Aber was wird aus einem fähigen Kopf, der in einem unerbittlich geometrischen Raum gefangen ist, vom fahlen Licht der Neonröhren geblendet wird und sich in einem Wald aus Kränen verliert? Eine atrophische Supermaschine, allzeit bereit, sich mit anderen Supermaschinen zu paaren, um eine Welt aus Supermaschinen zu gebären. War das die Aufgabe, die man den zukünftigen Agraringenieuren der AgroParisTech nun gestellt hatte? Die wichtigsten Vokabeln des landwirtschaftlichen Nachhaltigkeitssprechs zu erlernen, um dann guten Gewissens die Bauernhöfe Frankreichs in solarpaneelgedeckte Fleischfabriken zu verwandeln?
Das Perverseste an dieser Anlage war, dass hier und da ein Tupfer Ländlichkeit eingebracht worden war, wie ein Bedauern. Nachdem er die schier endlose Treppe von der Haltestelle des RER B heraufgekommen war, überraschten den keuchenden Studenten ein kleines Wäldchen sowie eine Fläche voll mit hohem Schilf, dann erst gepflasterte Wege und kurzgeschnittener Rasen. Auf dem Campus selbst bewahrte ein sorgsam eingegrenzter Teich einige Quadratmeter ungezähmter Natur. Rings um einen Miniaturstrand aus Kies hatten sich einige Büschel struppigen Grases gehalten, Binsen streckten ihre gelbbräunlichen Blüten von sich, einige Wasserhahnenfüße trieben auf dem Wasser wie riesenhafte Margeriten. Ein verteufelter Tümpel für den Spaziergänger des Anthropozäns.
Jedenfalls hatte sich Arthur geschworen, dass dieses Exil nur vorübergehend sein würde. Sobald er das Diplom in der Tasche hatte, das die Gesellschaft von ihm verlangte, wäre er weg. Wenn man ihn fragte, welchen Tätigkeitsbereich er für sich nach Abschluss des Studiums ins Auge fasste, antwortete er: »Meinen Garten bestellen.« Das war vage, aber ehrlich.
Arthur stand noch immer vor dem Eingang des Hörsaals und zögerte. Zweifellos hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, wenn er nicht diesen einen Jungen mit ordentlich gekämmten blonden Haaren und markanten Wangenknochen gesehen hätte. Alles an ihm strahlte Gesundheit und Seelenfrieden aus: sein graues T-Shirt, das einen schmalen und muskulösen Körper erahnen ließ, der noch geschlossene Computer auf dem Tisch vor ihm, seine gelassene Ausstrahlung, mit der er wartete, ohne auf dem Sitz hin und her zu rutschen oder auf dem Handy herumzuspielen. Arthur fand ihn bemerkenswert, klar von der Menge der anderen unterschieden, die fiebrig mit sich selbst beschäftigt waren. Er ging bis zu ihm nach vorne und klappte den Sitz neben ihm runter. Der blonde Junge schob seinen Rechner beiseite, um ihm Platz zu machen, und streckte Arthur umstandslos die Hand entgegen, als wären sie sich am Stand einer Landwirtschaftsmesse begegnet. So viel Spontaneität war ungewöhnlich, selbst unter Studenten. Vor allem unter Studenten.
»Hallo. Kevin. Kevin ohne Akzent auf dem e.«
Lustig, dachte sich Arthur, er sieht gar nicht aus wie ein Kevin, schon gar nicht wie ein Kevin ohne Akzent auf dem e.
Sofort machte er sich wegen dieses dummen Gedankens Vorwürfe und stellte sich seinerseits vor. Kevin lächelte ihn an, ohne etwas zu sagen. Sie klappten beide ihre Rechner auf. Der Vortrag fing bald an. Titel: Fortschritte und Herausforderungen der Lumbrikologie. Lumbrikologie, die Wissenschaft von den Regenwürmern. Mit anderen Worten: Da dieses Referat in keinem Studienplan eine Pflichtveranstaltung war, war der Hörsaal nicht besonders voll.
»Ich hätte vielleicht nicht kommen sollen«, murmelte Arthur, der noch Zweifel hatte. »Ich muss morgen noch was für ein Seminar abgeben.«
»Sag das nicht«, fuhr Kevin dazwischen. »Regenwürmer sind ziemlich cool.«
»Warum das? Weil man sie in kleine Stücke schneiden kann?«
»Nein. Mit solchem Blödsinn bringt man sie um.«
»Warum sind sie dann cool?«
»Sie sind zum Beispiel Hermaphroditen. Kommt bei Tieren nicht oft vor. Das hat mich fasziniert, als ich noch ein Kind war. Männlein und Weiblein gleichzeitig.«
»So gesehen wären ja Schnecken auch …«, sagte Arthur und stand auf.
Zu spät. Marcel Combe, »international anerkannter Experte«, so der Aushang, der den Vortrag ankündigte, trat auf. Arthur setzte sich wieder hin. Warum auch nicht. Der Referent machte ihn neugierig. Er hatte einen wachsbleichen Laboranten erwartet. Da stand aber ein alter Löwe von über achtzig Jahren, mit lockiger Mähne, glasklarem Blick, Boxervisage, breiten Schultern. Er war sehr gut gekleidet. Sein dunkler Anzug ließ ihn wichtig erscheinen. Seine gepunktete Krawatte wurde von einer silbernen Klammer gehalten. Auch die Regenwürmer hatten ihren Jean Gabin.
Professor Combe genoss die Wirkung seines Auftritts. Er ließ einen gleichgültigen Blick durch die spärliche Zuhörerschaft schweifen und vertiefte sich dann in die brandneue Elektronik, die in das schwere Holz des Podiums eingelassen war.
»Donnerwetter! Ihr seid hier aber verwöhnt«, bemerkte er mit rauer Stimme.
Gemurmel im Saal. Studenten von Eliteuniversitäten lieben es insgeheim, wenn man sie an ihre Privilegien erinnert.
»Regenwürmer mussten getötet werden, um diesen Campus zu bauen!«
Stille. Arthur dachte an die Szene aus Sieben Jahre in Tibet, in der die buddhistischen Mönche in Lhasa mit eigenen Händen die Regenwürmer retten, bevor sie die Fundamente eines Gebäudes gießen. Westliche Architekten trafen solche Vorkehrungen nicht. Arthur spähte auf eine Reaktion Kevins, der aber saß aufrecht auf seinem Sitz, die Finger über der Tastatur, bereit für die erste Information, die es sich aufzuschreiben lohnte.
»Ich darf mich vorstellen. Meine Abschlüsse sind schnell aufgezählt, weiter als bis zum Schulabschluss bin ich nicht gekommen. Ich habe als Gärtner angefangen. Ich habe in der Praxis gelernt. Und dann war ich Direktor des INRA, das, wenn ich es richtig verstanden habe, bald hierher, in Ihre Nachbarschaft, umziehen wird. Da wird man ganz besonders hübsche Labore haben und noch weniger Zeit im Gelände, auf den Feldern verbringen können. Entsprechend wird man dann noch mehr Quatsch von sich geben.«
Ein kleiner Schluckauf. Das INRA, das Nationale Institut für agronomische Forschung, war schließlich keine Kleinigkeit. Arthur fragte sich, ob sie es mit einem Wissenschaftsgenie oder einem verrückten Verschwörungstheoretiker zu tun hatten. Kevin wartete immer noch vor seinem Bildschirm, der Strich des Cursors blinkte im jungfräulichen Dokument.
»Wie Sie wissen, sind es die Regenwürmer, die die Grundlage des Bodenlebens schaffen. Durch ihre ununterbrochene Verdauung, die sie jeden Tag das Äquivalent ihres eigenen Körpergewichts verzehren lässt, zersetzen sie organische Materie in biogene Stoffe, von denen sich wiederum die Pflanzen ernähren. Man schätzt, dass Regenwürmer pro Jahr und pro Hektar dreihundert Tonnen Material verschlingen und wieder ausscheiden. Ja, recht gehört, dreihundert Tonnen! Die Erde, über die Sie laufen, die Erde, die uns mit Nahrung versorgt, besteht in der Tat zu einem Großteil aus den so entstandenen organisch-anorganischen Verbindungen, mit anderen Worten aus Regenwurmscheiße. Genau deshalb vermutete der große Charles Darwin, dass unser Regenwurm das wichtigste Tier der Evolution ist. Ohne ihn bricht alles zusammen.«
»Ach ja, Darwin«, murmelte Arthur.
Erinnerungen an eine Darwin-Biografie kamen zurück.
»In seinem letzten Buch«, dozierte er seinem Nachbarn. »Er hat jahrelang die Regenwürmer in seinem Garten studiert.«
Kevin nickte.
»… zweihundertsiebzig Tonnen pro Hektar und Jahr!«, rief der Professor.
Arthur hatte den Faden verloren. Mechanisch schrieb er die Zahl auf.
»Darwin hatte es dabei belassen, das Gewicht ihrer Ausscheidungen zu berechnen, die an der Oberfläche abgelagert werden. Ich bin der Einzige, der ihr vollständiges Gewicht berechnet hat, und zwar auch unter der Erdoberfläche. Der Einzige seit Darwin!«
Arthur und Kevin sahen sich belustigt an.
»Entsprechend hoffe ich, dass Sie in Zukunft etwas freundlicher mit Regenwürmern umgehen werden.«
Marcel Combe hatte mit seinen tausendfach erprobten Zahlen, Referenzen und Formeln einen Rahmen abgesteckt, der vielleicht genügte, um ein Auditorium voller Laien zu ergötzen. Aber die Studenten im Hörsaal blieben skeptisch. Das Studium der Agrarwissenschaften bestand zum Großteil darin, den Ausführungen von Spezialisten zuzuhören, die die alles entscheidende Bedeutung ihres Fachgebiets erklärten, die sie heimsuchende Ungerechtigkeit beklagten und schlussendlich höhere Subventionen forderten. Marcel Combe spielte also seinen Trumpf aus: die Fortpflanzung der Regenwürmer.
»Die Lebensweise der Regenwürmer ist schlichtweg faszinierend. Anders als ihre Vorfahren aus dem Meer sind die Lumbricidae des Festlands Hermaphroditen. Jedes Individuum besitzt ein männliches Geschlechtsorgan, teils in Form eines winzigen Penis, und ein weibliches Geschlechtsorgan.«
Kevin musste über Arthurs plötzliche Aufmerksamkeit lächeln.
»Die Kopulation vollzieht sich gegengleich. Die Sache kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen – das setzt die Leistungen von uns Menschen ins Verhältnis!«
Nur zwei oder drei verhaltene Gluckser. Die Witze von Marcel Combe passten ganz offensichtlich nicht zu den Studenten der AgroParisTech. Arthur war besessen von dem Gedanken, auf keinen Fall so enden zu wollen. Als alter, schlüpfriger Wissenschaftler.
»Die beiden Partner tauschen ihre Spermien aus, ohne sich zu vereinigen. Sodann bildet jeder auf seiner weiblichen Seite Eizellen, und das Ganze wird in Kokons gepackt, die unterirdisch abgelegt werden. Die Befruchtung vollzieht sich also einzeln, wenn ich so sagen kann, und in jedem Fall außerhalb des Körpers der Eltern. Aus dem Embryo wird schließlich eine Larve, und die Würmchen durchbohren ihre Kokons, wie es Milliarden über Milliarden Würmchen seit mehr als zweihundert Millionen Jahren getan haben. Dann machen sie sich an ihre Aufgabe, den Erdboden für uns zu pflegen, wofür wir ihnen so wenig Anerkennung zollen.«
Die Pointe war ganz nett. Aber Marcel Combe konnte nicht anders, als alles zu verderben.
»Im Grunde also ist die Fortpflanzung von Regenwürmern Schwulensex, gefolgt von künstlicher Befruchtung unter Mädchen.«
Da wachte der Hörsaal auf.
»Was ist das denn für ein alter Arsch?«, rief Arthur, während sein Sitznachbar herzlich lachte.
Mehrere Studenten standen schockiert auf und gingen. Sie gaben Marcel Combe unverblümt zu verstehen, dass man mit solchen Themen keine Witze machte. Und schon gar nicht so.
»Aber ich möchte das doch gar nicht bewerten …«, verteidigte dieser sich ungelenk. Er war es gewohnt, vor einem Publikum aus etwas älteren Landwirten zu sprechen, die über seine »politisch unkorrekten« Witzeleien lachen konnten, wie er selbst mit Stolz behauptete.
Niemand hatte gedacht, dass ein Vortrag über Regenwürmer solche Wallungen provozieren würde. Da die Studenten der AgroParisTech wohlerzogen sind, begnügte sich die Mehrheit damit, zornige Tweets abzusetzen, #lumbrifascho. Einige verließen den Saal und drohten Marcel Combe mit schwerwiegenden Konsequenzen. Arthur schwankte, ob er ihnen folgen sollte. Aber ein Seitenblick auf seinen Nachbarn, der ruhig abwartete und ganz fröhlich schien, brachte ihn davon ab.
»Schockiert dich das nicht?«, fragte er Kevin.
»Gar nicht, ist doch lustig.«
Der Professor fuhr sich mit der Hand unentschlossen durch das weiße Haar. Mit ihren Flecken und Falten verrieten Hände diejenigen, die jünger aussahen, als sie eigentlich waren. Sie nahmen die Runzeln an, die man an anderer Stelle überspielte. Das Schauspiel des besiegten, von der Bühne vertriebenen Jean Gabin war für niemanden ein Sieg.
Marcel Combe seufzte.
»Ich werde mit Ihnen nun die Ergebnisse einer seit fünfzig Jahren laufenden Forschung teilen …«, hob er wieder an und klammerte sich an das, was ihm in dieser Welt, die er nicht mehr verstand, noch einen Platz sicherte. Fünfzig Jahre auf Feldern und in Laboratorien, in denen er Regenwürmer betastet, untersucht, vermessen und seziert hatte. Fünfzig Jahre, in denen er Forschungsaufsätze publiziert hatte, die von einer Handvoll obskurer Lumbrikologen gelesen wurden. Fünfzig Jahre, in denen er Spötteleien und verlegene Blicke abbekommen hatte, sobald er nach seinem Beruf gefragt wurde.
Seine mit kühler Strenge vorgetragene, mit Zahlen und Grafiken untermauerte Vorlesung begeisterte Arthur. Er entdeckte ein unterirdisches Universum. Die endlosen Räume, die die Philosophen verzückten, befanden sich nicht über unseren Köpfen, sondern unter unseren Füßen. Regenwürmer verwandeln den Boden in ein Labyrinth aus Wegen, Kreuzungen, Schächten und Verstecken. Jeder Quadratmeter Boden verbirgt ein Netz von fünf Metern Gängen, dichter noch als das einer Pyramide. Diese Gänge sind es, die die für das Leben notwendigen Nährstoffe aus den Eingeweiden der Erde nach oben holen und die, in entgegengesetzter Richtung, das Regenwasser abfließen lassen und es in Reserve halten. Ohne diese komplexe Architektur verdichten sich die Böden, das Wasser rauscht über sie hinweg und die Pflanzen verhungern.
Regenwürmer sind blinde Pharaonen. Sie nehmen sich die Lebenszeit, souveräne Herrscher ihrer selbst, Meister ihrer biologischen Uhr. Auf der Flucht vor dem Licht durchfurchen sie langsam ihr Königreich, ziehen sich zusammen und dehnen sich aus wie ein Akkordeon. Sie laufen nicht Gefahr zu ersticken, sie atmen durch ihre Haut. Um niemals Mangel zu leiden, lagern sie ihre eigenen Ausscheidungen, lassen sie fermentieren und fressen sie ein weiteres Mal. Sie halten Winterschlaf, kugeln sich in tiefer Lethargie zusammen. Im Sommer fliehen sie vor der Hitze und treffen sich in kühleren Zimmern wieder, umso tiefer im Untergrund, je höher die Bodentemperatur steigt. Sie palavern endlos miteinander und lassen die Dürre verstreichen. Wenn sie nach zwei oder drei Jahren sterben und vor Osiris erscheinen, auf dass er ihr Herz wiege, sind sie die Gewinner: Sie besitzen fünf Herzen.
Natürlich ist Regenwurm nicht gleich Regenwurm. Man verzeichnet mehr als fünftausend Arten auf allen Kontinenten. Professor Combe hatte sie bis ins Kleinste erforscht. Detailliert hatte er ihr paläobiologisches Schicksal in Abhängigkeit von der Plattentektonik nachgezeichnet. In allen vier Himmelsrichtungen hatte er ihnen nachgespürt. Er hatte unzählige Versuchsanordnungen erfunden. Kevin tippte ohne Unterlass. Was Arthur am tiefsten beeindruckte, war die wissenschaftliche Demut, die durch die Prahlereien des alten Haudegens schimmerte. Marcel Combe wurde nicht müde zu betonen, dass die Lumbrikologie noch in den Anfängen steckte, wie überhaupt die Erforschung des Bodenlebens. Zweifellos war die hingebungsvolle Arbeit an der Lumbrikologie, von der die größere Öffentlichkeit nichts wusste und auf die andere Wissenschaftler herabsahen, eine Schule der Bescheidenheit.
»Noch heute ist niemand in der Lage, die Funktionsweise eines Erdklumpens zu beschreiben«, erklärte der Professor. »Unter dem Mikroskop zeigt sich eine ungeheuerliche Diversität. Kein Millimeter gleicht dem anderen. Da finden sich Bakterien, Hefen, tote Biomasse, anorganische Partikel, kurzum Millionen disparater Elemente, deren Mehrheit uns vollständig unbekannt ist. Aber der Erdklumpen funktioniert! Er atmet Sauerstoff ein und Kohlendioxid aus. Auf welche Weise? Durch welches biochemische Wunder? Niemand weiß es.«
In einer Zeit, in der noch der kleinste Nerd vorgab, die Welt neu zu erfinden, fand Arthur es beruhigend, in Marcel Combe einen echten Weisen zu erblicken: einen neugierigen Geist, der weiß, dass er nichts weiß.
Nach dem eineinhalbstündigen, eher technischen Vortrag war der Vorfall vom Beginn zwar vergessen, aber ebenso hatte die Aufmerksamkeit der Studenten der AgroParisTech spürbar nachgelassen. Arthur blickte sich um und bemerkte, dass auf den meisten Rechnern eine Facebook- oder Instagramseite offen war. Er selbst hatte angefangen, Mails zu schreiben.
Der Hörsaal wachte wieder auf, als Marcel Combe zum langen Finale seiner Rede ansetzte und mit der Emphase eines altmodischen Schauspielers die sich vollziehende ökologische Katastrophe beschrieb. Das tiefe Pflügen und die Ausbringung von Pestiziden haben die Regenwurmpopulation auf den meisten Kulturflächen dezimiert, bis auf einige Dutzend Kilo pro Hektar. Der Boden besteht also nicht mehr aus Erde, er wird zu einer festen und leblosen Trägersubstanz, eine gigantische Abstellfläche, auf der man Dünger ausstreut, um kommerzielle Produkte einzubringen, die wie Pflanzen aussehen und nach nichts schmecken. Daher auch Erdrutsche, Rückgang des Grundwassers und natürlich schwindelerregende Verarmung der Ökosysteme. Die technoscience, wie Marcel Combe es nannte, hatte der Wissenschaft den Rücken zugewandt; der Produktivismus der industriellen Landwirtschaft hatte die natürliche Fruchtbarkeit der Böden ruiniert; die Menschheit hatte es fertiggebracht, in einigen Jahrzehnten das feine Gleichgewicht zu zerstören, das sich in Jahrmillionen der Evolution eingestellt hat.
»Ohne Regenwürmer«, resümierte Marcel Combe, »keine Erde. Der Astrophysiker Hubert Reevers hat gewiss nicht aus Zufall erklärt, dass das Verschwinden der Regenwürmer mindestens so beunruhigend ist wie das Abschmelzen der Gletscher.«
Arthur fühlte sich niedergeschlagen. Das war also nichts, was ihm aus den Tiefen seiner Umweltangst helfen würde.
Allerdings, wenn man Marcel Combe glaubte, der nicht gern ein verzweifeltes Publikum zurückließ, könnte der Regenwurm unser wichtigster Verbündeter werden. Zunächst ist es möglich, ihn durch Inokulation wieder in Böden anzusiedeln, eine Methode, die vor gut hundert Jahren von einem gewissen Mr. Ashmore entdeckt wurde, einem Bauern in Neuseeland. Besser noch, man kann sie zur Beseitigung der Abfälle der Menschenheit einsetzen. Professor Combe hob zu einer Eloge der Wurmkompostierung an, die darin besteht, eine Kolonie Regenwürmer mit unseren organischen Abfällen zu ernähren, vom Karton bis zur Kartoffelschale: Nach einigen Monaten haben sie sich in feinen und geruchlosen Wurmkompost verwandelt, eine schwarze krümelige Masse, mit der man sowohl Topfpflanzen als auch landwirtschaftliche Flächen düngen kann.
»Für Privathaushalte gibt es bereits heute kleine und sehr elegante Küchenmöbel«, präzisierte Marcel Combe. »Man stapelt einige Schubläden übereinander, legt in die oberen Fächer Abfälle und bekommt unten Kompost in fester und flüssiger Form heraus.«
»Stell dir so ein Ding mal bei uns im Studentenwohnheim vor«, fantasierte Arthur.
»Auf alle Fälle wird irgendein Knallkopf dagegenkicken«, fügte Kevin hinzu. »Erklär das mal der Hausverwaltung. Tausende kleine rosa Würmer, die überall herumstreunen.«
Arthur lachte laut auf, was ihm strafend gerunzelte Augenbrauen von Marcel Combe einbrachte.
»Sie werden weniger lachen«, fuhr der Professor fort, »wenn sie die industriellen Potenziale der Wurmkompostierung begreifen, die ich Lumbripolytechnik nenne.«
Das war der Moment zum Träumen. Der Traum von Marcel Combe und seinen Regenwürmern, die die Menschheit retten.
»Man könnte regelrechte Fabriken errichten, in denen Milliarden von Würmern in gigantischen Behältern zu unserem gemeinsamen Wohl tätig sind. Kompostierung, Filtration, Sortierung, alles ist mit diesem Tier möglich. Die entsprechenden Versuche habe ich durchgeführt. Die Ergebnisse sind überzeugend. Als Investition würde ein Tausendstel, ein Millionstel jener Summen genügen, die heute in digitale Schwachsinnigkeiten gesteckt werden, um die Böden zu düngen, die städtischen Abfälle zu recyceln, Wasser zu klären, Abwässer von Zuchtbetrieben zu behandeln, Gülle zu beseitigen. Kurz gesagt, um unsere größten Probleme zu lösen. Eine Sache nur betrübt mich: dass ich das in meiner Lebenszeit nicht mehr sehen werde. Ich habe mich um die Würmer gekümmert, bevor sich die Würmer um euch kümmern werden.«
Arthur hörte etwas Gekicher. Marcel Combe hatte sich aufgerichtet und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, über die Studenten hinweg, die damit beschäftigt waren, sich an der Nase zu kratzen oder einen Post zu liken. Er war ganz alleine auf dem Podium. Er wusste, dass niemand ihm glaubte. Zu einfach, um wahr zu sein.
»Was ist der Mensch?«, rief Marcel Combe aus, den nun nichts mehr aufhalten konnte. »Homo, etymologisch betrachtet nichts anderes als Humus. Deshalb ist es der Humus, der den Menschen retten wird.«
Ein gelangweilter Applaus quittierte diesen Schlusssatz. Arthur klatschte energisch in die Hände. Kevin auch. Der freundliche Lärm, den sie machten, vermochte den Patriarchen der Regenwürmer vielleicht ein wenig zu trösten.
»Ich beantworte keine Fragen«, sagte Marcel Combe hochmütig und räumte seine Unterlagen zusammen.
*
Die beiden Jungs plauderten im Anschluss an den Vortrag noch miteinander. Der Enthusiasmus des einen bestärkte den des anderen. Wenn sie sich nicht begegnet wären, wäre der Vortrag wahrscheinlich in der Flut alltäglicher Lehrveranstaltungen untergegangen. So aber hatten sie den perfekten Vorwand gefunden, um Freundschaft zu schließen.
Sie widmeten also ihre langen Abende auf dem Plateau von Saclay der Vertiefung ihrer Kenntnisse, was Regenwürmer betraf. Sie abonnierten einige der wenigen Spezialblogs zum Thema und lasen die entsprechende Bibel aus der Feder von Marcel Combe. Sie durchstöberten die Fachliteratur und tauschten sich über ihre Funde aus. Arthur weitete seine Forschungen auf Geschichte und Literatur aus, was lange seine Lieblingsfächer gewesen waren. Er kam mit leeren Händen zurück. Nach Kleopatra, die die Wichtigkeit des Regenwurms für die Fruchtbarkeit des Niltals begriffen und ihm den Status eines Halbgottes zugewiesen hatte, hatten die Könige dieser Welt Adler, Löwen, Bienen oder Salamander vorgezogen. Schriftsteller schienen sich kaum für ihn zu interessieren. Selbst der Vers, mit dem Victor Hugo einem »Regenwurm, verliebt in einen Stern«, literarisches Leben verliehen hatte, war nicht gerade schmeichelhaft. Mit dem Regenwurm bezeichnete Hugo Ruy Blas, den obskuren Diener, während der Stern selbstverständlich die Königin von Spanien war. Es brauchte schon einen romantischen Schriftsteller, um der Quelle allen Lebens einen leblosen Himmelskörper vorzuziehen.
Arthur und Kevin teilten das seltene Gefühl, sich einen fast unbearbeiteten Forschungsgegenstand zu erschließen. So entstand zwischen ihnen schnell die Komplizenschaft der Entdecker. Weihevoll schworen sie sich, die Regenwürmer niemals aufzugeben. Ihnen, auf welche Art und Weise auch immer, ihre Karriere und ihr Leben zu widmen.
Die beiden machten es sich zur Gewohnheit, gemeinsam aus den tristen Zimmern des Studentenwohnheims für Agraringenieure zu fliehen und im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes ein Bier auf der Uniterrasse zu trinken. Sie gingen an den schmächtigen, für urban gardening reservierten Flächen vorbei und stützten die Ellenbogen auf die Brüstung. Von dort aus sah man ein Wäldchen und daneben ein altes Benediktinerkloster, das auf wundersame Weise die Verstädterung des Essonne überlebt hatte. Der Blick auf die dunkle Masse des Waldes war versperrt durch die Hochbahngleise des zukünftigen Grand Paris Express und hinterleuchtet vom Licht der Stadt. Diese Natur, der noch eine Gnadenfrist gesetzt war, lud sie zum Philosophieren ein. Sie würden nicht große Worte machen wie die Generationen vor ihnen. Sie sahen, wie die Welt aus den Fugen geriet, und versuchten, im bevorstehenden Zusammenbruch eine Rolle für sich zu finden.
Arthur predigte gegen das Übel des Überflusses, und das mit jener verfehlten Hoffnungslosigkeit eines Zwanzigjährigen, der sich einen Spaß daraus macht, an nichts mehr zu glauben, weil er noch an sich selbst glaubt. Er war Einzelkind und seit jeher an einsame Monologe gewöhnt, nun hatte er endlich sein Publikum gefunden. Mitten in der Nacht noch auf den Beinen, das Gesicht von unten, von den Lichtspots im Boden beleuchtet, geißelte er den Produktivismus, verfluchte er die endlose Vervielfältigung unserer Bedürfnisse und pries er die Mäßigkeit in jeder Hinsicht. Um die Welt von heute zu beschreiben, zitierte Arthur oft die Zahlen von Jean-Marc Jancovici, genannt Janco, jenem Ingenieur, der von einer sehr ernst gewordenen Jugend vergöttert wurde, die versuchte, das Ausmaß der von ihren Eltern hinterlassenen Katastrophe zu begreifen. Um sich die Welt von morgen vorzustellen, griff er auf Epiktet, Rousseau oder Élisée Reclus zurück. Besserwisserei gab es bei ihm nicht. Die Klassiker gehörten schlicht und ergreifend zu seiner vertrauten Umwelt; er zitierte sie, wie man von den Verlautbarungen eines besoffenen Kumpels erzählt, ohne sich ganz sicher zu sein, ob man das ernst nehmen kann.
Arthur hatte eine besondere Vorliebe für Henry David Thoreau, der für einige Jahre als Quasi-Eremit an den Ufern des Walden Pond gelebt hatte, im hintersten Winkel von Massachusetts. Das war einmal einer, der die Einfachheit des Lebens bis zur letzten Konsequenz getrieben hatte. Er verbrachte seine Zeit nicht damit, anzuhäufen, sondern damit, loszuwerden, er lebte in einem einzigen Zimmer mit drei Stühlen (»einer für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft, drei für die Gesellschaft«), er gab alle Aufputschmittel auf (darunter auch den Kaffee, der ihm das Morgenlicht verdarb) und wies sogar einen geschenkten Fußabtreter ab (wofür war er gut? Die Erde ist nicht dreckig). Indem er seinen kleinen Gemüsegarten bestellte, erfand er, ohne es zu wissen, die Technik der Direktsaat, ohne Pflug. War Thoreau ein Libertärer oder ein Anarchist, ein Dichter oder ein Philosoph? Das war Arthur ziemlich egal. Für ihn war Thoreau das Ideal eines freien Menschen.
Von seinem Vater, einem Anwalt, hatte Arthur die rhetorische Gewandtheit geerbt, den Geschmack für Fragen und Kunstpausen sowie einen gewissen Zynismus bezüglich der Politik, sodass er stets Abstand zu jedem Aktivismus hielt. Nach seinem Abitur am Lycée Henri IV. hatte er ein agrarwissenschaftliches Vorstudium aufgenommen, ein wenig aus Angeberei, um seine einzigartige Intellektuellenpersönlichkeit zu kultivieren. Man hatte ihm ein geisteswissenschaftliches Vorstudium und die École normale supérieure empfohlen, das entsprach ganz natürlich seiner Neigung für Autoren, die seit mehr als einem Jahrhundert tot sind, deren Ego niemanden mehr stört und deren Gedanken deshalb umso lebendiger sind. Aber Arthur konnte ausgetretene Pfade nicht ausstehen. Er hatte keine besonders hohe Meinung von seinen zukünftigen Schulkameraden, Philosophielehrlinge, die irgendwas über Entschleunigung und Wachstumsrücknahme faselten, aber dabei völlig unfähig waren, einen Lauch zu pflanzen. Er hatte Angst davor, dass seine intimsten Überzeugungen durch den Herdentrieb vorgeblicher Rebellen kompromittiert werden könnten. Vor allem aber konnte er sich nicht vorstellen, mit kritischem Denken sein Brot zu verdienen. Er wollte weder ein Exegeseprofi noch ein Befehlsfrenetiker werden. Wenn die Philosophie, die so lange die Welt interpretiert hatte, nunmehr die Aufgabe besaß, die Welt zu verändern, dann war es Zeit, die Ärmel hochzukrempeln.
Arthur war also in den naturwissenschaftlichen Zweig gewechselt, um Biologie und Geowissenschaften zu studieren. Den Studienplatz an der AgroParisTech hatte er ohne große Schwierigkeiten bekommen. Zumindest konnte er dort Herr seiner eigenen Ideen bleiben, ohne sie in einen Kreuzzug oder eine Karriere verwandeln zu müssen. Wie Thales, stolz auf die Erträge seiner Olivenbäume, oder wie Montaigne, hocherfreut über die ordentliche Pflanzung seiner Melonen, liebte er es, am Ende des Tages Erde unter den Fingernägeln zu haben. Auch wenn er davon überzeugt war, dass seine Anstrengungen schlussendlich vergeblich sein und ein Großteil der Arten im sechsten Massensterben verschwinden würden, so würde er doch seinen Teil leisten, an vorderster Front und nicht versteckt hinter Büchern und Kolloquien.
Kevin, so wortkarg wie Arthur redegewandt, lauschte den Tiraden seines Klassenkameraden mit der Neugier eines Kindes, das eine Fliege beobachtet, wie sie immer wieder gegen die Scheibe knallt. Er bewunderte seine Bildung, ohne genau zu wissen, wozu sie gut war. Er war immer einverstanden mit ihm, hatte aber auch gar keine Lust, nach Widerspruch zu suchen. Er konnte sich vorstellen, wie anstrengend eine so dauerhafte Entrüstung sein müsste, und gab seinem Freund das Wertvollste, was er besaß: seine robuste, zuverlässige, aufheiternde Präsenz. Er saugte Arthurs Worte auf wie ein guter Boden das Wasser.
Kevin war ebenso wenig vorherbestimmt, Agraringenieur zu werden, aber aus anderen Gründen. Seine Eltern waren einfache Landarbeiter, seine Mutter hatte einen Zeitvertrag in einer Käserei, wo sie tagein, tagaus fermentierte Schafsmilch abpackte, sein Vater war Traktorfahrer bei einer Genossenschaft und wurde je nach Saison und Bedarf bezahlt. Sie hatten in einem x-beliebigen Dorf im Limousin ein Haus aus Leichtbetonsteinen gemietet, und obwohl sie schon seit vielen Jahren dort lebten, fühlten sie sich auf der Durchreise, so wie sie sich in ihrem ganzen Leben auf der Durchreise fühlten. Ihre Vorfahren waren seit Generationen Tagelöhner und Landstreicher gewesen, von wirtschaftlichen Umschwüngen gebeutelt, immer bereit, die Löcher der Gesellschaft zu stopfen. In ihrem Gedächtnis war es fest verankert, nur ein Bündel zu besitzen, und sie wussten, dass sie es jederzeit schnüren konnten, wenn die Arbeit ausgehen sollte. Deshalb litten sie an keiner Unruhe. Sie waren ein Pärchen ohne Geschichte, ohne Bindungen, ohne Ehrgeiz, ohne Ressentiment. Nie stieß ihnen etwas Denkwürdiges zu und sie beklagten sich nicht darüber. Es schien, als hätte das Schicksal alle ihnen zustehenden Glückfälle in diesem einen antik schönen, sanftmütigen und arbeitsamen Kind versammelt. Sie hatten es aus der Distanz erzogen, ohne es zu sehr anzutasten, ängstlich, aus Ungeschicklichkeit dieses überdurchschnittliche Samenkorn zu verderben, das einfach nur alleine wachsen wollte.
Ohne es wirklich zu wollen, gelang Kevin so alles, was er anfing. Nach der Mittelschule ging er auf ein Gymnasium mit landwirtschaftlichem Schwerpunkt und folgte auf diese Weise der gewöhnlichen Laufbahn der meisten Kinder in diesem Teil des Landes. Weil er gut in der Schule war, schickte man ihn auf den technischen Zweig, wo er Biowissenschaften und -technologien lernte. Weil er gut in der Schule war, machte er in Limoges ein diplôme universitaire de technologie und nicht das übliche brevet de technicien supérieur, was ihm den Besuch einer weiterführenden Hochschule ermöglichte. Weil er gut war, meldete ihn einer seiner Professoren für die Aufnahmeprüfung der AgroParisTech an, dort waren fünfzehn Plätze pro Jahr für den »berufspraktischen Zweig« reserviert. Weil er gut war, wurde er aufgenommen. Und da war er nun, wider Erwarten, mit der zukünftigen Elite des Landes. Er legte nicht sonderlich viel Wert darauf, aber nutzte die Chancen dieses neuen Umfelds doch gern. Ein wenig nach dem Vorbild seiner Eltern vagabundierte Kevin herum, aber in einer Art und Weise, die die anderen für Ehrgeiz halten konnten.
Die einzige Enttäuschung für ihn war, nicht nach Paris zu ziehen, das er so gerne besser kennengelernt hätte; fast hätte er die Aufnahme an die Schule abgelehnt, als er erfuhr, dass sie sich nicht mehr in der rue Claude-Bernard befand, sondern auf das Plateau von Saclay umgezogen war. Da das Immatrikulationsverfahren aber schon in vollem Gange war und jeder ihn beglückwünschte, traute er sich nicht. Etwa die Hälfte der Ausbildung spielte sich sowieso im Gelände ab, in Unternehmen, in Laboratorien oder auf Bauernhöfen. Und er wollte auch nicht das Stipendium ablehnen, das man ihm zuerkannt hatte, in seinen Augen ein Vermögen.
Kevin war von Natur aus sparsam. Während Arthur Einfachheit und Sparsamkeit predigte, neonfarbene Camper trug und sich damit abmühte, annehmbare Kompromisse zu definieren, verspürte Kevin schlicht keine besonderen Bedürfnisse. Einige Paar Jeans, sein Rechner, die Kantine vom Studierendenwerk: Es mangelte ihm an nichts. Der Rest seines Taschengelds wanderte in abendliche Bierchen. Für manche war das studentisches Prekariat. Für ihn war es das schönste Leben.
Arthur sah in Kevin einen Weisen, der ohne die Hilfe von Büchern, ja sogar ohne sich groß Gedanken zu machen, instinktiv den Regeln der Tugend folgte. Er bewunderte ihn dafür mit einer leichten Bitterkeit. Wozu sollten diese ganzen innerlichen Wanderschaften, durchsetzt von Ängsten und Erkenntnissen, gut sein, wenn sich dieselben Ergebnisse auch einfach so, ohne sichtlichen Aufwand erzielen ließen?
Wenn sich ihre abendlichen Diskussionen auf der Terrasse in die Länge zogen, wurden Kevin und Arthur oft von der Sperrstunde um 23 Uhr überrascht. Das Wachpersonal machte eine schnelle Runde, um sicherzustellen, dass die Uni leer war, bevor sie die Türen verschlossen. Die ersten paar Male waren die zwei Freunde fügsam. Dann wurden sie mutiger, versteckten sich in einer Ecke und ließen sich einschließen. Die Nacht war klar und warm. Sie hatten noch ein paar Bier und tausend Gesprächsthemen übrig. Sie pinkelten nacheinander über die Brüstung. Gegen ein Uhr bahnten sie sich einen Weg durch die verwaisten Flure. Sie machten sich einen Spaß daraus, durch die Seminarräume zu streifen, sie ließen die Reagenzgläser köcheln oder sprangen über die deaktivierten Drehkreuze wie Schwarzfahrer in der Metro. Als sie nach einem Ausgang suchten, jagten ihnen die fest verschlossenen Glastüren kurz einen Schreck ein, bevor sie eine fanden, die sich von innen öffnen ließ.
Sobald sie das Gebäude verlassen hatten, mussten sie noch die Zäune am Rand des Campus überwinden. Sie spazierten zwischen frisch gepflanzten Sträuchern hindurch und fanden sich schließlich vor dem Teich wieder. Jetzt oder nie war der Moment, um das zu tun, wovon alle Studenten in diesen bereits hochsommerlich heißen Tagen träumten. Sie setzten sich auf den kleinen Strand, zogen die Schuhe aus und hielten die Füße ins Wasser. Arthur brabbelte etwas über Bachelard und die Poesie des Wassers, während Kevin schon halb wegdöste. Die Kühle des Wassers ließ sie milde ausnüchtern. Über ihnen am Himmel, der noch einigermaßen von der Lichtverschmutzung verschont blieb, ließen sich einige Sterne blicken. In der Nähe des im Bau befindlichen lab der Französischen Elektrizitätsgesellschaft konnte man sogar den Ruf einer Eule hören. Arthur wackelte mit den Zehen, ein meditatives Geplätscher.
»Na dann, los geht's«, sagte Kevin plötzlich und löste sich aus der Erstarrung.
Er streifte sein T-Shirt ab und zog sich dann ganz aus, ohne jede Scham, wie es in Sportumkleiden üblich ist. Arthur sah weg, etwas verlegen, aber tat es ihm gleich. Der Teich war gerade groß genug, dass sie zu zweit darin herumplantschen konnten.
»Der beste Ort der ganzen Schule«, sagte Arthur.
Sie standen fast bis zum Knie im Schlamm. Es war ein komisches Gefühl, so in Richtung eines bodenlosen Grundes gezogen zu werden, schwammig und organisch, eine lebendige Erde, die sie jeden Moment einsaugen und verdauen könnte. Die Uferböschung verströmte einen herben Geruch, wie Pflanzenschweiß. Libellen sausten im Tiefflug vorbei, ohne sich um die neuen Bewohner des Teiches zu kümmern. Arthur ließ Wasserlinsen zwischen seinen Fingern hindurchrinnen, grüne Goldstücke. Selbst eingepfercht auf so engem Raum hatte sich die Natur ihre Freiheit zurückgeholt.
Kevin wies ihn plötzlich auf das flackernde Licht einer Taschenlampe hin. Die beiden Jungs sprangen aus dem Wasser, unterdrückten ihr Lachen, zogen sich tropfnass, wie sie waren, wieder an und streckten sich auf dem Kies aus. Sie hörten Schritte, die sich näherten.
»Das ist der Typ vom Sicherheitsdienst«, flüsterte Kevin.
»Fast wie in The Great Escape.«
»Wir müssen los!«
Kevin sprang aus dem Wiesenstück heraus in Richtung des Fachschaftsbüros. Arthur folgte ihm. Sie schafften es, sich hinter der Mauer zu verstecken, kurz bevor der Lichtkegel sie erwischt hätte. Sie warteten ab, bis sich der Wachmann Richtung Gebäude D entfernt hatte, und liefen bis zum Gartenzaun, der gute zwei Meter hoch war.
»Ich mach dir eine Räuberleiter«, sagte Kevin und bot Arthur seine Handflächen als Stufe an.
»Und du?«
»Schauen wir dann.«
Arthur schwang sich ungeschickt hoch und umklammerte die Gitterstäbe des Zauns. Als er versuchte, sich aufzurichten und mit den Armen nach oben zu ziehen, rutschten seine nassen Finger ab. Er gab auf und fiel mit einem lauten Schrei nach hinten. Kevin bekam ihn zu fassen und fing seinen Sturz ab. Sie lagen beide auf dem Boden.
»Gehts?«, fragte Kevin und stand auf.
Er reichte Arthur eine Hand und half ihm auf die Beine.
»Es geht, aber sie haben uns erwischt.«
Der Wachmann richtete seine Taschenlampe genau auf sie. In diesem grellen Licht sah Kevin mit seiner blassen, schimmernden Haut aus wie eine Wassernymphe. Der Wachmann lief in ihre Richtung und schrie etwas. Es folgte ein langes Gerede und am Ende ließen sich Kevin und Arthur den Hauptausgang öffnen; sie versprachen hoch und heilig, das nicht wieder zu tun, aber hielten ihr Versprechen selbstverständlich nicht lang. Immer häufiger machten sie solche nächtlichen Ausflüge. Sie pflanzten Hanfstecklinge in die Beete der Schule. Sie stießen sogar bis nach Paris vor, um die Reifen von SUVs aufzustechen, eine sehr beliebte Aktivität, die unter ihren Kommilitonen regelrechte Wettstreite auslöste. Nach und nach wurden Kevin und Arthur unzertrennlich. Jeder an der Schule verband den einen mit dem anderen. Ob sie auf eine Party oder zu einer Prüfung gingen, sie kamen immer zu zweit.
Dieses Gespann wurde beständig von weiblichen Gestalten umkreist, die unweigerlich und immerzu von Kevin angezogen wurden. Arthur, ein armes verirrtes Männchen der Generation Z, schämte sich für sein Begehren und verlegte sich ohne viel Erfolg auf byzantinische Verführungsmethoden, um anzubandeln, ohne lästig zu werden, um zu beharren, ohne zu bedrängen, um zu berühren, ohne zu überstürzen, um zu kommen, ohne zu herrschen. Kevin hingegen musste sich nur an einen Tisch in der Cafeteria setzen und war sofort von Studentinnen umzingelt. Seine liebenswürdige Trägheit, verstärkt durch unheilbaren Mangel an Fantasie, ging als vornehm durch. Neben ihm schienen die Studentinnen plötzlich die strengen Präventionsmaßnahmen von MeToo zu vergessen und wurden wieder zu sorglosen, beschwingten, piepsigen Mädchen. Während in Limoges die meisten Jugendfreunde von Kevin in festen Beziehungen waren, zum Teil schon Kinder hatten, sah hier niemand einen Grund, sich um die Zukunft zu sorgen, sondern verlebte eine ungezwungene Jugend. Kevin brauchte also nur zu wählen, ein altmodisches Privileg, das er mit einem gewissen Taktgefühl ausübte, das allerdings Arthur um seine nächtlichen Diskussionen und Abenteuer brachte. Arthur war ein wenig eifersüchtig, ohne genau zu wissen auf wen. Auf Kevin und seine lockeren Liebschaften oder auf die Mädchen, die sein Freund ihm verzog?
*
Arthur bekam schnell Gelegenheit, Kevin in Aktion zu sehen. Über Freunde von Freunden hatten sie die Einladung zu einem jener Abende bekommen, bei denen, von Besuch zu Besuch, die glücklichen Auserwählten der Schulen von Paris zusammenfinden. Es brauchte keine Facebookposts und keine Telegramgruppen: Mundpropaganda ist und bleibt die beste Entwicklung der Evolution, um die Endogamie der Eliten sicherzustellen.
»Bei Anne, rue Gay-Lussac« – Arthur kannte sowas schon zur Genüge. Die Wohnung der Eltern provisorisch in ein Hippiecamp verwandelt, wilde Playlists, aber aus Rücksicht auf die Nachbarn nicht zu laut, Joints, die rumgehen, aber bitte die Aschenbecher benutzen. Arthur sträubte sich bei der Vorstellung, den langen und ungewissen Weg mit RER und Nachtbussen durch das Essonne auf sich zu nehmen. Kevin hingegen war ganz begeistert, vor allem, da er auf GoogleMaps gesehen hatte, dass die rue Gay-Lussac ganz in der Nähe des ehemaligen Gebäudes der AgroParisTech lag. Er wollte auch etwas von der Montagne Sainte-Geneviève abbekommen. Es war die Gelegenheit, von der er geträumt hatte. Arthur würde den Fremdenführer spielen.
Anne selbst machte ihnen die Tür auf. Sie war eine Brünette mit einem drallen Körper und einem runden, hübschen Gesicht, das sie krampfhaft zu entstellen versuchte. Sie hatte darin so viele Piercings untergebracht wie nur möglich und trug über ihren lockigen Haaren ein Bandana mit dem anarchistischen A darauf. Sie begrüßte die beiden mit einem blasierten Grinsen. In nur drei Sätzen begriff Arthur, mit wem er es hier zu tun hatte. Ein nettes Mädchen, das im zweiten Jahr Politikwissenschaften an der Sciences Po studierte, zu allem bereit war, um in schlechte Gesellschaft zu geraten, und das einen Antikapitalismus vor sich hertrug, der direkt proportional zur Deckenhöhe ihrer Wohnung war.
»Das ist was für Kevin«, sagte er sich.
Sie tranken, taten so, als würden sie tanzen, und ließen sich auf eine gigantische Samtsofalandschaft fallen, die wie dafür gemacht war, ziel- und endlose Gespräche zu führen. In diesem studentischen, aber alles andere als sorglosen Milieu, wo jeder bereits auf die Karrierepläne der anderen lauerte, hatten die werdenden Agraringenieure einen Sonderstatus. Sie hatten die gleichen erbarmungslosen Auswahlverfahren durchlaufen wie die anderen Partygäste, und niemand zweifelte an ihren intellektuellen Fähigkeiten. Aber sie schienen dazu verdammt zu sein, sich mit der Zusammensetzung von Milchpulver und dem Maisertrag zu beschäftigen. Während die anderen sich eine Art von umfassender Inkompetenz erwarben, die es ihnen ermöglichen sollte, jedweden Posten selbstsicher auszufüllen, hatten die Agros ihre Hände schon im Schlamm stecken. Sie waren die Bauern unter den Ingenieuren, der dritte Stand der Eliteschüler. Das gab ihnen eine Art mehrdeutiger Aura.
Anne setzte sich zwischen die beiden Jungs.
»Also, was macht ihr jetzt genau in euren Agrarwissenschaften?«, fragte sie Kevin und legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Werdet ihr den Planeten retten?«
»Hauptsächlich erforschen wir Regenwürmer«, antwortete Arthur, der zu jeder Sabotage entschlossen war, damit sein Freund nicht zu leichtes Spiel haben würde.
»Soll das ein Witz sein?«, lachte sie, ohne Kevin aus den Augen zu lassen, als würde sie sich mit einem Bauchredner unterhalten.
»Regenwürmer sind die Zukunft der Menschheit«, sprach Arthur weiter. »Außerdem sind sie ganz kleine und niedliche Wesen. Sie würden sich hier in der Wohnung ziemlich wohl fühlen. Gute Temperatur, ideale Luftfeuchtigkeit …«
Jetzt hatte Anne keine andere Wahl mehr und musste sich an Arthur wenden. Er blieb bei seinem spöttischen Ton, der, zu seinem großen Erstaunen, seine Zielperson nicht zu stören schien, sie war nämlich nur allzu froh darüber, sich für ihre Lebensart an den Pranger stellen zu lassen. Sie wollte sich für ihre Kindheit in der Innenstadt von Paris, die Wochenenden in Italien und die Finanzierung durch Mama und Papa selbst kasteien.
»Die industrielle Landwirtschaft hat die armen Regenwürmer massakriert«, stieß Arthur hervor.
»Ja, das stimmt!«, rief Anne, die davon zwar keine Ahnung hatte, aber sich gut vorstellen konnte, dass die industrielle Landwirtschaft zu nichts Gutem fähig war. »Die industrielle Landwirtschaft und der Neoliberalismus«, präzisierte sie, immerhin studierte sie nicht umsonst an der Sciences Po.
Währenddessen hatte Kevin mit seinem Sofanachbarn, einem Schnösel von der Handelsakademie mit gelglänzenden Haaren, ein Gespräch angefangen. Arthur hatte keine Zeit zu verlieren.
»Meine Berufung«, vertraute er Anne mit eindringlicher Miene an, »ist es, in zerstörten Böden wieder Regenwürmer anzusiedeln. Durch Inokulation«, setzte er in Gedanken an die Äußerungen von Marcel Combe noch hinzu.
»Abgefahren!«, bestätigte sie. »Ich bin auch voll für reneg … generat …«
»Regenerative Landwirtschaft.«
»Genau! Entschuldige, ich hab schon leicht einen sitzen«, log sie. »Da wirst du dich aber mit den Schweinen vom Landwirtschaftsverband herumschlagen müssen, das weißt du schon.«
»Ja klar«, log wiederum er, denn er wusste ganz genau, dass sich die Bauernverbände um die sanftmütigen Poeten, die alternative Methoden ausprobierten, nicht im Geringsten scherten.
»Und wie soll das gehen?«
»Wie soll was gehen?«
»Na, wie siedelt man Regenwürmer wieder an?«
Arthur fühlte sich eiskalt erwischt. Er brabbelte irgendwelche Erklärungen und streute hier und da auf gut Glück ein paar wissenschaftliche Begriffe ein. Während er so redete, fragte er sich, welche Wirkung wohl sein Labret-Piercing hatte, ein Stück Metall, das aus der Innen- und der Vorderseite seiner Unterlippe hervortrat und in schimmernden Kugeln endete. Urplötzlich unterbrach er sich selbst. Anne folgte seinem Blick. Gerade neben ihnen küsste Kevin leidenschaftlich den Schnösel.
Anne zog ihre Hand zurück, die immer noch auf Kevins Oberschenkel gelegen hatte, und drehte sich entschieden Arthur zu. So begann ihre gemeinsame Geschichte.
Eine halbe Stunde später trafen sich Arthur und Kevin in der Küche, umgeben von ein paar Studenten der École polytechnique, die Schnittchen mit Taramas bestrichen.
»Lass uns vielleicht nicht mehr so lang bleiben«, schlug Kevin ganz direkt vor.
Arthur wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte tausend Fragen. Kevin schien so frisch und aufgeräumt wie immer.
Als sie sich auf den Heimweg machten, kamen die beiden Jungs am alten Gebäude der AgroParisTech vorbei, das schwach erleuchtet war. Auf der Fassade stand noch in schönen Großbuchstaben INSTITUT NATIONAL AGRONOMIQUE. Was noch vor einigen Monaten das stolze Zeichen einer Gemeinschaft gewesen war, zeigte nun seinen Charakter als historisches Museumsstück. Vor der Fassade zur rue de l'Arbalète stand ein Gerüst. Der neue Inhaber, eine Privatschule, ließ das gesamte Gebäude mit großem Aufwand renovieren. Das bedeutete den Tod im Schaukasten.
»Fast wie ein Schloss«, staunte Kevin, »mitten in Paris.«
In der Tat verliehen das monumentale Portal, die Kombination von Natursteinquadern und Backstein und das rund überkuppelte Türmchen dem alten Schulgebäude die Anmutung eines Jagdpavillons aus dem 17. Jahrhundert.
»Übertreib mal nicht«, bremste ihn Arthur. »Das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, als das Institut an die Stelle der École de pharmacie getreten ist. Und davor lag hier der sogenannte Apothekergarten. Voll mit seltsamen Pflanzen …«
»Du weißt ja wirklich alles«, sagte Kevin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Arthur verkrampfte sich.
»Hör mal, ich muss dir eine Frage stellen«, fing er an. »es tut mir leid, wenn ich …«
Er wurde von einem Polizeiwagen unterbrochen, der kreischend die rue Claude-Bernard heraufkam. Als er verschwunden war, wirkte die Stadt plötzlich still.
»Bist du schwul?«
»Quatsch, nein, warum fragst du sowas?«, antwortete Kevin und lächelte.
Arthur war auf die Folter gespannt. Vor ihnen schaltete eine Ampel auf eine andere Farbe und brachte etwas Normalität in diese entgleiste Nacht.
»Vorhin, auf dem Sofa …«
»Ach so, ja, von Zeit zu Zeit wechselt das. Ansonsten wird es doch etwas monoton mit den ganzen Muschis.«
»Und du …«
Es gab Dinge, die sich Arthur nicht vorstellen wollte.
»Alle Körper sind für die Lust geschaffen«, sagte Kevin. »Das muss man nutzen, oder nicht?«
»Also bist du bi?«
»Ich weiß nicht, da müsste ich mich erst kundig machen. Ich hätte nicht gedacht, dass man mir in Paris damit auf die Nerven geht.«
Arthur schwieg betreten. Sie setzten ihren Weg fort und liefen Richtung Port-Royal, um dort den Nachtbus zu nehmen. Kevin trödelte. Arthur erläuterte wortkarg die Sehenswürdigkeiten von Paris, während er seinen Gedanken nachhing. Er bedauerte seine unangebrachten Fragen, schließlich war er in einer Kultur des Kampfes gegen Diskriminierung erzogen worden; darum kreisten die Gerichtsprozesse, die sein Vater führte.
»Das ist der Jardin des Grands-Explorateurs. Eine Verlängerung des Luxembourg. Von hier aus kann man den Sénat sehen, ganz da hinten. Ich mag diese Aussicht gern. Sie beruhigt mich.«
Arthur fühlte sich spießig. Der Kampf gegen Diskriminierung stand nicht mehr auf der Tagesordnung. Kevin gehörte zu keiner Gruppe und forderte auch keine Sonderrechte. Er war damit zufrieden, er selbst zu sein, uomo universale, wie er es in den Briefen Machiavellis gelesen hatte. In Arthurs Augen erlangte Kevin einen überlegenen Status, jenseits der Klassifikationen, der Tabus, der Verbote. Er hatte durch seine Einfachheit, durch seine Offenheit für den gegenwärtigen Augenblick, durch die völlige Anerkennung seines Begehrens der gewöhnlichen Menschheit etwas voraus.
Der universale Mensch, der in all seiner Weisheit im Wartehäuschen der Bushaltestelle Boulevard Port-Royal saß.
Kevin hatte sich im Saal ganz hinten hingesetzt, am Gang. Neben sich hielt er für alle Fälle einen Platz für Arthur frei. Der festliche Abend der Zeugnisübergabe war kein besonderes Vergnügen für ihn, aber immerhin fand sie auf den Grands Boulevards statt, im Zentrum von Paris, das zu besuchen er in den letzten drei Studienjahren, entweder Seminare in Saclay oder Kurse im Gelände, nicht oft Gelegenheit gehabt hatte. Die üppige Vergoldung dieses Theaters im italienischen Stil entzückte ihn. Er fühlte sich wie in einem Kokon, eingehüllt in das Vor- und Zurückspringen der Balkone und Zwischendecken. Wenn er diesen Saal wieder verließ, würde er definitiv erwachsen geworden sein, stolzer Besitzer eines Agraringenieurdiploms. Er konnte es kaum erwarten, niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen.
Wie in jedem oder fast jedem Jahr nutzte eine Gruppe von sogenannten Abweichlern die Bühne, um das Agrobusiness anzuprangern und ihre eigenen alternativen Projekte mit selbstverwalteten Bauernhöfen oder in Kooperativen vorzustellen; dafür ernteten sie den Applaus ihrer Kommilitonen, die ihrerseits bereits Verträge bei Danone unterschrieben hatten. Das war zu einer Tradition geworden, seit dem ersten Paukenschlag von 2022, als acht Studenten die Zeremonie als Vorwand nutzten, um die Scheinheiligkeit einer Ausbildung bloßzustellen, die sie dazu ermunterte, an den, wie sie sagten, »laufenden sozialen und ökologischen Verwüstungen« teilzunehmen. Lange Haare, Sandalen, geblümte T-Shirts oder lange gestreifte Kleider. Sie schwangen die Geißel über das gute Gewissen der Unternehmen, über die Untätigkeit der Regierung und die Trägheit der Gesellschaft, sie munterten ihre Kommilitonen dazu auf, auf je ihre Art vom vorgesehenen Pfad abzuweichen. Als würde es sich um einen Karriereschritt handeln, kündigten sie ihr Engagement in Aktivistengruppen, ihre Niederlassung in besetzten Gebieten oder ihre Teilnahme an landwirtschaftlichen Kollektiven an. Ihr Aufruf zur Desertion, im Herzen des Systems formuliert und von genau denen vorgebracht, von denen man sich Antworten erwartete, hatte in der öffentlichen Meinung erstaunliche Emotionen hervorgerufen. Sie hatten sich nicht am Zaun vor dem Theater festgeklebt, sie hatten keine pöbelhaften Slogans gebrüllt, sie hatten nicht ihre nackten Brüste gezeigt. Sie hatten in aller Ruhe das Mikrofon genommen und während sieben langer Minuten glasklare und vernünftige Argumente vorgebracht. Man hätte es den Vortrag einer Arbeitsgruppe nennen können, mit schüchternem Fleiß aufgesagt. Genau das hatte zu einer mächtigen Wirkung geführt. Wenn brave Studenten ihr Studium ablehnten, wenn Ingenieure sich weigerten, Lösungen zu finden, wenn Agrarwissenschaftler nicht mehr an die Landwirtschaft glaubten, war das nicht wirklich das Ende?
Das Ende ließ wie immer auf sich warten. Nachdem das entsprechende Youtubevideo pflichtschuldig angesehen und geteilt worden war, lebte jeder sein Leben weiter. Fortan hatte man aus diesem Aufruf zur Desertion eine Institution gemacht. Die Schulleitung wies den »alternativen Zukünften« eine Viertelstunde zu. Ein Dutzend Studenten rief dazu auf, den Kapitalismus umzustürzen, die anwesenden Journalisten notierten sich die besten Punshlines, und dann ging die Zeremonie ruhig ihren geordneten Gang: Vorträge über nachhaltige Entwicklung lösten Erfahrungsberichte von Alumni ab, die erfolgreiche Start-ups in der Greentech gegründet hatten. Das System hatte auf bewundernswerte Weise seine eigene Anfechtung absorbiert.
Rundherum sah Kevin zahlreiche Eltern, mit ernsten Gesichtern und in Sonntagskleidern, denn diese Zeremonie markierte für sie den hochoffiziellen Beginn ihres Weges in das Alter. Er hatte nicht einmal daran gedacht, seine Eltern einzuladen, denn sie waren gerade erst ans andere Ende des Limousin umgezogen, wo sein Vater eine Stelle in einer Kooperative bekommen hatte. Seine Mutter hatte wieder als Erntehelferin angefangen und blieb dem prekären Zustand treu, der seit jeher ihr Schicksal gewesen war. Sie waren in ein Haus gezogen, das genauso hässlich war wie das davor, und spielten mit dem Gedanken, sich einen Campingbus zu kaufen, um ihre alten Tage unterwegs zu verbringen. Was hätten sie in diesem Theater im italienischen Stil anfangen sollen? Für die Karriere ihres einzigen Sohnes interessierten sie sich herzlich wenig, »solange er was zu beißen hat und nicht ins Gefängnis geht«, wie sein Vater es einmal gesagt hatte. Es war ihre Art, ihn zu lieben.
Der Direktor erschien am Rednerpult, mit Anzug, aber ohne Krawatte, was ungezwungen aussehen sollte, aber nur den unangenehmen Eindruck der Unvollständigkeit hinterließ. Das Licht wurde heruntergedimmt und Stille kehrte ein. Arthur war immer noch nicht aufgetaucht. Kevin hatte ihn im Laufe ihres dritten Jahres kaum noch gesehen. Sie hatten beide den Schwerpunkt »Biologie und Biotechnologie mit Schwerpunkt auf mikrobielle und vegetabile Gesundheit und Produktivität« gewählt, aber waren in weit voneinander entfernte Labore geschickt worden. Kevin führte weiter das lockere Leben eines Lebemannes und gab sich umstandslos jeder und jedem hin, die nicht zu hässlich und zu dumm waren. Der Zufall brachte es zuweilen mit sich, dass er für lange Wochen enthaltsam blieb, aber das störte ihn nicht im Geringsten. Allerdings musste er zugeben, dass ihm zum ersten Mal etwas fehlte: Arthur, oder genauer gesagt Arthurs Stimme, die ihn mit Konzepten einlullte, die über die aristotelische Definition der Ökonomie sprach, über Austausch und Anhäufung, über Phronesis und Mesotes. Das war besser als jede Fernsehserie.
Kevin befürchtete, dass Arthur mit den Abweichlern aufmarschieren würde. Er mochte die Vorstellung nicht, dass sein Freund sich zu einer Debatte herablassen könnte, bei der es nicht mehr um Aristoteles ging, sondern um Desertion und Kampf, um Slogans, die für Kevin unterste Schublade waren. Die beiden hatten sich zahllose WhatsApp-Nachrichten zu diesem Thema geschrieben.
Sie haben mich eingeladen
mitzumachen
Klar, die laden jeden ein
Sie haben Recht.
Ja. Na und?
Warum muss man es so sagen?
Warum die Party verderben?
Kevin teilte ohne Vorbehalte die Sorgen seiner Generation bezüglich der Klimaerwärmung, der Zerstörung der Biodiversität oder der Verarmung der Ökosysteme. Er verstand einfach nur nicht, welchen Sinn der Kampf haben sollte, den sie führten. Auch wenn er momentan keine andere Lösung anzubieten hatte.
Damit die Leute sich bewusst werden.
Um nicht beim Blabla der Corporate
Social Responsibility mitzumachen
Soziale und ökologische
Verantwortlichkeit, das ist wie beim Sex:
je mehr man darüber redet, desto weniger
hat man. Und umgekehrt.
Kevin nahm diese letzte Bemerkung als Kompliment für sich. Dennoch hatte er seine Zweifel.
Etwas einfach, das alles zu behaupten,
wenn man von der AgroParisTech kommt.
Im Gegenteil. Es ist mutig. Kein
Mensch wird sie einstellen wollen.
Die haben sicherlich die Mittel,
um ohne Job zu leben. Ich nicht.
Seit er in das Milieu der Pariser Hochschulen eingetaucht war, hatte Kevin es sich zur Gewohnheit gemacht, im Bedarfsfall das soziale Argument auszuspielen, eine rhetorische Massenvernichtungswaffe, die jede Diskussion beendete.
Wir müssen über Regenwürmer
reden. Ich habe ein Projekt.
Ich auch!
Kevin seufzte erleichtert auf, als Arthur sich neben ihn setzte. Er würde also nicht die Bühne mit den Abweichlern stürmen.
»Du hattest Recht«, flüsterte Arthur, »sie führen sich ein wenig wie verzogene Kinder auf.«
Auf der Bühne bezeichnete der Direktor die jungen Agraringenieure als »Talente eines nachhaltigen Planeten«.
»Das bedeutet einfach gar nichts«, schimpfte Arthur. »Der Planet ist weder nachhaltig noch nicht nachhaltig, dem Planeten ist das egal: Er existiert, einfach so.«
»Ruhig …«
Kevin legte ihm einen Arm um die Schulter. Arthur entspannte sich und ließ sich auf seinen Sitz sinken. Ein Agraringenieur, zehn Jahre älter als sie, in Jeans und mit einem Headset, war gerade dabei, sein jüngstes Produkt anzupreisen, eine smarte Sonde, die Böden analysieren sollte. Er ging mit weiten Schritten auf und ab und schaute wie ein Besessener ins Publikum, wie er es sich während seiner Ausbildung zweifellos bei TED Talks abgeschaut hatte, jenen amerikanischen Vortragsspektakeln, bei denen es weniger darum ging, zu überzeugen, als vielmehr, zu erregen.
»Soltech macht es möglich, die Entwicklung der Bodeneigenschaften in Echtzeit zu verfolgen, und gibt Empfehlungen in Bezug auf die Wachstumsphase der Pflanzen. Feuchtigkeit, Volumetrie, pH-Wert, Lichtmenge, Dichte, alles wird prozessiert.«
Er zeigte mehrere Slides von bärtigen Getreidebauern, die lachten und gerade ländlich genug waren, um authentisch rüberzukommen, aber mit dem neuesten Macbook Pro ihre Kulturpflanzen überwachten.
»Es geht nicht um die Menge an Dünger«, behauptete er, »sondern darum, die richtige Dosis im richtigen Moment ausbringen zu können.« Graphen erschienen auf dem Bildschirm und zeigten den Anstieg der Erträge in Beziehung zur Verminderung des chemischen Inputs.
»Wenn sich die Kurven schneiden, haben wir gewonnen!«
Kevin hörte, wie Arthur loskicherte. Er für seinen Teil fand diese Technologie ganz interessant, aber behielt das wohlweislich für sich.
»Unser Ziel ist es«, kam der Alumnus zum Schluss, »die Lebensqualität der Landwirte zu revolutionieren. Es wird nicht mehr nötig sein, jeden Morgen kilometerweit über die Felder zu laufen, um die Ackerscholle zu begutachten. Soltech ist präziser und zuverlässiger als das menschliche Auge. Eine verbesserte Kenntnis unserer Umwelt, für mehr Verantwortung in der Behandlung der Böden!«
»Und natürlich kein Wort über Regenwürmer«, grummelte Arthur. »Was soll es denn bringen, den pH-Wert zu messen, wenn man die Zahl der Würmer pro Quadratmeter nicht kennt?«
Aus wissenschaftlicher Sicht stimmte auch Kevin zu, dass Soltech augenscheinlich beschränkt war. Die Bodenqualität lässt sich nicht auf eine Handvoll Parameter reduzieren. Sie hängt von Tausenden Faktoren ab, von Millionen von Mikroorganismen, die uns im Wesentlichen noch unbekannt sind. Wie es Marcel Combe häufig wiederholt hatte, war bis heute niemand in der Lage, die biophysikalischen und biochemischen Eigenschaften eines Erdklumpens vollständig zu analysieren. Angesichts dieses fundamentalen Nichtwissens bekam die menschliche Intuition, dieses Ergebnis einer langen Evolution, das weit mehr war als unser Wachbewusstsein, wieder einen Sinn.
»Man müsste ein Wurmradar erfinden«, sagte Kevin halb im Scherz.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die wackeren Regenwürmer seine Sonde auffressen werden.«
Kevin kannte Arthurs Besessenheit und hatte alle ihre Entwicklungsstufen mitverfolgt. Seit jenem Abend in der rue Gay-Lussac hatte ihn die Idee der Inokulation von Regenwürmern nicht mehr losgelassen. Seine Beziehung mit Anne hatte ihn in diesem Projekt gefangen, nach und nach war er auf den Geschmack gekommen. Was als ein vager Anmachversuch begonnen hatte, war zu einer Berufung geworden. Schnell hatte er sich einen Überblick über die wenigen Publikationen zu diesem Thema verschafft. Sie beliefen sich auf eine Bibliografie von wenigen Seiten. Alles harrte der Entdeckung: In einer verdrossenen Epoche, in der scheinbar alle Horizonte schon erkundet waren, hatte Arthur den so seltenen Eindruck, auf einen neuen Kontinent vorzustoßen, wo es wenige Pioniere gab und sich alle untereinander kannten. Anders als die Mehrzahl seiner Kommilitonen, die sich auf Forschungsgebiete verlegten, in denen Zehntausende Wissenschaftler ihr täglich Brot mit ungelösten Fragen bestritten, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, die besten Konferenzen zu besuchen, auf denen sich immer wieder das gleiche Dutzend Experten traf; sie wussten, dass sie im Abseits standen, aber waren überzeugt davon, die Avantgarde des wissenschaftlichen Fortschritts zu sein. Die Menschheit war losgestürmt, um das unendlich Große des Universums zu verstehen, aber steckte noch ganz in den Anfängen, wenn es um das unendlich Kleine der Böden ging.
Arthur zufolge, der keine Gelegenheit ausließ, um Kevin mit kulturgeschichtlichen Anspielungen zu nerven, widerlegten die Regenwürmer La Bruyère, der behauptet hatte: »Alles ist schon gesagt, und seit siebentausend Jahren, seit es Menschen gibt, die denken, kommen wir zu spät.« Alles? Nein. Siebentausend Jahre waren für den Menschen noch nicht genug gewesen, um den Boden unter seinen Füßen in Betracht zu ziehen.
Arthur hatte sich also nach seinem Master über die Zersetzung organischer Stoffe als Doktorand am INRAE eingeschrieben, dem einstigen »Nationalen Institut für agronomische Forschung«, das vor Kurzem dem gegenwärtigen Trend entsprechend in »Nationales Institut zur Erforschung der Landwirtschaft, der Ernährung und der Umwelt« umetikettiert worden war. Arthur hatte also drei oder vier Jahre vor sich, um die Wiederansiedlung von Regenwürmern zu erforschen und vor allem Experimente damit zu machen. Der Titel seines Forschungsvorhabens ließ Anne erbeben: Agronomische Lösungen im Rahmen der agroökologischen Transition: Revitalisierung der Böden durch Inokulation von Regenwürmern. Allerdings hütete Anne sich davor, bei den ökofeministischen Treffen, an denen sie in der Sciences Po teilnahm, die Regenwürmer zu erwähnen. Es war zwingend, für die gerechte Verteilung der Care-Arbeit und gegen die Entwaldung des Amazonas zu kämpfen. Regenwürmer, Hermaphroditen, die sie waren, gehörten nicht zu den Prioritäten.
»Ich habe Grund und Boden gefunden«, erklärte Arthur, als hätte er Kevins Gedanken gelesen.
»So richtig kaputten Grund und Boden, auf dem du deine Wunder wirken kannst?«
»Ganz genau. Ich musste eigentlich gar nicht lange suchen. Habe ich dir von meinen Großeltern erzählt?«
»Ich dachte, die sind tot.«
»Sind sie auch. Davor aber hatten sie einen Landwirtschaftsbetrieb im Westen der Normandie.«
»Das wusste ich nicht. Du hast mir nur mal kurz erzählt, dass du deine Ferien auf dem Land verbracht hast.«
Kevin fühlte sich fast enttäuscht. Acker, Vieh, das war das Schicksal, das seine Eltern für ihn vorgezeichnet hatten. Kein schlimmes Schicksal, aber ebenso wenig ein beneidenswertes. Er hatte gedacht, dass Arthur durch göttliche Vorsehung davor gefeit wäre.
»Ich bin nicht besonders stolz darauf«, fuhr Arthur fort. »Opa hatte einen gemischten Ackerbau-und-Viehzucht-Betrieb, wie jedermann. Sein Beruf bestand darin, das Gleichgewicht zwischen Betriebsmitteln, EU-Subventionen, Kreditzins und Weltmarktpreis zu finden. Er ist damit zurechtgekommen, gerade so. Aber sein Land hat es nicht überlebt.«
»Hat er einen Käufer gefunden?«
»Nein. Mein Vater hat das alles aufgegeben, um in Paris Jura zu machen, und hatte nie auch nur die geringste Lust, sich damit zu beschäftigen, weder aus der Nähe noch aus der Ferne. Der Angestellte, der dort als Lehrling angefangen hatte und den Betrieb blindlings hätte übernehmen können, ist schließlich seiner Frau in die Bretagne gefolgt. Opa hat seinen Betrieb schlussendlich auf spezialisierten Websites zum Verkauf eingestellt. Es gab einige Besichtigungen, aber all das deprimierte ihn, diese Fremden, die Fragen zur Abdichtung der Stallungen hatten. Also hat er den Großteil seines Landes an das Arschloch von Nachbarn verkauft, der immer größer geworden ist. Er heißt Monsieur Jobard, er ist wirklich ein Idiot. Weiß du, was der als Erstes gemacht hat?«
»Die Hecken rausreißen, damit der Traktor vorbeikommt.«
»Genau. Da weißt du Bescheid! Man sollte meinen, diese Art Verhalten gibt es gar nicht mehr. Aber eben doch.«
»Ach was!«, murmelte Kevin.
Als Jugendlicher hatte er viele Fahrer von Landmaschinen gekannt, die bei ihnen zuhause ihre Frühstückspause verbrachten.
»So Hecken sind aber auch nervig«, fügte er hinzu.
»Wie bitte?«, fuhr Arthur auf.
»Nur Spaß.«