Hunnen und Rebellen - Jessica Mitford - E-Book

Hunnen und Rebellen E-Book

Jessica Mitford

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Beschreibung

Wenige Familien aus der englischen Aristokratie vereinten die dünkelhaften, hinterweltlichen, aber auch die zuweilen radikal unkonventionellen Züge dieser Gesellschaftsschicht in so burlesker Konzentration auf sich wie die Mitfords in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Töchter aus diesem guten Hause heirateten Brauereierben und Faschisten, waren glühende ­Bewunderinnen von Adolf Hitler, gingen auf die Fuchsjagd und endlose Cocktailpartys – oder aber sie zogen für die Republik in den Spanischen Bürgerkrieg. Letzteres tat Jessica Mitford, die mit ihren Memoiren eines der vielleicht schönsten, komischsten und boshaftesten Porträts nicht nur ihres exzentrisch reaktionären Elternhauses schrieb. »Eine hinreißende Autobiografie.« Susanne Mayer, Die Zeit

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JESSICA MITFORD

HUNNENundREBELLEN

Meine Familieund das20. Jahrhundert

Aus dem Englischen und miteinem Nachwort und Anmerkungenvon Joachim Kalka

Für Constancia Romilly(»the donk«)

Inhalt

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

NACHWORT

ANMERKUNGEN

PROLOG

Familienerinnerungen haben eine fast universelle Faszination. In den meisten Häusern findet man – auf dem Dachboden oder ganz oben in irgendeinem Regal – aufgereihte Babyschühchen, den preisgekrönten Aufsatz des großen Bruders in der Schulzeitschrift, Schwesters Hochzeitsschleier, vergilbte Telegramme mit Glückwünschen aus diesem, jenem und noch einem anderen Anlass. Die meisten Häuser tragen auch die Narben, mit denen die Bewohner sie gezeichnet haben – die immer noch sichtbaren Einschüsse von Luftgewehren, abgefeuert von kindlich unsicherer Hand, das Loch, das der Kaminteppich hinnehmen musste, als eine Party allzu lustig wurde.

Hat man einmal das mittlere Alter erreicht, sind diese Trophäen wieder von großem Interesse, denn sie bringen einem mit bestürzender Deutlichkeit vergessene Ereignisse zurück, Erinnerungen, die unter einem Gebirge von Abertausenden vergangener Tage vollkommen verschüttet lagen. Als ich das Haus meiner Mutter im Jahre 1955 zuerst wieder aufsuchte, mit achtunddreißig, nach einer Abwesenheit von neunzehn Jahren, geriet ich auch unter den Bann der Vergangenheit. Deren greifbare Hinweise sind allerdings, das stimmt schon, von etwas anderer Art, als man sie im durchschnittlichen englischen Heim findet.

An den Fenstern, immer noch sichtbar, sind Hakenkreuze mit einem Diamantring in die Scheiben geritzt, und für jedes Hakenkreuz ein sorgfältig ausgeführtes Hammer-und-Sichel-Emblem. Meine Schwester Unity und ich haben diese Symbole dort eingekratzt, als wir Kinder waren. An den Wänden hängen gerahmte Bilder und Gedichte, die Unity gemacht hat, als sie noch ganz klein war – eigenartige, phantasievolle, interessante Arbeiten, manche in winzigem Format mit mikroskopischem Detail, manche riesenhaft und prachtvoll. Der Honnen-Wandschrank, wo Debo und ich den größten Teil unserer Zeit verbrachten, hat immer noch denselben charakteristisch muffigen Geruch und enthält die zauberische Verheißung einer privaten Zone, die den Erwachsenen vollkommen entrückt ist.

Es steht Familienliteratur im Regal im Wohnzimmer: die Memoiren von Lord Redesdale, Großvaters bedrückend umfangreiche Autobiographie; Schriften eines Rebellen, ein Privatdruck von Onkel Geoff mit seinen Briefen an die Times; Esmond Romillys Out of Bounds und Boadilla; ein paar Bücher von Sir Oswald Mosley; ein beeindruckendes Fach mit den Büchern von Nancy, auf Englisch und in Übersetzungen.

Am faszinierendsten sind die vielen Klebealben meiner Mutter, Dutzende von großen Folianten, alle sorgfältig nach einem bestimmten Prinzip geordnet, entweder thematisch oder nach Epochen. Eines ist ganz den Zeitungsausschnitten über die Familie gewidmet: »Wenn ich ›Tochter eines Peers‹ in einer Schlagzeile lese«, sagte sie einmal etwas melancholisch, »dann weiß ich gleich: Es geht um eines von euch Kindern.« Ein anderer Band enthält eine Sammlung von Hochzeitsfotos ihrer Kinder. Dianas Hochzeit mit Bryan Guinness, die bei weitem opulenteste Feier, nimmt mehr als die Hälfte des Buches ein, und die Sepiafotos sind so groß, dass sie kaum auf die immensen Seiten des Buches passen. Eine Pose folgt der anderen, Diana von ganz nahe, Diana neben dem Kamin stehend, Diana von vorne, Diana im halben Profil, immer mit demselben bräutlich-reinen Ausdruck. Dann kommt Nancys Hochzeit mit zehn kleinen Pagen in weißem Satin, einige wegen der Kälte in Kaschmirstolen eingepackt. Pam und Debo scheinen irgendwie zu kurz gekommen, denn es gibt weit weniger Fotos von ihren Hochzeiten, da Pam auf dem Standesamt geheiratet hat und Debo mitten im Krieg. Irgendwo vergraben in diesem Hochzeitenalbum ist ein ziemlich unscharfer Schnappschuss mit der Beischrift »Deccas Hochzeit«, der meinen Mann und mich zeigt, wie wir mit bewusst herausforderndem Blick auf der Kante eines ungemachten Betts in einem Hotelzimmer sitzen. »Es tut mir leid, kleine D., aber es gab nur das hier, weißt du?«, sagte meine Mutter vorsichtig.

Zurückzublicken entspricht meinem Wesen nicht besonders, aber nachdem ich nun einmal diesen Blick getan habe, schreibe ich auch auf, was ich da sah. Ich sollte wohl an dieser Stelle erwähnen, dass es zwangsläufig einige Ungenauigkeiten und Verzerrungen geben wird, wie stets, wenn man sich ganz auf die Erinnerung verlässt; doch für eine Darstellung wie diese gibt es keine anderen Quellen als das eigene, oft unzuverlässige Gedächtnis.

EINS

Die Cotswolds, diese alte, malerische Landschaft voller Geister und Legenden, sind heute Teil der Touristenroute. Hat man Oxford abgehakt, wäre es doch schade, wenn man nicht noch die zwanzig Meilen oder so weiter fahren würde, um ein paar der historischen Dörfer mit den pittoresken Namen zu besehen – Stow-on-the-Wold, Chipping Norton, Minster Lovell, Burford. Die Dörfer selbst haben brav versucht, sich dieser Aufmerksamkeit würdig zu erweisen. Burford ist in der Tat so etwas wie ein kleines Stratford-on-Avon geworden, und seine alten Wirtshäuser sind sorgfältig renoviert und verbinden modernen Komfort mit einer gewissen Tudor-Atmosphäre. Man bekommt sogar Coca-Cola dort, wenn es wohl auch mit Zimmertemperatur serviert wird, und die kleinen Läden sind voller »Andenken an das Historische Burford« mit dem unauffälligen Schriftzug Made in Japan.

Aus irgendeinem Grund ist Swinbrook, das nur drei Meilen entfernt liegt, dem Tourismus entronnen und liegt noch genauso da, wie ich es vor über dreißig Jahren gekannt habe. In dem winzigen Dorfpostamt werden immer noch die vier gleichen Süßigkeiten – Toffee, saure Drops, Edinburgh Rock und Butterscotch – in denselben vier großen Kristallglasbehältern im Schaufenster angeboten. Hinten im Laden hängen wie schon seit zwei Generationen zwei gerahmte Drucke von viktorianischen Schönheiten, die eine eine zarte junge Dame mit goldenem Haar und leuchtend blauen Augen, um die weichen weißen Schultern irgendetwas Präraffaelitisches drapiert, die andere im Kontrast ein neckisch-hübsches Zigeunermädchen, dessen unglaublich dichtes schwarzes Haar in großen runden Locken herabfällt. Als Kind fand ich immer, dass die beiden eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Nancy und Diana hätten, meinen älteren Schwestern. Daneben schauen die unnatürlich rosigen und weißen Gesichter von König George V. und Königin Mary immer noch freundlich in die Welt.

Die einzigen anderen öffentlichen Gebäude sind das Schulhaus mit seinem einen großen Raum und die Kirche. Drumherum liegt ein Dutzend kleiner Häuser aus grauem Stein, dicht gedrängt wie Cotswolds-Schafe, ruhig und zeitlos. In der Kirche machen die Reihen der lackierten Sitzbänke – eine davon von meinem Vater nach dem Ersten Weltkrieg infolge einer erfolgreichen Wette beim Grand-National-Rennen gestiftet – immer noch einen recht modernen Eindruck, verglichen mit den mittelalterlichen steinernen Bodenplatten, den Strebepfeilern, Säulen und Bögen. Das Wappen der Redesdales mit dem lakonisch selbstgefälligen Motto »Gott sorget fuer uns«, das über dem Chorgestühl der Familie hängt, sieht immer noch ein wenig zu zeitgenössisch und glänzend aus neben den verwitterten grauen Steindenkmälern einer vormals in Swinbrook ansässigen Familie, deren Grabstatuen vierhundert Jahre lang starr dagelegen haben.

Zwei Meilen vom Dorf den Hügel hinauf steht ein großes rechteckiges graues Gebäude mit drei Geschossen. Sein Stil ist weder modern noch traditionell zu nennen und simuliert auch keine historische Epoche – es hat eher das utilitaristische Aussehen einer Institution und könnte eine kleine Kaserne sein, ein Mädcheninternat, eine private Irrenanstalt (oder in Amerika ein Country Club). Alle diese Funktionen haben sich in seiner kurzen Geschichte durchaus angedeutet. Es handelt sich um Swinbrook House, das mein Vater für die Bedürfnisse – nach damaliger Auffassung – einer Familie mit sieben Kindern hatte bauen lassen. Wir zogen 1926 dort ein, als ich neun Jahre alt war.

Swinbrook hatte viele Züge einer Festung oder Zitadelle aus dem Mittelalter. Vom Standpunkt der Insassen aus betrachtet war das Haus autonom – in dem Sinne, dass es weder notwendig noch (im Allgemeinen) möglich war, das Gebäude zum Zweck irgendwelcher Aktivitäten des menschlichen Lebens zu verlassen. Ein Schulzimmer mit Gouvernante für die Erziehung, Reitställe und Tennisplatz für den Sport, wir sieben Kinder als Gesellschaft, die Dorfkirche für spirituelle Tröstungen, unsere jeweiligen Schlafräume als Krankenzimmer, selbst wenn Operationen notwendig waren – alles war da, entweder im Hause selbst oder in geringer Entfernung zu Fuß zu erreichen. Von draußen betrachtet war der Zutritt – in dem recht unwahrscheinlichen Fall, dass jemand ihn versucht hätte – für Außenseiter unmöglich. Zu den Außenseitern zählte mein Vater nicht nur Hunnen, Froschfresser, Amerikaner, Schwarze und sämtliche Ausländer, sondern auch Kinder anderer Leute, die Mehrheit der Bekannten meiner älteren Schwestern, nahezu sämtliche jungen Männer – tatsächlich die ganze wimmelnde Bevölkerung des Planeten, ausgenommen ein paar (gewiss nicht alle) unserer Verwandten und einige wenige rotgesichtige, in Tweed gekleidete Nachbarn, die mein Vater aus irgendeinem Grund schätzte.

Er war auf seine Art frei von »Vorurteilen« im modernen Sinne. Seit den dreißiger Jahren versteht man hierunter die Konzentration eines leidenschaftlichen Hasses auf eine bestimmte Rasse oder einen Glauben – Schwarze, Orientalen, Juden; das Wort »Diskriminierung« ist mittlerweile schon fast ein Synonym für »Vorurteil«. Mein Vater diskriminierte in keiner Weise, tatsächlich war er sich gewöhnlich irgendwelcher Unterschiede zwischen diversen Ausländern gar nicht bewusst. Als eine unserer Cousinen einen Argentinier spanischer Herkunft zum Mann nahm, bemerkte er: »Hat Robin also einen Schwarzen geheiratet.«

Es fand ein unablässiges Tauziehen zwischen »Farve« und Nancy, Pam und Diana statt, den älteren Töchtern, die gerne ihre Freunde eingeladen hätten. Da meine Mutter Besuch ganz gerne hatte, war sie oft ihre Verbündete, und die Schlachten wurden gewonnen. Die Freunde meines Bruders Tom – kräftig gebaute junge Männer mit hellem Haar, die Nancy »die dicken Blonden« nannte – bildeten eine Ausnahme; sie durften immer kommen.

Für die drei jüngeren Kinder, Unity, Debo und mich, galt die Gesellschaft, die wir aneinander hatten, als völlig ausreichend. Von sehr seltenen Besuchen von Cousins und Cousinen abgesehen, wuchsen wir in vollkommener Isolation von Gleichaltrigen auf. Meine Mutter hielt die Anwesenheit weiterer Kinder für unnötig, sie würde uns nur überreizen. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, da wir bei seltenen Anlässen zu Geburtstagsfeiern oder Ostereiersuchen in die Häuser benachbarter Familien gebracht wurden.

Selbst dieses eingeschränkte Gesellschaftsleben kam jedoch abrupt zum Erliegen, als ich neun war, und sollte nie wieder beginnen – und der Grund dafür war ich selbst, ahnungsloserweise. Ich wurde in einen Tanzkurs eingeschrieben, der sich wöchentlich traf, immer in einem anderen der großen Häuser der Nachbarschaft. Kleine Mädchen in Organdykleidchen und Kaschmirstolen, von gestärkten Nannys begleitet, wurden vom Chauffeur im vereinbarten Hause abgeliefert und warteten auf den Lehrer, der mit dem Bus aus Oxford kam. Eines verhängnisvollen Nachmittags verspätete er sich um eine Stunde, und ich ergriff die Gelegenheit, die anderen Mädchen aufs Dach zu führen und ihnen dort reizvolle Informationen über Zeugung und Geburt von Babys mitzuteilen, die ich kürzlich erfahren hatte. »Und – sogar der König und die Königin machen das!«, sagte ich mit eindrucksvoller Betonung. Es war ein großer Erfolg, insbesondere weil ich nicht widerstehen konnte, während des Erzählens einige Ausschmückungen zu erfinden. Alle baten mich, ihnen doch noch mehr zu erzählen, und schworen feierlich auf die Bibel, nie einer Menschenseele etwas zu verraten. Einige Wochen später ließ mich meine Mutter kommen. Ihr Gesicht war eine Gewitterwolke; und ich wusste sofort, was geschehen war. Bei der fürchterlichen Schelte, die nun erfolgte, erfuhr ich, dass eines von den kleinen Mädchen Nacht für Nacht schreiend aus Albträumen aufgefahren, blass und dünn geworden war und am Rand einer Nervenkrise schien. Schließlich hatte ihre Gouvernante ihr die Wahrheit über die entsetzliche Sitzung auf dem Dach entlockt (glücklicherweise enthüllte die Kleine nicht, dass ich auch das Königspaar mit hineingezogen hatte). Die Vergeltung folgte auf dem Fuße. Meine Teilnahme am Tanzkurs wurde beendet; es war allen – selbst mir – klar, dass ich fortan keine Gesellschaft für anständige Kinder mehr war. Die Ungeheuerlichkeit meiner unvorsichtigen Handlungsweise, ihr Gewicht und ihre Folgen waren derart, dass ich Jahre später – als ich mit siebzehn unter den Debütantinnen bei Hofe war – von einer älteren Cousine erfuhr, zwei jungen Männern der Nachbarschaft sei es immer noch verboten, sich mit mir abzugeben.

Unity, Debo und ich waren also auf unsere eigenen Möglichkeiten zurückgeworfen. Wie ein isolierter Eingeborenenstamm, getrennt von der übrigen Menschheit, nach und nach ganz eigene Charakteristika in Sprache, Benehmen und Weltbild ausformt, so entwickelten wir Idiosynkrasien, die auf andere Kinder unseres Alters recht exzentrisch gewirkt hätten. Selbst nach englischen Maßstäben in den fernen Zeiten der Mittzwanziger war unsere Erziehung einigermaßen ungewöhnlich. Unsere Fähigkeiten, Hobbys und Vergnügungen nahmen deutlich eigene Formen an. So verbrachte Debo (in einem Alter, wo sich andere Kinder mit Puppen, Sport, Klavierunterricht oder Ballettstunden befassen) lange stumme Stunden im Hühnerhaus und lernte, den Ausdruck schmerzhafter Konzentration präzise nachzuahmen, der auf das Gesicht eines Huhns tritt, wenn es ein Ei legt; außerdem sah sie jeden Morgen methodisch die Familiennachrichten in der Times durch und notierte die Zahl der Totgeburten in einem kleinen Buch. Ich vergnügte mich, indem ich mit meinem Vater Tatterich-Übungen durchführte, die darin bestanden, dass ich sanft sein Handgelenk schüttelte, während er Tee trank: »In ein paar Jahren, wenn du richtig alt bist, bekommst du wahrscheinlich den Tatterich. Ich muss jetzt vorher schon ein wenig mit dir üben, damit du dann nicht alles fallen lässt.«

Unity und ich erfanden eine vollständige Sprache namens Boudledidge, die für alle anderen unverständlich war, und übersetzten verschiedene unanständige Lieder (die sich auf diese Weise gefahrlos vor Erwachsenen singen ließen) sowie große Teile des Oxford Book of English Verse. Debo und ich organisierten die Sozietät der Honnen, deren Vorsitzende und einzige Mitglieder wir waren. Bei den Sitzungen der Society of Hons wurde Honnisch gesprochen, die offizielle Sprache der Sozietät, ein Englisch, gefärbt mit einer Art Mischung aus nordenglischen und amerikanischen Akzenten. Der Hinweis, den eine kürzlich erschienene Studie zum Ursprung der Honnen gibt, trifft nicht zu – der Name kam nicht von dem Umstand, dass Debo und ich den Titel Honourables führen konnten, sondern von den Hennen, die in unserem Leben eine so große Rolle spielten. Diese Hennen waren tatsächlich die Grundlage unserer Privatökonomie. Wir hielten Dutzende von ihnen, wobei meine Mutter das Futter lieferte und uns die Eier abkaufte – eine Art wohlwollender Variante des Erntepachtsystems. (Das H in »Honnen« wird natürlich – wie in »Hennen« und im Gegensatz zu »Honourables« – ausgesprochen.)

Die Hauptaktivität der Honnen bestand in Plänen, die Abstoßenden Anti-Honnen zu überlisten und zu besiegen, deren Hauptrepräsentant Tom war. »Tod den Abstoßenden Anti-Honnen!« war unser Schlachtruf, während wir ihn mit selbstgefertigten Speeren durchs ganze Haus jagten. Wir entwickelten und spielten endlos ein honnisches Spiel namens »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang« (des unerträglichen Schmerzes), ein Wettbewerb, bei dem ermittelt wurde, wer es am besten aushalten konnte, richtig fest gekniffen zu werden. »Hure, Hare, Hure« war die Weiterentwicklung eines früheren Spiels, das als »Langsam dran arbeiten« bekannt war. Das langsame Arbeiten bestand darin, dass man unbemerkt die Hand eines Älteren (gewöhnlich war es Tom) nahm, während er ein Buch las. Zuerst ganz sanft und mit unendlicher Geduld kratzte man die Haut an ein und demselben Punkt. Das Ziel war es, Blut fließen zu lassen, ehe das Opfer merkte, was vor sich ging. »Hure, Hare, Hure« andererseits brauchte zwei aktive Mitspieler. Der erste Spieler kniff den Arm des zweiten und verstärkte stetig den Druck, während er viermal langsam und rhythmisch psalmodierte: »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang«. Der Spieler, der es schweigend bis zum vierten Mal aushielt, hatte gewonnen. Uns schien das ein wunderbares Spiel, und wir baten Tom (der Jura studierte) unablässig, doch nachzuschlagen, ob man es nicht patentieren lassen und kommerziell nutzen konnte – jedes Mal, wenn es jemand irgendwo spielte, müsste eine Schutzgebühr in die Honnen-Kasse wandern.

Tom, unser einziger Bruder, hatte im Familienleben einen besonderen Platz inne. Wir nannten ihn Tuddemy, einerseits, weil dies die Boudledidge-Übersetzung von »Tom« war, andererseits, weil wir glaubten, das reime sich mit dem Wort für Ehebruch: adultery. »Nur ein Bruder und sechs Schwestern! Wie ihr den lieb haben müsst! Der muss ja völlig verwöhnt sein«, sagten Fremde meist. »Ihn lieb haben? Ihn verabscheuen!« war die honnische Standardantwort. Debo erwiderte auf die Frage eines Volkszählers, aus wem die Familie bestehe, wütend: »Drei Riesen, drei Zwerge und ein Vieh!« Die Riesen waren Nancy, Diana und Unity, alle ungewöhnlich groß, die Zwerge Pam, Debo und ich, und das Vieh war der arme Tuddemy. Meine Mutter besitzt bis zum heutigen Tage ein aus Pappe ausgeschnittenes Abzeichen mit der sorgfältigen Aufschrift: »Liga gegen Tom. Oberhaupt: Nancy«.

Tatsächlich war die Anti-Tuddemy-Kampagne, die während unserer ganzen Kindheit tobte, nur Ausdruck unserer Zuneigung für ihn, gemäß den Regeln der merkwürdigen honnischen Spiegelwelt. Über Jahre war er das einzige Familienmitglied, mit dem keines der anderen je den Kontakt abgebrochen hätte; alle sprachen mit ihm.

Trotz häufiger, nicht besonders dauerhafter Allianzen – zu Boudledidge-Zwecken oder wegen honnischer Projekte oder gegen einen gemeinsamen Feind (gewöhnlich eine Gouvernante) – waren die Beziehungen zwischen Unity, Debo und mir nicht ganz einfach und von gegenseitigen Ressentiments geprägt. Wir waren wie allzu verschiedene Tiere, die mit ihren Leinen am selben Pfahl angebunden sind.

Gelegentlich taten Unity und ich uns zu dem verbotenen Vergnügen zusammen, »Debo zu plagen«. Dies musste weit außer Hörweite meines Vaters geschehen, denn Debo war sein erklärter Liebling, und es konnte fürchterliche Folgen haben, wenn wir sie zum Weinen brachten. Sie war ein ungewöhnlich weichherziges Kind, und es war leicht, ihre großen blauen Augen von Tränen übergehen zu lassen – im Familienkreise als »Überlauf« bekannt.

Unity erfand eine tragische Geschichte mit einem kleinen Pekinesen. »Das Telefon klingelte«, hieß es da. »Großvater erhob sich aus seinem Sessel und ging hinüber, um den Hörer abzuheben. ›Babette im Bett?‹, rief er aus …« Babette lag auf dem Totenbett, Opfer einer Lungenentzündung. Der letzte Wunsch der Sterbenden war es, dass Großvater für den armen kleinen Pekinesen sorgen sollte. Doch in der ganzen Aufregung des Begräbnisses vergaß man den Hund, und er wurde mehrere Tage später am Grab seiner Herrin gefunden, gestorben vor Hunger und an gebrochenem Herzen.

Diese Geschichte ließ Debo jedes Mal in schrecklichem Kummer versinken, ganz gleich, wie oft sie schon erzählt worden war. Uns wurden dafür Monate unseres Taschengelds konfisziert, und oft wurden wir noch dazu ins Bett geschickt. Ein Grenzfall war es, wenn man lediglich mit tragischem Vibrato sprach: »Das Telefon klingelte …!«, worauf Debo so laut heulte, als hätten wir die Geschichte bis zum bitteren Ende erzählt.

Seltsame Beschäftigungen in der Tat, und kein Wunder, dass der Refrain meiner Mutter stets lautete: »Ihr seid wirklich sehr alberne Kinder.«

Meine Mutter plante und überwachte unsere Erziehung persönlich, und bis wir acht oder neun waren, unterrichtete sie uns selbst. Danach kamen wir ins Schulzimmer, wo eine rasch wechselnde Serie von Gouvernanten herrschte. Sicherlich diskutierten damals auf der ganzen Welt die Pädagogen den Streit zwischen den Anhängern von John Dewey und den Traditionalisten; sicherlich strömten Tausende zu den Vorträgen über die neue »Kinderpsychologie«. Wenn jedoch irgendwo – als Teil der das Jahrhundert prägenden Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung – der Kampf um die weibliche Bildung geführt wurde, so erreichten uns in Swinbrook davon keinerlei Signale. Tom war natürlich mit acht ins Internat geschickt worden und dann nach Eton, aber meine Mutter war der Meinung, für Mädchen wäre diese Art Schulbildung überflüssig, wahrscheinlich schädlich, und auf jeden Fall viel zu teuer. Sie war stolz darauf, dass sie unsere gesamte Erziehung aus den Erträgen ihres Hühnerhofs finanzieren konnte, der nach Abzug aller Kosten (darunter der Lohn des Hühnermanns, der sinnvollerweise »Lay« hieß) etwa hundertzwanzig Pfund im Jahr abwarf, damals in etwa der Jahreslohn einer Gouvernante.

Die Lektionen bei »Muv« im Wohnzimmer sind in meiner Erinnerung immer noch viel klarer umrissen als irgend etwas, das ich später von den Gouvernanten gelernt habe. (Der Name Muv, schwarz auf weiß niedergeschrieben, mag übrigens das Bild einer zierlichen, zärtlichen Mutti beschwören, umgeben von Kindern, die sie als »meine Küken« bezeichnet. Ebenso lässt Farve vielleicht an einen jovial-gemütlichen Daddy denken. Für mich bestimmt nicht. In meinen frühesten Erinnerungen sind Muv und Farve himmelhoch groß und breit wie der Marble Arch, und mächtiger als König und Parlament zusammen.)

Muv lehrte englische Geschichte aus einem großen illustrierten Buch mit dem Titel Unsere Insel und mit einem wunderschönen Bild von Königin Victoria als Frontispiz. »Seht ihr, England und alle unsere Besitzungen im Empire sind auf der Karte ein wunderschönes Rosa«, erklärte sie. »Deutschland ist von einem hässlichen, schlammfarbenen Braun.« Die Illustrationen, der Text und Muvs erläuternde Kommentare ließen eine Reihe eindringlicher Szenen entstehen: Königin Boadicea, die furchtlos ihrem Heer voranritt … die armen kleinen Prinzen im Tower … Karl der Große, von Großvater unter seine Ahnen gezählt … der verhasste öde Cromwell … Charles I., der Märtyrerkönig … die heroischen Erbauer des Empire, wie sie tapfer die schwarzen Horden Afrikas niederzwangen, zum Ruhme Englands … die bösen Inder und das Schwarze Loch von Kalkutta … die Amerikaner, die aus dem Empire hinausgeworfen worden waren, weil sie dauernd Unruhe stifteten und auf der Weltkarte ihr Anrecht auf das schöne Rosa verwirkt hatten … die dreckigen Hunnen, die im Krieg Onkel Clem umgebracht hatten … die russischen Bolschewisten, die eiskalt die Hunde des Zaren erschossen hatten (tatsächlich auch den kleinen Zarewitsch und die Zarewnas, nur schien deren Schicksal nicht ganz so traurig wie das der unschuldigen Hunde) … die Guten, die so unglaublich gut waren, die Bösen, die so unglaublich böse waren. Die Geschichte, wie Muv sie lehrte, war mir, alles in allem, sehr klar.

Muv hatte eine Lehrmethode ausgedacht, die alle Prüfungen überflüssig machte. Wir lasen einfach den Abschnitt durch, um den es ging, dann machten wir das Buch zu und erzählten, was uns davon im Gedächtnis haften geblieben war. »Ich bin der Meinung, ein Kind muss sich nur an das erinnern, was ihm wichtig vorkommt«, erklärte sie ein wenig vage. Manchmal funktionierte das System nicht so gut. »Also, kleine D., ich hab dir jetzt ein ganzes Kapitel vorgelesen. Erzähl mir, woran du dich noch erinnerst.« »Ich fürchte, ich erinnere mich an gar nichts.« »Komm schon, kleine D., kannst du dich denn an gar kein einziges Wort mehr erinnern?« »Also gut – ›die‹.« Fataler Satz! Noch nach Jahren konnte es mich zum Weinen bringen, wenn Schwestern und Cousinen im Chor riefen: »Also gut – ›die‹.«

Als ich neun war, rückte ich ins Schulzimmer auf. Dieser Raum – groß und luftig, mit Erkerfenstern, einem kleinen Kamin für Kohle und chintzbezogenen Möbeln – lag im ersten Stock von Swinbrook House, neben dem Zimmer der Gouvernante. Von den Besuchsschlafzimmern und den Räumen meiner Eltern war er im Korridor durch eine grünbespannte Zwischentür getrennt. Hier verbrachten wir den größten Teil unserer Zeit. Wir aßen mittags und manchmal abends drunten mit den Erwachsenen zusammen, nur nicht, wenn Besuch kam; dann wurde das Essen für uns nach oben geschickt, und wir aßen in der langweiligen Gesellschaft der Gouvernante und malten uns wütend aus, was es drunten für köstliche Dinge geben mochte.

Unity – »Bobo« für den Rest der Familie, aber für mich »Boud« – war das einzige andere Kind im Schulzimmeralter; Debo war erst sechs und bekam ihre Lektionen noch von Muv und ansonsten im Kinderzimmer unter der Jurisdiktion der Nanny. Nancy und Pam waren schon lange erwachsen, Tom lebte gerade eine Zeitlang im Ausland, und Diana war in Paris, innerlich unruhig zwischen dem Schulzimmer und ihrer ersten Ballsaison in London schwebend.

Boud war ein hochgewachsenes, übergroßes Kind von zwölf Jahren. Ich musste bei ihr immer an den Ausdruck »großes Mädchen« in viktorianischen Kinderbüchern denken. »Ach je, die gute Bobo, sie ist schon enorm groß«, klagte Muv, wenn die halbjährlichen Kartons von Daniel Neal in London mit Kinderkleidern zur Auswahl bei uns eintrafen, anprobiert und im Falle Boud unweigerlich zurückgeschickt und gegen etwas Größeres umgetauscht wurden. Nancy gab ihr den groben Spitznamen »Miss Scheußlich«, aber das war sie nicht. Ihre großen, drohenden blauen Augen, die langen, unbeholfenen Gliedmaßen, das völlig glatte flachsblonde Haar, manchmal in sauberen Zöpfen, meist lose herabströmend, ließen sie aussehen wie einen struppigen Wikinger oder wie Little John. Sie war der Fluch aller Gouvernanten, von denen wenige längere Zeit ihrer unerbittlichen Ungezogenheit gewachsen waren, und es blieb deshalb kaum eine über einen nennenswerten Zeitraum hinweg. Sie kamen und gingen in verwirrender Folge, und jede brachte eine neue Perspektive auf das Wissen der Menschheit mit.

Miss Whitey lehrte uns, zu wiederholen: »a-Quadrat minus b-Quadrat gleich a-Quadrat minus 2ab plus b-Quadrat«, doch blieb sie nicht lange genug bei uns, um zu erklären, warum das so war. Boud fand heraus, dass sie Todesangst vor Schlangen hatte, und ließ eines Morgens ihre Lieblingsringelnatter Enid säuberlich um die Ziehkette im WC geringelt zurück. Wir warteten atemlos auf das Ergebnis, das sich rasch einstellte. Miss Whitey schloss sich ein, dann ertönte ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Die bewusstlose Frau wurde schließlich mit Hilfe diverser Brechstangen befreit, und Boud wurde entsprechend ausgescholten und angewiesen, Enid künftig in ihrer Schachtel zu lassen. Auf Miss Whitey folgte Miss Broadmoor, die uns beibrachte, mensa, mensae, mensam und so weiter bis zum Schluss zu sagen. Nancy, die schon in diesen frühen Tagen ein gespitztes Ohr für klassenspezifische Aussprache hatte, machte ein Gedicht, das die hauptsächlichen Züge von Miss Broadmoors »gepflegter« Redeweise illustrierte: »Ich schätt-ze ganz besondahs Botter, besondahs die von meiner Motter, wwwenn ich nur meine Botter haabe, die wwwundahbare Gottesgaabe!« Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, es jeden Morgen herzusagen, wenn die Schulstunden näherrückten. Miss McMurray zog Bohnen auf Stückchen von feuchtem Flanell und brachte uns die Namen verschiedener Teile dieser heranwachsenden Bohnen bei – Plumula, Radix, Embryo.

Auf sie folgte dann Miss Bunting, deren hauptsächlicher Beitrag zu unserer Erziehung darin bestand, dass sie uns eine maßvolle Form des Ladendiebstahls beibrachte. Miss Bunting war eine liebe, kleine, runde, ständig kichernde Frau, geformt wie ein Milchkrug, und sie stand dem Leben mit einer sorglosen und unorthodoxen Haltung gegenüber, die wir sehr attraktiv fanden. Boud überragte sie weit, und manchmal hob sie die Gouvernante hoch und setzte die Aufquiekende auf das Schulzimmerklavier.

Gelegentlich machten wir Ausflüge nach Oxford. »Wie wär’s mit ein bisschen Allotria, Kinder?«, schlug Miss Bunting vor. Es gab zwei hauptsächliche Methoden – die Einkaufstaschenmethode, bei der man eine Komplizin brauchte, wurde bei größeren Gegenständen eingesetzt. Die Komplizin übernahm es, das Ladenfräulein einen Augenblick lang abzulenken, während die Diebin – oder, in Miss Buntings Idiom, Fräulein Allotria – ihre Tasche mit Büchern, Unterwäsche oder Pralinenschachteln vollstopfte, je nach Angebot des betreffenden Geschäfts. Die Methode des fallengelassenen Taschentuchs war bei Lippenstiften und kleinen Schmuckstücken angemessen. Miss Bunting in ihrem beigen Gouvernantenmantel und mit Handschuhen, Boud und ich in identischen Panamastrohhüten – so stolzierten wir hochmütig an den servilen Angestellten vorbei, um uns rasch in die Sicherheit von Fuller’s Tea Room zurückzuziehen, wo wir begeistert vor Tassen dampfendheißer Schokolade die Beute des Tages durchsahen.

Mit den Lektionen nahm Miss Bunting es leicht. Erst wenn wir den leicht zu erkennenden Schritt meiner Mutter sich dem Schulzimmer nähern hörten, gab sie uns ein Zeichen, uns über die Arbeit zu beugen. Von Algebra, Latein oder den Elementen der Bohne hatte sie keine Ahnung, all das war ihr vollkommen gleichgültig; selbstverständlich mochten wir sie viel lieber als ihre Vorgängerinnen. Wir taten, was wir konnten, um ihr das Leben einigermaßen erträglich zu machen, und so blieb sie einige Jahre.

ZWEI

Das öffentliche Leben drehte sich bei uns in Swinbrook um die Kirche, die Konservative Partei und das Oberhaus. Meine Eltern nahmen ein freundliches, wenn auch unstetes Interesse an allen dreien, und von Zeit zu Zeit versuchten sie, uns Kinder zu staatsbürgerlichen, unserem Alter angemessenen Aktivitäten heranzuziehen.

Meine Mutter war eine zuverlässige Unterstützerin der Konservativen Partei. Obwohl sie von unserem lokalen Abgeordneten nicht viel hielt (»Was für eine langweilige kleine Kreatur«, bemerkte sie häufig betrübt), beteiligte sich Muv getreulich an jedem Wahlkampf. Mengen braver Dorfbewohner wurden auf dem Rasen von Swinbrook House versammelt, damit unsere Onkel ihnen eindringliche Reden über die Vorzüge der Konservativen Partei halten konnten, und später mit dicken Fleisch-Sandwiches, Kuchen und Tassen mit schön starkem Tee verwöhnt. Unsere Familie hatte immer einen Stand beim jährlich stattfindenden Sommerfest der Konservativen Partei von Oxfordshire, wo wir Eier, Gemüse aus dem Küchengarten und große Mengen Schnittblumen verkauften. Debo und ich, angetan mit unseren teuren Wendy-Kleidchen, durften umhergehen und Sträuße feilhalten. Debo hasste diese Anlässe, weil die Erwachsenen unweigerlich gurrten: »Ach, sieht Debo nicht süß aus!« »Decca ist doch auch süß«, war ihre wütende Antwort.

Am Wahltag begleiteten wir Muv oft bei Werbeausflügen, angetan mit den blauen Rosetten der Partei. Das Auto war mit blauen Bändern geschmückt, und wenn wir an einem Wagen mit dem roten Symbol des Sozialismus vorbeikamen, durften wir uns aus dem Fenster lehnen und rufen: »Nieder mit der scheußlichen anti-honnischen Labour-Partei!«

Die Wahlwerbung bestand darin, dass man die Dörfler in Swinbrook und den umliegenden Ortschaften aufsuchte, ihnen das Versprechen abnahm, konservativ zu wählen, und sie dann von unserem Chauffeur zum Wahllokal fahren ließ. Anhänger der Labour-Partei waren in Swinbrook buchstäblich unbekannt. Nur ein einziges Mal sah man eine rote Rosette im Dorf. Es trug sie der Sohn unseres Wildhüters – zur bitteren Scham der gedemütigten Familie, die ihn wegen dieses Akts der Illoyalität aus dem Hause verstieß. Es gab das Gerücht, er habe in einer Fabrik in Glasgow angefangen und sich prompt mit den Gewerkschaften eingelassen.

Der Generalstreik des Jahres 1926 war enorm aufregend. Es lag ein wunderbares Krisengefühl in der Luft. Die Erwachsenen brüteten mit unnatürlich ernsten Gesichtern über dem täglichen Nachrichtenbulletin, das die Zeitungen ersetzte. Es gelang mir, mein Lämmchen Miranda nachts in mein Zimmer zu schmuggeln, damit es nicht von den Bolschewiken erschossen wurde. Alle wurden zu Notstandsdiensten eingeteilt. Nancy und Pam, die nun Anfang zwanzig waren, richteten in einer etwa zwei Meilen vom Haus gelegenen alten Scheune an der Landstraße eine Kantine ein, wo sie an die streikbrecherischen Lastwagenfahrer Tee, heiße Suppe und Sandwiches ausgaben. Nach den Schulstunden marschierten Boud und ich mit unserer Gouvernante und Debo mit der Nanny mühsam den Hügel hinauf, um zu assistieren, wobei Miranda strikt bei Fuß gehalten wurde, für den Fall, dass ein Kommunist aus der Hecke sprang.

Da die Lastwagen die ganze Nacht unterwegs waren (ein Umstand, der keiner von uns bewusst gewesen war), war es notwendig, die erste Schicht sehr früh am Morgen zu beginnen, noch vor Sonnenaufgang. Pam wurde hierfür eingeteilt; sie war bei weitem am besten geeignet für die Arbeit in der Kantine, da sie sich für Hauswirtschaft interessierte, Tee und Sandwiches machen und die Tassen spülen konnte. Nancy war hierin bekanntlich ein hoffnungsloser Fall und stöhnte traurig, wenn man ihr mehr abverlangte, als die Sandwichteller herumzureichen: »Ach, Darling, du weißt doch, ich kenn mich da nicht aus, Sachen aus dem Herd rausnehmen und so, meine armen Hände … und außerdem hasse ich das Frühaufstehen derartig.«

Eines Morgens gegen fünf Uhr war Pam allein in der Kantine, als ein dreckiger Landstreicher aus der unheimlichen Dunkelheit hereinschlurfte. In seinem zerlumpten Anzug und mit einer Arbeitermütze, das Gesicht schmutzig und mit Narben übersät, bot er einen furchterregenden Anblick. »Kann ich ’ne Tasse Tee haben, Miss?«, sagte er mit laszivem Lächeln zu Pam und brachte sein schreckliches Gesicht ganz nahe an ihres, wobei er mit den grünen Augen zwinkerte. Pam begann nervös, Tee einzuschenken, aber er ging geschickt um die Theke herum. »Kann ich ein Küsschen haben, Miss?« Und er legte ihr den Arm um die Taille. Pam, zutiefst erschrocken, stieß einen furchtbaren Schrei aus, und in ihrer verzweifelten Hast, davonzulaufen, fiel sie hin und verstauchte sich den Knöchel. Der Landstreicher stellte sich als die verkleidete Nancy heraus. Alles in allem waren wir recht traurig, als der Generalstreik endete und das Leben zu seiner langweiligen Normalität zurückkehrte.

Zur Enttäuschung meiner Mutter war Farves Interesse an der Politik viel sporadischer als das ihre. Bei sehr seltenen Gelegenheiten quälte er sich in seine Londoner Kleider und bereitete sich schweratmend auf die Reise vor (die immer als unerhört beschwerliche Fahrt galt, obwohl es nur achtzig Meilen waren), um seinen Platz im Oberhaus einzunehmen. Er ging aber nur, wenn Fragen von wirklich brennendem Interesse verhandelt wurden, etwa die, ob jene Frauen, die nicht als Gattinnen, sondern aus eigenem Recht Peeresses waren, zusammen mit den Lordschaften ihren Platz im Oberhaus einnehmen durften. Bei diesem Anlass raffte er sich auf, reiste hin und stimmte dagegen; Nancy blieb dabei, dass der eigentliche Grund für sein Votum gegen das Sitzrecht der Peeresses darin zu suchen war, dass es im Oberhaus nur ein einziges WC gab und er Angst hatte, sie könnten sich angewöhnen, es zu benützen.

Farves tiefster Zorn blieb jedoch einem Antrag vorbehalten, das Oberhaus zu reformieren, indem man seine Macht begrenzte. Die Befürworter dieses Vorschlags befürchteten, dass ohne eine solche Maßnahme eine zukünftige Labour-Regierung das Oberhaus ganz abschaffen könnte. Farve wandte sich wütend gegen dieses gewundene politische Manöver. Seine Rede wurde in der Presse viel zitiert: »Darf ich Eure Lordschaften daran erinnern, dass die Aufkündigung des Erblichkeitsprinzips ein direkter Schlag gegen die Krone ist? Eine solche Aufkündigung ist in der Tat ein Schlag gegen die Grundlagen des christlichen Glaubens selbst.« Zu seinem Ärger machten sich selbst die konservativen Blätter über diese Einlassung lustig, und die Labour-Presse berichtete begeistert. »Was hast du denn sagen wollen?«, fragten wir, und er erklärte uns geduldig, dass so, wie Jesus Gott wurde, weil er der Sohn Gottes war, der älteste Sohn eines Lords dessen Titel und Rechte erben sollte. Nancy tat so, als überrasche sie die Erklärung: »Ach, und ich habe gedacht, es wäre ein Schlag gegen den christlichen Glauben, weil der Sohn des Lords das Recht verlieren würde, den Pfarrer auszusuchen.«

Das Recht, die Geistlichkeit einzustellen und zu entlassen, war eines, das mein Vater nur höchst ungern aufgegeben hätte. Er verfügte über die Pfründe in Swinbrook, was bedeutete: wenn der amtierende Pfarrer starb oder die Gemeinde verließ, war es Farves Verantwortlichkeit, die sich meldenden Nachfolgekandidaten in Vorstellungsgesprächen zu prüfen und einen davon auszuwählen. Kurz nach unserem Umzug nach Swinbrook wurde ein solches Verfahren durch den Tod von Reverend Foster, dem Gemeindepfarrer, erforderlich. Debo und mir gelang es, bei zumindest einem der Gespräche heimlich mitzuhören. Ein blasser junger Mann mit dem üblichen Priesterkragen wurde vom Hausmädchen eingelassen. »Kommen Sie bitte hier entlang, Sir«, sagte sie. »Seine Lordschaft ist im Schließzimmer.« Das Arbeitszimmer meines Vaters war einmal unter üblicheren Bezeichnungen bekannt gewesen – Bibliothek, Geschäftszimmer, Herrenzimmer –, aber ich hatte Farve darauf hingewiesen, dass er quasi sein ganzes Leben in diesen vier Wänden verbrachte und infolgedessen unvermeidlicherweise dort einmal die Augen schließen würde. So wurde der Raum als Schließzimmer bekannt, und selbst die Dienstboten übernahmen die Bezeichnung. Das Schließzimmer war ein durchaus angenehmer Raum, wenn man nicht zwangsweise dorthin beordert worden war; die Wände waren von oben bis unten mit Tausenden von Büchern bedeckt, die Großvater angesammelt hatte, und es gab viel bequemes lederüberzogenes Mobiliar sowie ein großes Grammophon. Doch die Vorstellung, von Farve zu einem Gespräch dorthin bestellt zu werden, erfüllte uns mit mitfühlendem Schrecken.

»Ach, der Arme. Da kommt er. Jetzt passiert’s«, flüsterte Debo in unserem Versteck unter der Treppe. Wir hörten Farve erklären, dass er persönlich die Choräle für den Sonntagsgottesdienst aussuchen würde. »Keine von diesen verdammten komplizierten ausländischen Melodien. Ich gebe Ihnen eine Liste, was in Frage kommt. ›Holy, holy, holy‹, ›Rock of Ages‹, ›All Things Bright and Beautiful‹ und dergleichen.« Er fuhr fort mit dem Hinweis, dass die Predigt niemals länger als zehn Minuten dauern dürfe. Es bestand keine Gefahr, dass diese Zeit überschritten wurde, da Farve es gewohnt war, seine Stoppuhr anzuschalten und zwei Minuten vor Ende der dem Redner zugemessenen Zeitspanne die Hand zu heben.

»Haben Sie’s mit Stinkerei und Spitzen?«, brüllte er den erstaunten Bewerber plötzlich an. »Hmm?« Fragende Laute wurden durch die Wand des Schließzimmers hindurch vernehmlich. »Weihrauch, Chorhemden und der ganze papistische Quatsch! Sie wissen, was ich meine!« Debo und ich wanden uns voll Sympathie.

Der arme Pfarrer, der schließlich ausgewählt wurde, muss sich oft gewünscht haben, ihm wäre eine leichtere Aufgabe zugefallen. Zunächst einmal war der Kirchgang eine eherne Regel für die gesamte Familie Mitford. Ob Regen oder Sonnenschein, jeden Sonntagmorgen trabten wir den Hügel hinunter, zusammen mit der Nanny, der Gouvernante, Bouds Ziege, ihrer Schlange Enid, Miranda, diversen Hunden und meiner zahmen Taube. Einige der Grabstätten auf dem Kirchhof von Swinbrook waren praktischerweise von hohen Gitterzäunen umschlossen, die dem Schutz dienten und einer gewissen Privatheit. Die gaben gute Käfige für die verschiedenen Tiere ab, deren lautes Blaffen, Gurren und Mähen sich harmonisch in den kräftigen Gesang des Kirchenchors mischte und den größten Teil der zehnminütigen Predigt mühelos übertönte. Wenn Tom zu Hause war, vergnügten Debo, Boud und ich uns während des Gottesdienstes damit, dass wir versuchten, »ihn zum Gibbeln zu bringen« – ein honnischer Ausdruck für unfreiwilliges oder unterdrücktes Kichern. Der beste Moment dafür ergab sich während der Verlesung der Zehn Gebote. Mit offenen Gebetbüchern im Chorgestühl der Familie aufgereiht, warteten wir auf das Signal »Du sollst nicht ehebrechen« und gaben dann die ganze Reihe entlang einen Rippenstoß bis zu dem armen Tom weiter, dabei verzweifelt unser Gekicher erstickend. Wir waren sicher, dass er im Ausland und in seiner Londoner Wohnung ein glamouröses Leben führte und bei diesem speziellen Gebot eine betonte Ermahnung brauchte.

Meine Mutter war bei theologischen Diskussionen schwer festzunageln. »Glaubst du an Himmel und Hölle?«, fragte ich. »Nun, man hofft ja immer, dass es irgendein Weiterleben nach dem Tode geben wird. Ich würde irgendwann gerne Onkel Clem wiedersehen, und Cicely, so eine gute Freundin von mir …« Sie schien das Jenseits für einen gutgelaunten Nachmittagsempfang zu halten, wo alle möglichen Leute unversehens vorbeikommen mochten. »Aber wenn du nicht an die Wunder und so glaubst, warum muss man dann jeden Sonntag in die Kirche gehen?« »Nun ja, kleine D., schließlich und endlich ist es die Church of England, wir müssen sie unterstützen, verstehst du.«

Die Unterstützung nahm verschiedene Formen an. Wenn Muv daran dachte, lud sie den Pfarrer und seine Frau sonntags zum Mittagessen ein: »Die armen Dinger, sie schauen immer so hungrig drein, ich frage mich, ob sie wirklich genug zu essen bekommen.« Ihre weitgehende Ignoranz kirchlicher Gebräuche muss den Pfarrer gelegentlich in Verlegenheit gesetzt haben. Einmal wurde Geld für den Katafalk – the bier – bei Beerdigungsgottesdiensten gesammelt; der Pfarrer kam ins Haus und fragte sie, ob sie hierzu nicht etwas beitragen wollte. »Gewiss, wie viel wird denn gebraucht?« Der Pfarrer meinte, fünf Pfund wären eine ausreichende Summe. »Fünf Pfund? Wer um Himmels willen soll denn all das Bier trinken?«

Muv nahm mich oft mit, um die Frauen im Dorf zu besuchen, denen sie kleine Almosengeschenke machte. Die Armut dieser Dörflerinnen erfüllte mich mit unruhiger Besorgnis. Sie lebten in sehr alten, sehr kleinen Häuschen, rührend mit Bildern der königlichen Familie und Porzellannippes geschmückt. Der Geruch von Jahrhunderten Kohlsuppe und starkem Tee hing in den Mauern. Die Frauen waren mit dreißig Jahren alt und meist zahnlos. Viele hatten Kröpfe, Warzen, krumme Rücken und andere Gebrechen, wie sie Generationen Armut mit sich bringen. War es möglich, dass diese armen Wesen eigentlich auch Leute wie wir waren? Woran dachten sie, was brachte sie zum Lachen, worüber redeten sie bei den Mahlzeiten? Wie füllten sie die Tage aus? Warum waren sie so arm?

Auf dem langen Weg heimwärts nach einem solchen Besuch kam mir plötzlich ein glänzender Einfall.

»Hör mal, wäre es nicht eine gute Idee, wenn das ganze Geld in England gleichmäßig unter alle aufgeteilt würde? Dann würde es gar keine richtig armen Leute geben.«

»Nun, das wollen die Sozialisten machen«, erklärte mir Muv. Es war mir etwas peinlich, zu erfahren, dass die anti-honnischen Sozialisten meine gute Idee bereits gehabt hatten, ich fuhr aber trotzdem fort mit dem Thema.

»Warum kann man das nicht machen?«

»Weil es nicht fair wäre, Liebling. Es würde dir doch nicht gefallen, wenn du dein ganzes Taschengeld sparst und Debo gibt ihres aus, und ich sage dann, du musst die Hälfte von deinem Geld an Debo geben, oder?« Ich sah das sofort ein. Meine Idee war doch ziemlich hoffnungslos.

Kurz danach nahm man mich zu einer konservativen Wahlversammlung im Dorf mit. Onkel Geoff hielt die Rede. »Das Problem mit der Labour-Partei ist es, dass die wollen, dass jeder arm ist«, sagte er. »Wir wollen aber, dass jeder reich ist.« Ich hatte dieses ehrwürdige Klischee noch nie gehört, und es schien mir ein Gedanke von brillanter Originalität, von dauerhafter Wichtigkeit. Es sollten noch einige Jahre vergehen, ehe ich wieder über sozialistische Ideen nachdachte.

DREI

In England auf dem Lande heranzuwachsen schien ein endloser Vorgang. Der eisige Winter wich dem frostigen Frühling und dieser einem kühlen Sommer – aber nie geschah irgend etwas. Die lyrisch sanfte Schönheit des Jahreszeitenwechsels in den Cotswolds ließ uns – buchstäblich – kalt. »Wär ich jetzt in England, / Jetzt wird es April …« oder »Narzisse, holde, wie es schmerzt, / Sinkst du so früh dahin …« – die Worte hatten eine gewisse Beschwörungsgewalt, aber ich nahm nicht viel vom April wahr, und Narzissen interessierten mich nicht. Es kam mir nie in den Sinn, mit meinem Schicksal zufrieden zu sein. Da ich kaum Kinder meines Alters kannte, mit denen ich vergleichend über ihr Leben hätte reden können, beneidete ich die Kinder in der Literatur, denen ständig interessante Dinge zustießen: »Oliver Twist hat wirklich Glück gehabt mit diesem interessanten Waisenhaus!«

Immerhin gab es gelegentliche Ablenkungen. Manchmal fuhren wir nach London in die Mews-Wohnung in Rutland Gate, wegen der Weihnachtseinkäufe (beziehungsweise der weihnachtlichen Ladendiebstähle, je nachdem, ob uns Nanny begleitete oder Miss Bunting), und manchmal, wenn Swinbrook House ein paar Monate lang vermietet war, kam es zu einer kompletten Völkerwanderung mit Nanny, Gouvernante, den Hausmädchen, den Hunden, Enid, Miranda, meiner Taube und uns allen ins Haus meiner Mutter am Rand von High Wycombe. Diese kleinen Exkursionen unterstrichen aber nur die Langweiligkeit des Alltagslebens in Swinbrook.

Es war, als seien wir in einem Winkel der Welt gefangen, wo die Jahre nicht vergingen, »Ziehkinder« wenn schon nicht »des Schweigens«, so doch gewiss »der langsamen Zeit«. Schon die Landschaft selbst, vollgestellt mit Geschichte, lieferte den bestürzenden Beweis, dass die Dinge alle unveränderlich waren. Die Straße nach Oxford, vor zweitausend Jahren von Julius Cäsar erbaut, war lediglich durch einen modernen Belag zur größeren Bequemlichkeit der Autofahrer ein wenig verändert worden; römische Münzen, die der Pflug so beiläufig aufwarf, als wären sie gestern verloren gegangen, brauchte man nur aufzusammeln. Als Teil unseres Schulunterrichts legten wir Hundertjahreshefte an, eine Seite pro Jahrhundert, wo wir die Daten der hauptsächlichen Schlachten, der Könige und Königinnen, der wissenschaftlichen Erfindungen eintrugen. Die menschliche Historie schien beim Umblättern dieser Seiten so deprimierend kurz. Die Französische Revolution lag nur zwei Seiten zurück, und husch! war man mit einem Fingerschnipp im 21. Jahrhundert, wo wir alle tot und begraben sein würden – und was hatte es dann gebracht? Wenig genug, dachte ich melancholisch, wenn wir das ganze Leben lang hier in Swinbrook festhingen.

Das große golden umglänzte Ziel jeder Kindheit – einmal ein Erwachsener zu sein – schien endlos weit entfernt. Es gab für uns keine Etappenziele, die den langen, langweiligen Abstand ausgefüllt hätten, keinen Wechsel von einer Stufe der Erziehung zur nächsten, keine »ersten Partys« der Jugend, auf die man sich gefreut hätte. Man war ein Kind und lebte in allen Beschränktheiten des Kindlichen, von der Geburt bis zum Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren – je nachdem, wie der Geburtstag im Verhältnis zur Londoner Ballsaison fiel. Das Leben reduzierte sich auf eine endlose Reihe zusammenhangloser Einzelheiten, die Tage wurden von Schulstunden, Mahlzeiten und Spaziergängen gegliedert, die Wochen durch gelegentliche Besuche der Freunde der älteren Geschwister, die Monate und Jahre vom Unerwarteten …

Onkel und Tanten kamen häufig zu längeren Besuchen. Da mein Vater eins von neun Kindern war und meine Mutter eins von vieren, erstreckte sich ein Netzwerk von Verwandten kreuz und quer durch England, von der schottischen Grenze bis nach London. Ganz gelegentlich wurde eine Tante oder ein Onkel auf ewig aus dem Gesichtskreis meines Vaters verbannt und in seiner Gegenwart niemals mehr erwähnt, wegen eines Vergehens wie einer Scheidung oder einer Heirat mit einem Ausländer oder einer Ausländerin, aber das waren Ausnahmen.

Die Tanten zerfielen grob in zwei Kategorien. Es gab die verheirateten Tanten, Mütter großer Familien, Aufseherinnen über umfangreiche Dienstbotenscharen, energische Treiber aller Kinder. Diese unbezähmbaren Frauen mit strengen Zügen, eisengrauem Haar, abgetragenem Tweedkostüm und rauher Haut stöberten einen an den kältesten schneeregendurchwehten Tagen des Jahres am Zufluchtsort vor dem Schließzimmerkamin auf. Bewaffnet mit einem massiven Spazierstock gab eine solche Tante einem einen derben Schlag aufs Hinterteil: »Lesen? In diesem muffigen Haus? Komm schon, komm schon, raus mit dir, mach einen schönen langen Gang, du faules kleines Ding.« Nanny deutete an, dass diese Tanten von einer unkontrollierbaren Macht angetrieben wurden, nämlich den körperlichen und psychischen Qualen des Klimakteriums, denn wenn man bemerkte: »Warum ist Tante Soundso nur so fürchterlich blöd?«, gab sie immer in bedeutungsvollem Ton zur Antwort: »Das sind jetzt eben diese Jahre bei ihr, Darling.« (Folgte man Nanny, dann war das Lebensalter einer Person die Quelle so gut wie aller persönlichen Schwierigkeiten, und sie gab stets dieselbe Antwort, wenn wir uns über jemanden beklagten, ob es sich nun um eine dreijährige Cousine, eine Schwester von siebzehn oder eine Großmutter handelte: »Du musst bedenken, Darling, sie ist jetzt eben in diesen Jahren.«)

Andererseits gab es die altjüngferliche Tante, einen sanfteren, verhuschten Typus; die unverheiratete Tante lebte mit einem einzigen Dienstmädchen in einer kleinen Wohnung in London. Der Status der alten Jungfer hatte sich seit den Tagen Königin Viktorias eigentlich nicht verändert. Sie lebte von einer durch die Familie ausgesetzten Rente, die sorgfältig kalkuliert war, um ein notwendiges Minimum sicherzustellen, eine Summe, die man als ausreichend und nicht übertrieben hoch für die unverheirateten Töchter und jüngeren Söhne eines Peers ansah. Während es den jüngeren Söhnen freistand, ihr Einkommen durch einen freien Beruf, den Militärdienst, den Ausbau des Empire oder vielleicht sogar eine kaufmännische Tätigkeit aufzubessern, blieben solche Wege den unverheirateten Töchtern streng verschlossen, die dann im Lauf der Zeit in das Dämmerleben der Tantenschaft versanken.

Die jungfräuliche Tante war oft von der Aura einer Legende umgeben, die umso geheimnisvoller war, als diejenigen ihrer Generation, die wie meine Mutter Bescheid wussten, niemals dazu bewegt werden konnten, die ganze Geschichte zu erzählen. Die Andeutungen, die Muv gelegentlich machte, vertieften das Geheimnis nur und machten es umso beunruhigender. »Warum hat sie denn nie geheiratet?« Muvs Gesicht verdüsterte sich angesichts dieser impertinenten Neugier auf ein fremdes Privatleben. »Nun, Darling, es geht dich ja eigentlich nichts an, aber wenn du es unbedingt wissen musst, als sie ein junges Mädchen war, da ist etwas Fürchterliches mit ihren Zähnen passiert.« »Was war das denn Fürchterliches?« »Ich glaube, das heißt Pyorrhoe. Jedenfalls fingen sie an, auszufallen, und monatelang ist es ihr noch gelungen, sie mit so kleinen Stückchen Brot anzukleben, aber es hat nicht funktioniert … Jetzt lauf, mehr sage ich dir nicht.« Wie entsetzlich! Ich konnte diese Tante niemals wieder anschauen, ohne ein junges Mädchen vor mir zu sehen (mit einer aufwendigen edwardianischen Frisur), wie es auf seinem Zimmer panisch versucht, die ruinierten Zähne notdürftig zu reparieren.

Einer anderen Tante war ein noch seltsameres Missgeschick zugestoßen. Bei ihrem ersten Ball war ein junger Mann ihr auf den Fuß getreten. Sie musste einige Zeit das Bett hüten, und als sie sich wieder erholt hatte, war es zu spät zum Heiraten. »Kann man denn nicht heiraten, auch wenn man zahnlos und fußlos ist?«, fragte ich Muv, aber sie runzelte die Stirn und wechselte das Thema.

Onkel Tommy, der Bruder meines Vaters, lebte nur ein paar Meilen entfernt, und deshalb sahen wir ihn öfter als alle anderen Verwandten. Ein pensionierter Kapitän der Royal Navy mit hellrosigem Gesicht und schneeweißem Haar, schien er mir wie eine fast übertriebene Bilderbuchdarstellung eines Onkels, der zur See gefahren ist. Einer von Nancys jungen Männern machte den Fehler, in Hörweite meines Vaters zu sagen: »Darling, dein Onkel ist bei weitem der schönste Mann, den ich je im Leben gesehen habe«, was bei Farve einen ungeheuerlichen Wutanfall und bei uns Kindern herzliches Gelächter auslöste.

Onkel Tommy präsidierte als Friedensrichter des örtlichen Polizeigerichtshofs und teilte in dieser Eigenschaft an die Anwohner jene Gerechtigkeit aus, die seinen Vorstellungen entsprach. Er war besonders stolz darauf, dass er eine dreimonatige Gefängnisstrafe über eine Frau verhängt hatte, die in dunkler Nacht mit ihrem Auto gegen eine Kuh gefahren war. »Einfach hinter Gitter! So kriegt man diese verdammten Weiber wieder von den Straßen runter!«

Dieses Magistratsamt brachte die Pflicht mit sich, dass er anwesend war, wenn in Oxfordshire jemand gehängt wurde. Einer erwähnte die Möglichkeit, dass ein Magistrat sich dieser Verpflichtung entledigen konnte, falls er einem berufsmäßigen Zeugen ein Honorar zahlte. »Jemand bezahlen, dass er ins Theater geht?«, röhrte Onkel Tommy. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«

Er tischte uns gerne Geschichten aus seiner Zeit zur See auf und behauptete, er habe Menschenfleisch gekostet, in Form von schwarzen Säuglingen, die als Ragout in den Häfen der südlichen USA serviert wurden. Ich fand seine Geschichten widerlich und unkomisch. Einmal wurde ich ins Bett geschickt, weil ich dem Wunsch Ausdruck gegeben hatte, die Kannibalen hätten ihn fangen und zu einer schmackhaften Suppe verkochen sollen.

Die Verwandten meiner Mutter waren sehr verschieden von den Mitfords. Ihr Bruder, Onkel Geoff, der oft auf Besuch nach Swinbrook kam, war ein kleiner, schmaler Mann mit nachdenklichen blauen Augen und zurückhaltendem Gebaren. Verglichen mit Onkel Tommy war er ein Intellektueller höchsten Ranges, und tatsächlich widersprach seine giftige Feder dem milden Aussehen. Er verbrachte den größten Teil seiner wachen Stunden damit, Briefe an die Times sowie andere Veröffentlichungen zu verfassen, in denen er seine durchaus eigenwillige Theorie vom Verlauf der englischen Geschichte darlegte. Für Onkel Geoff standen die Erfolge und Rückschläge Englands im Lauf der Jahrhunderte in direkter Beziehung zu dem Ausmaß, in welchem natürlicher Dünger oder Kompost in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Die Pest von 1348 war die Folge des nach und nach eingetretenen Verlusts von fruchtbarem Humus unter den zusehends abgeholzten Waldbäumen. Der Aufstieg der Elisabethaner zwei Jahrhunderte später war dem verbreiteten Gebrauch von Schafdung zuzuschreiben.

Viele von Onkel Geoffs Briefen an den Herausgeber haben sich glücklicherweise in einem privat gedruckten Band mit dem Titel Schriften eines Rebellen erhalten. Einer der dort abgedruckten Briefe fasst seine Ansichten über den Zusammenhang von Dünger und Freiheit am besten zusammen. Er schrieb:

Wenn man alte Dokumente vergleicht, zeigt sich, dass unsere nationale Größe mit der lebendigen Fruchtbarkeit unseres Bodens steigt und stürzt. Und heute haben viele Jahre des erschöpften und chemisch gemordeten Erdreichs unseren Körper und, schlimmer noch, unseren Nationalcharakter schlaff werden lassen. Es ist eine schlichte Tatsache, dass der Charakter in starkem Maße ein Produkt des Erdbodens ist. Viele Jahre gemordeter Nahrung aus abgetöteter Erde haben uns allzu zahm gemacht. Die Chemikalien haben ihren giftigen Einfluss ausgeübt. Jetzt ist die Stunde gekommen, da der Wurm Englands Mannheit wiederherstellen muss! Unsere Durchschlagskraft, unseren Charakter, unsere verlorenen Tugenden und mit ihnen die Freiheit, die Inselbewohnern natürlich ist, können wir nur wiedergewinnen, wenn wir den Untergrund unserer Äcker lockern und sie so kompostieren, dass Schimmelpilze, Bakterien und Regenwürmer wieder lebendiges Erdreich herstellen, das den englischen Körper und den englischen Geist nähren kann.

Das englische Gesetz, das die Pasteurisierung von Milch vorschreibt, war ein bevorzugtes Angriffsziel von Onkel Geoff. Er liebte Alliterationen und sprach dementsprechend stets vom »Mord an der Milch«, und er gründete die »Liga zur Wiederherstellung der Freiheit«, deren Hauptquartier sich in seinem Haus in London befand und die den erklärten Zweck hatte, in dieser Angelegenheit zum Gegenangriff überzugehen. »Freiheit und nicht Doktorheit!«, lautete der stolze Slogan der Liga. Eine nachgeordnete, aber doch ebenfalls wichtige Aktivität der Liga war der Einsatz für eine Rückkehr zum »unaufgeschlitzten, langsam geräucherten Hering« und zu einem Brot, hergestellt aus »englischem steingemahlenem Mehl, Hefe, Milch, Meersalz und Rohrzucker«.

Wo er ging und stand, trug Onkel Geoff Stapel von Kopien seiner Briefe an die Times und den Spectator mit sich, zusammen mit gedruckten Anweisungen zur Herstellung von unaufgeschlitzten, langsam geräucherten Heringen und hausgebackenem Brot. Meine Mutter unterstützte seine Ideen zum gesunden Leben rückhaltlos und fügte noch ein paar eigene hinzu. Sie machte sich strafbar, indem sie sich weigerte, irgendeines ihrer Kinder impfen zu lassen (»widerliche tote Keime in den guten Körper hineinpumpen!«). Es war uns nicht nur strikt untersagt, irgendwelche Konservennahrung zu essen – das mosaische Gesetz wurde so strikt wie in irgendeinem orthodox jüdischen Haushalt befolgt. Schweinefleisch, Schalentiere, Kaninchen wurden für die Schulzimmerernährung mit der Begründung verboten, dass Moses diese Nahrungsmittel als ungesund für die Israeliten betrachtet hatte, und weil meine Mutter einer Theorie anhing, dass Juden niemals Krebs bekamen.

Da ich nicht in einem Alter war, in dem man das Exzentrische zu schätzen wüsste, war ich von den Onkeln nur gelangweilt. Auch die Aussicht, den Weg entweder der verheirateten oder der unverheirateten Tanten gehen zu sollen, war nicht sehr erhebend. Unterhaltung und Lebensweise der älteren Generation erfüllten mich mit unruhiger Abneigung und dem starken Wunsch, in andere Bezirke zu fliehen.