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Die junge Algerierin Aube hat den Bürgerkrieg der 1990er-Jahre selbst miterlebt, davon zeugt nicht zuletzt die Narbe, die ihren Hals wie ein Lächeln umspannt. Beim Überfall auf ihr Dorf hatten Islamisten versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden, doch allein ihre Stimmbänder wurden erfasst. Nicht nur die fehlende Stimme bringt Aube nun zum Schweigen, sondern auch die staatlichen Gesetze, die verbieten, an den damaligen Bürgerkrieg zu erinnern. Ihr Schmerz und ihre Auflehnung dringen nicht nach außen. Einzig an die Tochter, die in ihrem Inneren heranwächst, kann Aube ihre Worte richten. Denn die geheime Schwangerschaft konfrontiert die junge Algerierin mit Fragen über die furchtbare Vergangenheit und eine düstere Zukunft: Hat sie das Recht, ihr Kind zu behalten? Kann sie Leben schenken, wenn es ihr selbst fast entrissen wurde? Aube kehrt zurück in ihr Heimatdorf, wo alles begann, und sucht Antworten bei den Toten. Mit Huris gibt Kamel Daoud algerischen Frauen das Wort und stellt sich gegen das noch immer verordnete Vergessen des Bürgerkriegs und seiner Schrecken. Eine ziselierte Erzählung mit ebenso poetischer wie politischer Kraft.
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kamel Daoud
Roman
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Für meine Mutter Yamina, meine heimliche Sprache
Für die vergessenen Opfer des algerischen Bürgerkriegs
Für Amina Mekahli, die Großmütige
Für die Mitarbeiter der Sciences Po, des Pariser Instituts für Politikwissenschaft, die dieser Schrift ein Dach geboten haben
Und Pêtû, oberster Pförtner der Unterwelt,
Antwortet der heiligen Inanna:
»Nun gut! Wer bist du?«
»Ich bin die Himmelskönigin
Von dort, wo die Sonne aufgeht!«
»Wenn du die Himmelskönigin bist
Von dort, wo die Sonne aufgeht,
Warum kommst du ins Land-ohne-Wiederkehr?
Warum bringt dein Herz dich auf den Weg,
Auf dem keiner je zurückkehrt?«
Ishtars (Inannas) Gang in die Unterwelt
Art. 46. – Wer durch Äußerungen, Schriften oder jedwedes andere Handeln die Wunden der nationalen Tragödie benutzt oder instrumentalisiert, um den Institutionen der Demokratischen Volksrepublik Algerien Schaden zuzufügen, den Staat zu schwächen, die Würde seiner Beamten zu verletzen, die ihm ehrenvoll gedient haben, oder das Ansehen Algeriens auf internationaler Ebene zu schmälern, wird mit einer Freiheitsstrafe von drei (3) bis fünf (5) Jahren und einer Geldstrafe von 250000 bis 500000 Dinars bestraft.
Strafverfahren werden von Amts wegen von der Staatsanwaltschaft eingeleitet.
Im Wiederholungsfall wird die in diesem Artikel vorgesehene Strafe verdoppelt.
Charta für Frieden und nationale Versöhnung
Erster Teil: Die Stimme
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Zweiter Teil: Das Labyrinth
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Dritter Teil: Das Messer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
16. Juni 2018, nachts, in Oran.
Siehst du es?
Ich grinse ununterbrochen und ich bin stumm oder nahezu stumm. Um mich zu verstehen, tritt man ganz nah an mich heran und beugt sich zu mir, als wollte man ein Geheimnis teilen oder zusammen eine Nacht verbringen. An meinen Atem, der rasselt wie der letzte Atemzug, an meine zunächst lästige Gegenwart muss man sich erst gewöhnen. Den Blick auf meine Augen heften, auf ihre ungewöhnliche Farbe, golden und grün wie das Paradies. In deiner Unkenntnis könntest du fast meinen, dass mich ein unsichtbarer Mann mit einem Seidenschal erstickt, aber hab keine Angst. Im Licht sehe ich aus wie eine großgewachsene, erschöpfte Frau, fast leblos, und mein riesiges starres Grinsen bereitet allen Unbehagen, die mir begegnen. Dieses endlose, fast siebzehn Zentimeter breite Grinsen hat sich seit über zwanzig Jahren nicht verändert. Es sitzt ein wenig unterhalb meines Gesichts und verzerrt meine Worte und Sätze. Manchmal verberge ich es unter einem bunten Seidenschal; ich suche immer teure und erlesene Tücher aus. Ich stelle meine Kragen hoch.
Reden wir, die Gelegenheit dazu ist einmalig. Denn, ja, du bist das Ereignis, das ich mir nie vorstellen konnte. Es kommt aus heiterem Himmel über mich, trifft mich präzise wie ein Meteorit den Schädel eines leidgeprüften Propheten. Plaudern wir einfach, ohne aufzuhören. Wenn ich aufhöre, muss ich dir umstandslos, schonungslos, fast unbekümmert das Leben nehmen wie ein Metzger, der sich über das Gerippe eines Schafs beugt und gähnt. Ich meine, ich könnte den Beutel zerreißen, in dem du strampelst, und das bisschen Leben auslaufen lassen, das du bis jetzt angehäuft hast. Aus medizinischer Sicht bist du übrigens nicht am Leben, vom Standpunkt Gottes aus auch keine Tote. Ich wiederum habe vielleicht schon eine unschuldige Seele getötet. Vielleicht nicht mit den Händen, aber mit den Augenlidern, indem ich sie schloss. Selbst meine Mutter, Khadija, weiß nichts davon, sie will mich trotz meiner sechsundzwanzig Jahre weiterhin jeden Tag so betrachten, als wäre ich gerade erst geboren, damit sie ihrerseits durch meine Zärtlichkeit und meinen Gehorsam zum Leben erweckt wird.
Hier sind wir in meinem Schlafzimmer. Es ist dunkel im Stadtteil Miramar in Oran. Eine schöne, am Mittelmeer gelegene Großstadt, die in der Dunkelheit funkelt wie eine zerrissene Halskette. Es ist 2 Uhr früh, und ein Mann brüllt, ein Polizeiauto fährt vorbei und Hunde schleichen umher wie maskierte Diebe. Um das Bild vollständig zu machen, stelle ich mir wandernde Palmen und das Meer vor, das in die Straßen eindringen will und noch nach einer passenden Stelle sucht. Manchmal ist es eine Erleichterung, hilft es mir, dass ich in der Außenwelt stumm oder nahezu stumm bin. Die Leute erwarten von mir keine langen Sätze oder Diskussionen mit Lügen oder Übertreibungen oder Versprechen. Selbst wenn ich ab und zu jemanden geliebt habe, brachte ich meine Gesprächspartner mit meinen riesigen goldbraunen Augen ins Stolpern. Meine großen goldbraunen Augen, die die Farbe wechseln, sich nicht um ihre Wirkung auf die Männer scheren, denen bei ihrem Anblick die Worte fehlen. Sie schauen mich an, tauchen in meinen oszillierenden Blick ein, und jede Sprache wird untauglich.
Hör zu: Nachts dröhnen die Handelsschiffe auf dem unsichtbaren Meer, und ich kann dir weder erklären, was das Meer ausmacht, noch woher das Schiff kommt, das es mit seinem großen Metallohr abhorcht. Es gibt Dinge, die kann ich dir selbst in meinen Worten nicht berichten, Zwischentöne aus der Außenwelt. Es bräuchte ein langes Leben, um dir die tausend Einzelheiten dieser Szene aufzuzählen, und die Zeit hast du nicht. Was soll ich dir noch sagen, damit wir allmählich miteinander vertraut werden? Ich rede mit dir, und der Klang meiner Stimme, den du hörst, klingt nicht wie eine Stimme, sondern wie das Rascheln von Seiten beim Umblättern. Außerdem, wozu sollte ich das Meer, die Hunde, ein Schiff und Palmen genau umreißen, oder mein Gesicht, das sich im Dunkeln abzeichnet? Definitionen sind für die Lebenden, um sich sicher zu fühlen. Für dich sind das nur Klangfarben hinter einer Wand, an der du kratzt. Du bist noch da, im Dunkeln, sorgfältig von mir verborgen. Du hast es sicher warm dort, stimmts? Du schwimmst, glaube ich, oder du machst es wie ich, kauerst dich zusammen, ich stelle mir vor, dass dich die Nabelschnur ein wenig stört. Sie behindert dich. Ich wende mich an dich in meiner schönen, eindringlichen und stummen Sprache, mit der ich mir seit Jahren Geschichten erzähle oder die ich benutze, wenn ich in meinem Kopf mit meinen Feinden, Nachbarn, den Imamen spreche, mit Gott, der mir wertvolle Dinge geraubt hat. Auf eine verworrene Weise ist es die Sprache der Filme, die ich geliebt habe, und die mich aufgewühlt und zu Tränen gerührt haben. Die Sprache des Traums, der Geheimnisse, die Sprache all dessen, was keine Sprache besitzt.
In dieser Sommernacht bin ich im Dunkeln wie du, der Nachthimmel fühlt sich warm und tief an wie ein Kopfkissen, und ich kann nicht schlafen. Wenn du wüsstest, was Zeit ist, würde ich dir sagen, dass es 2 oder 3 Uhr morgens ist. In unserer Stadt ist die Nacht im Sommer kurz, kaum hat sie mühsam ihre Sterne ausgestreut, da bereitet ihr der Imam mit seinem Gebetsruf im ersten Morgengrauen schon ein Ende. Doch dort, wo du dich befindest, siehst du es nicht, weil deine Augen noch kaum entwickelt sind. Ich erkenne wenigstens mein Zimmer, meine Straße, das Schiff und das Meer, das es herbringt. Du hast auch kein Geschlecht, aber ich weiß, dass du ein Mädchen bist, meine Huri, denn so sehe ich dich, wenn ich die Augen schließe. Ich glaube, du kommst aus dem Paradies. Von dort, wo die Zeit nicht vergeht und man die Tage nicht zählt. Die Uhr auf der Klimaanlage an der Wand gegenüber zeigt auch die Temperatur an, und ihr Licht verleiht fast allen Gegenständen Schatten und Aura. Es gibt einen Nachttisch und meinen Schreibtisch, der keinen Nutzen mehr für mich hat, seit ich meinen Schulbesuch am Collège wegen null Punkten in algerischer Nationalgeschichte beendet habe. Meine Schuhe, die ich nie wegräume, und der große Vorhang mit den schwarzen Flamingos, die in den Falten des Stoffs gefangen sind. Dann die Faltläden. Ich habe sie nicht ganz geschlossen: Die Laterne auf dem Pfahl vor dem Café verströmt ihr Licht und will mein Schlafzimmer in Augenschein nehmen wie ein Vagabund. Es ist der Laternenpfahl auf der Caféterrasse, er rostet am Sockel, und man sieht das Gehäuse für den Stromanschluss. Was für ein Café? Es heißt Marhaba (»Willkommen«, wie ich in meiner inneren Sprache für dich übersetze). Alle diese Geschäfte tragen in der Regel denselben Namen wie im ganzen Land die Plätze, die den Märtyrern des algerischen Befreiungskriegs gewidmet sind, wie die großen Straßen in den Städten. Auch mein Frisiertisch steht hier, und an dem habe ich gestern den Spiegel zerbrochen. Armer Spiegel! In tausend Scherben zersprungen glich er denjenigen, die alles auf einmal sagen wollen, die stottern und die Wörter durcheinanderbringen, die sich schließlich selbst zerlegen, sich schluchzend an den Händen schneiden. Ein Spiegel, zertrümmert durch mein Unvermögen, richtig zu sprechen. Ich habe ihn zerschlagen, ja, gestern, erinnerst du dich nicht an das knirschende Geräusch, das durch meine Ohren, gedämpft von meinem Bauch, zu dir gelangt ist? Du weißt, auch ich stelle mir dich dort vor, wo du bist. Du führst dich namenlos bei mir ein, ohne irgendetwas, das dich an mich bindet, außer einer Schnur und Blut. Du ahnst mich wie einen Schatten, siehst undeutlich meine Welt, mein Zimmer, diese Stadt, die dir gleichgültig ist, und du weißt nicht, was ich wirklich will. Wir gleichen jenen fremden Landstrichen, die ein Erdbeben übereinander geschoben hat. Du schwimmst gegen den Strom, dein Schweigen ist dein Muskel, noch vermischt sich der erste Tag deines Lebens mit dem letzten, nur der Sturzbach meiner Rede fließt hindurch. Wie kann eine stumme Sechsundzwanzigjährige so viel sprechen, ohne Luft zu holen? Woher kommt dieses unwiderstehliche Verlangen, alles in einem Atemzug loszuwerden wie eine Taschenspielerin, die erwischt wurde?
Der Grund ist: Ich besitze zwei Sprachen. Die eine wie die Nacht, die andere wie eine Mondsichel. Die eine frisst sich in die andere.
Und ein Fischmaul, um alle beide zu sprechen.
Und um dir meine Monstrosität noch deutlicher vor Augen zu führen, ein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reicht. Genau da, an meinem Hals. Eine Angelschnur hält meinen Hals auf meinem Leib fest und verhindert, dass ich in Vergessenheit gerate oder auf dem Markt de la Bastille (dort erledigt man in Oran seine Einkäufe) zum Verkauf an einem Haken hänge. Drei oder vier Männer haben dieses starre Grinsen schon mit ihrem Zeigefinger betastet, wollten begreifen, woher es kam. Meine Mutter Khadija hat es lange Zeit abgehört, versorgt, überwacht, mit tausenderlei Heilmitteln unempfindlich gemacht und jahrelang fast jede Nacht gemessen. Vielleicht würde es größer werden und mich töten, wiederholte sie immer wieder, oder schrumpfen und mir ein normales Leben ermöglichen? Weil man dergleichen noch nie so groß, so deutlich, so fern allen Glücks, so aller Freude trotzend gesehen hat. Ich kann dir wenigstens meinen Vornamen sagen. Ich trage ihn wie eine Leuchtschrift in schwärzester Nacht. Ich heiße Aube, die Morgenröte. Fajr in der äußeren Sprache, Aube in meiner inneren.
(Atme.)
Meine beiden Sprachen schließen sich wie zwei Hände um meinen Hals. Die erste ist die Sprache, die in meinem Kopf tanzt wie ein Seidenschal, ein im Koran erwähnter Fluss, eine zweite Haut unter meiner Haut. Mit ihr spreche ich zu dir, um dich zu den Frauen im Paradies zurückzuschicken und dich zu überzeugen, dass es sich nicht lohnt, auf die Welt zu kommen. Statt vom Himmel zu fallen wie ein Schaf, solltest du dort bleiben, unerreichbar für Männer. Diese innere Sprache besteht aus all den Worten, die nie aus meinen Mund erschallen, wegen …, wegen … dem, was ich dir sagen werde. Ich verberge nichts. Ich schäme mich nicht für das, was ich auf meiner Haut trage. Weil sie mich versteht, hat meine Mutter Khadija mir sehr früh erklärt, dass Menschen alles, was sie geschrieben haben, überall wieder ausradieren können, nur nicht auf ihrer Haut. »Und du bist ein Buch«, versicherte sie mir. »Ein wahrhaftiges Buch, der Bericht über etwas, das nicht vergessen werden darf, ein Alphabet, von dem nur die Unwissenden nichts wissen«, wiederholte sie immer wieder an meinem Krankenbett in den Krankenhäusern, als man noch versuchte, meine Stimmbänder zu flicken. »Wenn sie meinen, alle Spuren ihrer Verbrechen beseitigt zu haben, wird es immer noch dich und deine herrlichen Augen geben.« Ich bin die wahre Spur, der unwiderlegbare Beweis für alles, was wir in zehn Jahren in Algerien erlebt haben. Ich berge die Geschichte eines ganzen Krieges in mir, der meiner Haut seit meiner Kindheit eingeschrieben ist. Wer lesen kann, wird es verstehen, wenn er meinen skandalösen Augen und meinem monströsen Grinsen begegnet. Wer vergessen will, wird sich vor mir und meinem Anblick fürchten.
Draußen bin ich stumm. Ich benutze kaum Wörter, um zu sprechen. Doch hier in meinem Kopf, zwischen dir und mir, kommen die Worte für fast alles, woran ich mich erinnere, wie von selbst. Gegenüber der Außenwelt bleibt meine innere Sprache ein Wunder an Genauigkeit und alten, darin zurückgebliebenen Geschichten, die nur darauf warten, wieder ausgerollt zu werden. Auch ohne Licht erhellt sich mit ihr alles oder fast alles, außer dem Ort, an dem du bist. Stimmt! Diese innere Sprache wird heller, wenn ich liebe oder wütend bin oder lache. Besonders die Schlaflosigkeit lässt sie anschwellen wie Hochwasser im Sommer. Sie umfasst auch die Stimmen derer, die ich geliebt habe, ihren Tonfall oder ihren Klang, etwa die von Souad, meiner Lehrerin in der Schule, die mich als Fünfjährige unterrichtete und aus meinem scheußlichen Grinsen ein weniger verletzendes Spielzeug auf meiner Kehle machte. Ich erinnere mich an diese Frau, die mich mochte und es liebte, meine Augen zu beschreiben, damit ich mein Grinsen vergaß. Eine Aura umspielte ihr glänzendes schwarzes Haar, und ihr darin versunkenes Gesicht erinnerte mich, ich weiß nicht warum, an den Mond oder an einen Spiegel oder eine glückliche Heirat. Ihre Schönheit war der erste Buchstabe im Alphabet meiner heimlichen Sprache. Nur damit du weißt, wie schön meine Lehrerin Souad war, doch damals, in dem Alter, kannte ich das Wort noch nicht, spürte aber mein Herz höherschlagen. Ich wünschte mir, ihr Spiegelbild zu sein! Ich erinnere mich, dass ich am liebsten jedes Mal geweint hätte, wenn sie mich liebevoller ansah als die anderen Schüler. Dann wollte ich sie um Verzeihung bitten, dass ich mit meinem Grinsen so schrecklich aussah. Meine innere Sprache begann mit ihr, das schwöre ich vor sämtlichen Büchern.
In dieser Sprache schreibe ich auch: Sie ist schnell wie eine Schlange, jagt im Zickzack, flitzt über den weißen Bauch des Papiers, und in der Schule kam immer ich auf die schönsten Antworten, weil ich gern schrieb. Oft war ich die Schnellste beim Lösen eines Problems, weil ich stumm oder fast stumm war. Denn seit meinem fünften Lebensjahr verschwende ich nie Zeit darauf, mit den anderen zu sprechen; ich schweige, und wenn ich zu schreiben beginne, geht es schnell, unbekannte Gebiete erreiche ich als Erste, vor den anderen. Vor meinen Mitschülern, die in meinem Kopf immer Schlange stehen, um über mich zu befinden und mich zu umzingeln, ihre Füller auf mich gerichtet, um mein Grinsen zu berühren, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Die Nacht löst sich auf, meine Sprache, meine Ohrmuschel, mein Makel; ich würde gern weggehen, schweigen, mich jeder Rechtfertigung entziehen, aber ich versuche, es dir zu erklären. Ich zögere den Augenblick hinaus, dir von der anderen Sprache zu erzählen, der äußeren, mit der ich mich an andere wende: an meine Mutter, meine andere Mutter, meine seit über zwanzig Jahren tote Schwester, den ersten Arzt, als ich fünf Jahre alt war, den benachbarten Imam, an den Wächter meines Autos mit seinen verklebten Augen, meine beiden Angestellten, die mit Worten geizen, die Kundinnen meines Salons, an einen Hund, der vor dem Regen flüchtet, an dich, an Abdou, den Rechtsmediziner und Freund meiner Mutter, an das Messer, an Gott und seinen Widder. Die fremde Sprache, die andere vor Scham verstummen lässt, wenn ich rede, sie finden kaum Worte und suchen Zuflucht in meinen Mondaugen oder in meinem Grinsen. Ach, meine in der dämmerigen Dunkelheit gefangene Unbekannte, es ist die Sprache des Mitleids der anderen.
Pssst!
Es ist schwierig, dir das zu erklären, denn vielleicht haben sich deine Ohren noch nicht gebildet. Ich drehe mich in meinem Zimmer im Kreis, dein Schweigen quält mich. Nachts überfällt mich manchmal die Angst vor deiner Zukunft. Angst wovor eigentlich? Vor der Scham, nach dir irgendwie weiterleben und dich überleben zu müssen. Wenn ich zur Tat schreite, werde ich wieder keinen Schlaf finden, die weiße Wand anstarren, um meine Augen zu trocknen. Alles wieder von vorn beginnen, alles rechtfertigen, alles erklären, verhandeln müssen … Zum zweiten Mal raube ich mein Leben einer anderen und schlüpfe in einen Leichnam, um im Sonnenlicht zu bleiben. Verstehst du? Wenn ich dir helfe zu sterben, werde ich nichts mehr haben, ich werde mich überall verjagt fühlen. Und nicht einmal mehr schreien können, denn ich habe ja keine Stimme. Das jedenfalls ist mein Schicksal: Mich abtasten, um zu wissen, was in mir tot ist und was lebt, ob der eine oder der andere Teil von mir noch atmet. Weißt du, ich rieche zum Beispiel seit Langem nichts mehr, der Geruchssinn ist verloren. Wie die Haut von anderen duftet, ist mir nahezu unbekannt. Ich fühle mich zweigeteilt, in zwei Körper, zwei Sprachen. Mein Grinsen durchschneidet mich.
Man erstickt.
In diesem Jahr hat der Sommer dem Himmel anscheinend alle Luft geraubt. Selbst um diese Uhrzeit ist es noch heiß, zu heiß für mich, aber ich habe mich nicht getraut, die Temperatur der Klimaanlage abzusenken, meine Mutter dreht durch, wenn ich krank werde. Ich würde gern rauchen, Tabak fressen, mich damit umbringen. Es rast in mir wie ein Tier, wie jemand, der fleht und mit den Füßen in meinem Blut trampelt. Aber ja, sogar in meiner Lage rauche ich manchmal! Es ist fast der einzige Geruch, den ich wahrnehme, beißend und stark. Mit der Austrocknung meiner Riechzellen sind alle anderen Gerüche seit Jahren verschwunden. In meinem Zimmer gibt es so wenige Parfümfläschchen wie Fotos aus meiner Kindheit, und auf denen sieht man mich im Sommer mit einem Schal um den Hals. Der Tabakgeruch macht meine Mutter wütend, denn Tabak bringt mich um, aber sie sagt nichts, sie blickt zu Boden und erkennt in ihrem Unglück den Beweis für ihre Mutterschaft. Wenn ich rauche, huste ich, und Husten ist das Schlimmste, was einer Frau wie mir passieren kann. Weißt du, in meinem Fall ist alles schwierig: husten, niesen, lachen und schreien. Düfte riechen, Geschmack empfinden, sie in meine Nase und bis ins Gedächtnis steigen lassen, mich an Dinge in meinem früheren Leben erinnern. Und sprechen.
Als Schülerin auf der Schule dort drüben, auf der anderen Seite des Platzes, sprach ich wenig, aber ich hatte bohrende, wütende, harte, sanfte, schneidende, scharfe Blicke, meine Pupillen änderten die Farbe und schimmerten in tausenderlei Tönen … Große Huri-Augen, auffällig wie goldene Nächte, in denen meine innere Sprache funkelte. Ich konnte mit meinen Augen einen Erwachsenen verlegen machen oder eine Klassenkameradin zum Weinen bringen. Ich schwöre dir, meine Augen waren das reinste Alphabet, eine Messersammlung. Ich sprach schlecht oder wenig oder gar nicht mit dem Mund, sodass mich die anderen hinter meinem Rücken »Fisch« nannten. Die Erwachsenen und die Freunde meiner Mutter, die 2000, im Jahr meiner zweiten Geburt, vorbeikamen, um sie zu beglückwünschen, musterten mich neugierig: Wie konnte man in ein und demselben Gesicht zugleich Schönheit und Entsetzen zeigen? Was zu einem solchen Kind sagen? Ich habe die Gabe, Schwindel zu erregen wie ein Minarett oder ein Abgrund. Um mich darin zu üben, habe ich in der Schule sehr früh gelernt, unseren Lehrer zu fixieren (Herr Safi, Glatze, Glubschaugen wie ein Fisch, auch er, fünf Jahre lang in ein und derselben Hose, der Fehler hasste, als wären sie Läuse im Haar der arabischen Sprache, in der er uns unterrichtete und von der er schwor, sie sei einzigartig auf der Welt, die aber meiner heimlichen, meiner inneren Sprache nicht das Wasser reichen konnte), ich nagelte ihn fest, und trotz seiner Hartnäckigkeit gab er nach, wich mir aus, blätterte schnell die Seite seiner Namensliste um, um mich zu übergehen, und wendete sich mit seiner Frage dem Mädchen zu, das hinter mir saß. Ich begriff sehr früh, dass meine Sprache die Niederlage seiner Sprache war. Meine ist mächtig wie eine Beleidigung, sie ist schmerzhaft oder erhellt besser, was im Kopf oder in der Nacht vor sich geht.
Was meine andere Sprache anbelangt, die äußere, die vom Mund in die Ohren geht … Wie soll ich dir etwas erklären, das es nicht gibt? Dort, wo du bist, dringen nur Töne zu dir. Hör hin, denn du kannst weder lesen noch schreiben.
Als ich zum zweiten Mal geboren wurde, war ich fünf Jahre alt. Ich schaute im Fernsehen gern die Abenteuer eines Enterichs an, er hieß Donald Duck; er war drollig, knallbunt koloriert und sehr ungeschickt. Ich lachte über seine Wutanfälle; er konnte in einem Feld stecken bleiben, hinfallen, sich wieder aufrichten, sich zu einer Kugel zusammenrollen und sich über alles wundern. Was mir an ihm gefiel? Man verstand ihn kaum oder nur, wenn er seine Mimik und sein Gequake mit seinen Händen unterstrich. Um zu sprechen, zappelte er also herum, warf in seinem schönen bunten Haus alles um, verschluckte sich, verlor den Faden und wiederholte sich. Es ist ein bisschen dumm, aber in dem Alter dachte ich, dass dieser Enterich wirklich existierte und dieselbe Sprache hatte wie ich: eine ganz löchrige Sprache, die ohne Augen und Hände nichts umreißen konnte. Das ist also meine zweite Sprache, die äußere. Während hier, wenn ich mit dir in meiner inneren Sprache rede, alles deutlich erscheint wie in einem Spiegel.
Gestern hast du mich toben gehört. Selbst dort, wo du bist, gut geschützt, musstest du alles mitanhören. Ich zitterte, und meine Mutter schwieg. Sie wartete auf das nächste Wort, das nicht aus meinem Mund kommen wollte. Ich schrie, und mein Schrei hallte so lächerlich wider, dass ich wahrscheinlich ausgesehen habe wie Donald in der bunten Flimmerkiste. Ich brachte es nicht heraus; es kehrte zu dir zurück, und du hast dich gewunden und gezappelt wie eine Wahnsinnige im Irrenhaus. Du hättest sterben, an meiner Atemnot ersticken können. Dann weinte ich. Wenn man wütend ist, verliert man sich irgendwo in den zwei Sprachen und hat nur noch Steine im Mund. Begreifst du meine Not? Ich kann mit meiner äußeren Sprache nicht einmal schimpfen. Allerdings stecken wir nun zu zweit in der Klemme. Du bist da, wenngleich ich dich nicht sehe, selbst wenn du in deiner Dunkelheit an der Nabelschnur ziehst. Ich bin ein Buch und leuchte mich allmählich für dich aus. Denn meine innere Sprache entdeckt endlich einen Weg aus mir hinaus: Sie hat in dir zwei Ohren gefunden, sie gräbt sich einen Gang, um sich in der Welt deiner anfänglichen Blindheit zurechtzufinden. Sie war eine blockierte unterirdische Quelle, jetzt entdeckt sie in dir einen Riss, der ihren Lauf zum Delta weitet. Du bewahrst mein Geheimnis und du wirst hierbleiben, bis ich dich nach Hause zurückbringe, in die entgegengesetzte Welt, dorthin, wo man nur lachen muss, um Gärten hervorzubringen.
Der Muezzin! Das ist die Stimme des Muezzins. Es ist 4 Uhr 34 morgens. Die dröhnende Stimme ruft zum Gebet, und sie ruft laut, um die Schlafenden wachzurütteln. Es ist eine Sprache der Mahnungen und Drohungen, sie führt von morgens bis abends das Ende der Welt vor Augen. Nach seinem Ruf stehen die Männer auf, rülpsen, taumeln und waschen sich mit kaltem Wasser, zuerst die intimen Körperbereiche, dann die Arme und den Kopf. Schläfrig machen sie sich auf den Weg zu Gott, der nie schläft. Ich bleibe dabei: Du musst gehen, ich muss schweigen, du wirst dorthin zurückgehen, von wo du in meinen Bauch gelangt bist, oder du gehst mit dem Urin in die Kanalisation, die schwarze Kehle der Stadt. Ich lege keinen Wert darauf, dass du bleibst, ich werde dir das immer wieder sagen. Aber ich werde dich tolerieren, wenn du meine Geschichte anhörst, darauf achtest, was meiner Haut eingeschrieben ist: diese Narben, die du nicht berühren kannst. Danach, wenn ich aufhöre, werde ich dir den Kopf abschneiden, nicht mit einem Messer, sondern mit tausend zärtlichen Worten, tausend Ratschlägen, damit du dorthin zurückkehrst, wo du hergekommen bist. Denn das hier ist kein Platz für dich, in diesem Land zu leben, ist für eine Frau ein dorniger Weg. Ich werde dich aus Liebe töten, dich in Richtung Paradies mit seinen riesigen Bäumen verschwinden lassen. Nicht ich halte an dir fest, meine zweite, allzu verwaiste Sprache tut es. Ihretwegen bin ich hier, spreche möglichst schnell im Dunkeln, während die anderen schlafen oder Anstalten treffen, um zu ihrem Gott zu beten, ihretwegen finde ich keinen Schlaf. Ich schaffe es nicht, die Augen offen zu halten, um meiner Mutter zuzusehen, die in einem anderen Zimmer ihre Koffer packt. Noch sie zu schließen, ohne dich dort, im Undurchdringlichen, eingenistet zu sehen. Meine zweite Sprache, die innere Sprache lockt mich in die Falle dieses Monologs. Sie besteht darauf, dass ich dich am Leben erhalte und dir erkläre, wie du, von drei tödlichen Pillen ausgestoßen, sterben wirst. In der äußeren Sprache stumm, hätte ich niemanden mehr, mit dem ich sprechen könnte, wenn ich dich töten würde. Draußen ginge die Sonne auf, und die Sprachen schnatterten, heulten auf ewig ohne mich weiter. Deshalb wirst du, mein Stern, am Leben bleiben, ich meine, zwischen Leben und Tod, bis ich mich entschließe, dieses Gespräch zu beenden. Es ist alles mein Fehler. Ich hätte vorsichtig sein sollen, nicht auf idiotische Weise schwanger werden dürfen, dann müsste ich nicht abtreiben wie ein gehetztes Tier.
17. Juni, am frühen Morgen.
Ich mache das Fenster auf, denn es fehlt an Luft wie in einem Grab. Hörst du sie? Ich habe sie vorgestern gesehen, als ich von meinem Friseursalon zurückkam. In drei Tagen werden sie alle tot sein. Die ersten liegen schon paarweise gefesselt auf den Märkten am Stadtrand von Oran. An den Hörnern zusammengebunden in einem aussichtslosen Kampf. Nachts gelingt es ihnen besser, ihre Stimmen zu vereinen, sie blöken ununterbrochen. Als würden sie flehen, nach einer Antwort suchen. Wenn du auf den Tiermärkten in den neuen Stadtvierteln im Osten herumspazieren könntest, würdest du überall welche sehen. Während die Männer über ihren Preis und ihr Gewicht verhandeln, scheinen sie alle nach Süden zu schauen. Vielleicht schielen sie nach den Städten auf den Hochebenen, in denen sie geboren wurden, und suchen in dem Durcheinander einen Weg dorthin. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Fest. Bald werden es noch viel mehr sein. Wenn du dann immer noch da bist, wirst du sehen, wie sie sich sogar hier unter dem Fenster zusammenrotten, am Fuß dieses Wohnhauses in der Innenstadt von Oran. Unser Viertel, Miramar, wird voll von ihnen sein, sie werden sich auf den Balkonen, in den Kellern, in den verfallenen Eingängen der französischen Art-déco-Häuser drängen. Überall in den Straßen, ich schwöre dir, überall, als wäre es der Tag des Jüngsten Gerichts. Und wie ein dreckiges Kleid werden sie den Angstgeruch, den sie zwischen ihren Klauen ausschwitzen, mit sich herumschleppen.
Meine Mutter Khadija feiert dieses Fest nie. Das ist nichts für meine Familie. Nicht mit meiner Narbe am Hals, der Geschichte auf meiner Haut, meinem Grinsen. Wir begnügen uns damit, Fisch und ein paar Kilo Fleisch zu kaufen, legen sie in den Kühlschrank und warten, bis sich die Hysterie beruhigt und der Wind das letzte Brüllen davonträgt. Zuletzt sind sie still, diese vom Himmel gefallenen Tiere, die mit jahrtausendealten Anekdoten, Propheten und Opfern verknüpft sind. Mich bekümmert dieses alljährliche Spektakel nicht. Es bringt einfach nur Staub in die Stadt, panische Angst. Und verwandelt Oran, die sonst so schöne Stadt, mit dem Meer am Busen und seinen verliebten Palmenpaaren, zu einem riesigen Zelt von Schafzüchtern, das im Wind schlägt, und weißt du, der Wind verfolgt mich seit meiner Kindheit, denn er schürt die Leere in mir. Manchmal denke ich, dass ich dasselbe fühle wie diese entsetzten Tiere, wenn sie ihre Todesstunde nahen spüren. Ich meine diesen Moment, in dem man zum Himmel blickt und der Hals die von einem Messer gebannte Halsschlagader entblößt.
Ob du das weißt? Das stärkste Gefühl in diesem Augenblick ist nicht der Hass auf den Schächter, sondern vielmehr die entfesselte Hoffnung, verschont zu werden, nachdem man übermäßig viel Blut verloren hat. Du denkst: Wenn ich gehorche, werde ich nicht getötet. Hör zu, mein kleiner Eindringling. Es ist nicht so leicht zu begreifen für jemanden, der dieses heilige Fest, diese Religion, diese Stadt nicht kennt. Warum treibt man so viele Tiere zusammen, um sie am Ende binnen einem oder zwei Tagen zu essen? Warum verschulden sich die Leute, um sie zu kaufen und lastwagenweise aus den Städten im Süden herzubringen? Es ist mühsam, diese Geschichte jemandem zu erzählen, der dieses Land vor meiner Bauchdecke allenfalls flüchtig kennt. Ich versuche, es dir zu erklären und erscheine dir dabei nebulös wie eine fremde Sprache. Seit den paar Stunden, die du zappelst, weißt du wenigstens, dass ich stumm bin, dass mein Gesicht seit gestern im Spiegel zerbrochen ist und in tausend Scherben liegt, dass ich dich nicht in mir haben will. Ich will absolut nicht, dass du dir einen Platz in mir aushöhlst, und ich träume zugleich davon, dass du dich dort einnistest, über alles hinwegsetzt, um mir endlich zuzuhören, als hätte ich es mir auf einem fliegenden Teppich bequem gemacht. Denn, schau, auch ich bin eingesperrt, oder fast eingesperrt. Aber einen Spaltbreit offen, am Leben gehalten durch ein Loch in meinem Hals. Ich atme durch eine Kanüle und kämpfe gegen die Wellen an, die sich auf der Wasseroberfläche der Welt der Lebenden bilden. Wäre der Spiegel nicht zerbrochen, hättest du das Loch in meiner Kehle sehen können, das mein monströses Grinsen zu verbergen versucht. Meinen sperrangelweit offenen Kehlkopf, meine entblößte Speiseröhre, diesen falschen Mund mit seinen vernarbten und zusammengekniffenen Lippen. Es ist dunkel, rot, zuckt wie ein Eingeweidebruch. Man darf nie den Finger reinstecken und muss die Öffnung immer desinfizieren, nachdem man sie berührt hat. Das Grinsen selbst reicht von einem Ohr zum anderen, es ist die Spur des Messers, sein Schnitt in mein Fleisch. Eine siebzehn Zentimeter lange Wunde, die genäht wurde. Man darf nicht reinschauen, sie nicht zu lange der frischen Luft aussetzen. Wie soll ich dir beschreiben, was ich empfinde, wenn ich mich ohne die Kanüle, die dieses Loch zudeckt, und den Seidenschal im Spiegel betrachte? Selbst meine Mondaugen werden dann matt. »Man kann deine Geschichte nicht auslöschen, sie ist dir auf den Leib geschrieben«, sagte meine Mutter immer. Wie stolz mich dieses Bild gemacht hat, als ich klein war! Ich, ein Buch? Mein Körper soll ein großes Heft voller Geheimnisse sein? Eine Schrift, damit niemand vergessen kann, was zehn Jahre lang in Algerien geschehen ist?
Um mich von meinen Gedanken abzubringen, nahm mich Khadija oft mit ans Meer, an den Strand Les Andalouses. Das ist ein kleiner, altmodischer Touristenkomplex im Westen von Oran. Nach einer Spazierfahrt erwarteten uns jedes Mal weiße, am Strand aufgereihte Bungalows. In meiner Erinnerung war es immer kalt in diesen ungetrübten Stunden. Denn Khadija brachte uns, ihre Freunde und mich, im Herbst, im Winter, wochentags und immer in der Morgendämmerung dorthin. »Dann haben wir das Meer ganz für uns, niemand sonst wird da sein!«, rechtfertigte sie sich. In Wirklichkeit ertrug sie das Spektakel der lauten Familien, der unverschämten und flegelhaften Jugendlichen an den Sommerwochenenden nicht mehr, ihr graute vor dem Schmutz der Badenden, den schwarz verschleierten Mädchen und ihren Plastikflaschen, die sie dem Wind überließen. Weißt du, Khadija liebte das Meer wie ein verlorenes Schmuckstück. Du hättest sie sehen sollen, wenn sie ankam, schwieg, sich mit bloßen Füßen auf ihr Handtuch setzte, ihren Blick auf die Fluten heftete. Und sie, die immer so umtriebig war, die starke Stimme der Anwaltschaft, hielt inne, als hätte sie die endgültige Erklärung in sich selbst gefunden. Das Meer füllte die Leere ihrer Erinnerungen, die eines Waisenkinds, das am 5. Juli 1962 ausgesetzt worden war. Wir blieben lange schweigend im nassen, von Algen übersäten Sand sitzen, damit alles in uns an seinen Platz zurückkehrte. Das Meer hat eine laute Stimme, die die meiner Mutter und die meiner inneren Sprache übertönt. Man konnte stundenlang reglos dasitzen und dieser rauen Stimme zuhören, die sich uns anvertraute. Dann nahm jeder nach und nach wieder seine Rolle ein und die Bungalows stellten sich wieder in eine Reihe. Der Sand mit seinen Mulden und Buckeln kehrte zurück, marode Boote erschienen wieder in unserem Blick, und in der Ferne tauchten Fischer auf und bevölkerten den Ort. O wie schön und schwer das Meer ist, wenn man es in sich trägt, mein kleiner Fötus! Sobald ich es mit meinen Zehen berührte, begannen tausend Möwen vereint zu schreien. Sie verlachten mich im Flug und schwenkten dabei ihre Stoffe, schimpften mich aus mit ihren Schreien; spöttisch hielten sie mir vor, dass ich meine versteckte.
Seitenlange Plaudereien am Feiertagshimmel. Und in mir. Mit dem Tosen des Meeres in uns kehrten wir so spät wie möglich nach Hause zurück.
Weißt du, im Sommer, kurz vor den großen Ferien, wenn die Schüler den letzten Schultag feierten, flogen überall in der Rue Miramar im Zentrum von Oran Papierstücke durch die Luft, zerrissene Hefte und aufgetrennte Bücher. Die tausend handschriftlichen Datumsangaben oben auf den Seiten, die tausend Geschichtslektionen, alles wirbelte am Himmel und verwandelte sich in lachende Möwen. Und hier, in meinen Stranderinnerungen, sind diese Vögel so. Die Möwen kehrten tausendfach als Hefte zurück und boten mir die Stirn, mir, dem einzigen Buch, das in der nächtlichen Eile der Bluttat geschrieben worden war. Das Buch, das die tatsächliche Geschichte des wahren Krieges in Algerien vor dem Vergessen bewahrt. Von all dem hast du natürlich keine Ahnung. Du weißt nicht, wie viele Steine es in einem Leben gibt. Womit soll ich also um unser beider Willen beginnen? Womit? Vielleicht fange ich mit dem einfachsten an und erzähle dir die Geschichte meines Vornamens, den habe ich dir bereits gesagt: Aube.
Mein Vorname war ein Geistesblitz meiner Mutter in dem Rettungswagen, dessen Sirene am 1. Januar 2000 auf der Straße zwischen einer Stadt im Osten, die Relizane heißt, und Oran heulte. Sie gab mir den Namen, während ich blutete wie ein geopferter Widder, als wollte sie mit diesem ersten Akt dem Tod die Stirn bieten.
Lies.
Lies in mir.
Und höre mit mir, um zu verstehen. In der Sommerhitze wehklagen die Schafe überall in Oran über ihr Schicksal. Höre diesen langen und weit verstreuten Klagen gut zu. Diese Geschichte kennst du nicht, sie spielt in einem Land, um das du dir keine Gedanken machst. Glaub mir, Töchterchen, ich will dich daran hindern, in eine Geschichte verwickelt zu werden, in der du nur eine Frau bist und kaum mehr zählst als eines dieser Schafe. Verstehst du? In ein paar Tagen ist das Opferfest, Aïd al-Adha in der äußeren Sprache. Vor langer Zeit träumte ein Prophet mit Namen Ibrahim, er würde seinem Sohn die Kehle durchschneiden, um seinem abgefeimten Gott zu gefallen. Als auf dem Berggipfel die Halsader schon auf dem steinernen Altar pochte und das Kind die Augen schloss, um sich vor dem Tod zu verstecken, ließ Gott im letzten Moment einen Widder vom Himmel hinabsteigen. So wurde der Sohn gerettet. Zumindest für eine gewisse Zeit, denn später wurde er in der Wüste zurückgelassen, wie der Koran erzählt. Und seit diesem Vorfall, kleine Kaulquappe, schneidet man Schafen statt Menschen die Kehle durch. Allerdings nicht immer! In dem Jahr zum Beispiel, als mein Grinsen entstand, am Ende des Bürgerkriegs, wurden mehr Menschen als Schafe getötet. Wie soll ich dir vom Krieg erzählen, ohne dich zu beschmutzen oder dir Monster zu zeigen und sie dir eines nach dem anderen in den Mund zu legen, damit du sie kaust und schluckst? Der Prophet Ibrahim muss während dieser Jahre in Algerien lange im Bett geblieben sein. Er muss weit über den Tag hinaus geschlafen haben, und wir alle sind in seinem blutgetränkten Traum eingesperrt geblieben, in dem er mit dem Messer in der Hand umherrannte, um jedem Sohn die Kehle durchzuschneiden. Und wenn man in diesem dunklen Jahrzehnt eine Frau war? Dann war es noch schlimmer. Siehst du, kleine, unerwartete Fremde, wenn du in diesem Land geboren wirst, riskierst du etwas. Es wird Jahre geben, in denen wirst du dich sattessen, und andere, in denen wird man dich aufessen, und noch andere, in denen wird man dir die Kehle durchschneiden. Du wirst für den rabulistischen Traum eines alten Propheten damit bezahlen, dass dich jemand vergewaltigen wird. Übrigens erlösen die vom Himmel gesandten Schafe nur die Knaben, nicht die Mädchen. Wenn der Nachkomme Ibrahims ein Mädchen ist, endet die Geschichte immer blutig. Spitze die Ohren und höre den Schafen zu. Hörst du? Sie blöken. Auch sie sehnen sich danach, in den Himmel zurückzukehren, diesem Krieg zwischen dem Traum und dem Sohn, dem Propheten und dem Tier, dem Albtraum und dem grinsenden Messer zu entkommen. Sie wollen weiter nichts, als die Menschen ohne Mittelsmänner und ohne Tieropfer zurückzulassen, sollen sie sich doch gegenseitig töten. Das ist schon vorgekommen, meine kleine Sardine, und zwar in diesem Land, und nicht nur einmal.
Verstehst du jetzt?
Meine Mutter schläft oder tut so, wie damals, am 5. Juli 1962, als man sie vor dem Eingang einer Moschee in Algier in einer Wiege fand, über die die Gläubigen hinwegstiegen. Morgen wird sie in ein fernes Land reisen, das Belgien heißt, um einen Arzt zu bitten, mir zu helfen, und wir werden allein sein, du und ich, und können nach einer einvernehmlichen Lösung suchen. Ich gebe das Schaf seinem Gott zurück, ich töte dich, ich dränge dich aus dem Leben, ich schicke dich zurück ins Paradies, wo die Huris plappern, und ich erspare dir das Schlimmste. Ich behalte den Albtraum, ich gebe dir das ursprüngliche Licht vor dem Leben wieder, ich verhindere, dass du unter die Hände und die Messer kommst. Selbst wenn es nur ein paar Tage lang sein wird, irgendwie bin ich deine Mutter, und ich denke an dein Wohl, und dein Wohl ist es zu sterben.
Tock tock! Bist du da?
Schlummerst du? Meine Mutter ist, glaube ich, aufgestanden. Sie reißt die Fenster auf, schlägt eine oder zwei Türen zu. Das ist unsere gemeinsame Sprache, wenn wir streiten. Wir schlafen dann schlecht, alle beide. Liegen einen Teil der Nacht wach und lauschen auf das, was hinter den Wänden geschieht. Und weil wir beide verlorene, adoptierte Kinder sind, reden wir zum Schluss immer miteinander, um nicht in die Einsamkeit zurückzufallen. Mit den Jahren und den Streits hat sich dieses Duell umgedreht, meine Mutter ist quasi kleiner geworden, hat ihre Autorität nicht mehr in die Waagschale geworfen. Und ich habe im Gegenzug ihr Alter angenommen, ihre Strenge, ihre Ticks (mehr mit dem Zeigefinger und den Brauen reden als mit dem Mund). Wir tauschen die Rollen. Dieser Tanz ist unergründlich, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, sie achtundfünfzig. Doch von nun an sieht es so aus, als würde sie rückwärts auf eine Kindheit zulaufen, die sie nicht hatte. Meine Mutter Khadija ist unergründlich. Sie ist ein dickes Schaf. Sie ist klein, hat kurzes schwarzes Haar, und eine alte Panik verschleiert stets ihre Augen, wenn sie meinem Blick begegnet. Sie ist Ibrahims Widder. In einem Augenblick in meiner Geschichte hat der Himmel sie gesandt, um die Aufmerksamkeit des Messers abzulenken und ein Kind zu retten, das eine große Narbe am Hals abbekommen würde. Nur dass in dieser Version der Prophet flieht und der Widder mit seinen sanften dunklen Augen bleibt, und das ist meine Mutter. Sie schützt mich, umgibt mich mit Wattemauern, trifft alle Arten von Vorsichtsmaßnahmen und verbietet mir, fortzugehen, zu reisen, nachts auszugehen, zu rauchen oder Männer zu treffen.
Hörst du? Sie rächt sich an den Gegenständen, den Tassen, den Haushaltsgeräten. Gestern hat sie mitbekommen, wie ich den Spiegel in tausend kleine Wahrheiten zerbrochen habe, die man nicht wieder zusammensetzen kann. Und jetzt? Jetzt zeigt er tausend Gesichter, dieser arme Spiegel. In einer Scherbe läuft eine Schnittwunde über einen weißen Hals. In einer anderen stehen Haare zu Berge. Eine Lippe bebt, wenn ich mich herabbeuge. Sie zittert, als wollte sie zu einem Geständnis ansetzen, hier, siehst du? Und aus noch einer anderen starren Augen mit einer Iris von seltener Farbe hervor wie eine Frage ohne Antwort. Sieh dir meine Kanüle an: Es ist dieses dicke Plastikröhrchen, das wie ein halber Wasserhahn an meinem Hals klebt, es verbirgt die Grube in meiner Kehle. Die Kanüle sieht aus wie das Ende einer Zahnpastatube, eine Flöte mit einem einzigen Loch. Durch dieses Loch atme ich, es sitzt direkt auf meiner Haut.
Gestern saß meine Mutter im Salon, als sie mir ankündigte, sie werde am nächsten Tag das Flugzeug nehmen. Sie richtete die Augen auf ihre Hände, die sie wrang wie ein Wischtuch. Sie würde ein Flugzeug nach Brüssel nehmen, um mit einem bekannten Chirurgen über meinen Fall zu sprechen. Die Hoffnung, durch die Chirurgie meine Stimme wiederzubekommen, ist eine alte Geschichte, die für mich immer schlecht ausgeht. Wir haben es schon versucht. Doch dieses Mal warst du in mir und lachtest über diese gewollte Hoffnung, und auf ihr lag ein Schatten der Mutlosigkeit. Sie machte sich etwas vor. Ich merkte es an ihren Sprechpausen, an ihrem Blick und an ihrer Angst, die daher rührte, dass sie als Kind in einer Wiege gefunden wurde, und die sie nie loslässt. Sie verstummte, und das Schaf mit der Wolle für zwei trat wieder zutage. In der Zwickmühle zwischen der Stimme mit ihrem falschen Versprechen und der deinen in mir, schrie ich los wie eine Irre, und nichts regte sich mehr im Raum. Später habe ich in meinem Zimmer diesen Spiegel zerbrochen.
Weißt du, wenn Khadija lügt, sieht sie mich nicht an, sondern mustert sich selbst, als ob sie in den Opferflammen läge. Insgeheim will sie, dass ich nie erlebe, was sie erlebt hat. Im Gegensatz dazu bekommt ihr Leben dadurch den Anschein, ein Fehler zu sein, und das quält sie, treibt sie zu maßloser Liebe und zur Perfektion bei der Verteidigung ihrer Mandanten. Ihre Geschichte? Die Geschichte eines Schafs, sagte ich dir, das zwischen einem Propheten und einem Messer, zwischen Himmel und Altar eingeklemmt ist. Weißt du, dass sie alles einem Blick unterwirft, der hart ist wie das Gesetz, die Stimme der Autorität? Sie ist eine angesehene Rechtsanwältin in Oran. Ihre Stimme ist bekannt, wird gehört, sie rettet Leben oder schneidet Köpfe ab, und sie tut das mit so viel Leidenschaft, wie jemand, der mit seinen eigenen Gespenstern verhandelt. Sie hat ihre Kanzlei am schönsten Boulevard der Stadt in einem haussmannschen Appartement neben dem Hotel Royal. Khadija ist dort seit über dreißig Jahren als Anwältin tätig. In Oran ist meine Mutter berühmt. Du könntest sie kennenlernen, wenn du leben würdest, sie kommt aus Algier, der Hauptstadt dieses Landes. Sie ist eine mutige Frau, wird respektiert und ist seit jeher unverheiratet! Die aufopfernde Art, mit der sie mich liebt, ist schön und ungeheuerlich. Heute verstehe ich ihre seltsame Liebe für mich besser, ihr Leben ohne Mann oder Ehemann an ihrer Seite, auch die Tatsache, dass sie ihr Glück in der Kindheit eines geschundenen kleinen Mädchens gefunden hat. Ich sage dir: Man hat sie am algerischen Unabhängigkeitstag in einer Wiege entdeckt. Vielleicht war sie überzeugt davon, dass sie durch Erfolg Aufmerksamkeit erregen oder sich ihr Leben über meine Kindheit zurückholen, mich behüten musste, da man sie bei ihrer Geburt nicht behütet hatte.
Für manche ist das so: Sich für andere zu Tode schuften, ist für sie eine Art zu leben und Vergebung zu erlangen. Sie demütigt sich ständig vor mir, wartet, dass ich ein oder zwei Worte in der hoffnungslosen Entensprache finde, schweigt, um mir Zeit zu lassen, sie zu peinigen. Ich verheddere mich im Mienenspiel, erstickt von den endlos vielen Seiten, die ich in mir trage, die ich in zwei Jahrzehnten des Schweigens in mir fabriziert habe, und die laut vorzulesen ich nie schaffe. »Doch, ich schwöre dir bei Gott, es stimmt! (sie glaubt nicht an Gott oder nur bei den großen Ereignissen oder wenn ihre Pflegefamilie sie besucht). Er hat beteuert, dass man deinen Fall gründlich untersuchen kann, dass man es noch einmal versuchen sollte.« Dabei blieb sie, dann schwieg sie, zog sich in sich zusammen und kehrte in die Wiege zurück, in der man sie im Juli 1962 in der Morgenröte am Eingang der großen Ketschawa-Moschee in der Kasbah von Algier fand. Ich begann zu schreien, mit meiner Stimme an den Wänden zu rütteln. Dabei lösten meine entrüsteten Kinderschreie einen Skandal aus und machten die Nachbarn auf uns aufmerksam. So zumindest erzähle ich es mir. In Wirklichkeit träumten die weißen Vorhänge im Salon in aller Ruhe weiter, und in dem hellen Zimmer unserer Wohnung im zweiten Stock übertönte das Murmeln aus meiner zerstörten Kehle kaum den Autolärm auf der Straße. Meine ganze Wut war versammelt, lag in meiner Hand wie ein Kieselstein, aber es half nichts, wie immer. In unserem Viertel brummte, hupte der Rest der Welt und lebte weiter wie jeden Tag.
Khadija log, ich grollte deshalb, und auch ich machte ihr etwas vor, verschwieg die neue Hoffnung, die ich in meinem Bauch barg. Ich wollte glauben, ich sei wütend auf diese falsche Geschichte von der Stimme, die ich bekäme, wenn man mir Stimmbänder einpflanzte, von der Wiederherstellung des Kehlkopfs nach einer heroischen achtzehnstündigen Operation (»In den Vereinigten Staaten ist es gelungen!«, murmelte sie gequält). Tatsächlich war ich wütend auf mich, weil mein Herz aufgeregt und verräterisch pochte bei der Vorstellung, dass ich wieder sprechen könnte, und bei dem Gedanken, dass ich diese Stimmbänder durch dich bereits in mir hatte. Dass es genügen würde zu gestehen, dass du da bist, damit mein Kehlkopf gerettet wäre und meine beiden Sprachen sich vereinigten. Dass es den beiden, der Entenstimme und der Engelsstimme, gelingen könnte, sich zu einer einzigen, reichen und kraftvollen Sprache zu verwandeln, und dass diese Sprache die wahre äußere Sprache werden würde. Ich habe nichts gestanden. Ich ließ Khadija an ihre Reise glauben, und ich ließ sie im Glauben, ich wüsste nichts von ihrer Lüge.
Seit Stunden ist es nicht mehr dunkel. Ich liege mit geschlossenen Augen auf meinem Bett, und du liegst in mir wie der Mond im Wasser.
Khadijas Flug ging um zehn Uhr früh. Sie ließ sich viel Zeit, um die Tür hinter sich zu schließen, als wollte sie einen herzzerreißenden Abschied aufführen.
Bevor sie fortging, hat sie Kaffee für mich gekocht. Riechst du es? Ich rieche seit über zwanzig Jahren nichts mehr, höchstens Spuren. Die Luft geht nicht mehr durch meine Kehle, und wie der Arzt erklärt hat, würden meine Riechzellen erschlaffen und eingehen wie Blumen, die kein Wasser bekommen. Bevor sie fortging, weinte meine Mutter, doch ich blieb ungerührt. Ich glaube, dass all ihre Tränen immer demselben Bild entspringen, das sie mehr oder weniger vor sich versteckt. Als man sie am 5. Juli 1962 in der Morgenröte fand, stiegen Gläubige auf dem Weg zum Gebet über die Wiege des unehelichen Kindes hinweg. Sie ist der Beweis für die Verfehlung einer Frau (warum niemals für die eines Mannes?), und sie klagt diese Ungerechtigkeit immer an. Es ist ihre Geschichte, das unsichtbare Loch in ihrer Kehle. Vielleicht hätte ich ihr alles gestehen, ihr diese auf Illusionen beruhende Reise ersparen und dich in meinem Leben als einzig mögliche Verpflanzung, einzige wirkliche Stimme akzeptieren sollen. Ihre kummervolle, ostentative Abreise nimmt deine vorweg. Eure beiden Geschichten durchdringen mich, als strömten sie in mir zusammen. Sie ähneln sich, doch du wirst nicht in der Wiege landen, nicht vor der Moschee und nicht vor den Männern, die mit gleichgültigem Blick zum Morgengebet eilen.
Meine Mutter Khadija weiß nichts von dem, was ich im Bauch trage. Selten geht sie am Tag vor einem Fest weg, wenngleich wir nie am Opferfest teilnehmen. Doch dieses Mal würde sie aus wichtigem Grund fortgehen, sagte sie mir gestern noch einmal. »Ich schwöre dir, er sagte, es sei möglich. In Amerika, in Kalifornien, ist es gelungen. Wenn nötig, werde ich das Haus verkaufen, um das zu bezahlen!« Dann schwieg sie und beobachtete, wie die Worte in mich eindrangen, mich betörten, ihren Budenzauber in meinem Kopf veranstalteten. Weißt du was? Ich gewinne eine Woche Zeit zum Nachdenken, und du eine Woche, in der du dir deine Gründe zurechtlegen kannst, warum ich Gnade walten lassen soll. Ein Aufschub von ein paar Tagen. Mal sehen, wer gewinnt, meine mörderische Liebe oder dein vom Himmel gefallenes Leben. Khadija hat eine Nachricht auf dem Tisch zurückgelassen: »Ich werde dich jeden Tag anrufen, in weniger als einer Woche bin ich zurück, spätestens.« Sie hat das Flugzeug nach Paris genommen, und dort dann eines nach Brüssel, weil es keinen Direktflug aus Oran gibt. Sie wird in Belgien mit einem HNO-Spezialisten verhandeln. Wochenlang hat sie ihn angefleht, ihm geschmeichelt, ihn gehätschelt, damit er meine Stimmbänder wieder zusammennäht und das Loch in der Mitte meines Kehlkopfs schließt. Mir eine Stimme in der Welt zu verschaffen, ist der Kampf, den meine Mutter für sich führt.
Ihr Bericht über den Fund der Wiege kennt tausend Varianten, tausend Versionen. Einmal behauptet sie, man habe sie in der Morgendämmerung des 5. Juli 1962 gefunden; ein anderes Mal war es in der Abenddämmerung zur Zeit des Fastenbrechens. Die Jahreszeiten dieser Geschichte ändern sich gemäß ihrer Stimmung. In anderen Versionen wurde sie am Eingang zu einem Haus in der Kasbah, dem Altstadtviertel von Algier, abgelegt, und seine Bewohner hätten sich sehr beeilt, sie wieder loszuwerden und sie auf die Schwelle des Nachbarhauses gelegt und so weiter, bis die Wiege auf den Stufen der berühmten Moschee landete. Diese alte Geschichte hat noch kein Ende. Weißt du, an diesem Tag feierte das ganze Land die Unabhängigkeit Algeriens. Mit Jubelrufen, Fahnen, Luftschüssen, Gelächter, Tränen. Als alle schubsten und drängelten und »Tahya Al Djazair!«, »Es lebe Algerien!«, riefen, nutzte das jemand aus. Ein Mann (oder eine Frau, die einen Haik trug) näherte sich in der schummrigen Dunkelheit der berühmtesten Moschee und stellte diese Wiege in ihren Eingang oder auf die Schwelle eines alten Hauses. Was geschah dann? Es gibt immer wieder andere Versionen meiner Mutter. Manchmal schwört sie, der Imam habe eine Strafpredigt gegen die fleischlichen Sünder gehalten, während sie draußen vor Hunger weinte: »Eine unreine oder untreue Frau wird nicht am Tag des Jüngsten Gerichts in ihrer irdischen Gestalt auferstehen können, sondern in Gestalt eines Schweins.« Kaum geboren, brüllte Khadija, um ihm zu antworten, doch die Rufe des Imams schwollen noch lauter an, und die Wiege wurde gerade noch rechtzeitig, bevor das Tageslicht der Nachbarschaft den Skandal ihrer kleinen Stimme verraten hätte, von Hand zu Hand bis in eine andere Straße der Kasbah weitergereicht. In einer anderen Version wurde der Korb in die Loge des Imams gebracht, der schleunigst die Polizei und den Sozialdienst verständigte. Und in einer dritten Variante fand ein Mann, der nicht betete, während sich die Gläubigen niederwarfen, die Wiege beim Überqueren der Straße und nahm sie mit nach Hause. In diesem Szenario wurde meine Mutter hinter dem Rücken der Unabhängigkeit diskret von einem Krankenpfleger-Ehepaar adoptiert, das in Algier im Mustapha-Pascha-Krankenhaus arbeitete. Die beiden waren gerade von einer Mission in El Bayadh im Südwesten der Hauptstadt zurückgekommen. Wie ihre Eltern waren? Ich habe sie nicht gekannt. Sie sind jung gestorben, Hand in Hand wie auf der Fotografie, die vergrößert in unserem Wohnzimmer steht. Khadija studierte, befreite sich, wurde Rechtsanwältin. Welche Version auch immer sie erzählt, ich merke mir nur eine Sache: Als man sie aussetzte, konnte sie nach Herzenslust vor dem großen Eingangsportal der Ketschawa-Moschee schreien; sie konnte vor Hunger schreien, sie konnte in den Gassen des feiernden Algier ihre schrille Stimme sich überschlagen lassen. Ich nicht.
Nach dem Fehlschlag der letzten Transplantation gab es praktisch keine Hoffnung mehr. Am Telefon hatte es der Arzt meiner Mutter in einem langen Gespräch sogar noch einmal geduldig erklärt, aber dieses »praktisch« verwandelte sich für sie in einen Funken Hoffnung, dann in einen Brand. Da sie es gewohnt ist, für etwas einzutreten, weigert sich Khadija, das Scheitern anzunehmen. Sie gibt nicht zu, dass es aus ist und ich weiterhin mit einem einzigen Vokal im Mund und meinem in unserem Viertel berühmten Grinsen leben muss. Khadija hofft, wie du. Man hat es versucht, doch jedes Mal, wenn ich in einem Krankenhausbett wieder aufwachte, war meine äußere Sprache noch immer gebrochen. In meiner Erinnerung war Paris nur dieses blutbefleckte Krankenbett, dieser unmögliche Schrei. Und wenn ich nach einem nutzlosen chirurgischen Eingriff zu mir kam, war es Khadija, die ohnmächtig wurde und zu Boden ging, als hätte sie plötzlich keine Knochen mehr im Leib, während die Krankenschwestern herbeirannten. Bei jedem Versuch ging meine ganze Geschichte am selben Punkt von Neuem los.
Seit zwei Stunden brüllt ein Fischhändler: »Sardinen zu 500!«, »Fangfrische Sardinen, direkt aus Ghazaouet!«, und mit ihm kommt der neue Tag. In den Stadtvierteln beginnt das Leben, auf der Terrasse des Cafés Marhaba gegenüber werden Stimmen laut.
Als sie mir gestern schwor, endlich den richtigen Chirurgen gefunden zu haben, habe ich also, anstatt zu schreien, was ich nicht kann, die Tür zu meinem Zimmer zugeschlagen. Sie blieb bei ihrer falschen Hoffnung und ich bei meiner Lüge. Das letzte Mal, als wir uns gestritten haben (über meinen Friseursalon und seinen, wie sie meint, provozierenden Namen: er heißt Schahrasad), kam unwissentlich derselbe Sardinenverkäufer mit seinem abwegigen Geschrei dazwischen. Während sie weinte und sich in ihre ursprüngliche Wiege abgedrängt fühlte, und ich in der toten Sprache meines zerstörten Kehlkopfs schrie, machte es der Händler besser als wir. Er erhob seine nervige Stimme, wurde unter unseren Fenstern lauter und brüllte an meiner Stelle mit dieser Gabe, die ich nicht besitze, weiter: »Sardinen, fangfrische Sardinen!« Meine Lippen bewegten sich, als steckte ich in einem schlecht synchronisierten Film.
Um diese Zeit sitzt Khadija sicher schon im Flieger. Wie ich sie kenne, dürfte sie heulen und die Hände zusammenpressen, um alles Leben aus ihnen zu wringen. Ja, sie liebt es, Opfer zu bringen, wie andere das Beten. Jeder hat seine Schwächen. Meine Schwäche? Mit dir zu sprechen, wo ich dich doch töten sollte. Ich mache das Fenster auf, ich denke, du hast ein Anrecht auf ein wenig Licht in deiner Höhle. Man kann das Meer nicht richtig sehen, denn gegenüber liegt das Café Marhaba und dann die Bushaltestelle des Colonel-Lotfi-Lyzeums, auf dem ich meine gesamte Schulzeit verbracht habe, bis mir die Zahlen und besonders die Daten des Befreiungskriegs dieses Landes zu den Ohren herauskamen. Das ist ein anderer Krieg als der, von dem die Narben erzählen, die auf meine Haut kalligrafiert sind. Oran ist gemacht, um zu vergessen, nicht, um sich zu erinnern. Hier ist nichts von dem Krieg übrig, den die Schächter Gottes vor einigen Jahren geführt haben. Nichts, außer mir mit meiner langen Geschichte, die sich aufwickelt und abwickelt und dich dabei einwickelt wie eine Nabelschnur. Deshalb sind die Leute in der Nachbarschaft so nervös, wenn sie mich vor dem Haus treffen. Vielleicht ahnen sie, dass es die Hunderttausenden von Toten des algerischen Bürgerkriegs sind, die sie durch das Loch in meinem Kehlkopf anstarren.
Sieh mal, du kannst von hier aus das Getreidesilo im Hafen ächzen hören. Und wenn du deine Ohren spitzt, wirst du wieder die Tiere hören, die zum Jüngsten Gericht eintreffen. Sogar am Morgen, zwischen dem Dröhnen der Busse und dem Straßenlärm. Die blaue Linie dort, ganz da hinten, ist das Meer. Wenn du es zu lange betrachtest, ergießt sich das Meer in dich, das schwöre ich dir! Die Jungen aus Oran, die der Wunsch quält, nach Europa fortzugehen, behandeln die See wie eine Frau, die ihre Schenkel nicht spreizen will. Deshalb haben sie ständig ein Auge darauf und warten auf schönes Wetter, um den Versuch zu wagen, sie zu entblößen. Aber die See tötet sie auch. Es gibt außerordentlich viele Ertrunkene, die weiter im Osten angespült werden. Gräulich, die Augen von Fischen gefressen, werden sie wieder zu ausgestoßenen Föten.
Geh zurück ins Paradies. Von dort kommst du doch, oder? Nach diesem Ort lecken sich die Männer die Lippen, für ihn bringen sie sich gegenseitig um. Unterwegs ist sein Duft siebzig Jahre lang zu riechen, hat der Imam der benachbarten Moschee erzählt. Meine Huri, höre auf den Rat deiner mörderischen Mutter! Kehre in dein Zelt zurück, das aus einer einzigen ausgehöhlten Perle besteht, wie der Imam den Gläubigen immer wieder erzählt.
Es ist mitten am Vormittag. Ich muss dir etwas zeigen: Wie man eine Kanüle wechselt?
Wenn du vorsichtig mit den Fingern über sie streichst, spürst du sie; doch ich weiß nicht, ob man von dort, wo du bist, meinen »Schnorchel« erkennen kann. Vielleicht siehst du nur weit oben in deinem Universum undeutlich einen Durchstich. Ein wenig so, als wäre es deine Dachluke, ja? Dort befindet sich die Öffnung der Tracheotomie, die seit zwanzig Jahren vernarbt ist. Das Grinsen hat keine Zähne, man sieht nur die Punkte der Naht, fünfzehn Stiche, es ist eine langgezogene Grimasse, ein unglaublicher Schmiss. Durch diesen Hohlraum atme ich die für uns beide notwendige Luft ein, rufe ich in meinem Albtraum um Hilfe. Ich schreie, doch was an Worten herauskommt, ist lächerlich, weil ein Teil meines Atems durch meinen Mund entweicht, und der andere durch meinen Schlitz pfeift. Ein merkwürdiger, lippenloser Mund, dessen vermutlich einzige Sprache deine künftige ist, solltest du leben. Nein, das ist gelogen. Es ist ein Loch, das man, als man mir am 1. Januar 2000 das Leben rettete, in meinen Kehlkopf geschnitten hat, damit ich atmen kann. Danach folgten einige Versuche, diese Spalte in meinem Leib zu schließen, sie zu flicken, zu vergrößern, Stimmbänder und eine Stimme dort einzupflanzen, ihr wieder das Sprechen beizubringen, doch sie blieb stumm oder nahezu stumm. Und mit der Zeit hat dieses Grinsen mein Gesicht in eine Art Bullauge und meinen Körper in einen Taucheranzug für meine Tauchgänge an die Luft und in die Sonne verwandelt. Ich atme durch diese Kanüle und schlucke durch den Mund genau darüber. Die Kanüle ist dieser weiße und gut eingepasste Teil meines vereisten Lebens. Sie ist aus Plastik und nicht aus Fleisch. Ich trage sie, seit ich fünf Jahre alt bin, seit der ersten Woche nach meiner wundersamen Geburt, meiner Rückkehr in die Welt der Lebenden, und sie gehört zu mir. Sobald das Grinsen im ersten Jahr vernarbt war, hydratisierte sich meine ausgetrocknete Speiseröhre allmählich wieder. Dann führte man ein Röhrchen in mich ein, durch das ich wieder im Leben auftauchen und wie eine vor dem Ertrinken Gerettete atmen konnte.
Schlürf den Kaffee mit mir. Hinterher rauche ich eine, und du öffnest ein Fenster zu deinem Paradies und lässt den Moschus herein. Rauchen ist schlecht, aber was ändert das schon, da du sowieso nicht leben sollst? Und ich habe dich nie gebeten zu kommen. Du bist in mich eingedrungen, ohne mich zu warnen, du hast dir meinen Bauch, meinen Kopf und meine Sprache angeeignet.