Hybris - Steffen Jacobsen - E-Book

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Steffen Jacobsen

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Beschreibung

Wo das Böse wohnt

Eine junge Frau wird tot aufgefunden. Sie hat eine Schusswunde am Rücken, und ihre Kleider sind von Salzwasser durchtränkt. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich ihren Namen und ihr Geburtsdatum in die Haut geritzt. Ein versteckter Hinweis auf den Täter? Kommissarin Lene Jensen übernimmt den Fall. Unterdessen wird Ermittler Michael Sander mit der Suche nach einer spurlos verschwundenen Geigerin betraut. Die Wege von Jensen und Sander kreuzen sich, und sie kommen einem Verbrechen auf die Spur, das an Grausamkeit kaum zu überbieten ist.

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Seitenzahl: 368

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Das Buch

Die dänische Gesellschaft Nobel Oil kennt keine Skrupel, um sich die gigantischen Rohstoffvorkommen in der grönländischen Diskobucht zu sichern. Die Einwohner sind alarmiert, Umweltaktivisten agieren zunehmend rabiat. Als der Chef-Geologe des Bohrungsgeländes tot aufgefunden wird und ein USB-Stick mit brisanten Informationen verschwindet, werden Kommissarin Lene Jensen und Ermittler Michael Sander angeheuert, den Fall aufzuklären. Alle Spuren verweisen auf einen Täter aus der militanten Umweltaktivisten-Szene. Doch scheinen diese Hinweise fingiert zu sein, und Jensen und Sander beginnen, auf eigene Faust zu ermitteln. Bis sie erkennen, dass sie nur Bauernopfer sind in einem unerbittlichen Kampf um Geld, Prestige und Macht.

Der Autor

Steffen Jacobsen, 1956 geboren, ist Chirurg und Autor. Seine Bücher sind unter anderem in den USA, England und Italien erschienen. Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt in Kopenhagen.

STEFFEN JACOBSEN

HYBRIS

THRILLER

Aus dem Dänischenvon Maike Dörries

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Enhjørningen

bei People’s Press, Kopenhagen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2016 by Steffen Jacobsen

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München, unter Verwendung eines Motivs von emanoo / photocase.de

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-22932-0 V002

www.heyne.de

Wir Menschen sind die genetische Elite; das sinnliche, denkende und kreative Produkt unzähliger genetischer Ereignisse, Mutationen und Fehlcodierungen.

Gary Hamel

PROLOG

Batapora, Kaschmir, Indien

Was Batapora in den Augen Michael Sanders von den meisten anderen grenznahen Städten in Kaschmir unterschied, war das Bezirksgefängnis. Das für ihn hoffentlich das Ende einer vier Monate dauernden Menschenjagd durch das Land der großen Flüsse am Fuße des Himalaja bedeutete.

Er saß auf der Rückbank eines Range Rovers, an dessen vorderem Kotflügel die dänische Flagge flatterte, und beobachtete die Ortschaft in der Talsenke durch einen Feldstecher. Die typischen ein- und zweistöckigen Betonkästen mit Flachdächern, wie zufällig am Ufer eines träge dahinfließenden, braunen Flusses verteilt, ein Gewirr tief hängender Oberleitungen und Wäscheleinen, verwoben zu einem komplexen Netz zwischen den Häusern, überfüllte Gassen – und dazu diese Gedrungenheit jeglicher Bebauung vor der Kulisse des mächtigen Hindukusch.

Für ihn sahen alle Orte in Kaschmir gleich aus.

Michael zündete sich eine Zigarette an und überflog noch einmal das zerknitterte Telex, für das er den indischen Sekretär der dänischen Botschaft in Neu-Delhi bestochen hatte, weil er überzeugt gewesen war, dass es entscheidende Informationen enthielt. Danach hatte er dem indischen Sekretär weitere 10000 Rupien zugesteckt, damit er die Informationen dem übrigen Botschafts-Stab eine Woche vorenthielt und so schnell wie möglich dem Kommandeur des Gefängnisses seine Ankunft als Michael Berg ankündigte, chargé d’affaires danoise.

Das war zwei Tage her, und nun war er sich gar nicht mehr so sicher.

Er begegnete dem Blick seines Turban tragenden Chauffeurs im Rückspiegel, der eine gewisse Ungeduld ausdrückte. Der Chauffeur hatte seine Frau und die drei Kinder lange nicht mehr gesehen.

»Okay, Gurpal«, murmelte Michael, »fahren wir dort runter. Ich ertrage nur keine weitere …«

»Ich bin sicher, dass Batapora unser endgültiges Ziel ist, Sahib«, sagte der Chauffeur mit Nachdruck. »Ich habe diesen Ort schon einmal gesehen …«

»In einem Traum. Das sagst du immer, oh mächtiger Gurpal Singh, wenn wir auf einer holperigen Bergstraße stehen, an deren Ende du Shangri-La vermutest.«

»Irgendwo muss er schließlich sein«, warf Gurpal sehr vernünftig ein. »Kein lebender Mensch kann nirgendwo sein, Sahib Michael.«

»Vor vier Monaten hätte ich dir da noch zugestimmt, aber Silas Monell scheint genau dieses Kunststück zu gelingen. Oder ich bin schlicht und ergreifend nicht gut genug.«

»Sag so etwas nicht«, sagte Gurpal Singh entrüstet. »Lebe dein Leben nicht im Schatten gedachter Niederlagen.«

Michael zwinkerte dem Fahrer zu. Sie hatten sich vor einigen Jahren kennengelernt, als Gurpal Singh als Taxifahrer in Kopenhagen gearbeitet hatte. Er hatte Michael ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben geholfen, einen islamistischen Terroranschlag auf das Außenministerium zu verhindern. Für die Ehrenpension, die der dänische Staat ihm dafür gewährt hatte, war er in seine Heimat und zu seiner Familie zurückgekehrt.

Der Range Rover holperte die letzten Kilometer der unebenen Bergstraße hinunter, während Michael noch einmal besorgt seine Unterlagen überflog.

Es gab vier Fächer für verstorbene Gefangene in dem winzigen, überhitzten und klaustrophobischen Leichenschauhaus. In allen Ecken dampften Wasserlachen unter undichten Kühlrohren. Michael filterte den Gestank durch eine nicht angezündete Zigarette.

Stabsunteroffizier Hazari, der junge Gefängnisleiter, lächelte nachsichtig.

Der Offizier sah tadellos aus. Gepflegter, dichter Bart, unangreifbares Lächeln, schneeweißer Turban, blank polierter Ledergürtel mit Schulterriemen. An den Bügelfalten der Khakiuniform konnte man sich schneiden. Offenbar war der Gefängnisleiter ein wechselwarmes Wesen, da in seinem Gesicht nicht ein Schweißtropfen zu sehen war, während Michael seine Kleider auswringen konnte. Hazari gab seinem Quartiermeister ein Zeichen, worauf dieser das obere linke Fach öffnete, eine hydraulische Hebebühne unter die Öffnung schob und bis auf Brusthöhe hochpumpte. Als er die Bahre aus dem Fach auf den Lift zog, ließ die frische Welle Leichengeruch Michael einen Schritt zurücktreten und den Schlips lockern. Wieder betrachtete Hazari ihn mit seinem nachsichtigen Lächeln.

Die Hebebühne sackte unter dem in ein grob gewebtes, gebügeltes Laken gewickelten Leichnam bis auf Kniehöhe herunter. Am unteren Ende ragten ein paar knochige, weiße Füße heraus. Michael studierte das Stück Pappe, das mit Bindfaden an den großen Zeh des Verstorbenen geknotet war. Darauf war das heutige Datum notiert, aber kein Name.

»Er ist heute gestorben?«

»Frühmorgens, Mr. Berg. Der junge Mann ist erst vor drei Tagen verhaftet worden und hat sich geweigert, uns über seinen Namen oder seine Nationalität aufzuklären.«

Mit der Miene eines Zauberkünstlers zog der Quartiermeister das Laken von der Leiche. Michael schloss die Augen in einer Art erschöpften Triumphes. Er war sich seiner Sache augenblicklich sicher. Gurpal und er mussten nicht mehr weitersuchen.

Er schlug die Augen wieder auf und sah sich den abgemagerten, jungen Mann genauer an. Der Mund war ein schwarzes Loch, es fehlten mehrere Zähne. Der Tote trug diverse primitive Tätowierungen, Reminiszenzen an die Hippiekultur: Vögel, Kompassrosen, Friedenszeichen, Regenbogen und Sterne. Seine Iris hatte dieselbe Farbe wie seine Nägel, der schüttere, blonde Bart reichte bis zum Brustbein, das Haar war in dreckigen, blonden Dreadlocks verfilzt. Sein Körper war übersät von blauen, blutunterlaufenen Einstichstellen, am stärksten in der Leiste, an den Handgelenken und in den Ellenbeugen. Der Hals lag in einer unnatürlichen Stellung, und ein bläulicher Streifen zog sich von einem Ohr zum anderen. Er hatte die typisch gekrümmte Nase der Familie und eine breite, vorgewölbte Stirn, vom Tod hervorgehobene Gesichtszüge.

Der Form halber blätterte Michael einen Stapel Fotografien durch, ohne das Gesicht des Toten aus den Augen zu lassen.

»Weshalb wurde er verhaftet?«

Hazari lächelte.

»Vorrangig, weil er am örtlichen Gymnasium Rohopium verkauft hat. Danach, weil er kein gültiges Visum oder eine Arbeitsgenehmigung hatte. Wir können nicht tolerieren, dass diese Abendländer unsere Jugend auf die schiefe Bahn bringen, Mr. Berg.«

»Natürlich nicht. Hatte er Geld bei sich?«

»Wir haben ein paar Rupien gefunden. Er wohnte in einem alten Fiat ohne Reifen und Nummernschilder, und es dürfte einige Zeit her sein, dass er eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hat. Das ist sehr tragisch, Mr. Berg, aber bei Weitem nicht das erste Mal, dass wir einen dieser jungen Globetrotter verhaften. Aus unerfindlichen Gründen übt unser Land eine magnetische Anziehungskraft auf jüngere Abendländer aus.«

»Drogenabhängige, meinen Sie?«

Hazari sah unangenehm berührt aus. Er wollte nicht voreingenommen wirken, vermutete Michael.

»Well, vielleicht suchen sie so etwas wie geistige Reinigung in den Ashrams und Kommunen. Aber oft enden sie hier bei uns. Genau dort.«

Der Stabsunteroffizier zeigte auf das leere Fach in der Wand, das bei Michael die Assoziation einer Einbahnstraße ins Jenseits hervorrief.

»Wie auch immer. Er hatte keinen Pass bei sich, wenn ich es richtig verstanden habe?«

Michael presste die Worte mühsam in die dicke Luft.

Leise knarrend wippte Hazari in seinen blanken, braunen Stiefeln auf und ab.

»Wenn sie Hepatitis haben und kein Blut mehr spenden dürfen, ist der nächste Schritt in der Regel, ihren Pass an einen pakistanischen Zwischenhändler zu verkaufen. Die stehen in bestimmten islamischen Netzwerken hoch im Kurs, die international agieren. IS, al-Qaida, Boko Haram. Suchen Sie es sich aus.«

Hazari drehte sich um und zeigte auf eine Wand, an der mehrere Kacheln fehlten.

»Hundertfünfzig Kilometer westlich von hier liegt Abottabad, Mr. Berg. Osama bin Laden war viele Jahre sozusagen unser direkter Nachbar. Wir befinden uns in einer Art chronischer Belagerung von Pakistan.«

Michael sah auf seine Uhr.

»Verstehe. Was ist heute Nacht passiert?«

»Es ist ihm offenbar gelungen, seine Decke mit den Zähnen zu zerreißen. Die Stoffstreifen hat er zu einem Seil geflochten, es ans Gitter geknotet und sich erhängt. Bei der Morgenrunde war er bereits eine Weile tot.«

Im jungenhaften, glatten Gesicht des Offiziers hatte sich ein bewundernder Ausdruck ausgebreitet.

»War er alleine?«, fragte Michael.

»Wir können unseren Inhaftierten bedauerlicherweise keine Einzelzellen anbieten, Mr. Berg«, antwortete Hazari ernst. »Wir sind hier nicht in Dänemark, wissen Sie.«

»Er war also nicht alleine?«, wiederholte Michael seine Frage.

»War er nicht, nein.«

»Warum hat niemand Alarm geschlagen oder versucht, ihm zu helfen?«

Zu diesem Teil ihrer Unterhaltung hatte Stabsunteroffizier Hazari nichts Erhellendes beizutragen. Er sah Michael ausdruckslos mit seinen schwarzen Augen an.

»Vielleicht haben die Mitgefangenen seinen Wunsch respektiert, oder sie haben geschlafen. Wer weiß?«

Michael spürte einen starken Drang, diese trostlose Filiale des Mittelalters samt ihrem Gestank so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Er öffnete seinen Aktenkoffer.

»Sie gestatten?«

Hazari wischte einladend mit der Hand durch die Luft.

»Natürlich.«

Michael zog Latexhandschuhe über, öffnete eine Packung Spezialtape und nahm dem Verstorbenen sorgsam die Fingerabdrücke ab. Danach schob er dem jungen Mann ein Wattestäbchen in den Mund und rollte es auf der Schleimhaut hin und her. Er schob das Wattepad in ein Probenröhrchen mit Pufferlösung und brach das obere Ende ab, ehe er den Behälter verschloss und das Etikett beschriftete. Er beendete die Identifikation, indem er Fotos vom Gesicht und den Tätowierungen des Toten machte.

Hazari nickte dem Quartiermeister zu, der den Leichnam wieder zudeckte, die Hebebühne nach oben pumpte und die Bahre in das Wandfach schob. Michael stand davor und sah die Klappe mit einem endgültigen Klicken zufallen. Er nickte Hazari zu, der ihm höflich die Tür öffnete.

Sie durchquerten eine kühle Halle mit hohen Säulen, die in eine spitz zulaufende Gewölbedecke übergingen. Es war still wie in einer Kirche. Die Räume zwischen den Säulen waren mit schwarzen, von Stacheldraht und elektrischen Kabeln gekrönten Eisengattern abgesperrt. Dahinter waren unüberschaubar viele Gefangene zusammengepfercht. Michael konnte sich nicht vorstellen, dass der Bodenplatz für alle reichte. Vielleicht schliefen sie im Stehen. Oder abwechselnd. Alte, magere Männer mit silberweißen Bärten, Raubvogelprofil und zerlumpten Turbanen – Stammesleute aus den nördlichen Provinzen –, junge Städter in neonfarbenen Nylonshirts und Jeans, Kriminelle mittleren Alters, bullige Männer, die seinen Blick hemmungslos trotzig erwiderten.

Dieser Winkel Indiens war seit den Zeiten Alexanders des Großen ein Epizentrum für grenzüberschreitende Konflikte, die sich durch Stämme, Clans, Religionen und zeitweise Familien zogen. Es würde immer überfüllte Gefängnisse in Kaschmir geben, dachte er. Die Gefangenen hingen an dem Gatter und musterten ihn ohne jede Neugier – die meisten wohl ohne jede Hoffnung.

Hazari ignorierte die Gefangenen.

»Also, wer war er, Mr. Berg?«

»Er war das einzige Kind eines bedeutenden Mannes. Sein Name ist Silas Monell. Er wurde dreiundzwanzig Jahre alt.«

»Monell …? Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Wenn Sie Ihr Mobiltelefon zerschlagen und ein Mikroskop zur Hand nehmen, finden Sie den Namen auf mindestens der Hälfte der Komponenten. Das Gleiche gilt für Ihren Computer und die Spielekonsole Ihres Sohnes, falls Sie einen Sohn haben.«

Hazari verharrte in seiner Bewegung.

»Der Monell?«

»Ja. Sie werden sich auf ein gewisses Interesse seitens der Weltpresse einrichten müssen, befürchte ich.«

Unteroffizier Hazari erstarrte für einen Augenblick bei Michaels Mitteilung. Dann streckte er den Rücken und schob das Kinn vor. Er war bereit, komme, was da wolle.

Michael war überzeugt, dass der Unteroffizier es noch weit bringen würde.

Sie traten in das grelle Sonnenlicht hinaus. Michael setzte die Sonnenbrille auf, atmete tief ein, um den Leichengeruch aus Hals und Nase zu bekommen, und zündete sich eine Zigarette an. Sein Blick schweifte über die unnahbar fernen, weißen Zinnen der Hindukusch-Kette. Er konnte die Anziehungskraft des Landes auf verirrte Seelen nur zu gut nachvollziehen. Es war ein guter Ort zum Untertauchen und Fliehen. Auch vor sich selbst.

Der weiße Range Rover parkte hinter zwei staubigen Polizei-Jeeps mit Blaulichtern und langen Antennen, die in dem leichten Wind schwankten, der durch das Tal zog. Als Gurpal Michael sah, startete er den Motor. Der Danebrog leuchtete rot-weiß auf dem Kotflügel.

»Woher wussten Sie, an welche Botschaft Sie sich wenden mussten?«, stellte Michael eine letzte Frage.

Unteroffizier Hazari zeigte auf den Wimpel des falschen Botschaftsfahrzeuges.

»Er hatte die gleiche Flagge auf seinem Rucksack, darum.«

»Gut kombiniert. Ich werde die Angehörigen informieren, Unteroffizier Hazari.«

Der junge Mann lächelte verlegen.

»Danke, Mr. Berg. Das weiß ich sehr zu schätzen. Am besten so schnell wie möglich. Wir haben nur vier Leichenfächer im Gefängnis, wie Sie gesehen haben. Mit Silas Monell sind alle belegt, von daher … wären wir dankbar über so schnelle Anweisungen wie möglich, was den Verstorbenen betrifft.«

»Ich werde Sie umgehend informieren.«

Unteroffizier Hazari verabschiedete sich mit militärischem Gruß. Vielleicht erahnte er einen Waffenbruder unter Michael Sanders hellem, gut sitzendem Anzug mit weißem Hemd, neutraler Krawatte und der aufrechten Haltung.

Michael tippte eine internationale Nummer in sein Mobilgerät und legte Gurpal eine Hand auf die Schulter.

»Dreh bitte die Klimaanlage auf, ich verdampfe gleich. Und lass uns fahren. Deine Vorahnung war übrigens korrekt. Wir sind am Ziel. Er war es. Du kannst zu Frau und Kindern zurückkehren.«

Gurpal lächelte mit all seinen Goldzähnen und gab Gas.

Eine Stimme meldete sich am anderen Ende.

»Michael?«

»Es war Silas, Herr Monell. Er ist tot. Mein Beileid.«

»Sind Sie sicher?«

Die Stimme war tonlos.

»Ich habe Fotos gemacht, Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen«, sagte Michael. »Aber ich bin auch so absolut sicher.«

Die Mittagshitze in dem Tal war unwirklich. Michael wand sich aus der Anzugjacke, befreite sich von der Krawatte und schickte Gurpal Singh einen resignierten Blick. Der Sikh zuckte mit den Schultern. Er konnte seinem Auftraggeber auch nicht helfen. Die Klimaanlage des Wagens kämpfte einen aussichtslosen Kampf. Der Range Rover rumpelte durch eine Hauptstraße, die von Mauer zu Mauer mit Menschen und Tieren verstopft war. Ein Dromedar musterte Michael neugierig mit seinen mädchenhaften Augen. Er zwinkerte es an. Gurpal drückte die Hupe durch, und Michael steckte einen Finger in sein freies Ohr.

»Wann und wie ist er gestorben?«, fragte Bertram Monell.

»Er wurde vor drei Tagen verhaftet, weil er Rohopium an die Schüler des Gymnasiums im Ort verkauft hat. Heute Morgen wurde er erhängt in der Zelle gefunden. Wir befinden uns in einem kleinen Ort namens Batapora im Nordosten Kaschmirs. BA-TA-PO-RA. Das ist ganz in der Nähe von Srinagar, der Distrikthauptstadt.«

»Wusste jemand, wer er ist?«

»Nein.«

»War es Selbstmord?«

»Ja«, sagte Michael. »Der Gefängnisleiter wartet auf Instruktionen, was Silas betrifft. Das Gefängnis verfügt nur über vier Leichenfächer, die momentan gefüllt sind. Wenn es neue Leichen gibt, verbrennen sie ihn.«

»Er soll selbstverständlich hier auf der Insel begraben werden«, sagte Monell. »Neben seiner Mutter. Ich werde Kaufmann umgehend losschicken.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

Gurpal hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und rief ein paar träge auf der Straße wankenden Bauersfrauen mit Gemüsekiepen auf dem Rücken etwas zu, die den offiziellen Wagen hinter sich einfach ignorierten und weiter miteinander redeten, worauf er wutentbrannt mit der flachen Hand außen gegen die Tür schlug. Sie vollführten respektlose Handzeichen, und Gurpal raunzte sie vor Wut schäumend in einem lokalen Dialekt an.

»Michael …«

»Ja?«

»Es mag Ihnen vielleicht unsensibel erscheinen, dass ich ausgerechnet jetzt damit komme, aber es kann schlicht und ergreifend nicht warten. Wären Sie bereit, mir noch ein paar Tage Ihrer wertvollen Zeit zu schenken? Ich wäre Ihnen sehr verbunden. Sehr.«

»Worum geht es?«

»In der Hauptgeschäftsstelle in Paris scheint es ein Leck zu geben. Unser Hauptkonkurrent … ich nenne keine Namen … hat es in den letzten Monaten in magischer, ja, geradezu wundersamer Weise geschafft, wenige Tage vor uns Prozessoren zum Patent anzumelden. Prozessoren, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit unseren haben. Das ist unakzeptabel. Hätten Sie Zeit, sich das näher anzuschauen? Ein frischer Blick von außen ist immer vorteilhaft.«

»Ein paar Tage?«

»Allerhöchstens. Die nötigen Flugtickets und eine Hotelreservierung könnten am Flughafen in Srinagar hinterlegt werden, wenn Sie einverstanden sind.«

Michael seufzte und zog sein feuchtes Hemd vom Rücken weg.

Es gab zwar keinen Grund zu feiern, aber er hatte bereits mit dem Gedanken an eine Woche in einer Hängematte unter raschelnden Palmen auf einer thailändischen Insel mit eisgekühlten Drinks gespielt.

Eigentlich sollte er so schnell wie möglich zurück nach Europa. Heim zu Lene. Er sollte so etwas wie Sehnsucht spüren. Immerhin hatten sie sich vier Monate nicht mehr gesehen.

Aber er mochte Paris. Warum also nicht das Angebot annehmen?

»Wenn ich im George V wohnen kann, bin ich dabei«, sagte er.

»Abgemacht. Danke.«

Es war Karma und unausweichlich, dass sein Telefon just in dem Augenblick klingelte und Lenes Konterfei auf dem Display erschien. Michael sah das Telefon in seiner Hand an, dann schaltete er es aus, steckte es in die Tasche und begegnete Gurpals vorwurfsvollem Blick im Rückspiegel.

»Neues Ziel, Gurpal. Flughafen Srinagar. So schnell es geht. Ich werde mich dort von dir verabschieden.«

Der Chauffeur nickte stoisch.

»Wir sehen uns wieder«, sagte er mit absoluter Gewissheit.

Michael lächelte. »Das hoffe ich doch sehr, Gurpal.«

Dänemark

Bertram Monell schob das Mobiltelefon zurück in die tiefe Tasche seiner japanischen Hose, ehe er mit dem fortfuhr, womit er beschäftigt gewesen war, als Michaels Anruf kam: der Justierung eines etwa ein Meter langen, ausgehöhlten Bambusrohres, eines sozu, Teil eines Wasserspiels im Bachlauf seines japanischen Gartens.

Er trat einen Schritt zurück und lauschte. Das kristallklare, gefilterte Wasser lief in die obere Öffnung des sozu, bis es durch die Schwerkraft bedingt vorne überkippte und sich in den tiefer liegenden Wasserlauf entleerte.

Nach ein paar weiteren winzigen Justierungen war Monell mit Ton und Intervall zufrieden. Sein Blick glitt liebevoll über die akkurat beschnittenen, kleinen Bergkiefern und die schmalen Fußpfade, die den Flanierenden unmerklich ins spirituelle Zentrum des Gartens führten, den Meditationshain, wo sich aus dem mit kunstvollen, endlosen Mustern geharkten, feinkörnigen Sandmeer die Miniaturkopie des heiligen Berges Fuji erhob. Als er vor fünfzehn Jahren mit der Anlage des Gartens begonnen hatte, war hier noch undurchdringliche Wildnis gewesen. Jetzt war der Garten fast perfekt. Fast.

Monell balancierte über eine Steinplatte in dem Bachlauf und trat in den Bambushain. Der schlichte Grabstein war in glatten Sand eingelassen: Rebekka Monell geb. Favreau 1965 – 2012. Er sah sich um. Hier sollte Silas liegen. Und ein Grabstein wie der Rebekkas würde die Symmetrie des Haines noch hervorheben.

Gedankenversunken wärmte er seinen dünnen, nackten Oberkörper in der Sonne, als er plötzlich Erik Kaufmann seinen Namen rufen hörte. Vor einer Viertelstunde hatte er tatsächlich den Helikopter landen hören, aber es gleich wieder vergessen.

War das der Anfang? Blitzschnell zählte er im Kopf eine Reihe Autorennamen und Filmtitel auf und die Namen der Firmen, die er im Laufe seines Lebens aufgekauft hatte. Sein gedanklicher Aussetzer hatte nichts zu bedeuten. Es lag an Sanders Anruf. Silas. Kein Grund zur Sorge. Es hatte noch nicht begonnen.

Monell folgte dem Wasserlauf zu den breiten Terrassen, die von flachen, japanisch inspirierten Gebäuden eingerahmt waren, die sich formvollendet in die üppige Vegetation und die Böschungen einfügten, wie von der Insel selbst hervorgebracht. Einzige Zeugnisse der Gegenwart waren das noch nicht ganz fertige, neue Windrad auf der Plattform am höchsten Punkt der Insel und die großen weißen Parabolantennen, die es ihm ermöglichten, seine weltumspannende Tätigkeit von zu Hause aus zu erledigen. Selbst im ruhigen Herzstück des Gartens, nah am Meer, hörte er die Presslufthämmer oben an der Baustelle, das Rauschen des Zementmischers, und er sah den Kranausleger wie ein Urzeitungeheuer über den langen weißen Zylinderrohren des Windradturmes, die darauf warteten, aufeinandergesetzt, verbolzt und verschweißt zu werden zum neuen Wahrzeichen der Insel.

Bertram Monell stieg die letzten Stufen zur Terrasse hoch und schlüpfte aus seinen Sandalen. Seine Assistentin Hana, eine junge türkische Frau, schwebte lautlos über die Zedernbretter und legte einen gequilteten Bauernkimono über seine nackten Schultern.

Monell sah sie mit großer Zuneigung an.

»Danke, Hana.«

»Tee?«

»Später, vielleicht.«

Sie nickte lächelnd und zeigte mit einer Handbewegung zu dem Gast, der in einem bequemen Korbsessel saß.

»Erik.«

Erik Kaufmann hob eine Hand zum Gruß, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben. Er war ein kräftiger, sinnenfreudiger und ausgeprägter Genussmensch mit dichter, grauer Löwenmähne, die über seinen Anzugkragen fiel. Die blauen Augen hinter der Architektenbrille funkelten wach, und er hatte etwas von einem erfolgreichen, elegant gekleideten Galeristen. Nichts war jedoch weiter von der Wahrheit entfernt als das: Kaufmann war seit über drei Jahrzehnten Monells Tensing Norgay. Seine unentbehrliche rechte Hand, die diplomatisch oder unter Anwendung gnadenloser Brutalität den Weg für Monells zeitweise exzentrische Wünsche und Vorhaben ebnete. Darüber hinaus war er ein echter Kosmopolit, der sich überall in der Welt zu Hause fühlte.

Kaufmann stellte die Kaffeetasse ab und zündete sich eine Zigarre an.

»Du siehst blass aus, Bertram«, sagte er.

»Sander hat ihn gefunden, Erik. Er hat Silas gefunden …«

Der Milliardär drehte sich um und schaute, die Hände auf dem Geländer ruhend, über den Garten aufs Meer. Hana verschwand durch eine Glastür.

»Wo?«

»In irgendeinem gottverlassenen Gefängnis in Kaschmir. Batapora heißt das Kaff. Er wurde vor wenigen Tagen festgenommen und hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhängt. Ich will ihn nach Hause holen, Erik. Er soll neben Rebekka begraben werden. Du musst dich beeilen.«

Kaufmann stemmte sich mit Mühe aus dem Korbsessel hoch. Ein Knie war von Gicht zerfressen, und er stützte sich auf einen kräftigen, knorrigen Stock. Er stellte sich neben Monell und teilte die Aussicht mit ihm, ohne etwas zu sagen.

»Wir haben viele Jahre auf diesen Moment gewartet, das weiß ich wohl, Erik«, sagte Bertram Monell leise. »Ich dachte, ich hätte mich im Laufe der Zeit an den Gedanken gewöhnt. Aber verdammt, doch nicht auf diese Weise. Einsam, in Kaschmir, in einem elenden Dorfgefängnis. Das ist furchtbar traurig und so erbärmlich.«

»Du bist sein Vater, Bertram. Kein Mensch kann sich auf den Tod seines Kindes vorbereiten, so unausweichlich er auch sein mag. Aber tu dir den Gefallen und vergiss nicht, dass du ihn, soweit es in deiner Macht stand, unterstützt und beschützt hast, versucht hast, ihn wieder auf die rechte Spur zu bringen. Ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen, in wie viele Entziehungskliniken er eingewiesen wurde … aus denen er sich selbst wieder entlassen hat.«

»Ich schon, an jede einzelne erinnere ich mich.«

»Entschuldige, aber …«

Kaufmann trat einen Schritt zurück, aber Monell legte eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück.

»Ich muss mich entschuldigen. Das Ganze ist einfach nur so furchtbar. Holst du ihn nach Hause?«

»Selbstverständlich.«

Monell schaute in seinen geliebten Garten, und seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Wir müssen nie wieder darüber reden, aber ich muss gestehen, dass Silas einen Fehler hatte, eine fatale Charakterschwäche. Er hatte das Zeug für eine ganze Menge, aber nicht die nötige Disziplin, und er hatte kein Ziel in seinem Leben. Ich habe keine Ahnung, von wem er diese Initiativlosigkeit hatte. Jedenfalls nicht von mir oder Rebekka. Vielleicht haben wir es ihm zu leicht gemacht.«

»Vielleicht.«

Kaufmann zündete die Zigarre wieder an, nahm einen tiefen Zug, ließ den Rauch über die Zunge rollen und aus der Nase entweichen. Er hustete hinter breiter, vorgehaltener Hand.

»Und was jetzt?«, fragte er.

»Ich habe nicht vor aufzugeben, Erik. Das kann ich nicht.«

Er drehte sich mit einem unversöhnlichen Zug um den Mund zu dem Freund um.

»Du meinst … du willst deinen Plan weiter vorantreiben?«

»Nenn es, wie du willst. Ich habe mit acht Jahren meine erste Software geschrieben, die noch heute weltweit die Flieger in der Luft hält. Ich will nicht, dass das alles verschwindet. Wir müssen dafür sorgen, dass das nicht passiert. Ich mag mir nicht ausmalen, dass ein amerikanischer Finanzfonds das Unternehmen aufkauft, es aufsplittet und in alle Himmelsrichtungen verteilt. Der Gedanke ist mir unerträglich. Außerdem ist da noch mein Name. Der Stammbaum der Monells reicht bis ins Jahr 1155 zurück. Das ist nicht gleichgültig.«

Kaufmann seufzte.

»Ich verstehe.«

»Bringen wir das Ganze ins Rollen.«

»Natürlich. Wir können sofort ausrücken. Dann ist es Sander also tatsächlich gelungen, Silas aufzuspüren? Und das in knapp vier Monaten? Fantastisch.«

Monell lächelte.

»Bitte kein Neid, Erik. Vergiss nicht, dass du selbst es warst, der ihn mir seinerzeit empfohlen hat. Du hast ihn als menschliches Schweizermesser bezeichnet, und du hattest recht damit. Er hat in den vergangenen fünf Jahren alle Aufgaben perfekt gelöst, und du weißt selbst, wie infam verwickelt einige davon waren. Ich betrachte Michael Sander als einen vorbildlichen Menschen.«

Kaufmann musterte den Milliardär scharf.

»Ach ja?«

»Er kommt übrigens morgen oder übermorgen nach Paris und ist im George V einquartiert. Würdest du bitte dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt?«

Erik Kaufmann nickte abwesend. »Er wird einen unvergesslichen Aufenthalt haben. In jeder Hinsicht. Das garantiere ich.«

»Danke.«

Hana trat mit einem Glas Wasser, Essstäbchen und einer dampfenden Schale mit Reis und Fisch auf die Terrasse hinaus. Sie stellte das Tablett auf den Tisch, und die beiden Männer setzten sich.

Monell begann langsam mit seiner einfachen Mahlzeit, eine von zwei, die er sich am Tag gönnte.

Dann tupfte er sich mit der Serviette den Mund ab, trank langsam das Glas Wasser und schaute liebevoll über den Garten, der in goldenem Nachmittagslicht badete.

»Ich habe jetzt zwei Blüten«, sagte er zufrieden.

»Zwei Blüten? Du meinst, zwei Arten?«

»Ich meine zwei einzelne, individuelle Blüten, Erik. Mehr sollen es nicht werden, das erkenne ich jetzt. Es ist eine Frage von Eloquenz. Shibumi. Shibumi ist wahrer als die Wirklichkeit. Raffinesse ohne Oberflächlichkeit. Natürlichkeit und Unumgänglichkeit, wie ein fliegender Pfeil. Shibumi ist die Perfektion der Natur. Das ist es, was ich will. Das Einzige, dem ich mich für den Rest meines Lebens widmen will.«

»Ich dachte, das wäre das Privileg Gottes«, murmelte Kaufmann.

»Vielleicht war es das irgendwann einmal. Wir brauchen Gott nicht mehr.«

Der vergoldete Aufzug glitt das letzte lautlose Stück in die Lobby des Hotels George V hinunter, und Michael trat beiseite, um seine Begleiterin zuerst aussteigen zu lassen. Wie zufällig streifte sie im Vorbeigehen seinen Arm und hinterließ den Duft von Chanel Mademoiselle. Michael schaute ihr interessiert hinterher, alles andere wäre naturwidrig gewesen.

Etwa auf halber Strecke zum Ausgang blieb sie stehen, ging in die Hocke und rückte den Knöchelriemen ihrer Sandale zurecht. Ihr perfekt geformtes Hinterteil presste gegen den dunklen, strammen Rockstoff. Die Türen des Aufzuges glitten zu, und Michael machte einen hastigen Schritt nach vorn.

Die junge Frau mit dem schwarz glänzenden Haar balancierte ihre Handtasche auf den Knien und lächelte ihn selbstironisch über die Schulter an. Das Haar rutschte vor ihr vollendetes Profil. Dann erhob sie sich und schritt aufrecht und mit rhythmisch sinnlichem Gang durch die Schwingtür der Hotellobby. Der Türsteher verneigte sich.

Obwohl seine Gedanken immer wieder zu der Begegnung in der Hotellobby wanderten, konzentrierte Michael sich auf seine Arbeit in der Hauptgeschäftsstelle von Monell Industries im Vorort Argenteuil. Mit IT-Chef Monsieur Alain, der äußerst kompetent und gut vorbereitet auftrat, ging er die internen Sicherheitsabläufe durch. Monsieur Alain entschuldigte sich gestenreich, wenngleich sie keinen Verstoß in den internen Protokollen der Firma entdeckten. Michael zog in Erwägung, Lenes Assistenten Bjarne heranzuziehen, dessen DNA seiner Meinung nach von Microsoft konstruiert worden war, schob den Gedanken aber schnell wieder beiseite. Lene hatte keine Ahnung, dass er in Paris war, und Bjarne war grenzenlos loyal.

Nach sechs anstrengenden Stunden vor dem Computerbildschirm hatte er genug. Alain war mit dem Kopf auf den Armen eingeschlafen.

Michael legte dem Franzosen eine Hand auf die Schulter, der mit einem Ruck den Kopf hob.

»Entschuldigung …«, murmelte er.

Er strich sich über den Anderthalbtagebart.

»Wollen Sie nicht nach Hause gehen?«, fragte Michael.

Er lehnte sich zurück und streckte sich, verschränkte die Finger hinterm Nacken und schaute an die Decke.

»Glauben Sie mir, Michael, nichts lieber als das. Aber ich begreife einfach nicht, wie das passieren konnte. In meiner Abteilung. Ich sehe das Problem. Die Fakten. Aber so etwas ist bisher noch nie vorgekommen, und ich bin seit achtzehn Jahren hier. Wir müssen …«

Michael nahm sich noch einmal die Bankauszüge der Schlüsselpersonen aus der Patentabteilung vor. Er konnte die Zahlen inzwischen auswendig.

»Keiner Ihrer Mitarbeiter hat plötzlich und unerwartet Schlösser in der Toskana, Bugattis, ukrainische Topmodels, gigantische Luxusjachten in der Karibik oder Gestüte in Irland erworben«, sagte er.

»Nicht, dass ich wüsste, nein. Lassen Sie mich klarstellen, dass die Gehälter bei Monell Industries erheblich über dem Durchschnitt liegen. So war es schon immer. Das ist natürlich bewusste Politik, die hellsten Köpfe an Bord zu holen, sowie eine gute Voraussetzung, dass niemand sich dazu veranlasst sieht, die Firma oder Monsieur Monell persönlich zu hintergehen.«

»Selbstverständlich.«

Michael schaute auf die Uhr.

»Wir sind beide müde, und niemand hat etwas davon, wenn zwei Zombies die ganze Nacht auf Bildschirme starren.«

Er leerte den Pappbecher mit kaltem Kaffee, stand auf und zog seine Jacke an. Monsieur Alain lächelte dankbar.

»Und Sie sind sicher nicht derjenige, der die Blueprints an die Konkurrenz schickt?«, fragte Michael beiläufig.

Alain errötete und begann, sich hektisch zu erklären.

Michael sah ihn gelassen an.

»Regen Sie sich nicht auf, Alain«, sagte er, als der Pariser den Wortschwall unterbrach, um Luft zu holen. »Das war ein Scherz. Wenn Sie ernsthaft unter Verdacht stünden, säße sicher nicht ich hier, sondern Erik Kaufmann und ein paar seiner Mitarbeiter, und die hätten Sie längst aufgefordert, sich die Finger abzubeißen. Soweit ich weiß, zieht er für seine Aktivitäten Mitarbeiter aus der Fremdenlegion vor.«

Alain lächelte bitter. »Der berühmte dänische Humor. Très joli … très … Und ja, das mit den Ex-Soldaten habe ich auch gehört. Warum auch nicht? Es ist allgemein bekannt, dass die französischen Spezialeinheiten die besten sind.«

»Der Meinung sind einige israelische Sajeret-Einheiten, amerikanische SEAL-Teams und das eine oder andre britische oder australische SAS-Regiment möglicherweise nicht«, sagte Michael.

Er sollte längst im Bett liegen, um seinen indischen Jetlag zu pflegen, aber irgendetwas hielt ihn an der legendären Bar im George V fest. Vielleicht hatte Coco Chanel genau hier gesessen. Charlie Chaplin. Pablo Picasso. Ernest Hemingway. Die Bar war ein hedonistischer Tempel, ausgestattet mit Marmor, Mosaiken, venezianischen Kronleuchtern, Ebenholz und poliertem Mahagoni. Michael schob das schwere Glas mit dem goldenen Single Malt in einem komplizierten und nur ihm schlüssigen Muster auf dem Bartresen hin und her und starrte auf sein Mobiltelefon. In den Ohren das zivilisierte Murmeln wohlhabender Touristen, primär Chinesisch und Russisch, begleitet von der wunderbar verdichteten Musik, die entstand, wenn der Barkeeper die berühmten Cocktails des Hauses mixte.

Die alte Rastlosigkeit, die er seit seiner Kindheit kannte, war mit voller Stärke zurückgekehrt. Er sehnte sich nach den Fahrten mit Gurpal über staubige Landstraßen, die sich durch die Berge und Täler des Himalaja schlängelten. Wieso gab es zwischen Mann und Frau nicht so eine großzügige und nachsichtige Freundschaft? Weil jede Bemerkung unausweichlich durch ein vorgehaltenes Prisma früherer Konflikte, Kompromisse, Komplexe, eingefahrener Kommunikationsmuster und Neurosen gedeutet wurde. Weil ihre Mütter, Schwestern und Freundinnen immer mit im Bett lagen. Weil Frauen niemals irgendetwas vergaßen, keine Bagatellgrenze kannten und weil alles die gleiche Priorität hatte, Großes wie Kleines; zutiefst emotional, sensibel. Und weil Großzügigkeit eins der ersten Todesopfer jeder Beziehung war.

Philosophen und Soziologen hatten unrecht: Frauen und Männer kamen nicht von unterschiedlichen Planeten. Sie kamen von entgegengesetzten Rändern unterschiedlicher Galaxien. Er und Lene jedenfalls schienen in friktionsloser Stille aneinander vorbeigeglitten zu sein und in verschiedene Himmelsrichtungen auseinanderzutreiben.

Er hätte in diesem Moment nichts dagegen gehabt, von Bertram Monell oder einem anderen seiner Stammklienten mit einem neuen und nahezu unmöglich zu lösenden Auftrag in den hintersten Winkel der Erde beordert zu werden, nur um nicht zurück nach Dänemark zu müssen.

Michael sah sie im Spiegel. Sie stand an der Eingangstür und sah sich mit leicht zusammengekniffenen Augen um, als wäre sie kurzsichtig, aber zu eitel, eine Brille zu tragen. Das elegante Kleid schmiegte sich ebenso verliebt um ihren Körper wie das, das sie am Vormittag getragen hatte. Sie gehörte zu der Sorte Frau, die das Licht anzog und es freigebig wieder zurücksandte.

Michael bestellte seufzend einen weiteren Lagavulin.

Eine SMS von Monsieur Alain informierte ihn über Zeit und Ort für die morgige herkulische und vermutlich fruchtlose Arbeit in Argenteuil. Michael las die Nachricht und hörte ihre Stimme sehr nah neben sich.

»Was empfehlen Sie mir, Old Fashioned, A Slap And A Tickle oder doch eher einen Sidecar?«

Sie stand dicht neben ihm, er spürte die Wärme ihres Körpers.

Er drehte den Barhocker eine viertel Umdrehung und lächelte freundlich.

»Pardon?«

Die junge Frau lachte ihn an.

»Es ist nur … Ich bin nicht sehr bewandert, was das hier angeht …« Sie wedelte mit der umfangreichen Getränkekarte. »Allein die Namen. Bei manchen weiß man nicht, ob man einen Drink bestellt oder den Barkeeper und seine Freundin gleich mit auf sein Zimmer einlädt.«

Sie klappte die Karte wieder auf.

»Taugt ein Stinger was, oder ist das ein Nuttencocktail?«, fragte sie skeptisch.

Michael betrachtete sie ruhig. Die junge Frau hatte eine große, mit schweren Büchern und Mappen beladene Schultertasche dabei. Er hatte schon immer schräge Vögel angezogen – Männer wie Frauen –, aber sie war anders.

»Ich könnte mir denken, dass er genau das ist«, antwortete er.

Sie lächelte und sah ihm tief in die Augen. Sie war jung. Viel, viel zu jung.

»Okay, ich dachte nur, Sie sehen aus wie einer, der sich auskennt …« Sie brach den Satz abrupt ab, errötete und legte eine Hand auf seinen Arm. »Entschuldigen Sie, ich wollte damit nicht sagen, dass Sie aussehen wie einer, der ständig in Bars rumhängt und in kein Glas spuckt.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich habe tatsächlich ein recht inniges Verhältnis zu Hotelbars«, sagte Michael.

Er nahm ihr die Karte ab.

»Was mögen Sie?«

»Keine Ahnung. Harry’s Bar hat ihren Bellini und The Artesian seinen Digivida. Ich dachte, George V hätte vielleicht auch so einen Haus-Cocktail.«

Sie lehnte sich so dicht an ihn, dass kein Geldschein mehr zwischen sie passte.

»Damit Sie in Facebook posten können? War hier, hab alles probiert?«

»So bin ich überhaupt nicht«, sagte sie nüchtern.

»Natürlich nicht. Wie auch immer, die Bar hat tatsächlich einen Signature Cocktail, den Voodoo Vanda. Irgendwas mit Wodka und … verschiedenen Blütenlikören. Lila. Ich bin sicher, das hat was mit dem sich durch alle Bereiche ziehenden Orchideenmotiv des Innenarchitekten zu tun.«

»Haben Sie ihn schon probiert?«

»Ich bin heterosexuell«, sagte Michael.

Sie lachte und streckte ihm die Hand entgegen: »Rose.«

»Michael. Sie sind aus Südafrika?«

»Kapstadt, ja. Und Sie?«

»Dänemark.«

Rose schob sich auf den Barhocker neben ihm.

Er genoss den magischen Moment, weil er so unerwartet kam und ohne sein Zutun. Es lag eine anspruchslose Leichtigkeit und ein ungekünstelter Lebensappetit in ihrer Art.

»Was trinken Sie?«, fragte sie.

»Single Malt. Lagavulin. Keine Kräuter oder Blüten.«

Rose gab dem Barkeeper ein Zeichen.

»Ich hätte gerne das Gleiche wie er. Und Sie, noch Lust auf einen?«

Michael zögerte und sah sie an. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Warum nicht?«

Michaels Suite war in Grautöne getaucht. Ihre Körper verschwammen in den Schatten; unzertrennlich vereint. Rose saß über ihm, ganz fokussiert auf ihren Genuss. Angespannte Kiefermuskeln, nach innen gewandter Blick. Ihre vollendeten Brüste wippten elastisch vor seinen Augen, Michael konnte sich nicht sattsehen an ihnen. Ihre feuchten Finger glitten verspielt in seinen Mund, seinen Hals hinunter, in ihren eigenen Mund, ehe sie auf seiner Schulter liegen blieben. Ihre Nägel bohrten sich in seine Haut. Sie stöhnte rhythmisch und heiser.

Michaels Griff um ihre Hüfte wurde fester, er drückte sie so fest an sich, dass ihre Bewegungen kaum noch zu spüren waren. Sie hielt die Luft an, öffnete die Augen und sah mit geweiteten Pupillen durch ihn hindurch. Dann zog ihre wunderbar weite Möse sich zusammen, zuerst wie sanfte Flügelschläge um seinen Schwanz – ganz tief –, dann fester und schließlich fast krampfartig. Sie ließ ihn los und fuhr sich ekstatisch mit den Fingern durchs Haar, als sie kam, und er hielt sie fest, als wollte er sie nie mehr loslassen.

Die Bewegungen ebbten langsam aus. Rose kehrte in die Wirklichkeit zurück und legte schwer atmend den Kopf in den Nacken. Zwischen ihren Brüsten glänzten Schweißtropfen, ihre dunklen Brustwarzen waren hart. Ihre attraktiven Bauchmuskeln zogen sich in den letzten Zuckungen des Orgasmus zusammen. Im nächsten Augenblick stemmte sie sich hoch und legte sich neben ihn auf den Rücken.

Gleich darauf stützte sie sich auf den Ellenbogen ab, legte ihre Hände an Michaels Gesicht und bewegte sich mit ihrer Zunge in einem langsamen Tanz durch seinen Mund.

Sie zog den Kopf zurück, lächelte Michael an und spreizte einladend die Beine.

»Jetzt bist du dran. Jetzt. Michael. Komm.«

Michaels Verstand war ausgeschaltet. Er schob seine Hände unter ihre seidenweichen Pobacken und saugte und leckte aus ihrer Möse, die nach Apfel und Reinheit schmeckte, aber Rose ließ ihn nicht, sie nahm seinen Kopf und zog ihn mit desperater Kraft über sich.

»Ich will dich in mir spüren, verdammt noch mal«, fauchte sie ihn an. »Komm schon!«

Michael glitt in sie hinein. Sein Schwanz gehörte nicht ihm, er führte ein Eigenleben. Er war ihm noch nie so hart und fordernd vorgekommen. Der Rest des Körpers folgte ihm willenlos. Er war unschuldig.

Später.

»Danke. Verdammt noch mal … Danke, Michael.«

Roses Kopf lag auf seinem Brustkorb, er blies ein paar dunkle, kitzelnde Locken von den Nasenlöchern.

»Bist du wahnsinnig«, murmelte er. »Ich muss mich bedanken.«

»Nein, es ist mein Ernst. Es ist so lange her … wirklich verdammt lange her, dass ich mit einem Mann geschlafen habe. Ich dachte, ich hätte längst vergessen, wie das geht.«

»Ich geh mal davon aus, dass es nicht anders als Radfahren oder Schwimmen ist«, sagte Michael sinnierend. »Hat man es einmal gelernt …«

Er schob sich ein Stück im Bett nach oben. Ihr Kopf folgte seiner Bewegung, und ihr Griff um seine Taille wurde fester.

»Rose …?«

»Mmmm…«

»Mir ist klar, dass ich ein bisschen spät darauf zu sprechen komme und klinge wie ein hirnloser Gymnasiast, der sein Kondom in der Gesäßtasche vergessen hat, aber …«

»Vergiss es«, sagte Rose. »Ich kann nicht.«

»Du kannst nicht?«

»Ich kann nicht. Was eigentlich eine Schande ist.«

»Ist es das?«

»Ich bin mir sicher, wir hätten ein schönes Kind zusammen machen können«, sagte sie.

In dem Augenblick, als er wach wurde, war Michael klar, dass Rose aus seinem Leben verschwunden war. Eine bleigraue Wolke aus Scham und Schuldgefühlen senkte sich über das Bett. Er stöhnte und schloss die Augen. Alles war besser, als wach zu sein.

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, malte die Sonne Streifen auf den dicken, taubengrauen Teppichboden.

Er wollte einfach nur liegen bleiben, aber irgendwie musste er es schaffen, in den Tag und raus in die Welt zu kommen, in die Wirklichkeit anderer Menschen. Um den Schein zu wahren. So tun, als ob nichts gewesen wäre. Er vermisste Gurpal. Den Range Rover. Einen endlosen Weg und einen leeren Horizont.

Rose hatte keine Spuren in seinem Zimmer hinterlassen, außer ihrem Parfüm, ein vergifteter Erinnerungshauch in der Luft – und einem gelben Post-it-Zettel am Champagnerkühler.

Michaels Gesicht verzerrte sich, als er die Nachricht las.

Ich wünsche dir ein glückliches Leben, Michael,

Rose

PS Deine Frau sieht toll aus. Du solltest sie vielleicht besser anrufen.

Neben dem Champagnerkühler lag sein Handy. Lenes Gesicht erschien auf dem Display. Sie hatte ihm seit Mitternacht fünf Nachrichten geschickt und genauso oft angerufen.

Michael stöhnte.

Sollte er versuchen, Rose zu finden? Er fand alles und jeden. Das war sein Beruf. Aber wozu? Sie war um die dreißig, er fast fünfzig. Das war pathetisch. Und er war verheiratet, verdammt noch mal. Er begriff nicht, wieso er so tief geschlafen hatte, erinnerte sich an nichts … außer an das Spülen der Toilette mitten in der Nacht, Wasserrauschen im Handwaschbecken, einen durch den Türrahmen gleitenden Schatten, das Geräusch klirrender Eiswürfel in dem Champagnerkühler.

Das Mobiltelefon auf der Tischplatte vibrierte giftig.

Monsieur Alain. Zum dritten Mal.

Michael hätte vor zwei Stunden in Argenteuil sein sollen.

Scheiße, verdammt, verdammt.

15 MONATE SPÄTER

Es war ein Tag wie jeder andere in Marias Gefangenschaft, abgesehen von den Worten und dem Messer.

Sie hatte wie gewohnt mit an die Wand gedrückter Stirn und geschlossenen Augen dagestanden, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, während das Bettzeug gewechselt, der Boden gesaugt und das Bad geputzt wurde. Die junge Frau, die sich darum kümmerte, war auf dem Weg aus dem Raum lautlos an ihr vorbeigegangen. Dabei hatte sie wie zufällig leicht mit der Hand über ihren Rücken gestrichen. Das hatte sie noch nie gemacht, und nach dieser Geste waren Marias Knie weich wie Butter.

Der Wachmann hatte ihr auf die Schulter getippt, das Signal, dass sie die Augen wieder öffnen durfte. Sobald er weg war, hatte sie das Ohr an die glatte Stahltür gedrückt und ihre sich entfernenden Schritte im Kies gehört. Sie war auf die Knie gefallen und hatte hektisch unter das Bett geschaut, die Bezüge von Kissen und Decke gerissen und die Matratze angehoben.

Nichts.

Hatte sie sich die Berührung nur eingebildet? War sie zufällig und bedeutungslos? Sie hatte das Gesicht der anderen Frau nie gesehen, wusste nur, dass sie jung und duftlos war, schlanke Beine hatte und meist leuchtend bunte Sneaker trug. Und wenn niemand in der Nähe war, flüsterte sie Maria mit sanfter, melodischer Stimme verstohlene, tröstende Worte durch die verschlossene Tür zu. Sie war einen Monat fort gewesen, in dieser Zeit hatte der Wachmann ihre Aufgaben übernommen. Aber nun war sie zurück.

Maria setzte sich auf den Boden, zog die Knie unters Kinn und schlug rhythmisch mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Ihr war schlecht, und sie schwitzte, obgleich eine moderne Klimaanlage für eine immer gleichbleibende Temperatur in der Zelle sorgte.

Jetzt war sie an der Reihe zu verschwinden. Sie war die Letzte.

Sie hatte versucht, sich die Wirklichkeit vom Leib zu halten, indem sie so viel wie möglich geschlafen und ihre Übungen gemacht hatte, um ihren Körper stark und geschmeidig zu halten, statt darüber nachzudenken, woran sie absolut nicht denken durfte, um nicht wahnsinnig zu werden. Sie hatte minutiös ihr kurzes Leben Revue passieren lassen, von den ersten verschwommenen Erinnerungen an ihre Familie, ihre Eltern, die Schule, die Gasse, in der sie gewohnt, die Läden, in denen sie eingekauft hatten. Das blaue Meer und das kleine Fischerboot ihres Vaters. Sie hatte das hier nicht verdient. Sie war immer freundlich und hilfsbereit gewesen. Aber es war geschehen, und jetzt war sie an der Reihe. Das Licht um sie herum begann zu verlöschen, und die Dunkelheit verdichtete sich. Sie öffnete die Augen, hörte auf, den Kopf gegen die Wand zu schlagen, und starrte auf die Tür zum Badezimmer.

Tränen der Enttäuschung brannten hinter ihren Augenlidern. Nichts. Die Duschkabine sah aus wie immer. Die Berührung war zufällig gewesen, die junge Frau hatte ihr nichts damit sagen wollen. Oder aber die Berührung war als Warnung gemeint gewesen: dass sie nichts tun konnte, um ihr zu helfen.

Die Wände waren mit bruchsicheren, glatten, anthrazitfarbenen Fliesen gekachelt, der Spiegel in die Wand eingemauert. Sie hatten ihr die notwendigsten Toilettenartikel gelassen, einen Lippenstift und Mascara. Der Lippenstift stand aufrecht auf der stählernen Ablage unter dem Spiegel.

Maria sah sich um. Sie klappte den Toilettendeckel hoch und stöhnte. Dort, auf der Unterseite des Deckels, hatte die junge Frau mit Marias Lippenstift GET AWAY RIGHT NOW! They don’t need you anymore. I’ll take care of it geschrieben. Darunter klebte mit zwei Klebestreifen befestigt ein lächerlich kleines, aber scharfes Kräutermesser.

Maria hatte auf dem Boden gesessen und das Messer und die Nachricht angestarrt, während ein jämmerlicher und rudimentärer Plan in ihrem Kopf Form annahm, wie sie dieser sterilen Hölle entkommen konnte. Sie hatte die Stunden gezählt und wusste, dass es Nacht war.

Irgendwann hatte sie die Hand auf den blau schimmernden Bildschirm unter der Gegensprechanlage gelegt, die mit einem elektrischen Rauschen reagierte.

Maria biss die Zähne aufeinander und drückte die Hand immer wieder auf den Bildschirm. Irgendwann kam eine Antwort.