I Do It Mai Way - Vanessa Mai - E-Book + Hörbuch

I Do It Mai Way Hörbuch

Vanessa Mai

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Beschreibung

Die Sehnsucht nach der großen Bühne, harte Arbeit, erste Erfolge, bittere Niederlagen, Comebacks und der Weg nach ganz oben: Vanessa Mai legt beeindruckend ehrlich ihre ganze Geschichte offen und zeigt, warum es sich lohnt, für die eigenen Träume zu kämpfen. - Musik und Tanz als Lebenselixier – aber wie können Träume Wirklichkeit werden? - Der lange Weg zum Ruhm und was es braucht, um Widerstände zu überwinden - Ein Leben im Scheinwerferlicht und wie Vanessa Mai es schafft, sich treu zu bleiben Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Social-Media-Star – Vanessa Mai ist Multitalent und Vollblut-Entertainerin. Jetzt erzählt sie zum ersten Mal, wie sie dorthin gekommen ist, wo sie heute steht. Sie berichtet von schwierigen Anfängen, dem steilen Aufstieg auf den deutschen Schlager-Olymp, von ihren Wünschen, Ängsten und warum es sich lohnt, für die eigenen Ziele und Überzeugungen einzustehen. Allen Bedenken zum Trotz. »Ich mach so, wie ich denk' und gebe Gas.« Ihre Karriere begann bereits früh als Frontfrau der Band Wolkenfrei. Nach mehreren Top-10-Erfolgen und Auftritten in den großen Schlager-Shows startete sie 2016 ihre Solokarriere und erreichte mit ihrem Debüt-Album prompt die Spitzenränge der Charts, um mit den Alben danach auf der #1 zu landen. Seitdem ist sie nicht mehr wegzudenken von Deutschlands digitalen und analogen Bühnen. Als Schlager-Sängerin erreicht sie das TV-Publikum, mit Rap-Features sprengt sie Genregrenzen, als YouTube-Moderatorin zeigt sie Showtalent, als Social-Media-Star ist sie eine Werbe-Ikone. Und bei allem Erfolg ist sie doch ist immer jene Vanessa Mai geblieben, die einfach nur singen will.

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Zeit:5 Std. 38 min

Sprecher:Vanessa Mai

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Vanessa Mai

I Do It Mai Way

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine Jugend in der Provinz, die Sehnsucht nach der große Bühne, harte Arbeit, erste Erfolge, bittere Niederlagen, Comebacks und der Weg nach ganz oben: Sängerin und Entertainerin Vanessa Mai hat die Grenzen dessen, was deutsche Popmusik kann, ein ums andere Mal verschoben. Nun erzählt sie beeindruckend ehrlich ihre ganze Geschichte und zeigt, warum es sich lohnt, für die eigenen Träume zu kämpfen. Und warum nur, wer sich stetig wandelt, eine eigene Stimme findet.

Inhaltsübersicht

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Danksagung

Bildteil

Für

Mein früheres Ich. Während ich dieses Buch schrieb, begegnete es mir an so vielen Stellen immer wieder, die Kindheits-Vanessa, die Teenie-Vanessa und alle Versionen,die nach ihnen kamen. Jede Einzelne brachte mich mal zum Lachen, mal zum Weinen und fast immer zum Nachdenken. Schau, was wir geschafft haben! Ich bin stolz auf dich, auch wenn ich dir das selten sage.

 

Und für jeden, den meine Worte inspirieren, sei es in Songs, auf Social Media, im echten Leben oder hier, in Buchform: Das hier ist für dich!

© Sandra Ludewig

Kapitel 1

Warum ich überhaupt ein Buch schreibe

Okay, räumen wir gleich mal die erste Frage aus dem Weg, die sich manche vielleicht unweigerlich gestellt haben, als sie hörten, dass ich ein Buch schreibe: Was zum Kuckuck hat eine 30-jährige Künstlerin denn schon erlebt, dass sie ein Buch damit füllen könnte? Ganz ehrlich, ich bin selbst überrascht. Aber in den 30 Jahren, die ich nun schon (oder erst?) auf diesem Erdball verbringen durfte, habe ich doch viele wichtige Lektionen, Weisheiten, Lifehacks, Erkenntnisse oder wie auch immer man jene Erfahrungen nennen mag, die uns zu dem Menschen formen, der man ist, machen dürfen, die ich mit euch auf den kommenden 200 Seiten plus teilen möchte, und ich schwöre: Es wird nicht langweilig werden!

Manche dieser Lektionen lernte ich auf die harte Tour. Andere ergaben sich unbemerkt, fast wie von selbst. Wie bei einem Welpen, der in einen Teich fällt und direkt reflexartig mit seinen ihm noch viel zu großen Pfoten zu paddeln beginnt, ohne groß darüber nachzudenken, was zur Hölle er da eigentlich macht. Einfach schwimmen. So ging’s mir auch oft. I have no idea what I’m doing, aber ich mach’s einfach mal! Manchmal spiegelten sich die Erkenntnisse nicht sofort mit dem Sprung ins kalte Wasser in meinem Hirn wider. Oft zogen sie sich über Wochen, Monate – ja eventuell sogar Jahre – hin. Manchmal dauerte der Prozess auch nur einige Minuten. Ich habe vieles, das mich schließlich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin, on Mai way gelernt. Und die allererste Lektion oder der allererste Skill, den ich mit euch teilen will, ist, wie man auf Stühlen pennt.

Jap, damit möchte ich einsteigen. How to: ungewöhnliche Schlafpositionen mit maximalem Erholungsfaktor. Wahlweise waren das bei mir mal ein Haufen wild übereinandergeworfener Jacken und Pullis oder unbequem gebogene Holzbänke von Sitznischen in irgendwelchen Ratskellern, Kneipen und Zelten. Schon bevor ich das kleine Einmaleins draufhatte, konnte ich die Geometrie von gekrümmten Sitzflächen, die Winkel von Armlehnen und die Belastbarkeit von Stoffpolsterungen so berechnen, dass sich mein Körper perfekt an sie anpasste. Meine Gutenachtgeschichten waren laute Musik, Zigarettenrauch und das Gelächter der Stammtische, die mir bei etwa 100  Dezibel ins Ohr plärrten und mich zufrieden lächelnd in den Schlaf summten. Aufgewacht bin ich tatsächlich immer erst dann, wenn mein Vater seine Gitarre beiseitestellte und das Mikrofon abgedreht wurde. Dann wusste ich, dass es jetzt Zeit war, nach Hause zu gehen. Meistens war das so um zwei Uhr morgens – so lang durfte kein anderes Kind wach bleiben, das ich kannte! Es machte mich irgendwie besonders. Ein Gefühl, das ich wohl bis heute suche.

Was ich mit diesem ersten Skill ausdrücken will: Das »normale« Leben kannte ich von frühester Jugend an nicht so richtig. Ich war an den Wochenenden nicht beim Geburtstag irgendwelcher Freund*innen im Schwimmbad oder Zoo eingeladen. Ich wartete stattdessen bei meinem Papa und seiner Band hinter der Bühne, und um 22 Uhr, wenn »Rolling on the River« angespielt wurde, trat ich zu ihnen ins Licht der Scheinwerfer oder Kupferpendelleuchten, um die Band mit meinem Tamburin zu begleiten. Während Gleichaltrige rumtollten, Bumbum-Eis schleckten und Kränze aus Gänseblümchen und Löwenzahn flochten, mimte ich den kleinen Secret Act, dem die begeisterten Partygäst*innen gerne fünf Euro zusteckten – für mich eine unglaubliche Gage! Das war genauso viel, wie die Zahnfee brachte!

Aber noch besser als das Trinkgeld war die Aufmerksamkeit. Die Möglichkeit, den Leuten eine Show zu bieten. In diesen Momenten konnte ich vollkommen ich selbst sein. Ich spielte so lange, bis ich buchstäblich von der Bühne kippte und wieder auf den fleckigen Sitzpolstern irgendeiner Kneipengarnitur, eines Hotelsofas oder auf meinem Jackenhaufen am Rande eines Festzeltes weg schlummerte. Und ich habe es geliebt! Alles daran!

Mein Vater verdiente sein Geld als Musiker, seit er 16 war. Damals, als er noch in Rijeka, Kroatien, lebte. Groß aufgestellte Bands mit unterschiedlichsten Instrumenten wie Keyboard, Akkordeon, Schlagzeug, Bass, Gitarren – ach egal, Hauptsache, es kommt ein Ton heraus – waren damals fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms von Kneipen, Hotels, Festen und Festivals. Sie sangen von der Sonne, dem süßen Leben und dem Sturm und Drang ihrer Jugend, die sie in vollen Zügen ausschöpften, als wäre das Gold ihrer besten Jahre für immer vor der Patina der verstreichenden Zeit geschützt.Wenn sie die Instrumente am Ende des Abends beiseitestellten, tranken sie noch zusammen einen Rakijaauf die Liebe, bis es am nächsten Tag wieder ein neues Publikum in einer fremden Stadt zu verzaubern galt, ob mit der eigenen Musik oder der von lokalen Größen wie Oliver Dragojević.

Ich verstehe, warum es meinem Vater schwergefallen sein muss, nach Deutschland zu ziehen und einen »normalen« Job anzunehmen. Aber schließlich war ein Kind, ich, auf dem Weg, und schuld daran war nicht nur der Bossanova gewesen, sondern er selbst. Es galt nun Verantwortung zu übernehmen. Und das ging bei ihm nicht, ohne Opfer zu bringen. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

Ich habe nie das Gefühl gehabt, nicht gewollt gewesen zu sein. Das hätte mein Vater auch nie gesagt. Er betonte stets, dass ich für ihn immer ein Geschenk gewesen bin. Das Beste, die Süßeste, die Schönste – bla, bla, ihr wisst ja, was Eltern so sagen. Aber ich weiß, dass die Süße meiner Geburt trotzdem eine gewisse Bitterkeit begleitet haben muss, denn mit ihr musste mein Vater gleich zwei Dinge aufgeben: den Traum vom Musikerleben – das richtige Musikerleben, nicht das als Covermusiker – und sein Heimatland. Das kalte Deutschland, das war nie der große Traum meines stolzen kroatischen Vaters gewesen. Wer weiß: Vielleicht liegt darin ja die Wurzel meines Ehrgeizes. Meines Bedürfnisses nach Lob, nach Aufmerksamkeit. Die Anziehung der Bühne. Der unbedingte Wille, »es zu schaffen«. Irgendwie muss sich dieses Opfer meines Vaters doch gelohnt haben! Wenn schon nicht für ihn, dann wenigstens für mich.

Tja, wurde jetzt doch ziemlich schnell recht deep, wenn man bedenkt, dass es bei meinem ersten Skill lediglich darum ging, wie man es sich auf einer Sitzfläche von 56 mal 43 Zentimetern gemütlich machen kann. Aber oft sitzt auf, neben oder in einem so viel mehr mit auf dem Stuhl, als man von außen gleich erkennen mag. Das gilt umso mehr, wenn der Stuhl ein Thron ist oder er, sagen wir, auf einem Podest oder einer Bühne steht. Oder wenn es gar kein Stuhl ist, sondern nur ein großer Jackenhaufen.

Kapitel 2

Britney und Christina als Beifahrerinnen

Mein Vater trat also an den Wochenenden mit Coverbands auf, wenn er nicht im Lagerhaus arbeiten oder später an den Computern irgendwelcher hilfloser Technikneulinge rumwerkeln musste. Zuerst noch in mehrköpfiger Formation und später, als der Trend hin zu Duo-Ensembles ging, mit seinem Partner zusammen. Auch der hatte eine Tochter, die bei den Auftritten hier und da auf die Bühne zu unseren Vätern klettern und mitsingen durfte, was ich unglaublich krass fand. Warum mach ich das eigentlich nicht? Wenn sie das kann, dann kann ich das schon längst und sogar besser! Oder?

Ich liebte die Bühne, ich liebte die Musik, aber dass ich selber singen konnte, wurde mir erst während einer Autofahrt klar, an die ich mich noch ganz genau erinnere. Wir waren mal wieder auf dem Weg zu einem Gig unserer Väter. Lena, Lenas Mama, meine Mama und ich. Ich war damals so um die zehn Jahre alt. Lena und ich saßen auf der Rückbank und lieferten dort unsere ganz eigene kleine Show ab, eine kleine private Vorgruppe nur für unsere Mütter. Aber was heißt hier Vorgruppe?

Ich weiß nicht mehr, welcher Song aus den Boxen der Bonzenkarre von Lenas Mama dröhnte, aber ich weiß noch genau, wie sich der Kopf von ihr ganz langsam zu mir umdrehte, mich einige Sekunden prüfend beäugte und sich dann ebenso langsam wieder meiner Mutter zuwandte. Wie eine Eule mit Föhnfrisur. Ich weiß nicht mehr, was sie genau sagte, aber der Tenor war in etwa sowas wie:»Ey, Gaby, die singt ja ganz gut. Wollt ihr nicht was damit machen?«

Ich erinnere mich auch nicht mehr daran, was meine Mutter darauf antwortete. Oder ob Lena den Kommentar auch aufgeschnappt hatte. Ob sie das cool fand oder eher nicht so prickelnd, weil sie die bessere Sängerin sein wollte. Auf das alles hab ich nicht geachtet. Wichtig war nur, dass jemand gut fand, was da aus meinem Mund herauskam. Interessant. Ist doch komisch, dass uns manchmal diese Dinge, unsere eigenen Fähigkeiten, Stärken, Talente, erst dann bewusst werden, wenn wir sie von jemand anderem bestätigt bekommen. Ich war jedenfalls angezündet von diesem kleinen, aber nicht unwichtigen Kommentar. Na gut, dann werde ich eben ein Popstar! Klare Sache. Erst mal zwar »nur« auf den Bühnen der Festzelte und Kneipen mit meinem Papa und seinem Partner. Aber meine Zeit sollte einige Jahre später, so etwa mit 14 Jahren, anbrechen.

Mein Kinderzimmer kann man sich zu der Zeit so vorstellen wie ein Moodboard für einen typischen Teeniefilm der Nullerjahre. Ich kann euch nicht sagen, welche Farbe meine Zimmerwände damals hatten. Weiß oder lila? Eventuell sogar eine gemusterte Tapete? Und apropos Tapete: Falls da keine Blümchen mein Zimmer einrahmten, waren meine Wände glatt verputzt oder mit der klassischen Raufaser tapeziert? Ich weiß es nicht. Denn jeder Zentimeter meiner Behausung war zugekleistert mit Postern von Christina Aguilera und Britney Spears. In diesem Zimmer übte ich meine Dankesreden für imaginäre Awards, die ich mir selber verlieh, ich übte die Tonleiter rauf und runter und das komplette »Stripped«-Album von X-Tina, wie sie sich zu der Zeit zu nennen begann, auswendig. Ich blieb bis spät in die Nacht wach, um die Performances und nicht zuletzt die Interviews vom roten Teppich der VMAs, Grammys oder was auch immer gerade auf MTV ausgestrahlt wurde anzugucken.

Ich hörte damals keine deutsche Musik. Ich war eine typische Teenagerin des neuen Jahrtausends mit Hüftjeans, Seitenpony, Tattooketten an Hals und Armen und einer Obsession für amerikanische Popkultur. Und einem Traum: ein Leben auf der großen Bühne. Die kleinen Bühnen hatte ich ja bereits ein bisschen kennengelernt durch die Auftritte mit meinem Vater, und meine erste größere sollte ich bald betreten, jedoch ohne dass ich schon davon wusste. Meine Mutter hatte mich beim Talentwettbewerb des Backnanger Straßenfests angemeldet. Eigentlich wollte ich schon immer bei diesem Wettbewerb mitmachen. Er ist quasi legendär in unserer Gegend, und irgendwie hatten sie ja alle bei Wettbewerben wie diesem angefangen: Britney, Christina, ja selbst Beyoncé! Vielleicht würde mich das ihnen ja auch ein wenig näher bringen?

Ein weiterer, vielleicht überraschender Fact über mich: Ich hatte vor allem in meiner frühen Kindheit nie so wirklich gute Freund*innen,bis auf eine Nachbarin, mit der ich aufgewachsen bin, weil wir nun mal nebeneinander wohnten. Ich war es gewohnt, viel Zeit mit meinen Eltern zu verbringen und vor allem mit meinen Tagträumen vom Leben als Popstar. Als ich älter wurde, fand ich meinen Platz in Cliquen und hatte auch die klassische »beste Freundin für immer«, aber auch in den Cliquen wechselten die Freundschaften häufig. Einen richtigen Safe Space habe ich in Freundschaften nie wirklich gefunden. Dass meine Freundschaften oft nicht lange hielten, lag aber auch an mir. Ich war schon früh sehr fixiert auf meinen Traum, meine Interessen und Ambitionen. Und das stand oft einfach zwischen mir und den anderen Kindern, Teenagern und später jungen Erwachsenen.

Ich war schon immer davon überzeugt, »besonders« zu sein, was vor allem bedeutete, Besonderes vom Leben zu wollen, es zu erwarten, einzufordern und hart dafür zu arbeiten. Ich war bereit, dafür Opfer zu bringen, was häufig Einsamkeit bedeutete und den Verlust von Freund*innen. Mein Streben nach »Höherem« hieß aber nie, dass ich dachte, ich sei »besser« als die anderen. Im Gegenteil. Ich habe nie wirklich nach rechts und links geguckt, um mich daran zu messen, was neben mir abging. Zumindest damals als Kind noch nicht. Später änderte sich das leider.

Ich war zunächst immer sehr bei mir selbst, bei dem, was ich wollte, was ich konnte. Aber das passte den anderen Kindern häufig nicht. Ich bin in der Schule öfter gehänselt worden. Viele Leute fanden immer scheiße, dass ich tanze und singe, und an meiner Schule gab es richtig viele Möglichkeiten, den Hate von den Mitschüler*innen abzukriegen. Musicals, Theateraufführungen, Schulband – es gab ein großes Angebot, um sich kreativ auszuleben. Ich habe natürlich immer bei den Musicals mitgemacht und übernahm auch gerne die Leitung, wenn sich mir die Möglichkeit bot. Entweder war ich im Graben bei der Band oder auf der Bühne mittendrin.

An eine Musicalaufführung kann ich mich noch besonders erinnern. Wir führten Der Zauberer von Oz auf, und ich durfte beim großen Finale den ultimativen Song singen: »Over the Rainbow«. Über die Ränge legte sich eine angespannte Stille. Eine Elektrizität, wie man sie oft in der Luft spüren kann, bevor sich ein Gewitter entlädt und es blitzt. Meine Klasse saß erhöht auf dem ersten Rang, mit bestem Blick auf mich, ihre Mitschülerin, die in ihren Augen mal wieder angeben musste. In dem Lied gibt es die Zeile, in der Dorothy singt: »Someday I wish upon a star«. Der Blitz schlug Funken schlagend ein, als die Line von meinen Lippen ging. Der komplette oberste Rang wurde von schallendem Gelächter zerrissen. »Upon a star« hörte sich für meine Mitschüler*innen wie »Pornostar« an. Sie jaulten und äfften mich nach: »PORNOSTAR! PORNOSTAR!« Klassischer Teeniehumor eben. Ich stand einfach da. Wie vom Blitz getroffen. Aber ich ließ mir das natürlich nicht anmerken und zog den Song durch. Als der letzte Akkord verstummt war, ging ich von der Bühne.

Ich wusste, dass es letztlich gar nicht um die dumme Zeile ging. Es ging darum, mich runterzuholen, runterzuziehen. Dabei thronten meine Mitschüler*innen ja buchstäblich über mir, auf dem ersten Rang, und auch metaphorisch durch ihren Zusammenhalt, der mich ausschloss, mich kleinmachte. Was mich am meisten abfuckte: Ich konnte besonders das glockenhelle Lachen meiner damaligen »besten Freundin« aus der dunklen Stimmwolke raushören. Jenes Lachen, das normalerweise wie ein fröhlicher Gebirgsbach unsere Knöchel umspülte, wenn wir uns von der Schule auf den Heimweg machten, das mich jetzt aber unter Wasser zog.

Das Paradoxe ist: Mich zieht es zur Bühne, weil ich es mag, gemocht zu werden, diese Energie von außen zu bekommen. Ich liebe die Elektrizität. Das Britzeln auf der Haut, kurz bevor man vors Publikum tritt. Das hat mich schon immer angefixt. Man ist komplett in seiner Bubble, so geblendet von den Scheinwerfern, dass man gar nicht sieht, was da alles vor einem ist, man spürt nur diese Energie. Die Bühne ist kein Ort, sondern ein Zustand. Der Schalter ist an, es geht los.

Jedenfalls war das auch der Grund, warum ich schon immer bei dem Gesangswettbewerb mitmachen wollte, um den es hier ja eigentlich ging. Sorry, bin ein wenig abgeschweift, aber stellt euch schon mal drauf ein: Das wird im Laufe dieses Buches noch einige Male passieren.

Ich wollte also beim Backnanger Straßenfest schon immer auftreten und habe mir das auch zugetraut. Aber irgendwie hat dieser letzte Ruck, den es braucht, um von der Traum- in die Aufwachphase überzuwechseln, mir immer gefehlt. Der eine kleine Funke, der das Feuer entfacht. Mein Vater sagte damals immer zu mir: »Unter der Dusche wirst du nie entdeckt.« Und damit hatte er auch recht. Wenn man immer nur plant, überlegt, zerdenkt und sich nie auch mal an die Umsetzung macht, aus der Komfortzone heraustritt, ist die akkurateste Berechnung, die schönste Kalkulation, die beste Bewerbung nichts wert. Man muss sie eben auch einfach mal abschicken. Ich denke, nicht nur unter der Dusche, immer wieder an diesen Spruch, denn guess what: Selbst heute geht es mir noch häufig so.

Bis heute fällt es mir schwer, neue Herausforderungen selbstbewusst anzupacken. Dieser letzte Ruck, dieser kleine Stupser, der mich über die Klippe springen lässt, um dann fliegen zu können, den brauch ich immer noch häufig von jemandem. Auch wenn ich nach außen so wirke, als sei ich die personifizierte Aufbruchsstimmung. Und das bin ich ja auch. Ich bin beides gleichzeitig. Die Person, die mit wehenden Fahnen sagt: »Los geht’s! Du musst Neues annehmen, Neues ausprobieren, man kann nur wachsen dabei!«, und die Person, die so damit beschäftigt ist, sich sämtliche Szenarien in ihrem Kopf auszumalen, was alles schieflaufen könnte, dass sie sich schließlich in ihrer Fahne verheddert, hinknallt und dann einfach nur liegen bleiben und unter der Fahne verstecken möchte, bis alle weg sind. Diese Dualität lebt in mir, seit ich denken kann. Damals, beim Gesangswettbewerb, war es meine Mutter, die mir den nötigen Ruck gab, um mich aus meiner Passivität in Gang zu bringen. Heute übernimmt das mein Mann, Andreas. Aber zu dem kommen wir später.

Auch wenn ich mir auf der Bühne des Backnanger Straßenfests mit Alicia Keys’ »If I ain’t got you« die Seele aus dem Leibe sang, gewann ich den Wettbewerb nicht. Ich wurde nicht einmal platziert. Alles, was ich bekam, war so eine blöde Teilnahmeurkunde, über die ich mich natürlich sehr gefreut habe. Ich hätte den Juror*innen am liebsten gesagt, sie können sich die Urkunde sonst wohin stecken. Ich hasse Teilnahmeurkunden! Vielleicht liegt das auch daran, dass ich bei den Bundesjugendspielen unserer Schule immer mit einer Ehrenurkunde und meistens Bestpunktzahl vom Platz ging. Ich habe großen Ehrgeiz zu gewinnen und einen noch größeren Drang nach Fairness – vor allem gegenüber der Leistung. Das würde sich auch noch später im Laufe meiner Karriere immer wieder zeigen, aber auch dazu kommen wir noch.

Ich habe nach dem Auftritt natürlich direkt angefangen, mich in meiner eben noch wehenden metaphorischen Fahne zu verwickeln. Bin ich doch nicht gut genug? Was hätte ich anders machen müssen? Kann ich das vielleicht alles gar nicht? Direkt Imposter-Syndrom. Alles infrage stellen. Selbstsabotage. Aber ich glaube, teilweise kann diese Fixiertheit aufs Gewinnen, mein Perfektionismus, auch ein Vorteil sein. Denn egal wie klein der Moment, das Projekt, der Auftritt von außen aussehen mag, ist es dennoch MEIN Moment. Und in meinen Moment gebe ich alles von mir rein. Hinter meinen Möglichkeiten zu bleiben, ist für mich der schlimmste Gedanke. Nicht das Versagen an sich, sondern das Wissen, dass ich halt auch nicht alles gegeben habe. Dass ich MIR etwas schuldig geblieben bin. Und ich glaube, nur so, mit diesem Denken, diesem Anspruch selbst an den noch so kleinen Gig – sei es eine Einkaufscentereröffnung, eine Autogrammstunde in einer Dorfdisse oder eben ein Wettbewerb in irgendeiner unbedeutenden schwäbischen Kleinstadt –, kommst du längerfristig weiter. So erging es mir an dem Abend auch. Auch wenn ich nur diese popelige Teilnahmeurkunde abgesahnt hatte, sollte sich mein Einsatz noch lohnen.

Durch meine Teilnahme bei diesem Wettbewerb, den ich ja nicht mal als Drittplatzierte, sondern mit meiner Teilnahmeurkunde (ihr seht, ich komm wirklich nicht über diesen Wisch hinweg) und Tränen in den Augen abschloss, lernte ich die erste Person kennen, die mein Talent als Sängerin und Performerin entdeckte und mich fördern wollte. Ich habe darüber noch nie gesprochen, aber bevor ich bei Wolkenfrei einstieg und begann, professionell Musik zu machen, habe ich ein, zwei Projekte mit diesem Typen gemacht. Dass ich davon bisher noch nie erzählt habe, liegt daran, dass diese »Projekte«, wenn ihr mich fragt, völlig in die Hose gingen und so peinlich waren, dass ich noch heute Hitzewallungen kriege, wenn ich nur dran denke. Dieser Typwar aus meiner Sicht ein klassischer Vertreter des »Hey, wir machen jetzt ein Video, und du kommst groß raus!«-Klischees, aber ich mochte ihn. Und genau wie so viele ambitionierte Kinderstars bin auch ich darauf reingefallen. Ich dachte, das wird jetzt wie im Film: Erst gescheitert, aber jetzt kommt einer, und es geht richtig los! Meine persönliche Interpretation des hässlichen Entleins, das schlussendlich zum Schwan mutiert und es allen zeigt!

Um euch ins Bild zu setzen und dennoch nicht zu arg ins Detail zu gehen, denn mein Deo ist nicht stark genug für zu explizite Erinnerungen: Mein neuer »Manager« formte aus mir und einem anderen Typen, den ich bis dahin noch nicht kannte, eine deutsch-spanische Combo. Ich sang auf Deutsch, und mein Partner rappte auf Spanisch (unnötig zu erwähnen, dass er kein Spanier war). Das Video, das wir drehten, war sowas von unterirdisch. Gibt es etwas unter Low Budget? No Budget! Mir kräuseln sich die Zehennägel hoch. Wir hatten dann sogar ein oder zwei Auftritte in der Umgebung von Backnang und ziemlich schnell sogar einen Termin bei Sony. Ich dachte wirklich, damals war ich 14, ich kriege jetzt einen Plattenvertrag. Wahrscheinlich war das Treffen in Wahrheit nur ein Gefallen, weil der Typ vom Label meinen Kollegen kannte und dem vielleicht noch was schuldig war. Am Ende bekam ich natürlich nicht meinen ersten Plattenvertrag, dafür aber eine CD von Christina Aguilera – was in meiner Welt durchaus auch etwas wert war. Was aber noch wertvoller war: Das waren die ersten Steps, die mich schlussendlich irgendwie zu den Jungs von Wolkenfrei bringen und somit zu meiner Metamorphose zu Vanessa Mai beitragen sollten. Natürlich waren das noch keine Grundsteine, aber eben erste Versuche, die den Weg zwar nicht ebneten, aber trotzdem Teil dessen sind.

Mir war damals schon klar, dass das ganze deutsch-spanische Projekt nicht so geil war. Aber ich wollte weiterkommen. Hauptsache, ich mache irgendwas mit Musik. Ich habe meine dues gepayt, wie man im Rap so schön sagt. Quasi mein Lehrgeld bezahlt. Und bald sollte das auch schon Früchte tragen.

Kapitel 3

Mein Herz schlägt Schlager – jetzt!

Der oder die ein oder andere mag sich jetzt vielleicht fragen: Wie zur Hölle kam denn nun eigentlich der Schlager in mein Leben? Welches Teenagergirl, das im einen Moment ihr Zimmer mit Postern von Christina Aguilera und Britney Spears tapeziert, deren Choreos nachtanzt und Songs auswendig kennt, überlegt sich auf einmal: »Hey, weißt du was: Irgendwie find ich Wolfgang Petry und Marianne Rosenberg viel geiler!« Statt »I’m a slave for you« heißt es plötzlich »Er gehört zu mir«. Wie kam das? Darauf gibt es keine ganz klare Antwort.

Aber um eins erst mal klarzustellen: Marianne Rosenberg ist eine Queen! Aber ja, natürlich ist Schlager ein Genre, das man gefühlt eher bei Menschen fortgeschrittenen Alters verorten würde. Und das ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein Fakt. Laut dem Jahresbericht des Bundesverbands Musikindustrie aus dem Jahr 2020 liegt Schlager nämlich »in der Hand der Ü-60-Jährigen«, die mit »46 Prozent die wichtigste Käuferinnen- und Käufergruppe« des Genres darstellen. Wie kommen also junge Menschen wie ich zum Schlager?

Nun, der Autor und Schlagerenthusiast Rainer Moritz stellte da mal eine These auf: »Schlager müssen sich früh in den Seelenabgründen einlagern.« Also sprich: Nur jemand, der oder die von Kindheit an mit Ufftata und eingängigen Refrains über die Liebe, den Schmerz und Hossa Hossa beschallt wurde, kann den ewigen Bund mit dem Schlager eingehen. Ich würde dieser These aber widersprechen: Zumindest bei mir hielt der Schlager seinen Einzug erst spät in meiner Jugend. Klar, mein Vater hatte hier und da, spätestens ab seiner Verpflichtung am Sonnenhof, auch Schlagersongs performt, aber regulär spielte er in einer Top-40-Coverband. Meine Eltern waren keine Schlagerfans, nicht mal meine Großeltern hörten Schlager – was aber natürlich auch daran lag, dass meine einzige Oma und mein einziger Opa in Kroatien lebten und daher nicht mal auch nur den einfachsten Schlagertext verstehen konnten.

Das erste Mal, dass ich mich mit Schlager bewusst auseinandersetzte, war tatsächlich, als mir mein Papa ein Video von Helene Fischer zeigte. Helene, deren Haare zu einem frech gefransten Longbob geschnitten waren, unter dem eine Stimme hervortönte, die wiederum meine Haare – zumindest die auf den Armen – hochstehen ließ. »Wow, krass«, dachte ich mir. »Das ist also Schlager? Dann find ich’s geil!« Für mich war das einfach deutschsprachige Musik, ich kannte die Bezeichnung »Schlager« gar nicht so richtig und außer Marianne Rosenberg oder Andrea Berg auch keine »Schlagerstars« – erst recht keine, die so ablieferten wie Helene!

Sie war einfach das komplette Paket. Die sah gut aus, performte krass – das war, was ich ab diesem Zeitpunkt mit Schlager assoziierte und auch, was ich selber schon immer tun wollte, seit ich das erste Mal das Tamburin schwang, auf der Schulbühne ausgelacht wurde oder mein erstes peinlo Musikvideo drehte: Alles, was ich wollte, war auf der Bühne stehen und abreißen. Helene war ein Leader für mich, was rückblickend betrachtet irgendwie ironisch ist. Denn ab dem Zeitpunkt, an dem meine Karriere als Sängerin von Wolkenfrei begann (was in unserer Geschichte in nicht mehr allzu ferner Zukunft liegt, wartet noch kurz, wir kommen gleich dazu), wurde ich ununterbrochen mit ihr verglichen. Vom Leader, von meiner Inspiration, wurde sie später von anderen zu meiner Konkurrentin, zum Maßstab meiner Leistung, meiner Arbeit gemacht – ja geradezu beschworen. Aber zu diesem Thema kommen wir später noch.

Für mich war Schlager jedenfalls nie peinlich. Mir war damals auch noch nicht bewusst, dass es da eine Diskrepanz gibt in der Gesellschaft. Ich habe erst später gemerkt, dass dieses Genre belächelt wird und mit ihm alles und jeder, der oder das ihm nahe kommt. Im Laufe meiner Karriere wurden Freund*innen, Kolleg*innen, Familienmitglieder oder Bekannte von mir immer wieder mit amüsant glucksender Stimme gefragt: »Hey, wie ist die denn so? Ist die normal? Ist die so wie wir?« Die Leute gehen automatisch davon aus, dass man ’nen Schlag hat, wenn man Schlager macht oder auch nur mag. Vielleicht kommt daher ja auch der Begriff? (Spoiler: Nein, tut er nicht, wäre aber schön.)

Trotzdem, um ein bisschen Bildung zu vermitteln – das hier ist ja schließlich ein Buch, und da soll man auch was von lernen –, hier mal eine ganz offizielle Erklärung (na ja, Wikipedia-offiziell), woher das Wort »Schlager« kommt: Die Musikwissenschaft tut sich schwer mit einer klaren Definition. Ebenso lässt sich das Genre schwer von anderen systematisch abgrenzen. Erstmals taucht der Begriff 1870 im Zusammenhang mit besonders erfolgreichen Operettennummern und volkstümlichen Singspielen auf. Das Wort wiederum entstammt dem Wienerischen und seine Verwendung rührt laut Duden daher, dass der Erfolg blitzschlagartig eintritt. Kurzum, Schlager sind also im Prinzip nichts anderes als »Kassenschlager«, Bestseller. Bestseller, deren Klang das Wörterbuch folgendermaßen beschreibt: »leicht eingängig und meist anspruchslos«.

Na gut, das »anspruchslos« will ich jetzt mal überhört haben! Aber klar, die »Anspruchslosigkeit« (ich würde sie vielleicht eher »Zitierfähigkeit« oder »Ohrwurmigkeit« nennen), die dem Schlager oft anhaftet, ist vermutlich einer der Gründe dafür, warum das Genre von vielen belächelt wird. Und Hand auf’s Schlagerherz: Ganz aus der Luft gegriffen ist diese Behauptung zugegebenermaßen auch nicht. Klar, Schlager ist keine 12-Ton-Musik, für die man mindestens ein Kunststudium absolviert haben muss, um sie spielen zu können.

Schlager ist demokratisch. Er macht Spaß und berührt, und das ist auch seine einzige Aufgabe. Und ich frage mich, was daran so falsch sein soll. Ist es manchmal nicht auch ganz angenehm, ja sogar entlastend, mit eingängigen Dingen zu tun zu haben? Immerzu nur Anspruch geht doch auch nicht! Man kann doch auch nicht nur »Faust« lesen. Hier und da ist ein Vanessa-Mai-Buch oder ein Anime-Comic doch mindestens genauso gut für die Seele und den Geist! Selbst den größten Gourmet überfallen die Gelüste nach einem Cheeseburger oder einem ehrlichen Teller Linsen mit Spätzle. Die Welt da draußen ist nämlich schon anstrengend und verwirrend genug.

Schlager schaffen es, komplizierte Gefühle durchschau- und sagbar zu machen, ohne dabei jemanden auszuschließen. Es liegt in der Natur des Schlagers, absichtlich nicht zu (ein)gebildet daherzukommen. Schlager spricht unsere Urgefühle an: Liebe, Herzschmerz, Sehnsucht und, ja, auch Partylust! Nicht auf die Art und Weise, wie es jedem gefällt. Das ist klar – Geschmäcker sind nun mal unterschiedlich. Aber die freundlich ausgestreckte, goldberingte Hand des Schlagers wegschlagen zu wollen, wenn er einfach nur dabei helfen will, besser über ein Hindernis hinwegsteigen zu können, das finde ich ihm gegenüber nicht fair!

Tatsächlich erinnert mich eine solche Reaktion an meine Hauptschulzeit. Denn was der Schlager innerhalb der Musik ist, ist die Hauptschule innerhalb der Bildungseinrichtungen. Abwertung, Voreingenommenheit und Scham sind Gefühle, die der oder dem ein oder anderen Schlagersänger*in oder Schlagerfan im Laufe des Lebens mit Sicherheit begegnen. So auch mir. Und es sind auch Gefühle, die Hauptschüler*innen sicherlich durchaus bekannt vorkommen können. So auch mir. Bevor ich also dazu komme, wie es nach der grandiosen Bauchlandung meines deutsch-spanischen Projekts mit Wolkenfrei und meiner Schlagerkarriere losging, möchte ich gerne von meiner Hauptschulzeit erzählen. Denn die sollte mir auch die ein oder andere Lektion über das Leben und unsere Gesellschaft erteilen.

Nach der Grundschule ging ich – obwohl meine Noten für die Realschule gereicht hätten – auf die Hauptschule. Ich will es jetzt nicht auf meine Herkunft schieben, aber tatsächlich geht es ganz vielen migrantischen Kindern so. Super Noten, aber Gymnasium oder Realschule? Lieber nicht. Das wird doch eh nichts. So zumindest häufig der Tenor von Klassenlehrer*innen. Also ging ich »nur« auf die Hauptschule und schämte mich dafür auch null. Tatsächlich fand ich »uns« – also uns Hauptschüler*innen und uns Migrakids – damals cooler als die Realschüler*innen, die auf die Schickardt-Schule gingen und die immer ein wenig von oben auf uns Hauptschüler*innen herabblickten – und das ist sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich zu verstehen. Die Schickhardt-Realschule in Backnang liegt nämlich direkt über der Hauptschule. Wenn man von dort zu unserem Schulhof (und dem Kiosk, der für mich die viel besseren Snacks hat) gelangen will, muss man buchstäblich einige Treppenstufen hinabsteigen, runter in die Unterschicht, ab in den Hades. Denen wurde sicher auch immer gesagt: Geht nicht da runter zu den Hauptschülern!

Aber irgendwie nahm ich das damals noch nicht wirklich wahr. Wir fanden die Realschüler*innen spießig und uns sehr viel lässiger und spaßiger. Während es auf der Realschule ausschließlich um Leistung, Noten, Disziplin und Konkurrenz zu gehen schien, wurde bei uns viel Wert auf das Soziale gelegt. Unsere Kreativität und unser Zusammenhalt wurden unterstützt, es gab, wie gesagt, eine Schulband, wir führten Musicals auf und sowas. Für mich war es die beste Schule, auf die ich hätte gehen können. Meine Talente und Leidenschaften, zum Beispiel für die Musik, wurden hier gefördert, statt zur Seite gedrängt und auf die Nachmittagsstunden nach der Schule verlegt zu werden, die man dann für seine dusseligen »Hobbys«, wie ein Instrument zu erlernen oder Sport zu machen, opfern sollte. Denn Schule ist ja schließlich fürs »Handfeste«, damit wir alle mal schön gleich werden. So war das bei uns nicht. Ich habe das Gefühl, auf unserer Hauptschule lief alles etwas individualistischer ab als auf den anderen Schulen.

Da ich immer eine gute Schülerin war, durfte ich manchmal sogar Tests nachholen oder ausfallen lassen, die ich wegen meiner Gesangs- oder auch Tanzaktivitäten verpasste. Ich repräsentierte schließlich auch die Schule, und das fanden die Lehrer*innen gut. Meine Mitschüler*innen hingegen fanden das natürlich nicht so super, weil ich dadurch mal wieder herausstach, aber so war’s nun mal. Im Grunde waren wir doch alle gleich, verbunden in unserer Identität als Hauptschüler*innen und »Südländer«, und wir waren absolut fine damit. Denn wie beim Schlager auch, wurde mir die Diskrepanz in der Gesellschaft, was das Dasein als Hauptschüler*in (oder als Schlagersänger*in) angeht, erst dann bewusst, als ich aus meinem Teich herauszublicken begann und erstmals in Berührung kam mit den »anderen«. Seien das die »anderen« im Popgeschäft oder die »anderen«, die aus einem gebildeteren und vor allem finanziell stabileren Haushalt stammten als ich. Da wurden mir die Unsicherheiten, die ich irgendwie unterbewusst verinnerlicht haben musste, erst klar. Oft in kleinen Momenten.

Es gab zum Beispiel bei uns in Backnang einen Laden, der hieß »Schwarzmarkt«. Der Schwarzmarkt war(und ist es heute noch) DER angesagte Spot für den modisch begeisterten Teenager der Nullerjahre. Miss-Sixty-Jeans, Diesel-Lederjacken, Juicy-Couture-Tops und UGG-Boots: Dieser Laden war everything, wie man heute sagen würde. Wenn ich mit meiner Mutter in der Stadt unterwegs war, linste ich flüchtig ins Schaufenster hinein. Mehr war nicht drin: Ich traute mich nicht, länger davor rumzustehen, geschweige denn reinzugehen, selbst wenn’s nur zum Gucken gewesen wäre. Ich konnte mir die Blicke der Verkäufer*innen schon vorstellen. Dieser Röntgenblick, der direkt das Jahreseinkommen der Eltern plus den Taschengeldbetrag der kauffreudigen Teeniekinder auf die Innenseite ihrer Augenlider werfen konnte und der bei meinem Anblick bestimmt direkt dafür gesorgt hätte, ein rotes Warnlämpchen aufleuchten zu lassen. Die kann sich hier eh nichts leisten! Das konnten die mir und meinen Deichmann-Schuhen ansehen, das wusste ich. Oder dachte ich zumindest.

Auch wenn mir Materielles nie wichtig war, war mir das unangenehm. Die »Klassen-Scham« war also doch irgendwie und irgendwo in mir drin gewesen und ist es bis heute. Ich bin erst kürzlich wieder so eine Situation geraten, als ich bei einem großen Kaufhaus eine Kerze kaufen wollte. Wie fast immer stand ich in meinem Jogginganzug vor den Regalen und probierte mich durch die verschiedenen Düfte von Diptyque und Baobab, als plötzlich ein Verkäufer sehr geflissentlich und misstrauisch angerauscht kam und begann, mich mit dem mir bekannten Röntgenblick zu taxieren und allerhand bissige Fragen zu stellen. Ich trug zwar einen Jogginganzug von Acne, aber für den Mann war ein Jogginganzug genug Indiz dafür, dass ich eine potenzielle Diebin und, wenn nicht das, dann zumindest eine Schmarotzerin, die nur an den Kerzen schnüffeln will, aber nichts einkauft, sein könnte. Er war richtig forsch. An sich keine nennenswerte Situation, so etwas passiert vermutlich vielen, aber für mich war das schlimm. Ich hasse sowas. Ich gehe bis heute ungern in teure Läden rein, weil ich mich dort unwohl fühle. Ich habe inzwischen mit VIAM Studio meine erste eigene Modekollektion, aber fühle mich immer noch wie ein Scam, wenn ich in teuren Boutiquen zu lange am Stoff rubbel. Es ist ein Gefühl, das jemand aus der Mittel- oder sogar Oberschicht nicht nachvollziehen kann, und auch mir war es lange nicht bewusst. Aber es prägt einen.

Ich war immer glücklich mit dem, was wir hatten. Aber es war mir bewusst, dass andere denken, dass das nicht genug sein kann. Die Scham kommt von außen, nicht von innen. Beim Schlager, bei der Hauptschule und beim Geld. Sie ist wie ein Parasit, der unbemerkt in deinen Organismus schleicht, sich zwischen deinen Organen einnistet und dort an dir nagt, ohne dass du es bemerkst. Bis du es dann irgendwann doch bemerkst. Und dann schämt man sich wieder FÜR die Scham. Wer hat schon gern einen Parasiten in sich drin? Es ist Arbeit, sich davon zu befreien. Leise, anstrengende, innere Arbeit. Ich acker immer noch daran und damit.

Umso aufregender und etwas ganz Besonderes war der Moment, als ich für mein erstes spanisches Flop-Projekt eingekleidet wurde. Ich durfte Klamotten für unser wunderbares Video leihen und die Stiefel sogar behalten! Die langsame Verwandlung von Vanessa Mandekić in Vanessa Maisollte nun beginnen. Na ja, eigentlich hatte das tatsächlich immer noch sehr wenig mit Wolkenfrei oder Vanessa Mai zu tun. Aber dennoch war eine neue Ära im Anbruch. Spätestens, als ich dann wirklich zu Wolkenfrei stieß. Und ich war sowas von ready dafür!

Kapitel 4