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Online mit der kosmischen Intelligenz … Wer sind wir? Wie sollen wir leben? Was macht uns glücklich? Welche Entscheidung bringt uns weiter? Bei manchen Fragen ist unser Verstand am Ende mit seinem Latein. In solchen Momenten der Ratlosigkeit wird das I Ging zum zuverlässigen Führer. Wie ein überzeitlicher "Quantencomputer" verbindet es uns mit einer höheren Quelle der Erkenntnis, deren hellsichtige Antworten das Potenzial haben, unser Bewusstsein zu erweitern. Endlich! Hier liegt eine zeitgemäße Version des alten chinesischen Klassikers vor, der das Kunststück gelingt, die Weisheit und Spiritualität des "Buchs der Wandlungen" mit einer leichtgängigen Sprache und psychologischer Tiefe zu versöhnen! Wer es erst einmal kennt, den lässt es nicht mehr los!
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Seitenzahl: 1092
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Imprint
I Ging - Gespräche mit der kosmischen Intelligenz
Andrea Seidl
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
© 2013 Andrea Seidl
www.seeleundkraft.de
Satz: Jörg Bauer, Erlangen
ISBN 978-3-8442-6338-1
Inhalt
Hexagrammtabelle
Vorwort
Einführung
Historischer Hintergrund
Die Übersetzung
I Ging und WissenschaftI Ging und Wissenschaft
Die Philosophie des I Ging
Das Orakel
Selbsterkenntnis
Das spirituelle Weltbild dieses Buches
Die innere Architektur des I Ging
„Gebrauchsanweisung“
Die Trigramme
Kien – der Himmel
Kun – die Erde
Dschen – der Donner
Kan – das Wasser
Gen – der Berg
Sun – der Wind
Li – das Feuer
Dui – der See
Die Hexagramme
1 – Das Schöpferische
2 – Das Empfangende
3 – Die Anfangsschwierigkeit
4 – Die Jugendtorheit
5 – Das Warten
6 – Der Streit
7 – Das Heer
8 – Das Zusammenhalten
9 – Des Kleinen Zähmungskraft
10 – Das Auftreten
11 – Der Friede
12 – Die Stockung
13 – Gemeinschaft mit Menschen
14 – Der Besitz von Großem
15 – Die Bescheidenheit
16 – Die Begeisterung
17 – Die Nachfolge
18 – Die Arbeit am Verdorbenen
19 – Die Annäherung
20 – Die Betrachtung
21 – Das Durchbeißen
22 – Die Anmut
23 – Die Zersplitterung
24 – Die Wiederkehr
25 – Die Unschuld
26 – Des Großen Zähmungskraft
27 – Die Mundwinkel
28 – Des Großen Übergewicht
29 – Das Abgründige
30 – Das Haftende
31 – Die Einwirkung
32 – Die Dauer
33 – Der Rückzug
34 – Des Großen Macht
35 – Der Fortschritt
36 – Die Verfinsterung des Lichts
37 – Die Sippe
38 – Der Gegensatz
39 – Das Hemmnis
40 – Die Befreiung
41 – Die Minderung
42 – Die Mehrung
43 – Der Durchbruch
44 – Das Entgegenkommen
45 – Die Sammlung
46 – Das Empordringen
47 – Die Bedrängnis
48 – Der Brunnen
49 – Die Umwälzung
50 – Der Tiegel
51 – Das Erregende
52 – Das Stillehalten
53 – Die Entwicklung
54 – Das heiratende Mädchen
55 – Die Fülle
56 – Der Wanderer
57 – Das Sanfte
58 – Das Heitere
59 – Die Auflösung
60 – Die Beschränkung
61 – Innere Wahrheit
62 – Des Kleinen Übergewicht
63 – Nach der Vollendung
64 – Vor der Vollendung
Literatur
Die Autorin
Hexagrammtabelle
(Falls die Tabelle nicht richtig dargestellt wird, kann sie hier auch als Bild abgerufen werden.)11134526914431221682320354525245132742211767402945964473315623952535631444632481857502813365563223730491019546041613858Vorwort
Dieses Buch ist mein Baby. Ein Kind, das ich über viele Jahre hinweg ausgetragen habe und nun in die Welt setze. Darin stecken viele, viele Stunden des Recherchierens, geduldiger Informationssammlung, Stunden der Verwirrung und des intensiven Nachdenkens, Stunden berührender Inspiration und aufgeregter Aha-Erlebnisse.
Ich habe das I Ging in meinen dreißiger Jahren kennen gelernt, als ich mich bereits intensiv mit Astrologie befasste. Alle Orakelmethoden, auch das Tarot, hatten auf mich seit jeher eine magische Anziehungskraft, obwohl sich mein wissenschaftlich geschulter Verstand noch in Erklärungsnot befand. Und so holte ich mir eines Tages auch die klassische Übersetzung des I Ging von Richard Wilhelm nach Hause. Zunächst einmal war ich etwas ratlos, weil ich völlig überfordert vor einem neuen Denksystem stand, das sich nicht gerade als leichte Kost präsentierte. Ich stellte es erst einmal ins Regal und ließ es dort stehen, bis ich durch die Beschäftigung mit der Philosophie des Taoismus wieder darauf gestoßen wurde. Damals studierte ich bereits Psychologie und befasste mich zunehmend mit fernöstlicher Spiritualität. Ich begann, mit dem I Ging zu experimentieren, obwohl ich die dahinter stehende, hoch komplexe Metaphysik noch lange nicht verstand. Heute meine ich, dass das der richtige Weg war. Das I Ging ist ein Buch, das dem Leben dienen will. Wenn wir es benützen, erschließt es sich von selbst, wir dringen immer tiefer ein und beginnen seine Hintergründe besser zu verstehen. Das ist ein Prozess, im Laufe dessen wir wachsen und reifen, und zu dem ich Sie wärmstens einladen möchte.
Da mir das I Ging so sehr am Herzen liegt, bedauerte ich immer wieder, dass so wenige Menschen in meinem Umfeld bereit waren, sich näher mit ihm zu befassen. Zugegeben, die Hürden waren hoch: eine komplizierte fremdartige Philosophie, die altertümliche Sprache Richard Wilhelms, unvertraute Symbole… Auch die modernen Autoren, die sich um zeitgemäße Versionen des chinesischen Klassikers bemühten, konnten die Blockade nicht auflösen. Ich war bei aller Begeisterung selbst oft völlig „angenervt“ von den höchst kryptischen und wolkigen Texten, die sich nur manchmal gegenseitig vervollständigten und aufklärten. Irgendwann begann ich, für mich selbst diese vielschichtigen, teils widersprüchlichen Informationen zusammenzuschreiben. Dabei verdichtete sich mein Verständnis. Ich arbeitete an der Sprache, versuchte, wirklich zu verstehen, was der vor mir liegende Text bedeutete, und es in verständliche Worte zu fassen. Das gelang mir am besten, indem ich das I Ging immer wieder persönlich befragte und seine Antworten aus dem Kontext meiner Erfahrungen heraus begriff. Diese Lebenspraxis ergänzte sich ganz von selbst mit meinem Fachwissen aus Psychologie und Spiritualität.
Richard Wilhelm blieb in diesem ganzen Prozess mein hochgeschätzter Dreh- und Angelpunkt, doch auch einige neuere Autoren vermittelten mir wertvolle Ansätze. Mit großem Gewinn habe ich vor allem drei Werke gelesen, die ich hier explizit und in Dankbarkeit nennen möchte: „I Ging, das Buch vom Leben“ von René van Osten, die „Schule des I Ging“ von Franciscus Adrian und „Das kosmische I Ging“ von Carol Anthony und Hanna Moog. Viele ihrer Gedanken sind in das vorliegende Buch eingeflossen.
Einführung
Vielleicht schauen Sie ja gerade zum ersten Mal in eine Ausgabe des I Ging, mit der stirnrunzelnden Frage:
Was ist das I Ging überhaupt?
Viele Menschen mit bester Schulbildung und Universitätsabschluss haben noch nie etwas davon gehört. Das ist auch gar nicht verwunderlich, denn es gehört ja in den höchst esoterischen Kontext des alten chinesischen Denkens. Kampfsportler und Feng-Shui-Anhänger mögen schon einmal darauf gestoßen sein, da die acht grundlegenden Bausteine des I Ging, die so genannten Trigramme, in der Philosophie dieser Disziplinen ebenfalls eine tragende Rolle spielen und immer wieder abgebildet werden – oft nur, weil das so hübsch chinesisch und bedeutsam aussieht.
Wenn Sie also noch nicht viel Ahnung vom I Ging haben, muss Ihnen das nichts ausmachen. Sie sind in guter Gesellschaft.
Dennoch möchte ich diesem „Defizit“ ein wenig abhelfen, ohne dabei zu akademisch zu werden. Ich erzähle Ihnen das, was mein eigenes Interesse erweckt hat, im vollen Bewusstsein, wie subjektiv das ist. Den Anspruch auf Objektivität habe ich längst aufgegeben, er ist für niemanden einlösbar. Ich stelle Ihnen hier vor, was ich für wichtig halte und was mich bewegt. Wenn Sie mehr wissen möchten, kann Ihnen die Literaturliste im Anhang gute Dienste leisten.
Also noch einmal: Was ist das I Ging?
Das I Ging (oder I Ching oder Yijing) ist ein Buch, ein uraltes Buch – eines der ältesten der Welt, ein Orakel- und Weisheitsbuch aus dem alten China, aufgeschrieben vor gut 3000 Jahren, doch mit noch viel älteren Ursprüngen. Das I Ging ist kein Buch, das zum Durchlesen gedacht ist – obwohl man natürlich auch das mit Gewinn tun kann. Im Grunde ist es ein Buch, das uns auf die Fragen unseres Lebens Antwort geben will, also ein Buch, das mit uns spricht.
Wortwörtlich bedeutet I Ging: „Buch (Ging) vom Werden und Vergehen (I)“ oder, so hat es sich eingebürgert: „Buch der Wandlungen“. In diesem kurzen Titel steckt schon die zentrale Idee der chinesischen Philosophie: dass alles in Bewegung und nichts von Dauer ist, oder wie es Heraklit formulierte: dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, weil „alles fließt“.
Im I Ging verdichtet sich das Weltbild der alten Chinesen, ein Modell des Kosmos aus vorpatriarchaler Zeit, als die Menschen sich noch im Einklang mit dem Ganzen fühlten. Dieses spirituelle Meisterwerk mit universellem Gültigkeitsanspruch stammt nicht aus der Hand eines einzigen Autors, es wurde von Generationen von Schamanen und Weisen zusammengetragen, die im innigen Kontakt mit der kosmischen Wirklichkeit standen. In diesem Buch bilden die sichtbare Wirklichkeit und die unsichtbare, geistige Welt noch eine Einheit, ganz so wie es das esoterische Gesetz des Hermes Trismegistos ausdrückt: „Wie oben, so unten“ (oder auch: „Wie innen, so außen“ – und umgekehrt). Dieses Buch offenbart also ein durch und durch ganzheitliches Weltverständnis, in dem auch die Zeit symbolische Qualitäten aufweist.
Ja, und dieses steinalte Buch aus dem fernen Osten will auch für uns, hier und heute, gültig sein. Es hat den Anspruch, die Gesamtheit aller kosmischen Gesetzmäßigkeiten und ihrer Auswirkungen in einem Code von 64 Strichmustern zu umschreiben. Damit bietet es sich uns als wertvoller Ratgeber für die Entscheidungen unseres Alltags an.
Viele Menschen sind überrascht und betroffen, wenn sie sich zum ersten Mal an das I Ging wenden – denn es kommt ihnen entgegen wie ein lebendiges, bewusstes Wesen mit größter Einfühlungskraft. Es vermittelt uns das starke Gefühl, von einer unsichtbaren Präsenz gesehen zu werden, was sich zunächst geradezu unheimlich anfühlen kann. Doch mit der Zeit kann es zu einem intimen Freund werden, zu einem persönlichen Coach, ja, zu einem spirituellen Lehrer.
Mir hat das I Ging schon oft den Kopf gewaschen, wenn mein Ego sich aufgeplustert hatte, und mich in anderen Situationen wieder liebevoll aufgemuntert und an meine Ressourcen erinnert. Jenseits unserer alltäglichen Moralvorstellungen verfolgt es eine eigene Zielrichtung, die ausschließlich auf unser spirituelles Wachstum hinzielt. Nach vielen Jahren der Erfahrung mit dem I Ging kann ich sagen: Ich weiß, dass es funktioniert. Für das Warum fehlen mir beweiskräftige Erklärungen, auch wenn ich natürlich meine persönlichen Lieblingshypothesen habe.
Dieses merkwürdige alte Buch hat schon viele Menschen in seinen Bann gezogen, auch hier bei uns im Westen. Carl Gustav Jung, der über die Archetypen der Welt forschte, experimentierte damit und kam zu dem Ergebnis, es zeige einen Ausblick auf den unsichtbaren Plan des Lebens. Dieser ungewöhnliche Forscher besaß den Mut, seinen spottenden Zeitgenossen zum Trotz zu bekennen, dass er den Aussagen des I Ging vertraue. Und er versuchte, über die Dynamik des kollektiven Unbewussten aufzuzeigen, warum seine Antworten stimmen. Hermann Hesse war vom I Ging ebenso tief beeindruckt. Er verarbeitete seine Begegnung mit dem Orakel im komplexesten seiner Bücher, dem Spätwerk „Das Glasperlenspiel“. Darüber hinaus standen auch große Wissenschaftler wie Werner Heisenberg und Künstler wie Bob Dylan fasziniert vor jener Weisheit, die alle wissenschaftlichen Beweise transzendiert.
Historischer Hintergrund
Vorgeschichte
Die Ursprünge des I Ging liegen in der Jungsteinzeit (ca. 3000 v. Chr.). Damals gab es noch keine geschriebene Sprache, so dass jegliches Wissen mündlich weitergegeben wurde. In unserem typisch modernen Hochmut neigen wir dazu, die Menschen von damals als „Primitive“ zu bezeichnen. Doch es ist gut möglich, dass sie uns auch Einiges voraushatten, da sie noch im ungestörten Einklang mit der Natur lebten – sowohl mit der Natürlichkeit ihres eigenen Wesens als auch mit ihrer Umwelt. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat das als „participacion mystique“ bezeichnet, als mystische Teilhabe am Göttlichen. Heutzutage schauen wir fast ein wenig neidisch auf diese „edlen Wilden“, die wohl in einer Art paradiesischen Symbiose mit dem Kosmos lebten. Das idyllische Bild, das wir von ihnen malen, macht uns bewusst, wie fremd und verloren wir uns selbst in unserer Welt fühlen und in welchem Maße wir das Gespür für das harmonische Mitfließen im Großen Ganzen verloren haben.
Dieses Gefühl von Abgetrenntheit scheint physiologisch mit der Weiterentwicklung der Sprache und des linkshemisphärischen, rationalen Denkens zusammenzuhängen, die unsere rechte, ganzheitliche Hirnhälfte ins Hintertreffen brachte. So stolz wir auch auf unseren hoch differenzierten Intellekt sind – durch ihn kam uns auch etwas Wesentliches abhanden: das Gefühl heimischer Geborgenheit in der Welt.
Im Zuge dieses evolutionär fortschreitenden Entfremdungsprozesses wurde schließlich besonders eingeweihten Menschen die Aufgabe übertragen, die Verbindung zum Göttlichen zu erneuern. So schlug die Geburtsstunde der Religion. Durch Trancen und ekstatische Zustände versuchten die archaischen Schamanen den Kontakt zu den versperrten Erfahrungswelten wiederherzustellen. In ihren außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen „sahen“ sie überzeitliche Zusammenhänge, die sowohl das Diesseits wie auch die Welt der „Götter“ betrafen. Diese seherische Funktion der Schamanen im alten China wurde mit der Zeit immer mehr an Orakelmethoden delegiert: Zunächst las man in der Musterung der Rückenpanzer der heiligen Schildkröte, später griff man zu Schafgarbenstengeln – dem traditionellen Werkzeug der I Ging-Befragung.
Taoismus
In jenen noch matriarchal geprägten Zeiten entstanden auch die Wurzeln des Taoismus, der in vielem auf die Kosmogonie des I Ging zurückgreift, sich aber auch unabhängig davon entwickelte, um dann wieder auf die Ausdeutung des I Ging zurückzuwirken.
Der Taoismus ist seit jeher eine völlig unpolitische, pragmatische Philosophie, die sich an der Beobachtung der Natur orientiert. Die frühen chinesischen Wissenschaftler studierten den Lauf der Sterne und die Abfolge der Jahreszeiten, damit sie die bedrohlichen Launen der Natur, wie Überschwemmungen oder Dürreperioden, besser verstanden und ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert waren. Sie machten bei ihren Beobachtungen die Entdeckung, dass Ereignisse, die zeitgleich auf ganz verschiedenen Ebenen (Wetter, Politik, Kunst, persönliche Beziehungen…) stattfanden, dieselbe Grundqualität aufwiesen. Daraus zogen sie den Schluss, dass Natur und Geist innig verwoben sind und dass alle Erscheinungen in der sichtbaren, materiellen Welt einem verborgenen Rhythmus unterliegen, der seine Wurzeln in der geistigen Welt hat. Das führte zu der Konsequenz, dass wohl derjenige im Leben am besten fährt, der im Einklang mit diesen kosmischen Rhythmen lebt, während jedes Zuwiderhandeln auf Kampf, Konflikt und Niederlage hinausläuft.
Der Taoismus setzt damit auf Werte wie Spontaneität, Natürlichkeit und Bescheidenheit, er schätzt die kleinen Dinge des Lebens. Humor, Muße und Freundlichkeit gelten ihm weit mehr als Erfolg, Wissen und Heldentaten. Sein zentrales Konzept ist das so genannte Wu wei, die Nichteinmischung in den Fluss der Dinge (davon wird später noch einmal die Rede sein…).
Der berühmteste Vertreter des Taoismus ist Laotse, der Autor des berühmten Taoteking - das Buch vom Tao -, der wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde. Sein geniales Werk, das voller Paradoxien ist, nimmt etwas vorweg, was erst die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts wiederentdecken sollte: die Einheit der Gegensätze. Wenn wir heute das Taoteking lesen, kommen wir dem Weltbild der I Ging-Autoren nahe, weil beide so eng miteinander verwandt sind. Aus diesem Grund werde ich später, wenn ich Ihnen die 64 Hexagramme vorstelle, immer wieder aus diesem faszinierenden Klassiker zitieren.
Der gesellschaftliche Aufstieg des I Ging
Auch wenn die Legende erzählt, dass der sagenumwobene König Fu Xi vor ungefähr 5000 Jahren das I Ging verfasst hätte, liegt sein tatsächlicher Ursprung im Dunkeln. Orakelpraktiken wurden in China ja über Jahrtausende hinweg benützt. Erst mit der schriftlichen Fixierung unter König Wen (ca. 1150 v. Chr.) kommen wir in den Bereich soliderer Daten. Diese Epoche war davon geprägt, dass das ursprüngliche Weltbild zunehmend patriarchalisiert wurde. Es entstand ein feudales Gesellschaftssystem, dessen Basis die Familie war. In diesem Staat wurde das Orakel von König Wen selbst betreut: Der Kulturkönig und Begründer der Dschou-Dynastie sorgte dafür, dass die Hexagramme und zugehörigen Texte neu geordnet und vereinheitlicht wurden. Von da an stieg das I Ging allmählich auf zum Leitfaden in allen wichtigen Angelegenheiten des Staates. Vorerst lag dieses Instrument in den Händen der Regierenden und wurde vor allem zu politischen Sachverhalten befragt.
Der große Gesellschaftsphilosoph Konfuzius, ein Zeitgenosse Laotses, hatte zunächst nur Hohn und Verachtung für die alten Orakelpraktiken übrig. Doch als er sich selbst mit dem I Ging befasste, trat ein Sinneswandel ein. Heute zählt Konfuzius zu den bedeutsamsten Interpreten des I Ging. Er verfasste gemeinsam mit seinen Schülern zehn Anhänge zur seiner Deutung. Der enorme Einfluss der konfuzianischen Philosophie auf die chinesische Gesellschaft reichte bis in die Neuzeit. Über 2000 Jahre hinweg bestimmte sie die gemeinsame Weltsicht der Chinesen, selbst noch nachdem 1911 schon die Republik ausgerufen wurde.
Das zentrale Konzept der von ihm vertretenen, konservativen Lebenshaltung war die Kindesliebe. In ihr sah er den Ursprung aller Tugenden und die Wurzel der Kultur. Konfuzius predigte einen gesunden Menschenverstand, der nach sozialer Ordnung, Gerechtigkeit, Moral, Bildung und allgemeiner Harmonie strebt. Er war gewissermaßen Chinas erster Volkserzieher und Soziologe. Für ihn war der Staat eine große Familie, mit dem Kaiser als Oberhaupt. In dieser Gesellschaft gab es eine klare Rangordnung, die den Status jeder Person festschrieb – wobei Frauen letztlich auf die Rolle von Dienstmädchen verwiesen wurden, denen man weder Freiheit noch Bildung zugestand. Als höchste weibliche Tugend galt die Treue, notfalls bis in den Tod.
Unter dem Konfuzianismus wurde das I Ging zur Staatsideologie. Nun musste jeder, der im Beamtenapparat Chinas etwas werden wollte, sich gründlich damit auskennen.
Ca. 200 v. Chr. wurde das I Ging dann in der heute bekannten Form zusammengestellt. Zur dieser Zeit war es auch längst nicht mehr den Regierungsstellen vorbehalten, sondern wurde in allen Volksschichten benützt, vom Straßenkehrer bis zum Mandarin - es wurde zur „Bibel der Chinesen“. Allerdings hatte es inzwischen auch eine lange Entwicklung durchlaufen, in deren Prozess es mehrfach interpretiert und gefiltert wurde – natürlich immer im Sinne der herrschenden Klasse. Es ist also kein Text aus einem Guss, sondern besteht aus einer Sammlung von Schriften, die sich über zwei Jahrtausende summierten und die den Stempel zahlloser Gelehrter und Machthaber tragen.
Erst im 16. Jahrhundert ereignete sich wieder eine bahnbrechende Veränderung im höchst traditionsorientierten China, die große Konsequenzen für die Verbreitung des I Ging hatte. In das damals politisch geschwächte Land kamen die ersten europäischen Missionare, die staunend vor seinen mächtigen kulturellen Wurzeln standen. Nun setzte ein reger geistiger Austausch mit Europa ein, der viele dortigen Geistesgrößen inspirieren sollte.
Der maßgebliche Übersetzer Richard Wilhelm (1873- 1930)
Unter den Missionaren, die im ausklingenden 19. Jahrhundert nach China kamen, war auch Richard Wilhelm. Sein Name ist inzwischen unauflöslich mit dem I Ging verbunden. In gewisser Weise könnte man ihm sogar das Verdienst zurechnen, dass er das Buch der Wandlungen in die moderne Zeit hinüberrettete.
Der junge evangelische Theologe ging 1899 mit seiner Frau in den Missionsdienst nach Tsingtau, einem Fischerdorf auf halber Strecke zwischen Peking und Shanghai. Für 21 Jahre sollte er in seiner neuen Wahlheimat China bleiben. Voller Idealismus machte sich Richard Wilhelm an das schwierige Studium der chinesischen Sprache, er gründete eine Schule, richtete ein Hospital ein. Da er sich ohne rassistische Vorurteile aufrichtig für das chinesische Volk engagierte, erwarb er sich mit der Zeit einen Ruf, der ihm die höchste Achtung der Einheimischen einbrachte. So öffneten sich ihm Türen, die anderen strikt verschlossen blieben: Er traf hohe chinesische Gelehrte und taoistische Priester, die ihm Einblick in die alten kulturellen Wurzeln Chinas gaben. Als selbst sehr gebildeter, philosophisch interessierter und spiritueller Mensch war er tief beeindruckt von diesem fremdartigen und doch einleuchtenden Gedankengut. Er ergriff diese einmalige Chance, bei den letzten Vertretern des chinesischen Geisteslebens in die Lehre zu gehen - kurz bevor Mao und die bald heraufziehende Kulturrevolution die alten Traditionen mit eisernen Besen hinwegfegen sollten.
Bald reifte in ihm die Überzeugung, dass die Weisheit der chinesischen Klassiker auch im Westen bekannt gemacht werden müsse. Zunächst machte sich Wilhelm an die Übersetzung des Taoteking. Dieses Büchlein stellte trotz seines überschaubaren Umfangs bereits höchste Anforderungen an die Übersetzung, da die wenigen Schriftzeichen äußerst unterschiedlich zu deuten sind (bis heute kommen immer neue Interpretationen des Taoteking auf den Markt, die jeweils wieder eine neue Facette dieses Werks beleuchten).
Das umfangreiche und hoch komplexe I Ging war jedoch eine Herausforderung besonderen Formats. Es übte schon lange große Faszination auf Richard Wilhelm aus. Auch hier leistete er Pionierarbeit. Er machte sich das Werk einerseits umfassend vertraut, indem er es in seinen Alltag einbezog. Andererseits suchte er das Gespräch mit Gelehrten, die ihm die vielschichtigen esoterischen Hintergründe aufschlüsselten. Über zehn Jahre hinweg feilte er an der Übersetzung dieses Buches, das ihm heilig war, weil er darin einen vollständigen Spiegel des Kosmos erkannte. Diese tief schürfende Arbeit veränderte ihn auch als Mensch, sie verwandelte ihn allmählich vom Theologen zum Mystiker.
Als Wilhelm in den zwanziger Jahren in das nach dem ersten Weltkrieg völlig veränderte, depressive und materialistische Deutschland zurückkehrte, erwartete ihn ein Kulturschock. Nach so vielen Jahren im Reich der Mitte konnte er sich nicht mehr mit den Deutschen identifizieren und schwor sich, persönlich dafür zu sorgen, dass das kostbare kulturelle Erbe Chinas nicht verloren ging. 1924 wurde sein Hauptwerk, die Übersetzung des I Ging, zum ersten Mal veröffentlicht und stieß sogleich auf großes Interesse: Carl Gustav Jung, Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Martin Buber, Karlfried Graf Dürckheim … – die Liste der Intellektuellen ist lang, die mit Wilhelm in Kontakt traten. Auch wenn der Autodidakt Wilhelm jetzt Karriere machte – als Kulturattaché, Hochschullehrer der Universität Peking und ordentlicher Professor für Sinologie in Frankfurt, konnte er sich doch mit der etablierten Wissenschaft in Deutschland und ihrem mechanistischen Weltbild nicht mehr anfreunden. Er blieb im Herzen der Seele Chinas treu. 1930 starb er an einer Tropenkrankheit.
Die Übersetzung
Als in den Zwanziger Jahren in Deutschland die weltweit erste Übersetzung des I Ging erschien, war das ein Meilenstein für unseren Zugang zur östlichen Spiritualität. Seit seiner Veröffentlichung wächst die Aufmerksamkeit, die das alte Buch der Wandlungen im Westen erfährt. Vor allem seit den Sechzigern wird es im Zeichen des New Age und der Selbstfindungsbewegung immer populärer. Gleichzeitig verliert es in seinem Herkunftsland, dessen Gesellschaft sich dem Materialismus verschrieben hat, dramatisch an Bedeutung.
Richard Wilhelm hatte als Autor eine Herkulesarbeit vollbracht, die sich nicht auf die reine Übersetzungsleistung reduzieren lässt. Ein Werk vom spirituellen und philosophischen Rang des I Ging muss zunächst einmal aus der Tiefe verstanden werden. Und das gelang Wilhelm in einer Weise, die sein Werk noch heute einzigartig macht. Er assimilierte die Weisheit vieler Jahrtausende und goss sie in die Form seiner Worte. Das Ergebnis ist nicht einfach eine Übersetzung, es ist nach wie vor „die“ Übersetzung des I Ging, an deren Horizont sich alle anderen messen müssen.
Obwohl sich Wilhelm nach Kräften um Genauigkeit bemühte und seine Übersetzung durch mehrfache Rückübersetzungen ins Chinesische absicherte, war auch er ein Kind seiner Zeit und damit auch ihrer Vorurteile und geistigen Beschränktheiten.
Problematische Filter
So wie das I Ging uns deutschen Lesern heute vorliegt, hat es viele verschiedene Filter durchlaufen, begonnen bei den ersten kulturellen Überformungen durch die Dschou-Dynastie und den Konfuzianismus. Vor allem die Geisteshaltung des Neokonfuzianismus kollidiert mit den wertungsfreien Urgedanken des Buchs der Wandlungen. Die zu Wilhelms Zeiten offizielle Interpretation behauptet, dass der ganze Kosmos hierarchisch gegliedert sei: oben der Himmel, unten die Erde; oben die Männer, unten die Frauen; oben die Herrscher, unten das Volk... Mit der Frau und den weiblichen Werten wird ganz allgemein das Yin herabgewürdigt und mit Attributen wie „böse“, „gemein“, „niedrig“ versehen, was die kosmische Balance der beiden Urenergien, die den Taoisten noch heilig war, ins Wanken bringt. Dieses feudalistische Weltbild lieferte im Grunde eine bequeme Rechtfertigung der irdischen Machtverhältnisse, so dass die jeweilig herrschende Oberklasse sich auf die „himmlische Ordnung“ berufen konnte.
Mit seiner Übersetzung hat Wilhelm zwangsläufig einen weiteren Filter hinzugefügt, der den Stempel seiner Epoche trägt: Der Zeitgeist Ende des 19. Jahrhunderts war von Imperialismus, Kapitalismus und Industrialisierung geprägt. Wie im damaligen China herrschte auch in Deutschland ein feudalistisches System, das Hierarchien, Sitte und Staatsmoral hochhielt. In der patriarchalen Gesellschaft hier wie dort galt das Weibliche wenig. Gleichzeitig herrschte eine ausgeprägte Prüderie, die durch Wilhelms Protestantismus noch bekräftigt wurde. Diese verklemmte Haltung reibt sich mit dem Urtext, der die Sexualität als mächtigen Aspekt des Kosmos anerkennt und bejaht.
Darüber hinaus machte Wilhelm wohl auch Zugeständnisse an das naturwissenschaftliche Denken seiner Zeit, indem er sich in Vielem darauf beschränkte, die zutiefst esoterischen Hintergründe des I Ging nur anzudeuten.
Diese Verzerrungen mindern Wilhelms Leistung nicht. Sie sind die unvermeidbaren Begleiterscheinung jeglicher menschlichen Tätigkeit. Dennoch müssen wir uns bewusst machen, dass solche Filter existieren und dass ein überzeitliches Weisheitsbuch wie das I Ging niemals „fertig“ ist, niemals eine zementierte, absolute Form hat, auf die man sich berufen kann. Es lebt mit uns und verändert sich mit uns und unserer Zeit.
Die Schwierigkeiten der Übersetzung
Wilhelm stand bei seiner Übersetzung vor grundlegenden Problemen: Weder die chinesischen Schriftzeichen, noch die darin vermittelten Bilder sind eins zu eins in eine westliche Sprache transferierbar. Der Urtext gibt seinem Übersetzer solche Probleme auf, dass er jedem, der nicht darauf spezialisiert ist, größtenteils unverständlich bleibt.
Das beginnt schon damit, dass die chinesische Schrift sich ja als Bilderschrift entwickelt hat und von daher unmittelbar an unsere ganzheitliche, rechte Hemisphäre richtet, ganz anders als die Lautschriften aus unserem Kulturraum. Gleichzeitig sind ihre Schriftzeichen grundsätzlich mehrdeutig. Es gibt keine Unterscheidung nach grammatikalischem Geschlecht, nach Singular oder Plural. Und da auch Zeitangaben und Pronomen fehlen, schwebt der Text merkwürdig in der Luft. Die Urtexte des I Ging beschränken sich zwar meist auf nur sechs Zeichen, doch diese lassen sich auf viele verschiedene Weisen übersetzen – mit zum Teil gravierenden Abweichungen. Damit steht der Übersetzer vor einem tatsächlich unlösbaren Problem. Es ist fast, als hätte er einen Tintenklecks des Rohrschach-Tests vor sich, in den er die unbewussten Inhalte seines eigenen Geistes hineinprojiziert…
Neben der Unschärfe der Schriftzeichen sind auch viele spezifischeBegrifflichkeiten, die im I Ging vorkommen, wenig fassbar. Schon bei der Übersetzung des Taoteking grübelte Wilhelm lange über dem Begriff „Tao“, auf dem ja die ganze Philosophie des I Ging aufbaut. Bei Laotse heißt es: „Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao“. Nur, wenn es nicht benannt werden kann, wie soll man es dann übersetzen? Wilhelm entschied sich für „der Sinn“. Andere Autoren wählten ähnlich vage Worte wie „der Weg“, „der Weltengang“ oder sie beließen es gar bei „das Tao“. Nun ist das I Ging voll von solchen Begriffen: Es spricht von „Edlen“ und „Gemeinen“, vom „großen Mann“ und vom „Überschreiten des großen Wassers“… All diesen Worten liegen komplexe Gedankengebäude und Konnotationsfelder zugrunde, die man kennen und verstehen muss, um etwas damit anfangen zu können. Auf den unvorbereiteten westlichen Leser wirken diese Texte deshalb erst einmal mysteriös bis unverständlich.
Das I Ging beinhaltet viele uralte Bilder, die noch aus einer Zeit des vorwissenschaftlichen Denkens stammen. Es nimmt Bezug auf den schamanischen Seelenvogel und andere mythische Tiere, es verwendet Bilder aus Astrologie, Astronomie und Geomantie. Wie soll ein Übersetzer sich in all diese komplexen Wissensgebiete einarbeiten?
Angesichts der beschriebenen Fülle von Schwierigkeiten und verzerrenden Filtern wird klar, wie relativ jede Übersetzung des I Ging bleiben muss, auch die von Richard Wilhelm. Es ist schlicht unmöglich, dem Anspruch auf eine vollkommen „richtige“ Übersetzung gerecht zu werden. Daher können alle Übersetzungen nicht mehr als ein Vorschlag sein, der gefärbt ist durch das Verständnisniveau und das Weltbild des Übersetzers.
Das mag zunächst unbefriedigend klingen, doch es ist auch eine Einladung an uns, aktiv zwischen den Zeilen zu lesen und uns das Recht zu nehmen, eigene Assoziationen und Weiterdeutungen zu entwickeln.
Neuinterpretationen
Mittlerweile ist Richard Wilhelms Maßstäbe setzende Übersetzung fast 100 Jahre alt. Seine Sprache ist längst nicht mehr zeitgemäß, das Weltbild gründlich veraltet. Dementsprechend haben zahlreiche jüngere Autoren den Versuch unternommen, das I Ging moderner zu formulieren und von seiner feudalistischen Ideologie zu befreien. Einige von ihnen sind ebenso eingehend und ernsthaft in die Spiritualität dieses Werks eingetaucht wie dereinst Wilhelm. Dann gibt es eine Anzahl von eher akademischen Veröffentlichungen, die sich allerdings als ziemlich schwer verdaulich erweisen. Und schließlich sind viele „Light“-Versionen auf dem Markt, die die Gedanken des I Ging auf das Niveau trendiger Fastfood-Spiritualität verkürzen.
Ich lege Ihnen hier eine Version vor, die vor allem psychologisch orientiert ist. Ich spreche zwar kein Wort Chinesisch, doch durch eine gründliche Sichtung der Literatur und vor allem die spirituelle Vertiefung in den Sinn der Hexagramme ist ein ernsthaftes neues Werk entstanden. „Mein“ I Ging wächst und verändert sich täglich, auch wenn die Erkenntnisse dieses aktuellen Moments jetzt in Buchform fixiert werden. Was hier vor Ihnen liegt, entspricht meinem persönlichen Verständnis zu diesem ganz bestimmten Moment und hat keinen Anspruch auf Ewigkeit.
Die Philosophie des I Ging
Das I Ging beruht auf einem metaphysischen Weltgebäude, das auch den chinesischen Kampfkünsten, dem Feng-Shui und der traditionellen chinesischen Medizin zugrunde liegt.
Die Schöpfung
Das Tao erschafft die Eins.
Die Eins erschafft die Zwei.
Die Zwei erschafft die Drei.
Die Drei erschafft alle Dinge.
(Laotse)
Die Schöpfungsgeschichte der alten Chinesen drückt sich in numerischen Metaphern aus, die direkt in die mathematische Symbolik des I Ging münden:
Am Anfang war nur das Tao, jenseits von Zeit und Raum, die Quelle allen Seins, grenzenlos, formlos, ewig und unendlich. Dieser göttliche Ursprung wird dargestellt in der Null oder dem leeren Kreis (Wu Chi) und aus ihm geht der erste Schöpfungsakt hervor: Aus Nichts wird Etwas, aus 0 wird 1, die Leere erzeugt die allumfassende Einheit (Tai Chi, das Paradies). So wie ein Magnet zwei Pole hat, umfasst diese übergeordnete Ganzheit die sexuellen Energien von Yin und Yang (Adam und Eva). Damit erzeugt die Einheit die Zweiheit. Aus der Polarität von Yin und Yang entspringt wiederum die Dreiheit – die Grundbausteine der Welt, die acht Trigramme. Und die Dreiheit erschafft schließlich die Vielheit: aus den Trigrammen entstehen die Hexagramme, der Kosmos in seiner Fülle. So gesehen bringen das männliche Yang und das weibliche Yin in einem ewigen Prozess kosmischer Sexualität die ganze unüberschaubare Welt der „zehntausend Dinge“ hervor.
Die Urpolaritäten
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle
und wenden sich hin zum Licht.
Wenn Licht und Dunkel sich verbinden,
kommt Harmonie in alle Dinge.
(Laotse)
Nach der Grundidee des östlichen Weltbildes ist das Universum also eine Art zweigeschlechtlicher Organismus, in dem das Leben (Chi) zwischen den Polen von Yin und Yang pulsiert. Die Welt ist nichts anderes als der Tanz dieser beiden Grundkräfte, die in ihrem ständigen, kreativen Wechselspiel alles erschaffen, was ist. Der stetige Wandel aller Dinge ist also kein Ausdruck von Chaos, sondern die natürliche Ordnung der Welt. Leben heißt Veränderung und bleibt niemals stehen. Doch diese Veränderung ist nicht willkürlich, sondern folgt einer inneren Gesetzmäßigkeit, die im I Ging aufgezeichnet ist. Seine Hexagramme geben diese fluktuierende Weltordnung, den „Fluss der Dinge“ getreu wieder. So gibt es das Zeichen „Vor der Vollendung“ (Hex. 63), ebenso wie das Zeichen „Nach der Vollendung“ (Hex. 64), ein Hexagramm, das einen stabilen Zustand namens „Vollendung“ beschreiben würde, existiert nicht.
Die beiden Pole des Lebens Yin und Yang sind grundverschieden und dennoch keine Gegensätze, wie unser dualistisches Denken uns leicht weismachen könnte. Zwischen ihnen besteht kein Konkurrenzverhältnis, sondern eine Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit. Sie befruchten und ergänzen sich, sie sind wie die untrennbaren beiden Seiten einer Medaille. Beide sind bereits ineinander enthalten. Sie sind ja nichts Absolutes, sondern grundsätzlich relativ: etwas ist yin oder yang in Bezug auf etwas anderes. Der Mann ist yang im Vergleich zur Frau. Sein Körper ist yin im Kontrast zu seinem Intellekt. Seine Körperoberfläche ist wiederum yang bezüglich des Körperinneren, usw. Wie es im Tai Chi-Symbol dargestellt ist, birgt das Yin den Keim des Yang in sich und umgekehrt. Der Mann trägt die Frau in sich, die Frau den Mann. Sie ziehen einander magnetisch an, weil sie den gegenseitigen Ausgleich brauchen. Ein starkes Yin weckt das Yang; je stärker das Yang, umso mehr verlangt es nach Yin. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung kippt jeder Pol in den jeweils anderen. So sorgen die Gesetze der Zeit für eine alchimistische Transformation: Yin verwandelt Yang, Yang verwandelt Yin - der Tag wird zur Nacht und die Nacht wieder zum Tag… Die Summe der möglichen Transformationsmuster ist in den 64 Hexagrammen wie auf einer qualitativen Zeittafel festgehalten.
Das älteste Bild zur Illustration der beiden Urkräfte zeigt einen Berg mit seiner sonnigen (yang) und seiner schattigen (yin) Seite. In der graphischen Darstellung wird Yang als geschlossene, durchgezogene Linie mit phallischen Charakter gezeichnet, während die durchbrochene und damit offene Linie zum Symbol des Yin wird.
Zum männlichen Yang gehören die Eigenschaften: Licht, Himmel, Tag, Sonne, Inhalt, Anfang, Ausdehnung, aktiv, schöpferisch, rational, bewusst, vorantreibend, Willenskraft, beharrlich, trocken, hart, plus, geistig …
Zum weiblichen Yin gehören: Dunkelheit, Erde, Nacht, Mond, Form, Ende, spüren, Kontraktion, passiv, rezeptiv, Ruhe, unbewusst, geschehen lassen, feucht, weich, nachgiebig, sanft, bescheiden, minus, materiell …
Diese beiden Pole sind einander völlig ebenbürtig. Allerdings klingt bei der Aufzählung der zugeordneten Begriffe unterschwellig schon an, was wir heute im Alltag ständig erleben: Yang scheint irgendwie besser zu sein als Yin, aktiv scheint besser zu sein als passiv, plus besser als minus, handeln besser als geschehen lassen – oder? …
Solche Bewertungen sind dem Kosmos fremd. Und wenn man weiß, dass die chinesische Medizin die Ursache aller Pathologien darin sieht, dass Yin und Yang nicht im Gleichgewicht sind, versteht man die Krankheit unserer Welt.
Das Orakel
Orakelmethoden wie das Tarot oder das I Ging befinden sich heutzutage in einem merkwürdigen Spannungsfeld. Zum einen werden sie auf oberflächlichstem Niveau als esoterische Spielerei vermarktet. Im anderen Extrem werden sie als abergläubischer Unsinn abgewertet und verlacht. Dabei gehen beide Haltungen an der Wahrheit vorbei - die der abgehobenen Träumer ebenso wie die der abgeklärten Rationalisten. Die Wirklichkeit hat eine geheimnisvolle, mystische Dimension, die nur erspüren kann, wer sich wirklich darauf einlässt, wer sich nicht mit den vorgefertigten bequemen Antworten des Mainstream-Wissens zufrieden gibt, sondern beharrlich weiterfragt, um eigene Wahrheiten zu entdecken.
Es ist eine alte Weisheit, dass spirituelles Wissen sich selbst geheim hält. Es eröffnet sich nur dem, der bereit ist, an sich zu arbeiten, der bereit ist, zu zweifeln wie auch zu vertrauen. Nur in der Praxis können wir herausfinden, dass Orakel funktionieren. Allerdings darf man auf diesem spirituellen Weg nicht mit der Anerkennung anderer rechnen. Dem ernsthaften Orakelanwender aber kann eine viel tiefere Befriedigung zuteil werden: die bewegende Begegnung mit einer höheren Intelligenz, die uns in die Gesetze des Lebens einweiht…
Synchronizität und Zufall
Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde…
(Prediger Salomo)
Alles ist stetig in Bewegung, alles fließt. Nichts ist gewiss, außer dem Wandel. Dieser Grundgedanke zeigt die überragende Bedeutung der Zeit im chinesischen Denken. Wir sind daran gewöhnt, Zeit quantitativ zu betrachten, ihr qualitativer Aspekt ist uns unvertraut. Die alten Griechen waren sich dieser Unterscheidung noch bewusst. Sie nannten die mess- und berechenbare Zeit „Chronos“ und gebrauchten den Begriff „Kairos“ um auszudrücken, dass die Zeit auch eine Bedeutungsdimension hat - dass in dem, was uns zeitgemäß „zufällt“, ein Sinn liegt. Nur, wer im Einklang mit der Zeit ist, wer also das Gebot der Stunde erfüllt, kann den Kairos - die Gelegenheit – nutzen. Und wir alle wissen aus unserer Erfahrung: wenn der Moment nicht stimmt, können wir uns noch so sehr anstrengen, wir werden doch scheitern.
C.G. Jung hat für dieses Phänomen den Begriff der „Synchronizität“ (Gleichzeitigkeit) geprägt. Er erkannte, dass jenseits der kausalen Verbindung von Ursache und Wirkung ein anderer, sinnhafter Zusammenhang wirkt, dass Zufälle höchst bedeutsam sein können. Im Zu-Fall ist ein perfektes Timing am Werk, das dafür sorgt, dass sich die Dinge in einer unglaublichen Weise anordnen, um ein bestimmtes Ergebnis hervorzubringen. Diese Synchronisierung innerer und äußerer, subjektiver und objektiver, seelischer und materieller Prozesse sprengt unser rationales Weltbild. Sie lässt uns ahnen, dass eine transzendente Macht, eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit am Werk ist, die unser begrenzter Verstand nicht fassen kann.
Diese Vorstellung ist vielen Menschen allerdings unbehaglich. So setzen sie auf die Illusion, die Kontrolle über ihr Leben läge in ihren eigenen Händen, auch wenn die Wirklichkeit ihnen immer wieder das Gegenteil beweist. Sie meiden ängstlich alle Risiken und halten sich an das, was aus ihrem beschränkten Blickwinkel Gewissheit verspricht. Doch wenn das Sicherheitsdenken zur Grundmelodie des Lebens wird, geht es auf Kosten von Lebendigkeit und persönlichem Wachstum.
Grundannahmen
Wer mit Orakeln arbeitet, geht von bestimmten Grundannahmen aus, die von der Mentalität des rationalen Zeitgeistes deutlich abweichen. Wie es das Wesen aller Axiome ist, lassen sich auch diese nicht beweisen. Je mehr Erfahrung wir allerdings mit dem I Ging haben, desto mehr werden sie sich bestätigen, so dass wir mit der Zeit die Zweifel verlieren und einen Zustand subjektiven „Wissens“ erlangen.
Wir Menschen existieren auf zwei Wirklichkeitsebenen: im materiellen Diesseits wie im transzendenten Jenseits.
Unsere Identität reduziert sich nicht auf bewusstseinsbegabte, aber vergängliche Körperlichkeit - wir sind in Wahrheit unbegrenzte spirituelle Wesen, die eine Erfahrung in der materiellen Welt machen.
Auf dem Weg über das Orakel können wir mit der jenseitigen Dimension Kontakt aufnehmen.
Frühere Generationen siedelten die höhere Weisheit außerhalb von uns an – „im Himmel“, wie es im I Ging oft heißt. Heute gehen wir eher davon aus, dass unser Unbewusstes ungeahnte Dimensionen hat, die bis zum Göttlichen reichen. Indem wir dem I Ging Fragen stellen, kommen wir in Berührung mit einer überragenden Intelligenz, die uns Antworten für unser irdisches Leben gibt, Antworten, die die Reichweite unseres persönlichen Denkens bei weitem überschreiten.
Die Antworten des Orakels entsprechen der Wahrheit, auch wenn sie nicht rational überprüfbar sind.
Orakel irren sich nicht, sie offenbaren die Wirklichkeit. Dabei sind ihre Antworten oft überraschend: Sie weisen uns auf Aspekte hin, die wir selbst übersehen haben, und erweitern und korrigieren damit unseren beschränkten Horizont. Allerdings sind Orakelantworten häufig mehrdeutig und können deshalb von unserem Ego, das manches hören will und anderes nicht, missverstanden werden.
Orakel betrachten den Zufall als die Sprache des Lebens. Im Grunde besitzt damit alles, was uns widerfährt oder begegnet, eine orakelhafte Qualität. Der Vorteil ausgefeilter Instrumente wie des Tarot oder I Ging liegt darin, dass sie uns einen differenzierten Deutungsschlüssel zur Verfügung stellen. Sie lassen uns Entwicklungen schon im Keim erkennen und geben uns damit die Chance, uns darauf einzustellen. Sie zeigen uns, wo wir in Gefahr sind, aus der natürlichen Ordnung des Tao herauszufallen, und auf welche Weise wir wieder auf den „rechten Weg“ zurückkehren können.
Der Befragungskontext
Wenn wir das I Ging befragen, überlassen wir uns ganz bewusst dem Zufall. Wir schalten uns dabei gewissermaßen in den Fluss der Zeit ein und erhalten im Antworthexagramm ein qualitatives Zeitzeichen, das die Bedeutung des Augenblicks erhellt. Diese bewusste Begegnung mit dem Zu-Fall wird zum Beginn eines sinnvollen Dialogs mit den übergeordneten Kräften, die unser Leben lenken.
Es hat also nichts mit Wahrsagerei zu tun, wenn wir das I Ging befragen. Das Orakel zeigt einfach den Zusammenhang der Gegenwart mit einer möglichen Zukunft auf, die aber nicht vorherbestimmt ist. Die Zukunft ist wie eine Wolke von Möglichkeiten, aus der wir durch die Fokussierung unseres Geistes bestimmte Alternativen in die manifeste Wirklichkeit hineinziehen. Das I Ging lässt uns einen Blick auf die noch unsichtbaren Keime werfen, die wir schon angezogen haben und die sich angenehm oder unangenehm auswachsen werden, wenn wir den eingeschlagenen Weg beibehalten. Damit erhalten wir eine Orientierungshilfe bei unseren Fragen. Das Wissen um Sinn und Qualität des aktuellen Moments macht es uns leichter zu entscheiden, ob wir jetzt aktiv eingreifen sollen, ob wir auf unserem Standpunkt beharren sollen (Yang) oder ob es vielmehr darum geht, nachzugeben, abzuwarten und loszulassen (Yin).
Im Allgemeinen wenden wir uns an ein Orakel, wenn wir mit unserem Verstandeslatein am Ende sind und feststellen müssen, dass wir in einer Sackgasse stecken. Im Allgemeinen fühlen wir uns dann aufgewühlt, verwirrt und überfordert, Bewusstes und Unbewusstes gehen getrennte Wege. In solchen chaotischen Lebenslagen ist das irrationale I Ging das Mittel der Wahl. Das Orakel beseitigt das Durcheinander zwar nicht, doch es transzendiert es und offenbart uns damit eine neue Ebene der Einsicht. Es kann uns wieder mit uns selbst verbinden, indem es uns an einen Nullpunkt zurückführt, wo alles offen ist. Nachdem unser Kopf mit seinen Lösungsversuchen nicht weit gekommen ist, vertrauen wir uns jetzt dem Zufall an - ein Manöver, das die Kontrollwünsche unseres Ego konstruktiv ad absurdum führt.
Die richtige Haltung
Wer zum I Ging greift, sollte ernsthaft und konzentriert sein. Nur dann besteht die Chance auf eine klare Kommunikation mit der dahinter stehenden Intelligenz. Vermutlich werden auch Sie das I Ging mit der Zeit automatisch immer mehr wie ein reales Gegenüber behandeln, wie einen wertvollen Freund, dem man mit großem Respekt begegnet. Am besten können Sie von dieser Begegnung profitieren, wenn Sie sich ausreichend Zeit nehmen, emotional ganz bei Ihrer Frage sind und Ihren unruhigen „Affengeist“ halbwegs zum Schweigen bringen. Nur wenn wir offen und aufnahmebereit sind - welche Antwort da auch kommen mag – sind wir auch fähig, den Sinn der Lage zu erfassen.
Es kommt immer wieder vor, dass das I Ging seinem eigentlichen, spirituellen Zweck entfremdet wird: Manchen Menschen fehlt der notwendige Respekt, sie fragen nur, um sich die Zeit zu vertreiben oder die innere Leere zu füllen. Andere suchen nach Wissen, um damit ihre Mitmenschen zu kontrollieren. Manche meinen, sie könnten das I Ging instrumentalisieren, um den Launen ihres Ego zu dienen – möglicherweise versuchen sie sogar, es wie ein Zirkuspferd vorzuführen. Und andere stellen verbohrt immer wieder dieselbe Frage, weil sie die schon erhaltene Antwort nicht akzeptieren wollen. Ein solcher Mangel an Achtung und Vertrauen führt dazu, dass die Verbindung zur kosmischen Intelligenz abreißt und das Orakel sich verweigert. In diesem Fall erhalten wir plötzlich sinnlose und verwirrende Botschaften. Das I Ging kennt diese Problematik sehr genau, denn im Hexagramm 4, „Die Jugendtorheit“ geht es exakt darum. Da heißt es im Urtext:
Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft.
Fragt er zwei-, dreimal, so ist das Belästigung.
Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft.
All das gibt uns die beruhigende Botschaft, dass das I Ging im Grunde nicht missbraucht werden kann. Sobald wir dazu neigen, uns in irgendeiner Weise davon abhängig zu machen und unsere Eigenverantwortung zu verleugnen, entzieht es sich unserem Zugriff und wirft uns ungemütlich auf uns selbst zurück. Der kosmische Lehrer, der durch das Orakel spricht, ist unbestechlich und absolut vertrauenswürdig. Er führt uns, verführt uns aber niemals. Wenn in der Kommunikation etwas misslingt, liegt es an der Einmischung unseres Ego, das die Bedeutung der Antworten verzerrt.
Das beste Werkzeug wird in den falschen Händen zur zerstörerischen Axt
Es kommt immer heraus, was wir hinein geben!
Die Orakel-Antwort
Die Antworten des I Ging zeigen uns häufig eine neue, überraschende Perspektive unserer Probleme, die auch Aspekte ins Blickfeld rückt, die zuvor für uns unsichtbar waren. Sie spiegeln uns ein Bild zurück, wie wir uns bisher nicht gesehen haben. Das ist eine Herausforderung für unser eingefahrenes Selbstbild, unser Ego. Wenn wir die neuartige Sichtweise anerkennen können, bringt sie uns gehörig zum Nachdenken, zum Umdenken. Auf diese Weise werden ganz allmählich unsere Schattenseiten ans Licht geholt und integriert, während unsere starre Identifikation mit dem, wofür wir uns halten, mit der Zeit immer flüssiger wird. Wir erhalten eine sinnvolle Orientierungshilfe, die immer im Kontakt mit unserer inneren Wahrheit bleibt.
Dennoch kommt es hin und wieder vor, dass eine Antwort unverständlich bleibt, so sehr wir uns auch bemühen. Das kann mehrere Ursachen haben. Oftmals geht es ganz einfach darum, dass die konkrete Frage nicht den Kern des Problems betraf, sondern eine dahinter stehende und energetisch höher aufgeladene Frage. Das I Ging antwortet ja nicht auf den Wortlaut unserer Frage, es antwortet auf uns, auf den Geist, der diese Frage hervorgebracht hat.
Bestehen allerdings hartnäckige Verständnisprobleme, haben wir es wohl mit einem blinden Fleck auf unserem Seelenspiegel zu tun. An dieser Stelle neigen wir dazu, uns etwas vorzumachen oder uns hinter Vorurteilen zu verschanzen, so dass wir buchstäblich blind werden für die Realität.
Niemals aber gibt uns das Orakel Antworten, die uns fremd sind und nichts mit uns zu tun haben. Das I Ging drängt uns nichts von außen auf. Es ist eher, als würde es tief in unser Herz hinein schauen und unseren innersten Wesenskern entscheiden lassen.
Deutung
Das I Ging äußert sich in Form von Hexagrammen, die eine symbolische Sprache sprechen. Symbole sind immer vieldeutig, weshalb eingefleischte Rationalisten ihre Probleme damit haben. Sie wenden sich an unser intuitives, ganzheitliches Verständnis, das in der rechten Hirnhälfte beheimatet ist. Die Bilder und Metaphern des I Ging dienen dazu, uns auf unsere Intuition einzustimmen und auf diese Weise die Enge unseres logischen Denkens und unserer Voreingenommenheiten zu überschreiten. Wir müssen lernen, das, was wir spüren, von dem zu unterscheiden, was wir denken. Unser Verstand ist leider weitgehend von der Weltsicht des Ego indoktriniert. Er versteht es, sich die Dinge raffiniert so hinzubiegen, wie wir sie aufgrund irgendwelcher Überzeugungen sehen möchten. Er ignoriert das eine und überzeichnet das andere, so dass wir zu einer völlig verzerrten Ansicht kommen, die uns aber absolut vernünftig erscheint. Hier müssen wir akzeptieren, dass der Sinn der Antwort nicht nur durch Informationen an unseren Verstand übermittelt wird, sondern dass wir diesen Sinn auch erfahren, ja dass er uns offenbart wird.
Deshalb brauchen wir Geduld, wenn wir eine Antwort verstehen wollen. Wir müssen die Bilder wirken lassen. Im Zweifelsfall können wir noch einmal präziser nachfragen oder mit anderen sprechen, um unsere eigenen Blindheiten aufzuklären. Manchmal macht es Sinn, sich ganz auf die kurze Botschaft des Urtextes zu konzentrieren. Sollten Sie dabei die feudalistischen Bilder stören, könnte es hilfreich sein, sie als wechselnde Rollen zu begreifen. Wir alle können innerlich in die Rolle des Vaters oder des Sohnes, des Hausherrn oder der Sklavin, des Fürsten oder Vasallen schlüpfen, um besser zu begreifen, was der Text sagen will. Heute sind wir in dieser Rolle, morgen in jener.
Wer eine innere Offenheit besitzt, die nicht am Buchstaben klebt, wird früher oder später in Kontakt mit jener größeren Macht treten, die ich in meinen Hexagrammtexten „Kosmos“, „inneren Lehrer“ oder auch „Heiligen Geist“ genannt habe. Sobald diese Verbindung „einrastet“, geschieht etwas Magisches mit uns: wir richten uns innerlich neu aus, im sicheren Gefühl, vom Leben getragen zu werden. Etwas in uns begreift, dass wir nie alleine sind, dass da eine Präsenz ist, die uns sieht, die in jeder Minute bei uns ist, immer bereit, uns zu unserem Weg zurückzuführen. Gerade wenn wir selbst spüren, dass wir uns verirrt haben, sehnen wir uns nach so einer sanften Führung, die geduldig und humorvoll über unsere Fehler hinwegsieht, um uns immer wieder an unsere höchsten Möglichkeiten zu erinnern. Oft braucht es ja den Druck massiver Belastungen, dass wir bereit sind, vom Thron unseres Ego herabzusteigen und unsere menschliche Begrenztheit, unsere Ratlosigkeit einzugestehen. Doch wenn so ein Punkt erreicht ist, dann sprechen wir wieder mit Gott und dem Heiligen in uns.
Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis ist für spirituelle Sucher ein hoher Wert, doch im Allgemeinen fehlt uns leider der Abstand zu unseren Themen. Wir kleben gewissermaßen mit der Nase daran und bemerken deshalb nicht, wie unsere Konditionierungen und die im Umfeld herrschenden Meinungen uns eine ganz bestimmte Sichtweise aufdrängen, die möglicherweise wenig mit der Realität zu tun hat.
Das I Ging stellt unsere Frage dagegen oft in einen radikal anderen, übergeordneten Kontext. Es zeigt uns, wie die aktuelle Situation sich zum Hintergrund des Tao und der kosmischen Ordnung verhält. So hilft es uns, schwierige Situationen zu durchschauen und neue Perspektiven zu finden.
Die Welt als Spiegel
Im Alltag leben wir nach den Gesetzen dieser Welt und dieser Gesellschaft. Wir haben uns aus unseren subjektiven Erfahrungen ein persönliches Modell von der Welt konstruiert, und glauben deshalb, sie zu kennen. Diese Vorannahmen werden zu Erwartungen, die sich selbst bestätigen. So gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass wir von unserer Umwelt, den Menschen, den Ereignissen getrennt sind und uns deshalb immer wieder mühsam mit „fremden“ äußeren Umständen herumschlagen müssen.
Wenn wir nun dem I Ging Zugang zu unserer Welt verschaffen, geschieht etwas Merkwürdiges: Stück für Stück, Überzeugung um Überzeugung wird dieses Weltbild hinterfragt und langfristig aufgelöst. Das I Ging lehrt uns nämlich mit äußerster Beharrlichkeit, dass unsere Umstände sehr wohl etwas mit uns zu tun haben, dass das, was wir in der Außenwelt erleben, ein getreues Spiegelbild unserer Innenwelt ist.
Diese Lektion beginnt schon auf der semantischen Ebene des Urtextes, der keine Pronomen kennt. Das ist weit mehr als eine zu vernachlässigende Eigentümlichkeit der chinesischen Sprache, darin liegt eine tiefe, wenn auch verunsichernde Weisheit: Jeder Orakelspruch kann sich sowohl auf uns als Fragesteller beziehen, wie auch auf Personen, mit denen wir zu tun haben, und auch auf die Situation, in der wir uns befinden. Genau besehen, spielt es gar keine Rolle, wer da genau gemeint ist, denn all das gehört zu unserer Welt, die nur widerspiegelt, was in unserem Unbewussten vorgeht. Alles, was wir im Kontakt mit der Umwelt erleben, ist letztlich eine Projektion unserer inneren Prozesse.
Wenn in einer Orakelantwort etwa von einem „Gemeinen“ die Rede ist, fühlen wir uns oft erst einmal bestätigt: „Ja genau, das ist dieser widerliche Mistkerl, der mir das Leben schwer macht“… In anderen Momenten spüren wir sofort, dass wir selbst angesprochen sind – dass es um unser eigenes kleines Ich, unser Ego geht. Und je tiefer wir tiefer forschen, desto mehr wird uns klar, dass in der allerletzten Konsequenz kein Unterschied zwischen innen und außen besteht.
Für viele wird diese Idee nicht ganz neu sein – wir finden sie wieder im sogenannten Resonanzgesetz, das besagt, dass wir all das schicksalhaft anziehen, was wir selbst in uns tragen. Das tiefgründige spirituelle Werk „Ein Kurs in Wundern“ vertieft diesen Gedanken weiter. Es vergleicht unsere Welt mit einem Traum, der immer wieder zum Albtraum wird. Im Traum sind wir gleichermaßen Regisseur, wie Hauptdarsteller, und auch die Kulissen, das Wetter, die anderen Akteure - alle sind unser Werk. Doch gerade wenn wir „schlecht träumen“, ist das schwer zu akzeptieren – denn wie kann es sein, dass wir uns das alles selbst antun? Wir sind uns nicht bewusst, dass wir selbst etwas dazutun, geschweige denn, warum – und das gilt ebenso für unsere nächtlichen Träume wie für den Traum unseres Lebens, den wir am helllichten Tag träumen.
Auch in der Psychologie gibt es eine Schule - den von Paul Watzlawick begründeten Konstruktivismus - die sich damit befasst, dass die Wirklichkeit keine objektive Größe ist, sondern ganz und gar von unseren persönlichen Filterungen und Interpretationen abhängt. Unser Gehirn konstruiert die Welt mehr, als dass es uns ein zuverlässiges Abbild davon liefert. Scheinbar faktische Erfahrungen sind die kreative Leistung unseres Geistes! Im Fazit ist alles, was wir wahrnehmen und denken, gelernt und beruht auf unserer Biographie – wir sind dadurch im Grunde programmiert wie ein Computer.
Das heißt im Klartext: Es gibt also gar keine objektiv-rationale Sicht von mir selbst und der Außenwelt! So wie ich wahrnehme, interpretiere ich die Welt und so wie ich die Welt deute, nehme ich sie wahr… Solange wir diese Zusammenhänge nicht erkennen, bleiben wir in unserem Programm gefangen und halten es noch für die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass wir strampeln und strampeln und doch nicht viel zuwege bringen.
Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir uns das zugrundeliegende Programm anschauen, statt hilflos vorne am Bildschirm herumzukratzen. Wir müssen erkennen, dass wir selbst unsere Welt projizieren. Wir sind das Drama im Film unseres Lebens, wir sind die Zuschauer und wir sind die Projektoren. Wir erleiden den Film, den wir selbst gedreht haben. Wir sind die Schöpfer unserer Welt und damit verantwortlich für alles, was darin vorgeht (doch Achtung, es wäre fatal hier Verantwortung mit Schuld zu verwechseln!).
Diese Sichtweise ist radikal und nimmt uns all unsere Ausreden und Rechtfertigungen. Wir können uns nicht mehr in die Opferrolle flüchten, sondern werden glasklar mit uns selbst konfrontiert – doch nicht, um uns klein zu machen, sondern um uns von unserer unbewussten Destruktivität zu befreien! Das I Ging lässt uns die vielen Muster unseres unrealistischen Selbst- und Weltkonzepts erkennen. Es räumt auf mit Wahnbildern, geistigen Verirrungen und Selbsttäuschungen, es löst unsere Ängste und Borniertheiten. Indem es uns anleitet, liebevoll unserem Herzen zu folgen, setzt es uns wieder ins richtige Verhältnis zur Welt.
Selbstentwicklung
Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem I Ging hilft uns, tiefere Zusammenhänge zu verstehen, die unserer Beobachtung sonst entgangen wären. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit wird geschult, während all unsere Urteile und Bewertungen einer strengen Prüfung unterzogen werden.
Wie bei allen differenzierten Orakelsystemen handelt es sich auch hier um eine Methode der Selbsterforschung, die uns und unser Weltbild verändern kann. Die Orakelantwort offenbart uns, ob wir im Einklang mit dem Großen Ganzen sind und wo wir eventuell den Fluss verlassen haben. Es zeigt uns den Weg zu uns selbst.
Das übliche westliche Zielverständnis geht stets vom Ego aus: Wir meinen, durch eigene Anstrengung den Weg finden zu müssen, der uns das gibt, was wir uns vom Leben erwarten. Die östliche Weltsicht setzt dagegen voraus, dass wir von Natur aus im Kontakt mit dem rechten Weg sind und ihn nur nicht verlieren dürfen, wobei gerade das Ego uns oft auf Abwege lockt.
Ansehen, Erfolg und Reichtum spielen für das I Ging keine Rolle. Wollten wir es nur benützen, um uns im Alltag Vorteile zu sichern, würden wir langfristig wohl wenig Gewinn daraus ziehen. Zu Beginn lässt es sich vielleicht noch auf Fragen dieser Kategorie ein - wie ein geduldiger Lehrer, der weiß, dass wir Zeit brauchen. Doch allmählich zeigt es uns immer fundamentalere Hintergründe, die am Ego völlig vorbeigehen (und von ihm leicht falsch interpretiert werden).
Indem das I Ging die Zerrspiegel unserer Fantasien entlarvt und unsere Programmierung aus falschen Glaubenssätzen und irrigen Selbstbildern auflöst, gibt es uns einen Ausblick auf die wirkliche Wirklichkeit. Das wahre Ziel, zu dem es uns hinführen möchte, ist die Einheit mit dem „rechten Weg“, die Einheit mit dem, was wir wirklich sind. - Das ist der einzige Weg, der uns tatsächlich zu Erkenntnis, Zufriedenheit, Verbundenheit und Sinn führen kann.
Innere Wahrheit
Die Erfahrung der Wahrheit ist am Anfang bitter,
doch am Ende schmeckt sie süß.
Mit Illusionen ist es umgekehrt:
Sie sind am Anfang sehr süß,
doch am Ende erweisen sie sich als sehr bitter.
(Buddha)
Die Arbeit mit dem I Ging ist Bewusstseinsarbeit im höchsten Sinne. Es sagt uns immer wieder auch schmerzliche Wahrheiten, die uns geliebte Illusionen rauben. Es geht über unsere Wünsche und Sehnsüchte hinaus und durchleuchtet all die scheinbaren Gewissheiten, die uns glauben lassen, wir wüssten schon, wie die Dinge liegen. Denn genau in unseren selbstverständlichsten oder sogar „heiligsten“ Überzeugungen liegt die Ursache unseres Leidens. Sie gehören zur Welt des Ego, wo wir mal jämmerlich und minderwertig erscheinen und dann wieder großartig und genial – nur eben nie so, wie wir wirklich sind.
Manche Antworten des Orakels werden uns also sehr hart vorkommen, eine echte „Kröte“ fürs Ego, das sich eine andere Realität zurechtgebastelt hatte. Solche Lektionen gehen unter die Haut, weil sie zielsicher dahin treffen, wo unsere „Knackpunkte“ liegen. Doch wenn wir jetzt zurückzucken, müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Wollen wir die Wahrheit wirklich wissen? Können wir anerkennen, dass auch im Unangenehmen eine Wahrheit liegen kann, die uns zugute kommt?
Das I Ging steht jenseits anerzogener Vorstellungen von Moral und Vernunft, es bezieht sich auf eine höhere Wirklichkeit, auf eine innere Wahrheit, die wir tatsächlich auch fühlen können, auch wenn es manchmal schwer ist, sie einzugestehen. Es vermittelt uns einfach geistige Gesetzmäßigkeiten – die spirituellen Gesetze des Kosmos. Wenn wir uns an ihre Richtlinien halten, fließen wir ungehindert mit dem Strom des Lebens, wenn wir gegen sie ankämpfen, erleben wir Niederlage um Niederlage.
Die Antworten des I Ging sind immer relativ und auf den gegenwärtigen Augenblick bezogen. Sie sind keine Rezepte oder Regeln, die wir in ähnlich gelagerten Fällen wieder aus dem Hut ziehen können. Das Orakel zeigt uns Lösungen, die genau in diesem Moment genau für uns richtig sind. Es verbindet uns mit unserer ganz persönlichen Wahrheit, die uns spüren lässt, wie wir uns zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen verhalten können.
Und jeder Lernschritt, den wir machen, wird von neuen Lernschritten abgelöst. Schritt für Schritt werden uns immer tiefere Wahrheiten enthüllt – dann, wenn wir bereit dafür sind.
Ein spiritueller Weg
Je mehr wir mit dem I Ging arbeiten, desto mehr begreifen wir, dass wir da keinen funktionalisierbaren Mechanismus anwenden, sondern dass wir einer Respekt gebietenden Intelligenz gegenüberstehen. Dieser kosmische Lehrer leitet uns in einem kontinuierlichenTransformationsprozess, in dessen Verlauf wir unser ichverhaftetes Denken und seine Irrtümer überwinden. Wir lernen Abschied zu nehmen von Konzepten wie Schuld und Strafe, wir lernen uns und anderen zu vergeben und auf diese Weise Schicht um Schicht unser wahres Selbst herauszuschälen.
Natürlich kann niemand seine Wirklichkeitsvorstellung einfach über den Haufen werfen, und das ist auch gut so. Wenn unser altes Programm von heute auf morgen zerschlagen würde, würden wir wohl in der Psychiatrie landen. Den Traum loszulassen und aufzuwachen, ist ein Prozess, der letztlich das ganze Leben währt – und noch viel länger. Das I Ging führt uns ganz behutsam in diese Richtung. Es weiß genau, wie viel wir jeweils verkraften können, und dosiert die Wahrheit sehr feinfühlig. Wir können uns langsam, in ganz kleinen Schritten davon überzeugen, dass die Realität nicht das ist, was man uns über sie erzählt hat. Wenn wir ehrlich sind, haben wir ja schon lange den Eindruck, dass etwas damit nicht stimmen kann – denn ganz offensichtlich funktioniert diese Welt nicht richtig.
Wir müssen uns auf unserem Erkenntnisweg also Zeit lassen