I love you, Fräulein Lena - Hanna Aden - E-Book

I love you, Fräulein Lena E-Book

Hanna Aden

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Beschreibung

Eine neue Heimat, eine Liebe inmitten von Trümmern

Nordfriesland 1945: Die deutsche Niederlage ist nur noch eine Frage von Tagen, die Besatzerarmeen rücken vorwärts. Erschöpft klopfen die neunzehnjährige Lena und ihre Schwester an die Tür des Pfarrhauses in Niebüll. Die beiden Pastorentöchter aus Pommern haben eine dramatische Flucht hinter sich und sind erleichtert, dass sie nun endlich aufgenommen werden. Vorbei die gefährlichen Nächte auf der Flucht, die ständige Angst … Die selbstbewusste Lena ist mehr als bereit, sich ein neues Leben aufzubauen, doch den Flüchtlingen steht man im Dorf skeptisch gegenüber. Einzig in dem klugen Apothekenhelfer Rainer findet Lena so etwas wie einen Freund in der neuen Heimat. Durch ihre Englischkenntnisse kann sie für die britischen Besatzer arbeiten und lernt sogar Autofahren. Am Steuer der Militärjeeps erlebt Lena das erste Mal seit Jahren wieder Momente der Freiheit. Doch die Unbeschwertheit währt nur kurz in diesem Sommer des jähen Erwachens. Ein weiterer Heimkehrer bedroht das fragile Glück, und Lenas Taten auf der Flucht holen sie ein …

Ein bewegender Roman über Liebe, Krieg, Vergebung und die Schuld, die bleibt - inspiriert von der Geschichte der Großmutter der Autorin.

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Eine neue Heimat, eine Liebe inmitten von Trümmern

Nordfriesland 1945: Die deutsche Niederlage ist nur noch eine Frage von Tagen, die Besatzerarmeen rücken vorwärts. Erschöpft klopfen die neunzehnjährige Lena und ihre Schwester an die Tür des Pfarrhauses in Niebüll. Die beiden Pastorentöchter aus Pommern haben eine dramatische Flucht hinter sich und sind erleichtert, dass sie nun endlich aufgenommen werden. Vorbei die gefährlichen Nächte auf der Flucht, die ständige Angst … Die selbstbewusste Lena ist mehr als bereit, sich ein neues Leben aufzubauen, doch den Flüchtlingen steht man im Dorf skeptisch gegenüber. Einzig in dem klugen Apothekenhelfer Rainer findet Lena so etwas wie einen Freund in der neuen Heimat. Durch ihre Englischkenntnisse kann sie für die britischen Besatzer arbeiten und lernt sogar Auto fahren. Am Steuer der Militärjeeps erlebt Lena das erste Mal seit Jahren wieder Momente der Freiheit. Doch die Unbeschwertheit währt nur kurz in diesem Sommer des jähen Erwachens. Ein weiterer Heimkehrer bedroht das fragile Glück, und Lenas Taten auf der Flucht holen sie ein …

Ein bewegender Roman über Liebe, Krieg, Vergebung und die Schuld, die bleibt – inspiriert von der Geschichte der Großmutter der Autorin.

Hanna Aden wurde 1983 in Heidelberg geboren. Neben ihrem erlernten Beruf als Sonderpädagogin schreibt sie journalistische Texte und Kolumnen für Zeitschriften. Sie war Mitglied der Jury für den DELIA-Literaturpreis. Für ihren Roman I love you, Fräulein Lena ließ sie sich von der Geschichte ihrer Großmutter inspirieren.

www.penguin-verlag.de

HANNA ADEN

I love you, Fräulein Lena

ROMAN

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2023 Hanna Aden

Copyright © 2023 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Katharina Rottenbacher

Covergestaltung: Favoritbüro

Covermotive: PROmax3D/shutterstock;

Magdalena Russocka/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30771-4V003

www.penguin-verlag.de

Für Heike

WENN IHR JE IN NOT GERATET …

… dann sucht nach dem nächsten Pfarrhaus. Klopft an die Tür und sagt, dass ihr Pastorentöchter seid. Vielleicht hilft man euch dort.

Mehr als diese Worte waren Lena von ihrem Vater nicht geblieben. Sie besaß nicht mal ein Foto, das ihr dabei helfen könnte, seine sanften und manchmal etwas spöttischen Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Doch es war, als würde er in diesem Augenblick die Hand auf ihre Schulter legen und sie sacht nach vorn schieben.

Lena nahm Margots Hand und berührte die Pforte des Jägerzauns. Der Regen schimmerte auf dem Moos und verwitterten Holz der Latten. »Komm. Wir fragen, ob wir hierbleiben dürfen. Lass uns mutig sein.«

»Und wenn sie uns nicht wollen?« Margots kluges Gesicht strahlte Hilflosigkeit aus. Die Augen über den schmalen Wangen wirkten unnatürlich groß. Sie sah schrecklich jung und verletzlich aus. »Lenchen, so schlimm ist der Hunger nicht. Lass uns weitergehen, durch die Felder und zurück in den Wald. Da ist es sicher.«

Lena ließ die Pforte los und zog Margot eng an sich. Sie streichelte der Schwester über die Schultern, den Rücken, küsste ihre Wangen und Schläfen. Bloß nicht weinen, das half niemandem. Sie konnten doch nicht für immer unterwegs sein, auf offenen Truppentransportern um Mitfahrt bitten und jeden Tag aufs Neue darum beten, dass sie nicht bei Regen im Freien schlafen mussten!

Seit Lena ihre Schwester wiedergefunden hatte, war sie in ständiger Sorge. Margot verlor immer wieder den Kontakt zu der Realität und flüchtete sich in Traumwelten, in denen Regen, Kälte und Hunger keine Rolle spielten. Die Jüngere war immer ein wenig verträumt gewesen und hatte neben ihren Mathematikbüchern und dem Chemiebaukasten des großen Bruders wenig Kontakt zur Außenwelt gesucht. Doch seit ihrem Wiedersehen in Greifswald war es deutlich schlimmer geworden.

Lena hatte gelernt, nicht zu fragen, was Margot auf ihrer Flucht erlebt hatte. Doch immer, wenn sie fremden Menschen begegneten, zuckte Margot zusammen und versteckte sich hinter Lena. Besonders, wenn es Männer waren.

»Wir können nicht für den Rest unseres Lebens in den Wäldern bleiben, betteln und Essen stehlen«, erklärte Lena sanft. »Was, wenn der Winter kommt? Willst du im Schnee eine Höhle graben und darin schlafen?«

»Es ist erst April.« Margot sprach tonlos und lehnte den Kopf an Lenas Schulter. »Der Sommer freut sich auf uns und dauert eine Ewigkeit.«

»Und wenn der Herbst kommt?«

»Dann verhungern wir halt wie alle anderen. Für Volk und Vaterland. So, wie der Führer es von uns verlangt.«

Lena spürte, wie Margots Bauch zuckte. Für einen Moment glaubte sie, Margot würde zu weinen beginnen, doch es war Lachen. Ein Hauch Bitterkeit lag darin, aber dieses tonlose Lachen stand Margot sehr viel besser als die Tränen oder die Leere, die sonst so oft ihr hübsches Gesicht bedeckten.

Lena lachte mit. »Gute Idee. Brauchen wir nur noch eine Fahne, für die wir in den Tod marschieren können, dann sind wir brave deutsche Mädel für die große neue Zeit.«

Margots Lachen schlug um in Weinen.

Lena drückte ihren Arm, sah Margot fest in die Augen und schüttelte den Kopf. Wenn sie fröhlich und gut gelaunt war, gelang es ihr manchmal, Margot damit anzustecken und zurück in die Gegenwart zu holen.

»Habe ich dir mal erzählt, dass ich so rebellisch war und an Heiligabend nach den Nazi-Liedern ein christliches Lied gesungen habe? ›Stille Nacht, heilige Nacht‹. Schlimmer noch: Die anderen haben mitgesungen und fanden es schön. Fast alle. Das gefiel der Führerin nicht, und ich musste am nächsten Tag die Toiletten mit einer Zahnbürste putzen. Aber gesungen habe ich es doch.«

»Du bist immer so mutig.« Margot straffte sich und richtete sich unter Lenas Blick auf.

»Du auch. Wir sind Pastorentöchter. Das sind die schlimmsten, weißt du das nicht mehr?«

»Pastors Kinder, Müllers Vieh …«

»Gedeihen selten oder nie.«

Sie sahen sich an und umfassten einander an den Unterarmen wie Soldaten beim Kriegergruß, der älter war als der für Hitler erhobene Arm. Schwestern. Das gleiche Blut, die gleiche Kraft.

»Was ist die Quadratwurzel aus dreihundertsiebzehn? Nenn mir die ersten drei Nachkommastellen«, sagte Lena.

»Siebzehn Komma acht null vier. Das hast du mich schon vor drei Wochen gefragt, bevor wir an dem Bauernhof mit dem Fachwerkanbau gebettelt haben. Wieso kannst du dir so was nie merken?«

»Viertausendsiebzehn.«

»Dreiundsechzig Komma drei sieben neun. Du nimmst immer Zahlen, die am Ende eine Sieben haben, ist dir das aufgefallen?«

Lena lachte leise auf. »Nein. Bitte entschuldige, Margot. Nächstes Mal nehme ich eine andere Zahl.«

»Du gibst mir solche Aufgaben immer, wenn ich mich beruhigen soll.«

»Das stimmt. Hat es funktioniert?«

Margot schien in sich hineinzuhorchen und nickte schließlich. »Aber ich habe trotzdem Angst.«

»Ich auch.« Lena öffnete das nasse und verwitterte Tor.

Ein Weg aus alten Steinplatten führte zwischen einer winzigen Buchsbaumhecke zu einem roten Backsteinhaus. Dahinter streckten in dicht bepflanzten Reihen Küchenkräuter oder Gemüse die ersten Spitzen aus der nassen Frühlingserde. Nirgendwo lagen Trümmer herum, alle Fensterscheiben waren heil. Weiße Spitzengardinen verbargen die Innenwelt vor neugierigen Blicken, doch Lena vermutete, dass man sie trotzdem beobachtet hatte.

Sollten die Leute gucken. Solche Blicke war sie aus Greifenberg gewohnt. Dort hatte jede ihrer Bewegungen unter Beobachtung gestanden, sobald sie das Haus der Eltern verließ. Es wäre sofort aufgefallen, dass Margot einen Männermantel trug, der offensichtlich früher einem Soldaten gehört hatte. Vermutlich fiel der Mantel hier ebenfalls auf, doch niemand erwartete, dass Flüchtlingsmädchen korrekt sitzende Kleidung trugen.

In den Jahren vor dem Krieg hatte Lena es gehasst, eine Pastorentochter zu sein. Wann immer sie wie eine Wilde durch das Dorf tobte, jemandem einen Streich spielte oder freche Antworten gab, hieß es: Was, du willst eine Pastorentochter sein? Schäm dich!

Lena ließ zu, dass Margot den Türklopfer hob und dreimal gut vernehmlich gegen die Tür schlug. Die Kiefermuskeln des Mädchens mahlten, aber sie hielt den Kopf aufrecht und stolz. Lena unterdrückte den Impuls, den Arm schützend um die Jüngere zu legen, und hob ebenfalls ihr Kinn. Sicher, ihre Kleidung war löchrig und hatte mehr Flecken als saubere Stellen, aber ihre Zöpfe unter den Kopftüchern waren ordentlich geflochten und sie hatten sich vorhin am Bach Gesichter und Hände gewaschen. Not und Heimatlosigkeit waren nichts, für das man sich schämen musste.

Sie schmeckten trotzdem bitter, wenn man einmal mit hocherhobenem Kopf durch die Straßen der Heimat gegangen und sich wie eine Königin gefühlt hatte.

Die Tür öffnete sich. Zwei strenge Augen musterten Lena und Margot.

»Ja, bitte? Was kann ich für euch tun?«

Die dünne, hochgewachsene Frau vor ihnen trug ein bodenlanges Kleid mit schmalen grünen, weißen und braunen Streifen, die diagonal verliefen. Es musste Unmengen an Stoff verbraucht haben, es so zuzuschneiden, dass das Muster an den Schnittkanten aufeinanderpasste. Lena hatte sich ein solches Kleid immer gewünscht, doch die Mutter hatte beim Zuschneiden für die liebevoll genähten Sonntagskleider ihrer Töchter stets auf die Stoffknappheit verwiesen. Über dem Kleid trug die Pfarrfrau eine adrette weiße Schürze mit Rüschen an Schultern und der Rockkante und hielt eine Handarbeit an sich gedrückt. Ihr prüfender Blick sagte, dass sie zu viele Menschen in Not vor ihrer Tür gehabt hatte, um den Hilfesuchenden neben Lebensmitteln auch noch ein Lächeln zu schenken.

Sie sah vollkommen anders aus als Lenas Mutter, in deren Augen bei aller Strenge immer etwas Herzenswärme aufgeblitzt war, wenn sie Hilfsbedürftigen begegnete.

»Gott zum Gruß«, sagte Lena forsch und unterdrückte das Zucken ihres rechten Arms, das sich in den vergangenen Jahren dort eingebrannt hatte. »Gnädige Frau, wir sind Pastorentöchter aus Pommern und mussten unsere Heimat auf der Flucht vor den Russen verlassen. Wir wissen nicht, wo unsere Familie ist oder ob sie noch am Leben ist, und wir haben keinen Ort, an den wir gehen können. Deswegen bitten wir Sie im Namen Jesu Christi um Obdach und Hilfe. Denn wenn niemand uns aufnimmt und barmherzig mit uns ist, dann müssen wir in den Wäldern schlafen und schließlich erfrieren und verhungern.«

Die Mundwinkel der Pastorenfrau zuckten, und ihre Augen verloren etwas von der Kälte darin. »Wie heißt ihr Mädel denn? Und wie alt seid ihr?«

Margot räusperte sich und ergriff das Wort. »Meine Schwester heißt Magdalena Buth und ist neunzehn Jahre alt, aber wir nennen sie Lena. Ich bin Margot Marie, vierzehn Jahre, und mich nennen sie Margot.«

Lena staunte, dass Margot so offen redete, anstatt sich hinter ihr zu verstecken. Irgendetwas im Blick der Älteren musste ihr Vertrauen eingeflößt haben. Sie atmete langsam aus und spürte, wie eine schwere Last von ihr abfiel. Freu dich nicht zu früh, mahnte sie sich. Doch sie spürte mit einem Mal, wie viel Kraft es sie gekostet hatte, all die Wochen ganz allein auf Margot aufzupassen.

»Wann habt ihr zum letzten Mal etwas gegessen?«

»Gestern«, erwiderte Margot. »Wir hatten unsere Vorräte eingeteilt. Lena ist sehr verantwortungsvoll. Sie hat immer gesagt, wir müssen nicht satt werden. Wir brauchen nur genug Kraft zum Weitergehen. Aber gestern haben wir das letzte Brot aufgegessen.«

»Wie lange seid ihr denn schon unterwegs?«

Margots Gesicht verdunkelte sich und wurde leer. Sie tastete nach Lenas Hand.

»Meine Schwester ist im Februar mit meiner Mutter aus Greifswald geflohen«, erklärte Lena. »Unser Heimatdorf Greifenberg war da schon von den Russen besetzt. Doch in Leipzig wurden sie voneinander getrennt« – Margots Hand zuckte in Lenas –, »und Margot landete in einem Zug mit Arbeitsdienst-Maiden. Nach einigen Irrfahrten habe ich sie gefunden. Wir wollten zu den Flüchtlingslagern nach Dänemark, aber man hat uns erzählt, dass die Grenzen dorthin inzwischen dicht sind.«

Außerdem erzählte man sich, dass die Dänen keine Lust auf noch mehr Flüchtlinge hatten und die Menschen entsprechend behandelten. Angeblich herrschte in den Lagern eine schlimme Hungersnot.

Die Pastorenfrau musterte Lena prüfend und schien mit dem zufrieden, was sie sah. Sie machte einen Schritt zur Seite und wies mit dem Kinn nach innen. »Dann kommt mal rein. Ich bin Frau Petersen, die Pastorenfrau. Mal sehen, was ich für euch tun kann. Schuhe im Flur ausziehen, wenn ich bitten darf. Habt ihr Kleidung zum Wechseln?«

Lena schüttelte den Kopf. »Wir tragen alles am Leib, Frau Petersen.« Unterwäsche, Röcke, Blusen, Kleider und Mäntel. Lena trug noch immer den Mantel, den sie als Arbeitsmaid zugeteilt bekommen hatte, und Margot besaß einen Uniformmantel, den Lena von einem betrunkenen Soldaten erbeutet hatte.

Die Ledertaschen auf ihrem Rücken waren leer bis auf die Wolldecken aus volksdeutschem Armeebestand, die Lena organisiert hatte, einen kleinen Kochtopf aus Blech, zwei Blechlöffel, fünf Streichhölzer in einer Schachtel und zwei Bügelverschlussflaschen mit etwas Bachwasser.

»Schauen wir mal, was wir für euch finden. Nachher stecken wir euch in die Badewanne. Nehmt es mir nicht übel, aber ihr riecht wie die Landstreicher.« Die Worte klangen rau, aber nicht unfreundlich.

Lena hätte am liebsten vor Erleichterung geweint. Es klang, als seien sie fürs Erste aufgenommen.

Gehorsam zogen sie die Stiefel im Flur aus und stopften das nasse Leder mit zerknüllten Zeitungsblättern aus dem Völkischen Beobachter aus, wie die Frau es ihnen gesagt hatte. Die Exemplare lagen im Flur auf einem ordentlichen Stapel, der ungelesen wirkte. Beinah so, als hätte jemand das Blatt abonniert, um nicht aufzufallen, aber keine Lust darauf, diesen Müll zu lesen. Vielleicht war auch bloß der Mensch, der die Zeitung immer gelesen hatte, an die Front gegangen oder gefallen. Lena wusste, dass auch Pastoren freiwillig als Feldseelsorger an die Front gehen konnten, auch wenn sie ansonsten vom Militärdienst befreit waren.

Ein Exemplar des Blattes legte Lena zurück und schob es unter den Stapel. Das Foto der stolz blickenden jungen Soldaten auf der Titelseite, die unter der Fahne strammstanden, erinnerte sie an ihre geliebten Brüder Günter und Karl. Mit diesem Bild wollte sie ihre schmutzigen und nassen Stiefel nicht ausstopfen.

Während Lena auf ihren Knien gehockt hatte, waren ihre Füße unter den blauen Falten des Wollkleides verborgen geblieben. Doch sobald sie aufstand, stieg ein muffiger, käsiger Geruch von ihren Füßen auf, an denen sie zwei Strümpfe übereinander trug, damit der eine die Löcher des anderen bedeckte.

»Bleibt im Flur«, sagte Frau Petersen und kam mit zwei Handtüchern zurück. »Zieht eure Strümpfe aus und legt sie neben die Tür. Die werfen wir direkt in die Schmutzwäsche. Ich habe zwei Paar Kniestrümpfe mitgebracht, aber rubbelt euch vorher die Füße mit diesen feuchten Tüchern ab.«

»Danke, gnädige Frau! Sie sind sehr gut zu uns.« Lena nahm eins der Handtücher entgegen und stellte fest, dass es nicht nur feucht war, sondern auch warm. Sie konnte nicht widerstehen und drückte die Nase hinein. Wie frisch und sauber das duftete! Sie rieb sich Gesicht und Hände damit ab, bevor sie sich ihren Füßen widmete.

Die Pastorenfrau stand daneben und wippte mit dem Fuß. Als Lena und Margot frische Socken trugen und in die bereitstehenden Pantoffeln geschlüpft waren, führte sie sie in die Küche. Durch die offene Tür konnte Lena ein großes Holzkreuz an der Wohnzimmerwand hängen sehen.

In der Küche brannte ein Feuer im Herd, auf dem ein Kochtopf stand und verlockend duftete. Die Wärme umhüllte sie von allen Seiten. Wie lange war es her, dass sie zum letzten Mal in einem Haus zu Gast gewesen war, in dem ein Kreuz an der Wand hing und Schutz versprach?

Lenas Zähne schlugen aufeinander. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Knie sich in Wasser verwandelten und sie nicht länger tragen konnten. Dann würde sie auf den Boden sinken, in Tränen ausbrechen und nie wieder damit aufhören.

Als ob sie es spürte, rückte die Gastgeberin zwei Holzstühle am Tisch mit der karierten Tischdecke zurecht und bugsierte die Mädchen dorthin. In der Mitte stand eine große Vase mit Weidenkätzchenzweigen.

»Bitte, darf ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Lena, sobald sie saß, und wollte wieder aufstehen.

»Morgen gern«, sagte Frau Petersen trocken. »Aber heute bleibst du sitzen und ruhst dich aus.«

Lena bewegte die Füße unter dem Stuhl. Ein stechender Schmerz strahlte durch ihren rechten Fuß von den Zehen bis hoch zum Knie. Am meisten schien es direkt am Knöchel zu schmerzen. Bis eben hatte sie es nicht gemerkt. Wann konnte das geschehen sein? Sie war umgeknickt, als sie vor den Tieffliegern weggelaufen waren, aber das lag schon Wochen zurück. Vielleicht war es gestern passiert, als sie mit Margot beim Klang der näher kommenden Armeeautos zwischen die Büsche gelaufen war und sich dort versteckt hatte?

»Wie heißen eure Eltern? In welcher Gemeinde war euer Vater Pastor?«

Die Fragen klangen beiläufig, aber Lena spürte, dass sie auf die Probe gestellt wurden. Also galt die Freundlichkeit, die Frau Petersen ihnen erwies, tatsächlich zum Teil dem Beruf ihres Vaters, und sie wollte sicherstellen, dass die Mädchen sie nicht anschwindelten.

Lena tat, als würde sie das Misstrauen der Gastgeberin nicht spüren, und erzählte so unbefangen wie möglich von der verlorenen Heimat in Greifenberg. Sie erzählte von dem hochnäsigen Vikar aus Finkenwalde und den Buntglasfenstern zwischen den Balken im Flur nach draußen. Von der Küche, in der sie Plätzchen gebacken hatten, und dem alten Apfelbaum im Garten, unter dem die Mutter nachmittags gern mit einem Buch gesessen und gelesen hatte. »Ich habe immer gedacht, sie faulenzt und ruht sich aus … aber ich glaube, in der Zeit hat sie die Frauenkreise der Gemeinde vorbereitet«, erzählte sie. Ihre Augen brannten plötzlich.

Frau Petersen legte Lena eine Hand auf die Schulter. »Deine Mutter spürt, wenn du mit Liebe und Respekt an sie denkst, Mädchen. Ganz sicher. Dann weiß sie, dass es dir wohlergeht, und ihr wird leichter ums Herz.«

Lena hob ihr Kinn und blinzelte das Brennen aus ihren Augen weg. Sie legte ihre Hand auf die der Älteren, die genauso schmal war wie ihre eigene. Der Moment dauerte fast einen Atemzug. »Danke, Frau Petersen.«

Frau Petersen machte einen Schritt nach hinten. »Die Suppe dürfte inzwischen heiß genug sein. Es sind die Reste vom Mittagessen, ich habe Wasser dazugegeben. Wollt ihr noch ein Stück Brot dazu?«

»Suppe reicht vollkommen. Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit.« Margots Stimme klang scheu und verlegen.

»Natürlich wollt ihr Brot. Sigrun! Komm und hilf mir!« Frau Petersen blickte sich um und runzelte die Stirn. »Stimmt ja, sie ist mit ihren Freundinnen Holz sammeln …«

Lena wollte aufspringen und helfen, doch ihre Knie waren so weich, dass sie nicht aufstehen konnte. Frau Petersen bemerkte es nicht, denn sie holte aus dem Brotkasten einen angeschnittenen Laib Brot und schnitt mit geübten Bewegungen zwei Scheiben ab, die beinah daumendick waren. Sie bestrich sie mit Butter, streute etwas Salz darüber und servierte sie den Mädchen auf einem hübschen Holzbrett. Dazu gab es eine Schale dünner Gemüsesuppe mit Eierstich.

Lena faltete die Hände und warf der Pfarrfrau einen nervösen Blick zu. Im Reichsarbeitsdienst hatte man ihr verboten, ein Tischgebet zu sprechen, weil das undeutsch wäre. Es fühlte sich ungewohnt an, an einem Ort zu sein, an dem diese Sitte ihrer Kindheit nicht nur erlaubt war, sondern sogar erwartet wurde.

»Wollen wir gemeinsam beten?«, fragte die Frau, als ob sie Lenas Gedanken lesen könnte.

Sie nickte verlegen.

Die Ältere faltete ebenfalls die Hände. »Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du Lena und Margot bescheret hast. Amen.«

Lena lachte leise und wiederholte das Amen.

Sie und Margot konzentrierten sich auf die dicken Brotscheiben und die Eierstichsuppe, die köstlicher schmeckte als sämtliche Geburtstagskuchen aus Lenas Kindheit.

Nach den ersten Bissen legte Lena den Löffel hin, faltete die Hände und sprach ein weiteres stummes Dankgebet. Herr Jesus Christus, bitte behüte meine Mutter, wo auch immer sie sein mag. Behüte meinen Vater, der in Greifenberg geblieben ist, um der Gemeinde mit seinen Russischkenntnissen aus dem ersten Krieg zu helfen, damit ich ihn wiedersehen kann. Behüte meine Brüder Günter und Karl, die vermisst sind, aber vielleicht noch leben, und behüte meine Schwester Anne, die bei der Mutter geblieben ist. Bitte mach, dass sie es warm haben, in Sicherheit sind und genauso gut essen dürfen wie ich!

Dann aß sie langsam und mit möglichst kleinen Bissen, bis sie beim letzten Brotkrümel das Gefühl hatte, gleich zu platzen.

VERHÖR

Der Raum roch nach Karbolseife, Holzpolitur und altem Männerschweiß. In der Ecke bollerte ein kleiner Ofen und verbreitete so viel Wärme, dass sich die Muskeln nach den Tagen der Einzelhaft in der engen und kalten Zelle unwillkürlich entspannten. Der Verhöroffizier blätterte in einer Akte und schien es darauf anzulegen, sein Gegenüber durch sein anhaltendes Schweigen zu verunsichern.

Joachim Baumgärtner wünschte sich, der Krieg wäre endlich vorbei. Er wusste, dass die jüngeren Soldaten im Gefängnis nach wie vor auf eine Wunderwaffe vom Führer warteten, doch diese Hoffnung hatte er aufgegeben. Der Russe rückte vor, unterstützt vom Amerikaner und im Grunde ganz Europa. Das Deutsche Reich war gescheitert, auch wenn die Propaganda nach wie vor anderes erzählen mochte. Wenn man jung war, glaubte man an Helden und Lichtgestalten und war bereit, voller Stolz sein Leben zu opfern, aber wenn man älter wurde, verlor man den Glauben an Wunder.

Als Joachim im vergangenen Herbst begriffen hatte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, hatte er sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht. Er hatte sich den Winter über in einem Schweizer Dorf versteckt und unter falscher Identität Holz für einen reichen Bauern gehackt. Auf diese Weise hatte er überlebt.

Eines Tages würde er nach Hause zurückkehren. Es war schwer zu sagen, wen er mehr vermisste: Hildegard, die Jungs oder die kleine Ilse mit den strahlenden Augen, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte und die inzwischen bestimmt schon laufen konnte und die ganze Familie mit ihren Plappereien erfreute. War all das, was er im Osten getan hatte, wirklich wichtiger als das Strahlen seines kleinen Mädchens, wenn er es auf dem Schoß hielt und es durch die Luft fliegen ließ?

Krieg war eine unmenschliche Angelegenheit. Natürlich ging es um die Ehre als deutscher Mann, um den Schutz des Vaterlandes. Man musste die Heimat vor Schmutz und jüdischer Verseuchung bewahren, aber …

»Ich bin Zivilist«, erklärte er dem Verhöroffizier zum zehnten Mal und zupfte an dem schmutzigen Kragen des karierten Hemdes.

Er wünschte, er hätte mit der Heimreise noch etwas gewartet. Dann hätten die Briten ihn nicht trotz des karierten Flanellhemds und Frauenmantels aus dem Zug gezogen und ins Lager für Militärgefangene geschleppt. Sie schienen zu glauben, dass jeder deutsche Mann im wehrfähigen Alter automatisch ein Teil der Wehrmacht war.

Rückblickend wünschte er sich beinah, dass das der Fall wäre. Wenn er zur Wehrmacht gehört hätte, wären einige Dinge leichter. Nicht zuletzt würde die Schussverletzung in seinem Oberarm nicht unangenehm ziehen, wann immer er den Bizeps ballte.

»Und ich glaube Ihnen nicht«, wiederholte der Soldat zynisch und etwas genervt. Abgesehen von dem Akzent sprach er fehlerfreies Deutsch. »Solange Sie an dieser Geschichte festhalten, muss ich davon ausgehen, dass Sie etwas zu verbergen haben.«

Joachim atmete tief aus. Nichts Falsches sagen. Einfach nur schweigen, dann würde er irgendwann hier rauskommen.

Die Tommys mussten ihn gehen lassen. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Das hier war ein Gefängnis für Soldaten, und er selbst war nie an der Front gewesen. Außerdem hielt er es in diesem Gefängnis nicht länger aus. Es gab keinen Schnaps, und er ertrug das Gejammer der verlausten Männer in der Baracke so wenig wie die permanenten Gedankenreisen in der Einzelhaft.

»Ich kann verstehen, dass Sie die Soldaten der Wehrmacht als Kriegsgefangene betrachten und mit aller notwendigen Strenge behandeln, Herr Offizier«, erklärte er und achtete darauf, die Schultern einzuziehen und den Blick gesenkt zu halten. »Ich kann verstehen, dass Sie zornig auf all die Deutschen sind, die Hitler groß gemacht haben. Deswegen bin ich froh, dass Sie unser Land befreit haben. Aber ich hatte nichts damit zu tun, verstehen Sie? Ich bin kein Soldat, und ich war niemals ein Nazi.«

Für einen Moment schämte Joachim sich, weil er sich und sein Land auf diese Weise verriet. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er stolz auf das gewesen war, was sie taten. Im Grunde war er es immer noch. Trotzdem durfte er nicht länger dafür einstehen. Wenn er überleben wollte, musste er den Kopf einziehen.

Der verhörende Soldat veränderte den Winkel der Verhörlampe, damit sie Joachim noch greller in die Augen schien. »Sie wollen mir erzählen, dass ein körperlich gesunder Mann in Ihrem Alter nicht Teil der Armee war? Hitler hat selbst Kinder und alte Männer an die Front geschickt. Wenn Sie mich an dieser Stelle anlügen, warum sollte ich Ihnen den Rest glauben?«

»Natürlich hat das Regime meine Arbeitskraft eingesetzt«, sagte Joachim und zwang sich, unterwürfig zu klingen. »Ich war als Buchhalter für die Verteilung von Lebensmitteln und Winterausrüstung zuständig. Als Zivilist. Wann darf ich endlich nach Hause?«

Nach Hause. Zu Hildegard und den Kindern. Er schluckte hart.

Nicht daran denken. Er presste die Hand aufs Knie. Sie schien ein Eigenleben zu entwickeln und wollte sich zusammenballen, um dem Tommy die Nase zu brechen. Verdient hätte er es, so arrogant und stolz, wie er die gerade Nase nach vorn reckte und sich in Sieg und Rechenschaft suhlte. Doch das würde Joachims Geschichte vom unterwürfigen Zivilisten auffliegen lassen.

Sein Gegenüber schnaubte unwillig und schob die Akte nach rechts. Trotz seiner sauberen Uniform und der gekämmten Haare wirkte er heruntergekommen und schlecht gelaunt. Vielleicht hatte er sich den Sieg anders vorgestellt als diese Verhöre im Keller des alten Gefängnisses in Wolfenbüttel.

»Ein gesunder und durchtrainierter Mann wie Sie soll Buchhalter sein? Erzählen Sie das Ihrer Großmutter, Herr Baumgärtner. Ich will Ihren richtigen Namen, Rang und Dienstbezeichnung. Ansonsten geht es noch einmal für zwei Wochen in Einzelhaft.«

Joachim schluckte. Im Kampf Mann gegen Mann konnte er es immer noch mit jedem dieser Tommys aufnehmen, das wusste er. Nicht zuletzt, weil die harte Arbeit auf dem Schweizer Hof im Winter seine Muskulatur noch mal ganz anders gefordert hatte als die frühere Tätigkeit. Die Engländer ruhten sich schon zu lange auf ihrem Empire aus, auch wenn sie rassisch vom gleichen Schlag waren wie die Deutschen. Das hatte sie verweichlicht.

Doch er durfte nicht zuschlagen. Ein Buchhalter würde unterwürfig tun und auf die Aktenlage vertrauen, anstatt sich durchzusetzen. Außerdem saßen die Briten am längeren Hebel. Der Offizier konnte seine Drohung ohne Probleme wahrmachen. Und was würde dann geschehen?

In der Einzelhaft gab es keine Möglichkeit, an Schnaps zu kommen. Joachim wusste, dass er das nicht ertragen würde. Ohne Schnaps kamen die Erinnerungen zurück. Schreiende Kinder. Ein weinendes Baby. Der hilflose Blick der Jüdin mit den viel zu großen Augen, als er sie nicht länger beschützen konnte.

Sarah.

Er hatte sie geliebt. Auf eine ganz seltsame Weise, auf die er noch nie zuvor einen Menschen geliebt hatte. Sarah hatte ihn verstanden. Und, wie sie ihm fast jede Nacht gezeigt hatte: Sie hatte ihn ebenfalls geliebt.

Wenn sie bei ihm war und ihm ihr scheues, hilfloses Lächeln schenkte, hatte es ihn nicht gestört, dass sie eine Jüdin war.

Joachim war ein deutscher Mann und wusste, was sein Land von ihm verlangte. Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und schnell wie ein Windhund sollte er sein. Er war einer, auf den die Kameraden sich verlassen konnten. Kein Weichei wie dieser von Altenberg, der abends geweint und schließlich seine Versetzung beantragt hatte. Aber wenn Joachim in nüchternem Zustand einzuschlafen versuchte, hörte er immer noch die Schreie und das Weinen der Babys.

Deswegen brauchte er Schnaps.

»Ich will Ihnen ja helfen«, sagte er erneut. »Fragen Sie mich etwas, was nur ein Buchhalter wissen kann. Ich kann Ihnen sagen, wie viele Wollsocken wir seit Wintereinbruch an die Soldaten an der Ostfront geschickt haben, wenn Sie das hören wollen. Die Frauen in der Heimat haben gestrickt, damit die Männer an der Front nicht so frieren mussten. Ich fand das ausgesprochen reizend und fürsorglich und habe es gern unterstützt.«

Er hoffte, dass der Soldat ihn nichts fragen würde, was er nicht beantworten konnte. Sein Instinkt sagte ihm jedoch, dass er an dieser Stelle bluffen musste.

Joachim war kein Studierter, auch wenn er mit Zahlen umgehen konnte und auf dem Hof seines Bruders die Bücher geführt hatte. Insgeheim misstraute er Büchermenschen. Die hatten eine Art zu reden, von der einem anständigen Deutschen ganz wirr im Kopf werden konnte. Als er in einer Schulung zum ersten Mal von der jüdisch-bolschewistischen Intelligenzija gehört hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Natürlich stimmte das! Die hielten sich für was Besseres und blickten auf die ehrlichen, anständigen Deutschen herab.

Trotzdem wusste Joachim, dass er was auf dem Kasten hatte. Niemand fand so gut wie er die Lücke in den Regeln, durch die er sich hindurchlavieren konnte. Tief in seinem Bauch spürte er jedes Mal, was angebracht war: Kopf einziehen oder zuschlagen. Freundlich sein oder unbeirrbar ein Ziel verfolgen.

Deswegen wusste er, dass es in diesem Augenblick keine Rolle spielte, was er erzählte. Das, worauf es ankam, war zu reden und sich diensteifrig zu zeigen. Kleine Fische wie dieser Soldat wollten die Wahrheit gar nicht ergründen. Sie wollten sich bloß aufspielen und wichtigtun. Wenn Joachim es schaffte, weiterhin den unterwürfigen Buchhalter zu spielen, würde er früher oder später hier herauskommen.

»Haben diese deutschen Frauen Ihnen auch den Mantel gespendet, den Sie jetzt tragen?« Der Brite klang amüsiert. Ein kleines Späßchen auf Kosten eines deutschen Mannes, der ihm unter normalen Umständen haushoch überlegen wäre.

Joachim lächelte bitter. Er musste sich demütigen lassen. Man hatte ihn genauso besiegt wie seine ganze Nation.

»Er steht Ihnen ausnehmend gut, Herr Baumgärtner. Betont Ihre schlanke Linie.«

Joachim schluckte den bitteren Geschmack hinunter und zog den dünnen Frauenmantel enger um seine Schultern. Wie sehr er geflucht hatte, als er im März in der Scheune voller Flüchtlinge aufgewacht war und sein Militärmantel gefehlt hatte! Stattdessen hatte er unter einem sehr viel dünneren Mantel gelegen, dessen Schnitt eindeutig für eine Frau gedacht war und den er vorn nicht schließen konnte.

Irgendein Hurensohn musste es ausgenutzt haben, dass er endlich einmal friedlich geschlafen hatte. Der Mann stand jetzt auf seiner Liste.

Das Schlimmste daran war nicht der Verlust des Mantels. Auch der Verlust seiner Würde durch den Frauenmantel stand nur auf Platz zwei. Das eigentliche Problem war der Ausweis, den er nicht verbrannt hatte. Wie oft hatte er sich seitdem für seine Dummheit verflucht! Aber aus irgendeinem Rest verdrehten Stolzes heraus war er nicht bereit gewesen, den Ausweis zusammen mit den Akten zu verbrennen. Eines Tages würde man sehen, welche Opfer er für seine Nation gebracht hatte, und seine Leistungen anerkennen.

»Im Krieg mussten wir alle nehmen, was uns zugeteilt wurde«, erklärte er mit bemüht brüchiger Stimme. »Weil ich kein Soldat war, hatte ich keinen Anspruch auf eine Wehrmachtsuniform. Man hat mich nicht an die Front geschickt, weil ich 1918 als Kriegszitterer heimgekehrt bin. Wenn Sie mir ein Gewehr geben, treffe ich nichts. Ich bin ein Versager.« Joachim versuchte, so weinerlich zu klingen, wie es ein Buchhalter in seiner Vorstellung tat.

Der Brite lachte verächtlich. Es klang nicht wie das Lachen eines Verhöroffiziers, der eine Lüge durchschaute. In seinem Gesicht lag die Verachtung eines kampferprobten Soldaten gegenüber einem kriecherischen kleinen Buchhalter.

»Ihr Deutschen seid alle Weiber und Weicheier, stimmt’s?«, sagte er süffisant.

Joachim unterdrückte den Impuls, die Sache auf angemessene Weise zu klären. Er senkte den Blick.

Red du nur, dachte er. Wir haben der Welt unseren Stempel aufgedrückt. Noch in tausend Jahren werden die Menschen Europas unsere deutsche Herrlichkeit fürchten. Deutschland ist dazu bestimmt, Europa zu beherrschen, und eines Tages werden wir es tun. Wir haben den Krieg verloren, aber eure Furcht vor uns wird bleiben. Sonst müsstest du in diesem Augenblick nicht den armseligen kleinen Buchhalter demütigen, für den du mich hältst.

»Wann lassen Sie mich gehen?«, fragte er in all der Unterwürfigkeit, die ihm zu Gebote stand. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Wie jeder deutsche Mann habe ich nur meine Befehle befolgt. Das ist doch kein Verbrechen! Suchen Sie lieber nach dem Himmler und den anderen Menschen an der Spitze. Die sind es, die unser Land zugrunde gerichtet haben.«

»Sag es.« Der Brite lächelte bösartig. »Sag es, dann trage ich in meine Unterlagen ein, dass du nur ein trotteliger Mitläufer warst. Vielleicht kommst du dann tatsächlich noch in dieser Woche frei. Das hier ist ein Gefangenenlager für Männer, nicht für Mäuse.«

Joachim schluckte Säure und Speichel. »Was soll ich sagen, Sir?«

»Du sollst dich dafür entschuldigen, dass ihr den Krieg begonnen und Bomben auf unschuldige britische Zivilisten geworfen habt.« Für einen Moment flammte Hass im Blick des Mannes auf. Es schien eine persönliche Angelegenheit zu sein. Vielleicht hatte es eine britische Zivilistin erwischt, die für diesen Mann besonders wichtig war. Der Gedanke erfüllte Joachim mit heimlicher Genugtuung.

»Entschuldigung, Sir«, sagte er trotzdem. »Es tut mir sehr leid, dass die Befehlshaber der deutschen Armee entschieden haben, den Krieg auch in Ihre Heimat zu tragen. Das hätten sie nicht tun dürfen.«

Der Brite stemmte die Hände auf den Tisch. »Wollen Sie mich verarschen?«

Joachim schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich sehr leid. Auch um die Zivilisten.« Das zweite ergänzte er hastig. Es schien das zu sein, was der Tommy erwartete.

»Mit Ihrer störrischen Art erreichen Sie hier gar nichts«, sagte der.

Joachim hielt den Blick gesenkt und schwieg. Er musste seine Rolle durchhalten, wenn er irgendwann herauskommen wollte. Wenn er es bis nach Niebüll schaffte, wäre alles gut. Bei Hildegard würde er mit dem Trinken aufhören. Die Schreie und das Weinen würden weit fort im Osten bleiben, wo sie hingehörten. Abends würde er auf der Bank vor dem Haus sitzen und den Passanten dabei zuschauen, wie sie durch seine Stadt bummelten. Hildegard würde ihm ein Bier bringen und sich vielleicht für einen Moment zu ihm setzen, wenn das neue Kind ihr Zeit dafür ließ.

Die kleine Ilse. Er erinnerte sich noch gut daran, wie ihr kleines Köpfchen geduftet hatte. Er hatte sich schrecklich tollpatschig gefühlt und Angst gehabt, dass er das wertvolle Bündel fallen lassen würde. So kostbar. Ganz anders als bei seinen Söhnen. Wie behandelte man etwas, das so wertvoll war wie dieser winzige Säugling?

Die Erinnerung gab ihm Kraft. Joachim hob den Blick und las das Namensschild auf der Uniform. »Mister Murphy. Ich weiß, dass Sie hier auch nur Ihre Arbeit machen. Vielleicht denken Sie, ich sei einer von diesen bösen Nazis, von denen Sie in Ihren Zeitungen gelesen haben. Aber ich schwöre Ihnen, dass ich keiner war. Ich bin nur ein einfacher Mann, der seine Arbeit gemacht hat. Ich sehne mich nach meiner Frau und meinen Kindern und möchte zu ihnen nach Hause. Können Sie das nicht verstehen? Würde es Ihnen nicht ähnlich gehen?«

Der Brite knurrte, aber Joachim hatte das Aufflackern von Mitgefühl in seinem Blick gesehen. Erwischt, dachte er. Du hast auch jemanden, den du liebst. Jeder hat das. Wenn ich noch etwas auf die Tränendrüse drücke, erzählst du mir gleich etwas von deiner alten Mutter oder der liebreizenden Braut, wenn sie die Bombardierungen überlebt hat. Oder dem liebreizenden Bräutigam, wer weiß. Ihr seid doch alle pervers.

Die weiteren Fragen des Verhörs kannte Joachim bereits. Er blieb stur bei seiner Geschichte und zwang sich, trotz der hinterhältigen Fangfragen jedes Mal das Gleiche zu erzählen. Er hatte keine Ahnung von Truppenaufstellung, keine Ahnung von militärischer Taktik oder Strategie. Von Judentransporten oder entsprechenden Lagern hatte er nie etwas gehört. Das sei nicht seine Aufgabe gewesen.

Schließlich brachte man ihn zurück in die Gefangenenbaracke. Er war schweißgebadet. So sehr er die engen Räume mit den dreifachen Stockbetten vorher gehasst hatte … es war eine Erleichterung, wieder andere Menschen zu sehen, die es nicht darauf anlegten, ihn fertigzumachen.

Ein junger Mann lag auf dem Bett, das Joachim vor der Einzelhaft gehört hatte. Er beugte sich vor und packte ihn am Kragen. »Runter da.«

»Aber …«

»Runter da!« Er zog am Hemd, bis der Junge mit dem Oberkörper fast aus dem Bett hing. »Gehst du freiwillig, oder soll ich nachhelfen?«

Zwei grobschlächtige Männer, mit denen er sich vor der Einzelhaft angefreundet hatte, stellten sich hinter Joachim. »Wir haben es dir gesagt«, erklärte einer von ihnen dem Jungspund. »Joachim kommt zurück. Du hättest dir ein anderes Bett suchen sollen.«

»Aber sonst war keins frei!« Der Junge wirkte ängstlich.

»Ist das mein Problem?« Joachim zog ihn grob noch etwas weiter von der dünnen Matratze. Er schnaubte verächtlich, als der andere ein hohes Geräusch machte. »Räumst du freiwillig das Feld? Sonst fängst du dir eine, von der du bis zurück nach Russland fliegst.«

»Ist schon gut.« Der Junge wimmerte. »Lassen Sie mich los, dann verziehe ich mich. Sie können das Bett haben, hören Sie?«

»Das will ich hoffen.« Er gab dem Jungen einen Stoß und ließ los. Die Männer hinter ihm stimmten in sein Gelächter ein, als der Junge sich am Rand des Stockbetts festhielt und zurück ins Bett schob. Er griff nach einem Buch, das sich am Fußende befand, und ließ sich an der Seite herab. Dann wollte er sich davonmachen.

»Eins noch.« Joachim packte seinen Arm und hielt ihm die Faust vors Gesicht. »Treib mir ein wenig Schnaps auf, sonst verpass ich dir wirklich eine. Und zeig mal deinen Mantel.«

Er genoss es, die Angst im Gesicht des Jungen zu sehen. Der Mantel passte, also bekam der andere im Tausch dafür den Frauenmantel. Der Kleine sollte ja nicht frieren, wenn er sich in einer Ecke der Baracke zum Schlafen hinlegte.

Joachim fühlte sich wieder stark, auch ohne Schnaps. Vielleicht brauchte er den Alkohol irgendwann tatsächlich nicht mehr.

Er legte sich auf das zurückeroberte Bett und dachte an sein Zuhause. Wie er seine süße Hildegard an sich drücken würde, wenn er sie endlich wieder bei sich hatte! Wie sie aufquietschen und sich wehren würde, wenn er sie ins Schlafzimmer mitnahm und ihr den Rock hochschob. Oder würde er sich die Zeit nehmen, sie erst genüsslich auszuziehen?

Beim ersten Mal nicht, nahm er sich vor. Hildegard war immer ein anständiges Mädchen gewesen. Sie hätte Verständnis für einen Soldaten, der nach mehr als zwei Jahren im Osten ein dringendes Verlangen nach den festen Schenkeln einer deutschen Frau verspürte.

IN DER APOTHEKE

Rainer mochte die Arbeit in der Apotheke. Der Frieden des Ortes hatte eine heilsame Wirkung auf ihn. Es tat gut, von altem Holz und Sauberkeit umgeben zu sein und jedes Detail überblicken zu können. Während er auf die Nachmittagskundschaft wartete, räumte er auf und genoss die Stille. Mit einem feuchten Tuch wischte er über die Schubladen, Tiegel und Töpfe und entfernte die wenigen Staubkörner, die sich auf der blankpolierten Oberfläche niedergelassen hatten. Er mochte den leichten Lysolduft, der von dem Tuch aufstieg.

Die Türglocke ging. Der zwölfjährige Flüchtling Martin kam herein und schmetterte Rainer gut gelaunt sein »Hei’tler« entgegen.

Rainer lächelte. Sein kleiner Botenjunge war ihm in den vergangenen zwei Wochen ans Herz gewachsen. »Moin. Wie geht es dir, junger Mann?«

»Fein, fein, Herr Apotheker! Die Mutter lässt ausrichten, ein so guter Mensch wie Sie wäre ihr noch nie über den Weg gelaufen. Wennse zehn oder fünfzehn Jahre älter wären, könnte man Sie zum Traualtar schleifen.« Er zögerte. »Aber verraten Sie der Mutter nicht, dass ich das gesagt habe. Mit dem Traualtar.«

Rainer lächelte. »Sag deiner Mutter, ich weiß ihre guten Worte zu schätzen, aber ich bin schon verlobt.« Mit Gisela Neumann, der schönsten jungen Frau im Dorf. Das kam ihm heute noch so unwirklich vor wie an dem Tag vor der Frontabreise, an dem sie sich einander versprochen hatten.

Martin bekam große Augen. »Du meine Güte. Ich wusste gar nicht, dass Sie wirklich schon so alt sind, Herr Apotheker! Ich dachte, die Mutter scherzt bloß.«

»Zweiundzwanzig ist doch noch jung.«

»Alt genug zum Heiraten, meine ich. Ich dachte immer, Sie sind mehr in dem Alter wie ein großer Bruder.«

Die Worte rührten Rainer. Er hielt sich am Tresen fest, damit er nicht das Gleichgewicht verlor, und griff darunter. Er zog eine Stulle hervor, sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt, und legte sie auf den Tresen. Ein Apfel fand sich auch noch in dem Versteck. »Ich habe wieder etwas für euch«, sagte er. »Mein Chef sagt, deine Mutter muss viel essen. Wo sie doch in anderen Umständen ist.«

Martin streckte die Hand aus, machte dann aber einen Schritt nach hinten. »Wir können das nicht immer von Ihnen annehmen, Herr Apotheker! Das gehört sich nicht.« Doch seine Augen klebten hungrig an den Lebensmitteln.

»Ist schon in Ordnung.« Rainer schob die Mitbringsel über den Tresen. »Dein Geschwisterchen soll gesund zur Welt kommen, das wünschen wir uns alle.«

Martin nickte und ließ Apfel und Stulle unter dem Hemd verschwinden. »Ich sehe zu, dass die Mutter es isst, Herr Apotheker. Und wenn sie es wieder mir geben will, dann behaupte ich, Sie haben mir hier schon was gegeben und ich sei pappsatt.«

Rainer nickte und tat so, als ob er die unausgesprochene Bitte in den Worten nicht verstand. Lebensmittel waren knapp. Er konnte nicht ständig Mutter und Jungen über die erlaubten Rationen hinaus versorgen, auch wenn seine Mutter ihn dabei unterstützte. Sein eigener knurrender Magen erlaubte es nicht. Vielleicht konnte er Martin morgen oder übermorgen wieder etwas zustecken.

Doch dann griff er in seine Tasche, holte seine eigene dünne Stulle heraus und brach sie in der Mitte durch. Er zögerte, dann reichte er Martin das größere Stück. Der Junge war schließlich im Wachstum.

»Haben Sie eigentlich gehört, was für ein Tor ich gestern geschossen habe?«, fragte Martin.

»Man munkelt von großen Heldentaten.« Rainer lächelte, obwohl er nichts davon mitbekommen hatte. Er genoss die leuchtenden Augen des Jungen, für den die Welt trotz aller Not so viel Freude beinhaltete.

Die beiden fachsimpelten ein wenig über Fußballtaktiken. Der Junge war dabei, sich mit einer Mischung aus Kampfwillen und Beweglichkeit auf dem Fußballplatz den Respekt der Dorfjugend zu verdienen. Rainer hatte ihn schon ein paarmal mit Hans gesehen, dem zehnjährigen Sohn seiner Schwester Hildegard. Es schien, dass der Ball den Kindern dabei half, die Unterschiede in Dialekt und Kleidung zu überwinden und Freundschaft zu schließen.

Schließlich verabschiedete Martin sich. Rainer sah dem Jungen hinterher, wie er von einem Bein auf das andere tänzelte und beim Verlassen der Apotheke das helle Sonnenlicht mit einem Sprung begrüßte. Er beneidete ihn um die Freiheit, laufen zu können, wohin er wollte.

Der Rest des Nachmittags verging friedlich. Die Sonne schien durch die alten Fenster und brachte winzige Staubteilchen zum Tanzen. Ganz wurde man diese Partikel wohl niemals los. Trotzdem füllte Rainer erneut einen Eimer mit Lysolwasser und reinigte damit mühsam nach und nach alle Ablagen. Inzwischen kannte er den Raum gut genug, dass er die Krücken hinter dem Tresen stehen lassen konnte und sich mit Hüfte, Schultern und Ellenbogen an der Einrichtung abstützen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

Er verkaufte eine Packung Kamillentee und eine Dose Vaseline an eine Bäuerin und ließ sich von ihr erzählen, was im jüngsten Frontpostbrief des Sohnes gestanden hatte. Die Frau des Bürgermeisters schickte er mit leeren Taschen nach Hause, da schon lange kein Pervitin mehr vorrätig war. Sie schaute unzufrieden, aber was sollte er tun? Wachmacher wurden wie alles andere dringend an der Front benötigt.

Schließlich öffnete sich die Tür zehn Minuten vor Feierabend so schwungvoll, dass Rainer wusste, wer kam, noch bevor die Sonne ihm die betörende Silhouette einer bildschönen Frau im Gegenlicht präsentierte. Er hätte schwören können, dass ihm ein Hauch Kölnisch Wasser in die Nase stieg. Gisela Neumann ging aufrecht wie eine junge Walküre und war genauso schön. Ihre blonden Haare wellten sich elegant um ihre Schultern, und ihre Präsenz füllte den Raum.

Rainer lächelte erfreut. »Moin, Gisela! Was führt dich hierher?«

Sie kam langsam näher. Ihr wiegender Gang verriet, dass sie Pfennigabsätze aus der Werkstatt ihres Vaters trug. Als sie aus dem Lichtkegel der Sonne trat, wurden ihr schräg geschnittenes Kleid, das Gesicht und der für Dorfverhältnisse sehr elegante Mantel sichtbar. Giselas feine Brauen ließen ihre dunklen Augen noch ausdrucksvoller erscheinen. Ein leichtes Grübchen neben dem linken Mundwinkel passte dazu, wie gern sie lachte, vor allem über andere.

»Rate mal, wen ich suche.« Sie lächelte ihn an und stützte sich auf den Tresen. Die Geste erinnerte Rainer an eine Schauspielerin aus einem Film, elegant und sinnlich zugleich.

»Ja, wer könnte das Ziel deiner Suche sein?« Rainer stützte sich ebenfalls auf den Tresen und nahm eine übertriebene Denkerpose ein. Es erfüllte ihn nach wie vor mit großer Freude, wenn diese schöne junge Frau seine Gesellschaft suchte. »Willst du vielleicht eine Freundin besuchen und hast dich in der Tür geirrt? Und jetzt hältst du mich für sie, weil mein sorgfältig rasiertes Gesicht dich in diesem schattigen Raum in die Irre führt?«

Für einen Moment fühlte er sich, als sei er wieder der Rainer vor dem Krieg, der wusste, wie man eine Frau mit Charme und Geist verzauberte. Damals, als er noch geglaubt hatte, dass er nach dem Abitur studieren und Karriere machen würde, statt als Kriegsinvalide und unterbezahlter Apothekenhelfer in seiner Heimatstadt zu stranden.

»Bei meiner Freundin war ich schon.« Gisela schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Sie hat mich hierhergeschickt. Man könnte also sagen, dass ich in ihrem Auftrag gekommen bin, um das Gespräch mit dir zu suchen.«

Rainer tat, als würde er die Neckerei in ihren Augen nicht aufblitzen sehen, und machte ein ernstes Gesicht. »Ist deine Freundin in Schwierigkeiten? In diesem Fall ist Herr Tauber sicher bereit, ihren Urin mit einer Spritze in den Blutkreislauf eines lebenden Frosches aus Südamerika zu injizieren.«

»Igitt!« Gisela schüttelte sich. »Warum sollte dein Chef so etwas tun?«

Rainer zwinkerte. »Der Froschtest ist eine hochmoderne wissenschaftliche Methode, um festzustellen, ob eine junge Frau in anderen Umständen ist«, dozierte er. Er blickte jetzt ernst und streng wie ein Lehrer, der vor einer Oberprimaklasse über die Heldentaten der Germanen doziert. »Im Gegensatz zu der von Aschheim und Zondek entwickelten Mäusemethode muss das Versuchstier nach der Injektion nicht getötet und seziert werden, um eine Schwangerschaft der Frau festzustellen. Stattdessen beobachtet man, ob die Frösche zu laichen beginnen oder nicht. Einige Wochen später hat sich der Frosch vollkommen erholt und steht für die nächste Injektion zur Verfügung.«

Gisela starrte ihn mit offenem Mund an. »Das denkst du dir gerade aus, Rainer. So einen Unsinn machen die Leute nicht wirklich.«

Rainer lachte auf. »Nein, es stimmt«, erklärte er. »Herr Tauber hat es vor einigen Jahren in einer Apothekerzeitschrift gelesen. Es funktioniert allerdings nur bei einer ganz bestimmten Froschart.«

Gisela befeuchtete ihre Lippen und strahlte ihn unter ihren Wimpern hervor an. »Ich liebe es, wenn du so klug daherredest, Rainer. Man weiß nie, ob du es ernst meinst oder einen gerade verschaukelst. Wie du das gerade so ganz trocken gesagt hast … Das klang so gebildet, dabei war es einfach nur Schalk.«

Rainer verschwieg ihr, dass man im Apothekerberuf tatsächlich lernen musste, über private Körperfunktionen auf eine Weise zu reden, die wissenschaftlich klang und den Menschen half, ihre Scham zu überwinden. Gisela hatte ja recht. Er hatte versucht, sie zum Lachen zu bringen, und es hatte funktioniert.

»Du hast mir das aber nicht erzählt, um einen Vorschlag zu machen, oder?« In ihren Augen blitzte etwas auf, was eine freche Einladung sein könnte. »Solche Ungezogenheiten gibt es bei mir nämlich nicht.«

Rainer öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Der Rainer vor dem Krieg hätte gewusst, wie man auf eine solche verspielte Provokation einging. Er wäre ein wenig vorangeprescht, hätte Gisela weitergeneckt und sich zurückgezogen, sobald sie eine neue Grenze zog. Frauen mochten es, wenn ein Mann ein wenig fordernd war, solange er dabei höflich blieb.

Vor seiner Zeit an der Front hätte er gewusst, wie er das anstellte. Natürlich war er schüchtern gewesen, aber irgendwie war es ihm doch immer wieder gelungen, die passenden Worte zu finden, um auf das süße Locken in Giselas Blick einzugehen. Heute funktionierte es nicht mehr. Statt sich von ihrem Lächeln geschmeichelt zu fühlen, löste es Unbehagen aus. Gisela schien zu erwarten, dass er sich benahm, als wäre er nach wie vor der Alte. Kein Krüppel, der nie wieder leichtfüßig mit einem Fußball oder einer Granate zwischen den feindlichen Linien nach vorn preschen würde. Der alte Rainer hatte sich nie in ein angststarres Bündel Elend verwandelt, das sich jede Nacht voller Angst vor der Dunkelheit zusammenkauerte und auf dem Kopfkissenbezug herumkaute, bis seine Zähne schmerzten.

Gisela wollte den alten Rainer. Und Rainer war bereit, alles zu geben, um wieder zu diesem Mann zu werden.

»Wie es aussieht, gibt es nur noch eine Möglichkeit, warum du ausgerechnet um kurz vor sechs in die Apotheke gekommen bist«, sagte er daher und hob das Kinn, um möglichst selbstbewusst zu wirken. »Du wolltest mich sehen und auf einen Spaziergang nach Feierabend einladen. Du willst herausfinden, ob ich mutig und verrückt genug bin, einen Versuch zu unternehmen, dich in genau die Art von Schwierigkeiten zu bringen, die anschließend meine Reise nach Südamerika erforderlich machen.« Er zwinkerte.

Gisela quietschte auf. Rainers Worte schienen ihr zu gefallen. »Das würdest du nicht wagen! Nicht vor unserer Hochzeit.«

Rainer grinste und hoffte, dass es verwegen wirkte. »Bist du dir sicher? Ein deutscher Mann fürchtet weder Tod noch Teufel.«

»Hach, ich liebe es, wenn du so redest!«

Sie sahen einander in die Augen. Rainer griff nach Giselas Hand, die wie zufällig auf dem Apothekentresen lag. Es schien das zu sein, was von ihm erwartet wurde. Die Zeit schien sich zu dehnen. Er legte die freie Hand um Giselas Schulter und zog sie näher.

Rainer war immer noch voll Staunen darüber, dass diese kluge und wunderschöne Frau ausgerechnet ihn erwählt hatte. Rainer, das schüchterne Nesthäkchen aus der Familie mit drei großen Schwestern, dem Mädchen gegenüber so oft die Worte fehlten und dem Gisela trotzdem ihr Lächeln schenkte. Der Fußball-Mittelfeldverteidiger ohne Talent für aufregende Tore, der Klassenstreber mit der großen Klappe und schließlich der Feigling an der russischen Front, der geschrien und sich in die Hose geschissen hatte, als die Granate explodierte und drei seiner Freunde in Fleischmatsch verwandelte, deren Blut sich zusammen mit dem Schmutz wie Nebel auf seine Haut legte und dort für immer kleben würde …

Rainer verzog entsetzt das Gesicht, als das Grauen in ihm emporstieg. Gott verflucht. Warum war er so leichtsinnig gewesen und hatte an das gedacht, woran er niemals denken durfte?

Das vertraute Zittern setzte ein. Es begann unterhalb des Bauchnabels, zog sich nach unten und drang durch seine Eingeweide. Seine Zähne schlugen aufeinander. Ihm wurde schwindelig, und sein Gleichgewichtssinn versagte, was ein Mann mit einem halben Fuß noch weniger gebrauchen konnte als andere.

Die Angst hatte keine Form. Sie war Fetzen. Bruchstücke. Unendliche Scham, weil die Explosion ihn nicht erreicht hatte. Er wollte wegrennen, aber seine Füße gehörten nicht länger ihm. Der Geschmack von Blut und Schlamm. Ein dumpfes Bumm, das durch die Realität hallte, zu laut und zu leise, um von irgendjemandem außer ihm gehört zu werden.

Seine Finger krallten sich in Giselas Schulter. Rainer spürte die Weichheit des Stoffes und ihres Fleisches darunter, ahnte die Knochen und hatte Angst, sie zu zerquetschen. Die Hand schien ein Eigenleben zu besitzen. Dort, wo sie Gisela gepackt hielt, löste sich der Nebel auf. Bei ihr war Halt und Schutz.

Rainer packte fester zu und zog Gisela über den Tresen näher zu sich. Er umfasste ihren Hinterkopf, griff in die Haare und küsste sie gierig. An der Front hatte er es oft genug getan, in seinen Träumen und im Halbschlaf, wenn sie ihm wie eine Sirene zugelächelt hatte, die darauf wartete, dass er zu ihr kam. Da hatte er sie an sich gezogen, auf diese Weise, wild und hungrig, und dann waren ihre Kleider geschmolzen, und er hatte noch ganz andere Dinge mit ihr getan, und dann …

»Au!« Gisela stieß ihn zurück. Sie sah wütend aus. »Du hast mich gebissen, Rainer. Wie kannst du so grob sein?«

Er erstarrte.

Das hier war nicht der Krieg. Er war in der Apotheke, nicht an der Front. Gisela konnte nicht den klebrigen Belag auf seiner Haut fühlen, den Schmutz und Gestank und den metallischen Geschmack. Sie gehörte in den Frieden. Nach Hause. In die bessere Welt, für die er gekämpft hatte. Sie sollte lächeln und glücklich sein. Aus diesem Grund hatte er durchgehalten. Um eines Tages zu ihr zurückzukommen und ihr Lächeln wiederzusehen.

In ihren Augen lag Erschrecken. Sie lächelte nicht. Er wollte, dass sie lächelte. Wofür hatte er sonst überlebt?

Das Erschrecken galt ihm.

Rainer hätte am liebsten zugeschlagen und das Entsetzen aus ihrem Gesicht vertrieben. Wie konnte sie es wagen? Sie sollte glücklich sein! Nach allem, was er für sie durchlitten hatte, in einem fremden Land, in winzigen Zelten inmitten von meterhohem Schnee, auf Latrinen, die nicht mehr waren als ein stinkendes Loch im Boden, auf denen einem bei minus zwanzig Grad der Arsch und anderes abfror …

»Guck nicht so«, fuhr er sie an.

»Entschuldige«, sagte sie leise und senkte den Blick. Sie sah hilflos und ängstlich aus.

Rainer schämte sich. Für alles. Für die Nächte, in denen er immer noch wach lag und zitterte und den Zipfel des Kopfkissens in den Mund nahm, um darauf herumzukauen. Für seinen kaputten Fuß und die drohende Niederlage seines Landes, den Tod seiner Kameraden und die Angst davor, an die Universität zu gehen, wie Herr Tauber es sich von ihm wünschte …

Vor allem jedoch schämte er sich dafür, dass Gisela auf diese Weise den Blick von ihm abwandte.

»Entschuldige«, sagte er mechanisch. Irgendwie musste er die Situation in Ordnung bringen. Gisela sollte glücklich sein. Die Welt musste die Form behalten, die sie vor dem Krieg gehabt hatte. Er würde es hinbekommen. Ein deutscher Mann fürchtete weder Tod noch Teufel und auch keine Dämonen aus der Vergangenheit.

»Ist schon gut.« Sie musterte ihn misstrauisch. Ihr Blick sagte, dass überhaupt nichts gut war. »So kenne ich dich gar nicht.«

Rainer zwang sich zu einem Lächeln. Er spürte Herrn Taubers kritischen Blick, auch ohne dass sein Chef körperlich anwesend war. Er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren. Atemzüge zählen. Finger zählen. All das, was ihn mit dem Hier und Heute verband und die Zeit an der Front vergessen ließ.

»Was ist jetzt?«, fragte Gisela und tappte mit den Fingernägeln auf den Tresen.

Das Geräusch machte ihn aggressiv.

Er schwieg und berührte den Tresen unmerklich mit den Fingerkuppen, ohne die Hand zu bewegen. Linker Daumen, linker Zeigefinger, linker Mittelfinger …

»Rainer, so geht es nicht weiter.« Gisela seufzte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte übertrieben mitfühlend. »Ich weiß, dass du seit dem Krieg nicht mehr derselbe bist, aber …«

»Natürlich bin ich das.« Er musste sich benehmen, als ob nichts geschehen sei. So, wie er es tat, seit er zurückgekehrt war. Das Leben musste weitergehen. Der Rest der Welt war normal geblieben. Er war der Einzige, mit dem etwas nicht stimmte, und das musste er für sich behalten.

Rainer zog die Taschenuhr aus der Hosentasche, die seine Mutter ihm nach der Rückkehr aus dem Nachlass seines Vaters geschenkt hatte. »Soll ich heute ein paar Regeln brechen und die Apotheke früher abschließen? Um diese Zeit kommt ohnehin niemand mehr. Dann können wir einen Spaziergang machen.«

»Rainer! Du und ich, wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Wir wollen doch heiraten. Allmählich müssen wir darüber reden, wie du wieder normal wirst.«

Er konnte nicht glauben, dass sie es ausgesprochen hatte, und starrte sie an. »Mit mir ist alles in Ordnung.«

Er hatte überlebt. Seine Kameraden waren tot. Das war so furchtbar, dass man daran nicht denken durfte. Rainer hätte sie retten müssen. Man ließ niemanden zurück. Das tat man einfach nicht. Sie hatten gekämpft, damit es eine Heimat gab, in die die anderen zurückkehren konnten.

Und doch hatte er die anderen zurückgelassen. In irgendeinem namenlosen Grab in der russischen Steppe. Männer, die ihren Schnaps und Gedichte von Hölderlin mit ihm geteilt hatten. Er war zurückgekommen, obwohl der Krieg weiterging. Niemand würde je begreifen können, wie schuldig er sich deswegen fühlte.

Sein Mädchen hatte auf ihn gewartet. Sie wippte vor dem Tresen mit ihrem schlanken Fuß, dessen Knöchel durch das schmale Riemchen unglaublich aufreizend betont wurde, genau wie durch die aufgemalte Strumpfnaht auf der Rückseite ihrer Wade.

Beim Ringen mit den Gedanken machte er eine ungeschickte Bewegung und verlagerte zu viel Gewicht auf einmal nach rechts. Rechts war die Seite, auf der sein Fuß nur noch zur Hälfte existierte. Zur anderen Hälfte wurde der Schuh durch eine sorgfältig geschnitzte Holzprothese gefüllt. Er spürte einen stechenden Schmerz auf der Außenseite des Knöchels.

»Scheiße!«

Der Ausdruck war heraus, bevor er realisierte, dass Gisela ihn immer noch anstarrte. Beim Blick in ihre Richtung verlagerte er das Gewicht noch ungünstiger. Der Schmerz schoss hoch bis zum Knie. Er verlor das Gleichgewicht und taumelte nach hinten, gegen das Regal.

»Rainer!« Gisela streckte die Hand über den Tresen nach ihm aus. »Lass doch endlich zu, dass man dir hilft! Weißt du nicht, dass wir uns alle Sorgen um dich machen?«

»Wer ist alle?«, knurrte er.

»Deine Mutter zum Beispiel.« Gisela schluckte sichtbar. »Sie hat mir erzählt, dass du nachts nicht mehr schlafen kannst. Seit dem Krieg.«

»Sie hat was?«

Er sah die Angst und Hilflosigkeit in ihrem Blick, doch er war überfordert. In diesem Augenblick konnte er sich nicht um die Tränen kümmern, die in Giselas Augen glitzerten. Der Verrat seiner Mutter schmerzte.

Manchmal kam sie nachts in sein Zimmer und setzte sich auf den Bettrand. Dann streichelte sie Rainer über die Schulter und tat so, als merke sie nicht, wie er sich unter seinen ungeweinten Tränen und ihrer Berührung verkrampfte. Stattdessen tat sie so, als merke sie nicht, dass er noch wach war. Am nächsten Morgen benahmen sie sich, als hätte es die Berührung in der Nacht niemals gegeben.

Es war eine Sache, von der eigenen Mutter getröstet zu werden. Für die künftige Ehefrau musste er stark sein. Er war ein deutscher Mann, verdammt noch mal! Kein hilfloser Krüppel. Und er würde eine Zukunft aufbauen, in der er stark war und seine Frau beschützen konnte. Wie es sich gehörte.

»Ich komme allein zurecht«, erklärte er.

»Aber …« Gisela verstummte und schniefte leise.

Sie sollte mit dem Weinen aufhören! »Am besten, du gehst jetzt nach Hause«, sagte er und merkte selbst, wie kühl es klang.

»Aber …«

Er schloss die Augen, um die Hilflosigkeit und Verlegenheit in ihrem Blick nicht zu sehen. »Geh einfach, Gisela. Heute ist kein guter Tag zum Spazierengehen.«

Sie seufzte tief. Die Pfennigabsätze klackten auf den kalten Steinboden. Es klang, als ob Gisela damit seine Aufmerksamkeit einfordern wollte.

Rainer öffnete die Augen. Seine Verlobte blickte ihn an wie eine Gestalt gewordene Inkarnation der Germania oder Viktoria, die ihn für seine Schwäche verurteilte.

»Du musst wissen, was du willst«, sagte sie kühl. »Aber wenn du mich fragst, ist es allmählich an der Zeit, dass du aufhörst, dich selbst zu bemitleiden.«

Rainer starrte sie fassungslos an. Er biss die Zähne aufeinander, um das Stechen im Knöchel zu ignorieren, bis Gisela sich schließlich umdrehte und auf ihren Pfennigabsätzen hinausklackerte. Ihre Beine waren genauso hübsch wie der Schwung ihrer Hüften und Taille. Gisela war eindeutig die schönste Frau im Dorf. Die verbliebenen Männer beneideten Rainer zurecht.

Die Herablassung in ihren blauen Augen hatte ihn trotzdem erschüttert.

EIN NEUES ZUHAUSE

Lena erwachte wie üblich mit einem Ruck. Wie jeden Morgen überprüfte sie den Zustand der Welt, bevor sie sich bewegte. Margot lag weich und warm in ihrem Arm. Gut. Die Decke über ihnen war nicht verrutscht und ließ keine Kälte darunter. Ein herrliches Gefühl. Sie lagen auf einer weichen Matratze, keine mühsam zurechtgeschobenen Mäntel oder Decken, und die Luft biss nicht eiskalt in ihre Nasenspitze. Irgendetwas war anders als sonst. Als es ihr klar wurde, schlug sie die Augen auf und lachte ungläubig in sich hinein.

Sie hatten ein neues Zuhause!

Gestern Abend hatte die Pfarrersfrau ihnen versichert, dass sie bleiben durften. Zunächst in der Dachstube, später vielleicht auch bei Familien im Ort, wo sie sich im Austausch gegen Nahrung und Obdach um Kinder und Haushalt kümmern würden. Doch das war alles Zukunftsmusik. Fürs Erste hatten sie einen Schlafplatz, den sie nicht direkt nach dem Aufwachen räumen mussten. Gleich würde es Frühstück geben.

Licht fiel zwischen den Dachschindeln hindurch auf ihr Nachtlager. Lena streichelte Margot sanft über den Arm und flüsterte ihr das Gebet ins Ohr, das der Mann mit der Nickelbrille ihnen bei einem Besuch im Pfarrhaus der alten Heimat beigebracht hatte. Es war ein hübsches Gebet.

Eigentlich hatte der Mann mit der Nickelbrille den Vikar besucht. Er kam vorbei, um zu überprüfen, ob der Vikar gute Predigten hielt und eines Tages ein guter Pastor werden würde. Der Mann sah nett und wie ein guter Kamerad aus, kaum älter als der Vikar, aber in seinen Augen lag Feuer.