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Krankenpfleger in der Notaufnahme - nur wenige Menschen erleben tagtäglich ähnlich Spannendes und auch Kurioses. Und 'Notaufnahme' ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn aufgenommen wird jeder, der akut in Not ist - oder zumindest glaubt, es zu sein: Die Symptome reichen von Muskelkater und Vollrausch über Knochenbrüche und Darmverschluss bis hin zu schweren Verletzungen, etwa bei Unfallopfern. Und manchmal zählt jede Sekunde, um ein Menschenleben zu retten. Doch die Notaufnahme ist nicht nur ein Ort der medizinischen Hilfestellung. Sie ist zugleich ein kurzzeitiges Auffangbecken für sozial gestrandete Menschen, wo es gilt, die Grundbedürfnisse zu decken, um ein Leben ein kleines Stückchen lebenswerter zu machen. In dramatischen und manchmal auch skurrilen Situationen müssen die routinierten Pflegekräfte robust und souverän ihren Mann, respektive ihre Frau stehen und dabei immer das Wohl des Patienten im Auge behalten.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2013
Tim Benit und Anna Delegra
Vorwort
Die hier gesammelten Kurzgeschichten handeln von unseren Erfahrungen bei der Arbeit in einer Notaufnahme. Es wird von Patienten erzählt, die dringend Hilfe benötigen. Begleite uns in die bittere Realität von Menschen mit einer Erkrankung oder Verletzung, sei sie nun bewusst oder unbewusst herbeigeführt worden oder durch einen Unfall passiert. Doch in der Notaufnahme wird nicht nur medizinische Hilfe geleistet. Sie ist zugleich ein kurzzeitiges Auffangbecken für die Menschen, deren Grundbedürfnisse in dem Moment gedeckt werden müssen, um ihr Leben ein kleines Stückchen lebenswerter zu machen.
Allerhand Kuriositäten entstehen, wenn sich Körper, Geist und Seele nicht mehr im Einklang befinden. Mit ein bisschen Humor geht die Arbeit in der Notaufnahme meist leichter von der Hand. Und auch den Patienten hilft es. Manche sind nach einem Unfall im psychischen Ausnahmezustand, andere haben eine jahrelange Leidensgeschichte hinter sich oder noch vor sich oder stecken gerade mittendrin in ihrer persönlichen Lebenskrise voller Leid und Kummer. Vielen von ihnen kann man den Aufenthalt in der Notaufnahme mit etwas Zuwendung erleichtern und ihnen so ein bisschen mehr Lebensfreude geben.
Das Krankenhaus, in dem wir arbeiten, ist schon etwas älter. Der Zahn der Zeit nagt daran und das Geld fehlt. In unserem Krankenhaus prallen zudem unterschiedliche soziale Schichten aufeinander, es ist ein Treffpunkt der verschiedensten Kulturen; dies betrifft sowohl die Mitarbeiter wie auch die Patienten.
Und mittendrin wir beide, Anna und Tim. Wir sind das »Frischfleisch«, das ins Haifischbecken geworfen wurde.
Tim: Alles begann 1982, als ich im Rahmen einer geplanten Geburt das Licht der Welt erblickte. Vier Jahre später folgte Anna, auch ganz unspektakulär. Wie alle anderen stellten wir uns am Ende der Schulzeit die Frage, wie es in unserem Leben weitergehen sollte.
Ich ließ mich zunächst eher unfreiwillig auf das Experiment Zivildienst im Krankenhaus ein. Es fiel mir nicht schwer – trotz anfänglicher Schwierigkeiten damit, mit kranken Menschen konfrontiert zu sein. Während meiner Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger reizte mich dann besonders die Arbeit in der Notaufnahme. So lag es nahe, mich auch dafür zu bewerben.
Ich finde die Arbeit hier spannend und abwechslungsreich. Sie gibt mir das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Wie sieht es bei dir aus, Anna? Erzähl mal!
Anna: Nachdem ich mich in der Pubertät ausgelebt hatte, musste auch ich mir überlegen, wohin es gehen sollte. Bei einem Praktikum im Altenpflegeheim bemerkte ich, dass mir die Arbeit sehr viel Spaß macht. Während der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin fühlte ich mich dann in der Notaufnahme am richtigen Platz. Ein Wahleinsatz dort bestätigte mir das und die Entscheidung stand fest.
Tim und ich hatten ziemlich viel Glück. Eigentlich braucht man mehrere Jahre Berufserfahrung, um in einer Notaufnahme routiniert arbeiten zu können. Aber den demografischen Wandel in Deutschland spürt man überall, auch im Krankenhaus. Nachwuchs wird dringend gesucht, und so sind wir hier. Jung, lernwillig und hoch motiviert wollen wir den Alltag in einer großen Notaufnahme meistern.
Sehr zu Dank verpflichtet sind wir den vielen hilfsbereiten Kollegen aus der Pflege und den Ärzten, die uns stets Vertrauen schenken. Wir danken ihnen dafür, dass sie das Potenzial in uns sehen, uns tatkräftig zur Seite stehen, ein offenes Ohr für Fragen haben und uns anleiten.
Natürlich gibt es auchKollegen, mit denen man nicht so richtig warm wird. Trotzdem wünscht man sich ein freundliches, kollegiales Miteinander. Respekt ist wichtig! Und nach knapp acht Stunden, wenn die Schicht vorbei ist, kann man sich dann ja wieder aus dem Weg gehen – oder sich näher kennenlernen.
Doch zurück zu den Patientengeschichten. Tim, ich befürchte, manches können wir unseren Lesern nicht zumuten. Das ist keine leichte Kost.
Tim: Aber so haben wir es nun mal erlebt. Das ist eben die harte Realität. Meinst du etwa, mir gehen solche Geschichten nicht nahe? Oft lag ich nächtelang wach. Im Bett gewälzt habe ich mich, weil ich nicht schlafen konnte. Albträume plagten mich, wenn mein Gehirn versuchte, das Erlebte zu verarbeiten.
Anna: Mensch, Tim, wenn wir manche Geschichten so lassen, wird den Leuten übel werden. Wahrscheinlich werden sie das Buch zur Seite legen und nicht weiterlesen. Und genau das wollen wir doch nicht.
Tim: Ach, Anna, du machst dir mal wieder viel zu viele Gedanken und verunsicherst mich damit. Aber du hast recht.
Liebe Leserin, lieber Leser, du musst dich jetzt entscheiden. Überlege bitte genau, ob du diese Geschichten lesen möchtest. Wir können leider keine Verantwortung für deinen Gesundheitszustand übernehmen. Wenn dir von diesem Buch übel wird – kein Problem. Das geht in den meisten Fällen schnell wieder vorbei. Sollte die Übelkeit anhalten, sehen wir uns in der Notaufnahme. Bis dahin wünschen wir dir nur das Beste!
Anna und Tim
PS: In diesem Buch sind die Charaktere anonymisiert. Wir stellen keinen Bezug zu unserem Arbeitgeber oder zu Kollegen her. In die Geschichten flossen mehrere Aspekte unseres Arbeitslebens ein. Es können keine Rückschlüsse auf Patienten gezogen werden.
1. KAPITEL
Oje, Frühdienst. Schlaftrunken schlurfe ich, Tim, durch die Flure, vorbei am Wartebereich der Notaufnahme in Richtung Anmelde- und Arbeitsbeschaffungszentrale, wie ich sie nenne. Der Wartebereich ist gähnend leer.
Ich muss noch schnell einen Abstecher in den Aufenthaltsraum machen. Die Kollegen vom Nachtdienst waren hoffentlich so nett und haben schon mal Kaffee für die übermüdeten Frühdienstler gekocht.
Die Digitalanzeige meiner Uhr verrät mir, dass es 5.45 Uhr ist. Ich will in mein kuschelig warmes Bett zurück. Obwohl ich schon seit eineinhalb Stunden wach bin und sogar die öffentlichen Verkehrsmittel überlebt habe, stehe ich noch ziemlich neben der Spur.
Als ich mich am großen Kaffeeautomaten bediene, höre ich hinter mir ein vertrautes Schlurfen. Das können nur die abgenutzten Birkenstocklatschen des Oberpflegers sein. Mit seinen dunklen Augenringen sieht er so aus, wie ich mich fühle – noch nicht bereit für diesen Tag.
Nach einem anstandshalber gegrummelten »Guten Morgen« beiderseits offenbart er mir meine spezielle Tagesaufgabe: Ich soll eine neue Kollegin einarbeiten. Das passt mir gar nicht. Ich bin doch selbst erst seit einem Monat dabei, muss mich auch noch zurechtfinden. Warum soll ich denn jetzt auf einmal einer neuen Kollegin die Notaufnahme zeigen? Nur weil meine Anleiterin seit gestern Urlaub hat?
Der Oberpfleger meint, es wäre eine gute Idee, weil wir so gemeinsam lernen können. Bei Fragen stünden die Türen der anderen Mitarbeiter stets offen, man werde uns nicht hängen lassen.
Damit hat er recht. Ich hatte bisher nie das Gefühl, allein gelassen zu werden. Trotzdem bin ich nicht begeistert, vor allem, weil er es mir erst jetzt gesagt hat. Ich habe noch nicht mal an meinem Kaffee genippt und meine Laune ist bereits auf dem Tiefpunkt.
Wortlos schlurfen wir im Gleichschritt weiter zur Anmelde- und Arbeitsbeschaffungszentrale. Dort angekommen, lasse ich den Blick über eine Horde offensichtlich müder Kollegen schweifen. Ihre Mundwinkel hängen noch zu tief, um irgendeine Art von Freude erkennen zu lassen. Außer die eine da hinten in der Ecke, die mit dem fetten Grinsen – das kann nur die Neue sein.
Sie stellt sich vor: »Hallo, ich bin Anna.«
»Hallo, ich bin Tim. Ich habe eben erfahren, dass wir heute ein Team sind. Ich werde dir alles zeigen.«
Die Kollegen vom Nachtdienst wollen schnell nach Hause in ihr Bett. Die besonderen Vorfälle der vergangenen Nacht werden kurz erläutert und dann teilt der Oberpfleger die Kollegen vom Frühdienst, also der aktuellen Schicht, ein. Anna und ich arbeiten heute für den Chirurgen, den Neurologen und den Urologen.
Mist, meine Kaffeetasse ist fast schon wieder leer. Anna grinst immer noch in die Runde.
»So, Anna, dann werde ich dir erst einmal erzählen, welche Arbeitspositionen zu besetzen sind. Die Übergabe hast du ja eben mitbekommen. Ich nenne diesen Bereich, in dem wir uns gerade befinden, die Anmelde- und Arbeitsbeschaffungszentrale, weil hier eine Pflegekraft sitzt, bei der während ihrer Schicht alle Patienten angemeldet werden – sei es nun durch die Feuerwehr, den Krankentransportdienst oder über das Notfalltelefon. Außerdem gibt es noch Patienten, die vom Hausarzt eingewiesen werden oder sich selbst vorstellen. Die Pflegekraft organisiert alle anfallenden Arbeiten. Sie nimmt sämtliche Anrufe entgegen, verteilt die Aufgaben und behält den Überblick über das gesamte Geschehen während der Schicht.«
Annas ständiges Kopfnicken zeigt mir ihr Interesse. Sie stellt neugierig Fragen und grinst mich dabei immer wieder fröhlich an. Auch ich werde langsam wacher und freunde mich allmählich mit meiner anleitenden Aufgabe an. Immerhin ist Anna gut drauf – ich glaube, wir beide werden viel Spaß haben.
»Hier haben alle Ärzte einen Arbeitsplatz und die Möglichkeit, sich über die Patienten direkt auszutauschen. Hier werden die Patientenakten gesammelt, vor und nach einer Behandlung. Kurz gesagt: Hier laufen alle Fäden zusammen; das ist das Herz der Notaufnahme.«
Anna schaut mich mit großen, fragenden Augen an; sie wirkt leicht angespannt. Das breite Grinsen verschwindet langsam, wahrscheinlich weil das ganz schön viele Informationen für einen Neuling sind.
»Ich zeige dir erst einmal die Räumlichkeiten der Notaufnahme und wo du das Material zum Auffüllen findest. Das ist nämlich die erste Aufgabe im Frühdienst.«
Ich will sie behutsam in die Materie einführen, nichts überstürzen. Immerhin hatte ich es am Anfang auch nicht leicht, obwohl sich meine Anleiterin die größte Mühe gab.
Wir verlassen die Anmelde- und Arbeitsbeschaffungszentrale und laufen durch den langen Flur. Nacheinander erläutere ich Anna alle Räume.
»Also, Anna, es gibt mehrere internistische Behandlungsräume, aber auch einige chirurgische. Zu den chirurgischen Behandlungsräumen zählt unter anderem der Gipsraum. Der Schockraum kann im Notfall für Patienten sämtlicher Fachrichtungen benutzt werden. Falls eine Beatmung notwendig sein sollte, stehen im Schockraum alle Geräte für die Mitarbeiter der Anästhesie bereit. Des Weiteren gibt es einen Raum für die Neurologen, einen für die Psychiater und jeweils einen Raum für die Fachrichtungen HNO, Gynäkologie und Urologie. Außerdem haben wir einen Isolationsraum für Patienten mit ansteckenden Krankheiten und überall verteilt sogenannte Spülräume zum Entsorgen von Exkrementen und Reinigen der Bettpfannen sowie Urinflaschen. Schließlich gibt es noch den großen Lagerraum. Dort befinden sich alle Materialien, die wir innerhalb von einer Woche benötigen. Die Bestandsaufnahme und Bestellung erfolgt durch den Oberpfleger.«
Anna guckt etwas überfordert. Ich versuche, sie aufzumuntern.
»Sicherlich sind das viele Eindrücke am ersten Tag, aber du wirst mit der Zeit zurechtkommen und auch sicherer im Umgang mit Kollegen und Patienten werden. Die Routine lässt den Arbeitsalltag leichter erscheinen. So weit, so gut – jetzt werden wir uns in die Arbeit stürzen. Wenn du noch Fragen hast, kannst du sie jederzeit stellen. Der Rest ergibt sich dann beim Arbeiten.«
Anna und ich erleben gemeinsam einen Tag voller neuer Eindrücke. Da sie sehr wissbegierig ist, stellt sie auch mich immer wieder vor neue Herausforderungen – und das alles im Frühdienst.
Ich arbeite nicht so gern im Frühdienst. Das macht mich fix und fertig. Es entspricht nicht meinem Biorhythmus, ich bin erst ab zehn Uhr voll leistungsfähig. Aber Anna motiviert mich stark, weil sie mich fordert.
Gemeinsam erledigen wir unsere Tagesaufgaben. Unsere kleine Lerngruppe wird natürlich durch die erfahrenen Kollegen unterstützt. Nach acht Stunden ist alles vorbei. Ich bin total fertig. Anna hingegen lässt sich ihre Müdigkeit nicht anmerken und lächelt mich immer noch fröhlich an. Dabei weiß ich ganz genau, dass sie zu Hause völlig erschöpft ins Bett fallen wird. Ich hoffe, ich habe sie nicht überfordert und konnte mich verständlich ausdrücken.
Die nächsten Wochen, in denen wir zusammenarbeiten, sind sehr arbeitsintensiv. Aber Anna findet sich sehr schnell zurecht in der Notaufnahme.
»Anna arbeitet immer flüssiger und schon sehr selbstständig. Sie genießt einen guten Ruf unter den Kollegen. Die Probezeit wurde mit Bravour bestanden«, so würde es wahrscheinlich in ihrer Beurteilung heißen.
Aber nun soll sie selbst einmal zu Wort kommen.
*
Hallo liebe Leser, hier meldet sich Anna. Tim hat mich in der vergangenen Zeit wunderbar betreut und war immer sehr geduldig mit mir. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Mittlerweile sind ein paar Wochen vergangen und ich finde mich nun ganz gut zurecht in der Notaufnahme. Ich habe viele interessante Dinge erlebt. Aber jetzt muss ich euch unbedingt von meinem Arbeitsalltag erzählen.
Mein Wecker klingelt, ich muss aufstehen. Es ist elf Uhr, mein Wecker klingelt unermüdlich weiter und nachdem ich zum dritten Mal die Schlummertaste betätigt habe, beschließe ich aufzustehen. Ob man sich jemals an den Schichtdienst gewöhnt? Kollegen, die das bereits seit 35 Jahren mitmachen, antworten einheitlich: »Vergiss es!«, und klagen gleich im Anschluss über ihre Schlafprobleme. So bekommen sie, auch wenn sie mal keinen Frühdienst haben, nach 4.15 Uhr kein Auge mehr zu und schlagen sich, wenn schon nicht beruflich, zumindest privat die Nacht um die Ohren.
Allen Schichtarbeitern unter euch brauche ich die Vor- und Nachteile wohl nicht zu erläutern. Allen anderen kann ich nur sagen, dass chronische Schichtarbeit die Lebenserwartung um mindestens zehn Jahre verkürzt – zumindest habe ich das mal gelesen.
Während ich meine dritte Tasse Kaffee in meine Hand presse, um die Wärme zu spüren, denke ich darüber nach, ob die letzten zehn Jahre meines Lebens nun wichtig sind oder nicht. Da klingelt es an der Tür und meine Gedanken finden ein schnelles Ende. Tim holt mich heute mit dem Auto zum Spätdienst ab. Ein Luxus – das wissen alle, die sonst immer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Zum Dank drücke ich Tim einen Coffee to go in die Hand.
Wir fahren Richtung Notaufnahme. Es geht mitten durch die Stadt, vorbei an Problembezirken, wo das Autofahren den Puls hochtreibt. Tim wirkt etwas zerfahren.
Kurz nach Antritt der Fahrt sagt mein persönlicher Chauffeur plötzlich: »Schon seltsam, über was für belanglose Sachen ich mir ständig Gedanken mache. Eigentlich könnte man doch ›Kaffee für unterwegs‹ oder ›Kaffee zum Mitnehmen‹ anbieten. Da hat die Kaffeeindustrie uns schon ganz gewaltig diese neumodischen Wortschöpfungen eingeimpft, muss ich echt sagen. Oder liegt es vielleicht daran, dass man touristenfreundliche Begriffe verwenden muss, um sich am ›Kaffee für unterwegs‹-Markt behaupten zu können? Ich weiß es nicht. Aber trotzdem mache ich mir über solch einen Mist Gedanken. Egal, es gehört zu meiner Freizeit und entspannt mich. Und alles, was mich entspannt und meinen Geist erfrischt, kann nur gut sein.«
Auch ich genieße die letzten Minuten, in denen es nur um unsere privaten Belange, Politik und die Welt geht. Der Spätdienst in der Notaufnahme beginnt noch früh genug.
Auf der Arbeit gibt es erwartungsgemäß viel zu tun. Ein Rettungswagen reiht sich an den anderen. Tim und ich stehen wartend im Schockraum. Wir sind vorbereitet auf die Ankunft der angekündigten Patientin mit Luftnot, haben Handschuhe und sämtliche anderen Arbeitsmaterialien, die wir brauchen. Die Tür geht auf. Der Notarzt, Dr. Lutz Bernhard, begrüßt uns nicht. Er würdigt uns nur eines kurzen Blickes. Seine Augen suchen hektisch nach einem Ansprechpartner. Wir scheinen das wohl nicht zu sein.
Na ja, Schweigen ist Gold – oder wie war das noch mal? Es ist immer das Gleiche. Aber die Patienten sind mir wichtiger als solche zwischenmenschlichen Belanglosigkeiten.
Frau F. sieht jedenfalls nicht gut aus, es scheint ihr sehr schlecht zu gehen. Kein Wunder bei 130 Kilo Körpergewicht, verteilt auf 1,60 Meter japsendes Elend. 60 Jahre hat sie auf dem Buckel.
Schnell machen wir uns ran an den Speck. Rechts und links der Trage sitzen wir auf unseren schwarzen Drehhockern und versuchen krampfhaft, einen großen venösen Zugang in die verschwitzte, teigige Haut zu legen.
»Mist, was ist das denn?«, raunt Tim mir zu.
Erschrocken sehe ich in sein Gesicht. Oje, er guckt wahrscheinlich genauso doof aus der Wäsche wie ich. Dann wage ich einen flüchtigen Blick auf seine weiße Hose. Ein gelber Fleck! Na gut, angepullert – das passiert. Erst ist es warm, dann wird es kalt. Kneipp-Kur bei der Arbeit, das kenne ich auch. Ist nicht schön.
Tim würde sich gern umziehen, doch er kann nicht einfach aufstehen. Also muss er es ertragen.
Wir haben tapfer gekämpft und nun endlich einen venösen Zugang gelegt. Erledigt! Frau Dr. Stumpf, wo bleibt die Anordnung für die Medikamente? Ich schiebe der Internistin unserer Notaufnahme den Anordnungsbogen unter die Nase.
Sie kämpft mit ihrer Müdigkeit. So jung und schon so ausgebrannt! Dabei schätze ich sie gerade mal auf Anfang 30. Doch chronische Müdigkeit ist unter Ärzten ein weit verbreitetes Problem. Die biologische Uhr kommt völlig durcheinander. Der Alterungsprozess wird rapide beschleunigt. Das Lebensende kommt auf leisen Sohlen. Ein entschuldigender Blick ihrerseits und die angeordneten Medikamente können gegeben werden.
Frau F. bekommt alle gängigen Medikamente gegen Luftnot gespritzt, aber es tritt keine deutliche Besserung ein, mit der wir zufrieden sein könnten. Ziehen wir sie also erst einmal aus.
Es dauert eine Weile, bis wir die Brust freigelegt haben. Die meisten Menschen ziehen mit zunehmendem Alter eine Schicht mehr an – die altbewährte Zwiebeltechnik gegen Kälte. Die Anzahl der Kleidungslagen wächst also proportional zu den Lebensjahren. Das Ende bleibt jedoch immer das Gleiche: Welke Haut wird in eine hautfarbene Korsage, die gefühlt 100 Metallhaken hat, geschnürt und damit in Form gehalten.
Tim, der mit stolzer Brust behauptet, das Öffnen eines BHs mit zwei Fingern zu beherrschen, denkt, es sei ein Leichtes, dieses Kleidungsstück aufzumachen. Aber ich kann euch sagen, man unterschätzt die Spannung. Die vielen Bügel und Haken halten einiges zusammen. Die altbewährte Zweifingertechnik reicht hier nicht aus, es sei denn, man kann mit seinen Fingern auch Nüsse knacken.
Was habe ich gesagt: Tim muss natürlich kapitulieren und wieder muss frau selbst ran. Aber zurück zu unserer von Luftnot geplagten Patientin.
Gemeinsam gehen Tim und ich beherzt zur Sache, um ihr das gemusterte Krankenhaushemd über den Rücken zu ziehen. Plötzlich erstarrt Tim, schaut mich wieder mit großen Augen an und wird einen Hauch blasser um die Nase. Vorsichtig schaut er auf seine Hände und sieht das braune Glück, in das er soeben gegriffen hat. Ups!
Schnell checke ich meine Hände. Gott sei Dank, diesmal habe ich an die Handschuhe gedacht.
Zuerst sind wir pikiert, dann lachen wir kräftig. Schließlich soll man das Glück ja auf Händen tragen. Besser kann es nicht laufen.
Nur Frau F. geht es immer noch nicht besser. Ihre Haut ist bläulich lila. Alarm! Sind andere Lungenerkrankungen der Patientin bekannt? Nein. Ein laut pfeifendes Geräusch ist bei jedem Heben und Senken ihres Brustkorbs zu hören. Wir gehen erst mal vom Schlimmsten aus, möglicherweise hat sie einen Tumor im Kehlkopfbereich.
Die Internistin alarmiert Dr. Joch, den diensthabenden HNO-Arzt. Vielleicht hat er noch eine Idee.
Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass viele Menschen Berufe gewählt haben, die zu ihren Nachnamen passen, sei es nun bewusst oder unbewusst so gewählt? Ein Beispiel ist eben dieser Dr. Joch, denn auch das Jochbein gehört in seinen Fachbereich.
Jeder Mitarbeiter des Gesundheitswesens hat Vorlieben für bestimmte Fachgebiete. Aber ehrlich gesagt zählt die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde nicht zu meinen Favoriten. Und wer denkt, dass Ohrenschmerzen dramatisch sind, der täuscht sich gewaltig – es geht noch viel schlimmer.
Im Bereich des Halses gibt es zum Beispiel eine Vielzahl exulzerierender Karzinome, denen ich bei meiner Arbeit als Krankenschwester nicht unbedingt begegnen möchte. Damit ist eine bösartige Form von Krebs gemeint, der im Halsbereich undifferenziert von innen nach außen wuchert. Das ist für alle Beteiligten schrecklich und selbst beim medizinischen Personal nichts für empfindsame Gemüter. Diese Art von Krebs kann höllische Schmerzen verursachen. Der Betroffene kann kaum essen, jeder Schluckversuch wird zur Qual.
Die auffliegende Tür reißt mich – und offensichtlich auch Tim – aus den Gedanken. Herein stürmt Dr. Joch mit seinem Mobilkoffer, in dem jede Menge gruselige Instrumente verstaut sind. Mit denen kann man alle Öffnungen rund um das Gesicht untersuchen.
Ich denke mir: Wow, ein hübsches Exemplar, der Herr Doktor! Was für ein Knackarsch in dieser weißen Hose. Der kann mich auch mal näher untersuchen.
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, werde ich von ihm mit einem vielsagenden Blick begrüßt. Denk jetzt aber bloß nicht, ein weißer oder grüner Kittel könnte jedem Mann eine erotische Aura verleihen. Pustekuchen! Kleider machen nicht immer Leute.
Das Prachtexemplar von Mann holt ein Endoskop mit Lampe und eine dünne Zange, eine Art Pinzette, hervor. Hm, sieht aus wie eine Grillzange. Sie erinnert mich an das Wochenende, als ich mit meinen Freunden saftige Fleischstücke auf den Grill gehauen habe.
Dr. Erotik beugt sich über Frau F. und steckt ihr die Zange tief in den Hals. Tims und meine Aufgabe ist es, den Kopf der Patientin gut festzuhalten, damit sie nicht so viel herumwackelt. Aber Frau F. wehrt sich. Sie hat ziemliche Angst. Erst die Luftnot, die sie in Panik versetzt, und jetzt auch noch dieses schreckliche Instrument – das ist zu viel für sie. Verzweifelt windet sie ihren Kopf hin und her. Wir brauchen viel Kraft, um sie ruhigzustellen.
Ich rufe laut: »Frau F., halten Sie bitte still, damit der Doktor in Ihren Hals schauen kann! Wir wollen doch nur, dass es Ihnen besser geht!«
Frau F. ist im Gesicht rot wie eine Tomate. Sie will schreien, kann aber nicht. Jeder Versuch endet in einem beängstigend klingenden Röcheln.
Gleich hört sie auf zu atmen, denke ich und bekomme es mit der Angst zu tun. Ich habe keine Lust auf eine Reanimation. Meine Hände haben sich fest um den Kopf der Patientin gekrallt, um sie einigermaßen zu bändigen.
»Dr. Joch, beeilen Sie sich. Frau F. erstickt jeden Moment«, rufe ich.
Die »Grillzange« steckt tief in ihrem Hals. Dr. Erotik beeindruckt das Gezappel der Patientin überhaupt nicht. Er kann gut fummeln. Fein säuberlich holt er Frau F. etwas aus dem Rachen heraus. Was ist das? Es sieht aus wie Fleisch. Da steckte ihr ein riesiges Stück Leberkäse im Hals – kein Wunder, dass sie keine Luft bekam.
Lautstark und schwallartig übergibt sich die Patientin quer durch den Raum. Alle springen zur Seite. Nur einer schafft es nicht. Erinnerst du dich: Glück kommt selten allein. Aller guten Dinge sind drei. Armer Tim!
Ans Tageslicht kommt der gesamte Inhalt eines Kühlschranks: ein paar riesige Stücken Leberkäse, jede Menge Rührei, eine halbe Packung Wiener, ein paar Brocken Salami. Die reinste Fressorgie muss das gewesen sein. Das hätte für ein Picknick für das gesamte Team der Notaufnahme gereicht.
Ich stelle mich näher an Dr. Erotik heran. Er duftet herrlich nach edlem Männerparfum. Ob er mich wohl auch mal durchchecken würde?
Alle schauen gebannt auf den Überwachungsmonitor, auf dem alle Vitalzeichen unserer Patientin mit Hilfe verschiedenfarbiger Kurven angezeigt und überwacht werden. Die Sauerstoffsättigung des Blutes von Frau F. steigt von eben noch mageren 82 Prozent wieder auf 100 Prozent. Perfekt!
Die Hautfarbe der Patientin wechselt von Dunkelblau zu Rosig. Auch das beängstigende Röcheln hat aufgehört; Frau F. atmet wieder normal. Tapfer hält sie ihre Kotztüte in der linken Hand. Mit ihrer Rechten wischt sie sich den Mund mit einem kalten Lappen ab.
Während unsere Putzfrau Betty den riesigen Haufen Erbrochenes auf dem Boden mit einem »Ab morgen ist Schluss, ich suche mir einen anderen Job« beseitigt, denke ich mir: Guten Appetit!
2. KAPITEL
Mist, ich bin viel zu früh auf der Arbeit. Na ja, dann hol ich mir erst mal frische Wäsche.
Ich gehe durch die weit verzweigten Krankenhausflure und das Treppenhaus von der ersten Etage in den Keller. Dort steht unser Wäscheschrank. Auf dem Weg sehe ich in einer verspiegelten Glastür, dass es Zeit ist, den Lipgloss noch einmal aufzufrischen.
Ob Dr. Frederick heute wohl Dienst hat? Hoffentlich, denn der attraktive Unfallchirurg ist mein einziger Lichtblick. Als ich eben am Wartebereich der Notaufnahme vorbeiging, sah ich schon wieder die vielen erwartungsvollen Gesichter der Patienten.
Mit frischer Arbeitskleidung mache ich mich auf den Weg zurück zur Umkleidekabine, wieder hoch in die erste Etage. Zum Glück zieht sich dort gerade keine meiner Kolleginnen um, so kann ich meinen Gedanken noch ein paar Minuten freien Lauf lassen.
Im Durchschnitt besucht ein Mensch dreimal im Leben eine Notaufnahme. Das habe ich mal irgendwo gelesen. Ich selbst musste zum Glück noch nie in der Notaufnahme behandelt werden und kenne in meinem persönlichen Umfeld auch niemanden, der gesundheitlich schon mal in ernsthafter Gefahr schwebte.
Entgegen der Annahme vieler ist eine Notaufnahme primär für die Erstversorgung Schwerkranker und -verletzter zuständig. Aber immer wieder suchen Menschen eine Notaufnahme auf, um sich vorsorglich durchchecken zu lassen. Dabei stehen die Bezeichnungen »Erste Hilfe«, »Rettungsstelle« oder »Notaufnahme« eigentlich für sich. Sich durchchecken lassen kann man ambulant beim Hausarzt, wenn keine ernsthafte Gefahr besteht.
Viele Menschen scheint aber zu stören, dass man da so lange auf einen Termin warten oder erst einmal quer durch die Stadt muss, vor allem wenn man gleich mehrere Fachärzte besuchen möchte. In unserer schnelllebigen Gesellschaft muss alles immer sofort passieren. Also stellt man sich lieber in der Notaufnahme vor. Das scheint deutschlandweit ein Trend zu sein, egal ob einen Kopf- und Gliederschmerzen oder ein Schnupfen plagt.
Als Angestellte in einer Notaufnahme darf ich die Behandlung eines Patienten nicht ablehnen, auch wenn der Grund seines Besuchs noch so banal erscheint. Eine Blase am Finger kann einen schon quälen, ich weiß. Aber Schwerkranke und -verletzte müssen zuerst behandelt werden.
Leider verstehen Patienten mit einer Blase am Finger, einem eingerissenen Splitter oder einem Schnupfen oft nicht, warum sie so lange warten müssen. Sie meinen, sie seien ja wohl auch ein dringender Notfall.
Wie soll ich nun darauf reagieren? Soll ich sagen: »Entschuldigung, der Patient, der gerade im Behandlungsraum untersucht wird, hat ›nur‹ sein Bein verloren. Er gibt zwar nicht an, ein Notfall zu sein, aber das viele Blut würde so unschön im Wartebereich aussehen.«? Wohl kaum. Also heißt es tief durchatmen und den Unmut der anderen Patienten ertragen.
Ich denke, an dieser Stelle sind ein paar Erklärungen notwendig. Wenn ein Patient in die Notaufnahme kommt, wird er je nach Behandlungspriorität in eine bestimmte Gruppe eingestuft, und zwar nach dem Manchester-Triage-System. Dabei werden nachvollziehbare subjektive (zum Beispiel Schmerzaussage des Patienten, Bewusstseinszustand, Blutverlust) und objektive (Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung des Blutes etc.) Indikatoren beachtet, die eine erste Einschätzung seines Zustands zulassen. Die annehmende Pflegekraft notiert die Einstufung auf dem Dokumentationsbogen.
Ein Patient kann in fünf verschiedene Gruppen eingestuft werden, die mit Farben gekennzeichnet sind: rot, orange, gelb, grün und blau. Vorgegebene Tabellen zu bestimmten Krankheitsbildern und ihren entsprechenden Hauptsymptomen erleichtern dabei die Einstufung. Je nach Farbe muss ein Patient unterschiedlich lange auf seine Behandlung warten.
Bei Rot muss sofort gehandelt werden. Auch orange Fälle sind sehr dringend. Gelb bedeutet, dass dringend eine Behandlung erfolgen sollte, sie kann aber den primären Versorgungsfällen untergeordnet werden. Wer als grün eingestuft wurde, muss längere Wartezeiten in Kauf nehmen.
Blaue Patienten müssen am längsten warten. Oder sie schlafen ihren Rausch aus. Letzteres bezieht sich dann aber eher auf ihren subjektiven Zustand als auf die Eingruppierung nach dem Manchester-Triage-System. Doch Vorsicht: Man muss beachten, dass auch Betrunkene in Lebensgefahr schweben können.
Generell sollte man niemanden von vornherein in eine bestimmte Schublade stecken. Deswegen ist die Messung bestimmter Indikatoren ein guter Anhaltspunkt, um den Zustand eines Patienten einschätzen zu können. Vieles sagt einem aber auch das persönliche Bauchgefühl oder die Erfahrung, die man im Laufe der Berufsjahre gesammelt hat.
Gerade für junge Pflegekräfte mit weniger Berufserfahrung eignet sich die Einstufung nach dem Manchester-Triage-System ganz gut. Ich denke aber, dass erst das Bauchgefühl, die Erfahrung und das Manchester-Triage-System zusammen unschlagbar sind.
Wenn der Patient nach Ablauf seiner Wartefrist immer noch nicht behandelt wurde, wird er neu eingestuft. Manchmal wird er dann einer andersfarbigen Gruppe zugeordnet. Aber natürlich werden die Patienten auch kontinuierlich beobachtet, damit man schnell reagieren kann, falls es dem ein oder anderen plötzlich schlechter gehen sollte.
Ein wichtiger Grund, warum ich mich für die Arbeit in der Notaufnahme entschieden habe, ist die Abwechslung im Arbeitsalltag, ich nenne sie mal routinierte Abwechslung. Man macht zwar oft das Gleiche, trotzdem hat jede Behandlung einen anderen Hintergrund. Das ist das Spannende an meiner Arbeit.
Neben der Versorgung der Notfälle habe ich auch organisatorische Pflichten. Darunter fällt zum Beispiel das Bestücken der Behandlungsräume mit Materialien, die täglich verwendet werden. Auch die Patientenübergabe an die Kollegen der nächsten Schicht ist sehr wichtig, denn sie müssen über alles informiert werden, das aber in nur kurzer Zeit.
In den acht Stunden einer Schicht ist alles möglich. Wie beim Kartenspiel wird täglich neu gemischt. Mal erwischt man ein Ass, manchmal aber nur den Schwarzen Peter. Die Stimmung in der Notaufnahme kann innerhalb kürzester Zeit von freundlich-gelassen zu hochbrisant umschlagen. Natürlich sind alle Stimmungen dazwischen auch möglich.