Ich fühle was, was du nicht siehst - Carina Thiemann - E-Book
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Ich fühle was, was du nicht siehst E-Book

Carina Thiemann

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Beschreibung

Was würde dein Kind sagen, wenn es seine Gefühle in Worte fassen könnte?

»Carina Thiemann lädt Eltern ein, die Welt aus Sicht des Kindes zu sehen und zu denken. Sie eröffnet damit eine neue Perspektive auf den Alltag, aber auch auf viele Fragen, die aus Erwachsenensicht unlösbar scheinen.« Susanne Mierau

Carina Thiemann, Pädagogin und reichweitenstarke Gründerin von Weltvonunten, zeigt in ihrem ebenso kenntnisreichen wie einfühlsamen Buch, wie Kinder ihren Alltag erleben: der Wutanfall beim Abendessen nach einem langen Tag in der Kita, der dem Kind viel Kooperation abverlangt hat, das Trödeln beim Umziehen, weil die Gedanken des Kindes noch bei seinem letzten Spiel hängen oder auch der Protest beim Eincremen, weil die neue Creme so kalt ist und merkwürdig riecht. Durch den Perspektivwechsel spüren Eltern unmittelbar und eindringlich, was es in unserer Zeit wirklich bedeutet, Kind zu sein: Sie erkennen und verstehen die Bedürfnisse und Nöte hinter dem Verhalten ihrer Kinder, die in stressigen Alltags- und wiederkehrenden Konfliktsituationen nur selten wahrgenommen werden. Carina Thiemann zeigt praxis- und lebensnah, wie Eltern ihr Kind als Mensch im Blick behalten können, bietet Auswege aus Machtkämpfen und zeigt kreative Wege für eine friedvolle Elternschaft, die den Bedürfnissen aller Familienmitglieder gerecht wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 252

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Wärst du gerne Kind mit dir als Elternteil?

Der Wutanfall beim Abendessen nach einem langen Tag in der Kita, das Trödeln beim Umziehen, weil das Kind in Gedanken noch im Spiel ist, oder der Protest im Bad, weil die neue Creme so kalt ist: Wie auch immer sich unser Kind verhält – wenn wir die Welt durch seine Augen sehen, werden wir schnell feststellen, dass es einen guten Grund dafür hat. Es ist unsere Aufgabe als Eltern und Betreuende, uns (wortwörtlich) auf Augenhöhe zu begeben, um angemessen zu reagieren. Doch gerade unter großem Stress laufen wir Gefahr, unser Einfühlungsvermögen zu verlieren und die Bedürftigkeit unseres Kindes in vermeintlichen Trotzsituationen zu übersehen.

Hier kann ein Perspektivwechsel Augen und Herzen öffnen. Wir verstehen, wie fremdbestimmt sich unser Kind durch sein Leben bewegt und wie anstrengend das ist; wie häufig es sich um Kooperation bemüht; wie stark sich der Zeitdruck vieler Eltern auswirkt und wie verletzend unbedachte oder aus der eigenen Kindheit übernommene Äußerungen klingen: »Ist doch nicht so schlimm«, »Stell dich nicht so an«, »Immer so ein Theater mit dir«.

Dieses Buch lädt ein, einen ganz neuen Blick auf schwierige Situationen zu werfen. Carina Thiemann, Pädagogin und Gründerin von Weltvonunten, hilft uns zu verstehen, wie Kinder ihren Alltag wirklich erleben. Kluge Perspektivwechsel zeigen Eltern unmittelbar und eindringlich, was Kindsein bedeutet. So erkennen und verstehen wir in stressigen Alltags- und wiederkehrenden Konfliktsituationen endlich die Bedürfnisse und Nöte hinter dem Verhalten.

Dieses Buch zeigt praxis- und lebensnah, wie Eltern ihr Kind als Mensch im Blick behalten können, es hilft, Sorgen und Ängste in Verständnis umzuwandeln und mitfühlend, spielerisch und verständnisvoll auf ihr Kind einzugehen, es liefert einfühlsame Auswege aus Machtkämpfen und es bietet kreative Wege für eine friedvolle Elternschaft, die den Bedürfnissen aller Familienmitglieder gerecht wird.

Die Autorin

Carina Thiemann ist Erzieherin, Sozial- und Traumapädagogin sowie systemische Familientherapeutin. Sie arbeitete als Erzieherin, Sozialpädagogin und Einrichtungsleitung, u.a. in Krippe und Kindergarten, Hort, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendamt. 2021 gründete sie Weltvonunten, dem auf Instagram fast 65.0000 Menschen folgen. Als Beraterin begleitet sie weiterhin Familien und pädagogische Fachkräfte. Sie lebt mit ihrer Familie bei München.

Carina Thiemann

Ich fühle was, was du nicht siehst

Wie dein Kind die Welt erlebt und warum sich ein Perspektivwechsel für die ganze Familie lohnt

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Alle im Buch vorkommenden Personen und Einrichtungen wurden zur Wahrung des Persönlichkeitsrechts verfremdet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie Einrichtungen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Das vorliegende Buch ist sorgfältig recherchiert und erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Wir weisen darauf hin, dass dieses Buch insbesondere eine persönliche medizinische Beratung und/oder einen ärztlichen Rat nicht ersetzen kann. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gemachten Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Copyright ©2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr.Daniela Gasteiger

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Steven Meert/Moment/Getty Images; FinePic®, München

Grafiken: ©2023 Kösel Verlag, München; Grafik01 unter Verwendung einer Illustration von © Chorna L / stock.adobe.com, Grafik02 oben unter Verwendung einer Illustration von © Uchimatako / stock.adobe.com, Grafik03 unten unter Verwendung einer Illustration von © Yevheniia / stock.adobe.com

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29796-1V002

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

Wärst du gern Kind mit dir als Elternteil?

Was erwartet dich?

Die sieben Grundbedürfnisse

Kannst du nicht einfach mitmachen?

Kooperation und Widerstand

Unsichtbares sehen lernen. Das Eisbergmodell

Und was ist mit uns?

Den Autopiloten abschalten: Vier Leitfragen für herausfordernde Situationen

Bedürfnisse achten

Ist doch nicht so schlimm!

Wie Glaubenssätze die elterliche Führungsrolle beeinträchtigen

Was haben wir vom Tag des Kindes nicht gesehen?

Eine Okay-Haltung entwickeln

Glaubenssätze erkennen

Uns selbst auf Augenhöhe begegnen

Wer nicht hören will, muss fühlen!

Über Adultismus und Entwicklungstraumata

Bedürftigkeit anerkennen

Verletzungen für das ganze Leben

Traumareaktionen

Das hat uns doch auch nicht geschadet!

Perspektivwechsel und Bedürfnisse im Kontext der transgenerationalen Traumatisierung

Verhaltensmuster entschlüsseln

Die Macht der Prägung

Bedürfnisse im Familiensystem ausbalancieren

Stell dich nicht so an!

Mit Co-Regulation von der Problemtrance zur Lösungsorientierung

Das alte Reiz-Reaktions-Schema durchbrechen

Die friedvolle Lösungsleiter

Das muss ich mir von dir nicht gefallen lassen!

Über Ressourcen und Voraussetzungen

Innere Härte erkennen und loslassen

Übergänge mit dem Einsammlungsritual gestalten

Glaubenssätze auflösen, Reaktionen verändern

Wenn ich das Problem bin, bin ich auch die Lösung.

Über Blockaden

Die Big-Five-Lösungsblockaden

Dem inneren Saboteur auf der Spur

Der einzige Ausweg führt nach innen.

Über Erziehungsdifferenzen und individuelle Wege

Unterschiede reflektieren

Teufelskreise durchbrechen

Beratung und Therapie

Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Über Innere-Kind-Arbeit

Ein sanfter Weg: Die Klopftechnik

Die sieben Schritte der kombinierten Inneren-Kind-Arbeit

Anwendungsbeispiele für das Klopfen

Schluss: Das milde Herz ist ausnahmslos immer der beste Weg

Wir sind die Eltern einer neuen Generation

Ein Manifest

Danke

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wärst du gern Kind mit dir als Elternteil?

Vor einigen Jahren stolperte ich als junge Erzieherin und frische Bonusmama eines Kleinkindes über die Frage: »Wärst du gern Kind mit dir als Elternteil oder Pädagog:in?« Sie sollte mich mehr bewegen, als ich erahnen konnte. Mir fielen sofort zahlreiche Situationen ein, in denen ich darauf mit einem ganz klaren »Nein« antworten musste und die mir einen Stich versetzten, egal ob in meiner Arbeit mit Kindern oder meinem Patchwork-Familienleben: Immer wieder wurde ich unglaublich ungeduldig, teilweise sogar ungehalten, wenn die Kinder einfach nicht mitmachten. Ich schimpfte das Kind, das die Wände vollmalte, obwohl ich das doch ausdrücklich verboten hatte. Ich war genervt von dem Kind, das immer und immer wieder die Marmeladenbrot-Stückchen, die ich extra klein geschnitten hatte, auf den Boden warf. Ich fragte streng, was sich das Kind eigentlich dabei gedacht hat, die anderen mit Sand zu bewerfen. Fing es an zu weinen, kommentierte ich das mit einem »Da bist du jetzt selbst schuld!« Dabei liebte ich es doch, Zeit mit Kindern zu verbringen, und war weder eine schlechte Erzieherin noch eine Raben-Stiefmutter. Im Gegenteil, die meiste Zeit wurde ich als unglaublich zugewandt und mein Umgang als sehr herzlich erlebt.

Rückblickend hat mich diese Frage, ob ich gern Kind bei mir wäre, zum bisher spannendsten Abenteuer meines Lebens geführt. Es begann mit einem unwohlen Gefühl dabei, einem Kleinkind beim Mittagsschlaf in der Krippe immer wieder den Schnuller in den Mund zu drücken und es damit in den Schlaf zu zwingen. Weiter ging es damit, dass ich ratlos reagierte, als mich ein Kindergartenkind fragte, warum es eigentlich nicht die Rutsche von vorne hochklettern darf, wo doch keine Kinder von oben kamen und das Kind das auch sicher schaffen konnte. Ich stellte mein eigenes Verhalten Kindern gegenüber immer mehr infrage. Nachdem ich dann einen ersten Ratgeber zur bedürfnis- und beziehungsorientierten Begleitung von Kindern gelesen hatte, bekam ich eine Ahnung davon, dass es auch andere Wege gab, um Alltagskonflikte zu lösen.

Meine Neugier war geweckt. Ich tauchte ein in Hunderte von Büchern, ein schier unendliches Angebot an Impulsen auf Social Media und in den Austausch mit anderen Pädagog:innen und Eltern. In der ersten Zeit klang vieles, was ich las oder hörte, für mich wie eine Fremdsprache, doch nach und nach orientierte ich mich immer besser. Einigen dieser Ansätze konnte ich sofort mit Herz und Verstand zustimmen, andere lösten Fragezeichen oder auch Widerstände in mir aus.

Womöglich geht es dir ähnlich, wenn du zu diesem Buch greifst. Du hast auch dieses Gefühl, dass der Alltag mit Kindern entspannter und harmonischer verlaufen könnte, aber du hast noch keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Oder du hast bereits ein paar Schritte in Richtung friedvolle Elternschaft gemacht. Dann weißt du bereits, dass die Begleitung der kindlichen Gefühle in Konflikten das Beste ist, was wir tun können. Trotzdem scheiterst du immer wieder daran, wirst laut, ausfallend oder gemein. Du fragst dich oder auch dein Kind immer noch manchmal voller Verzweiflung, warum es tut, was es tut – und vor allem auch dich selbst, warum das in dir so intensive Emotionen und Reaktionen auslöst.

Diese und zahlreiche andere Fragen und Anliegen von Eltern und Fachkräften sind mir begegnet, als ich anfing, auf meinem Account @welt_von_unten in den sozialen Medien Geschichten aus der Perspektive von Kindern zu teilen und Angebote für einen friedvolleren Alltag mit Kindern zu entwickeln. Ein Schlüssel für eine liebevolle Beziehung zu unseren Kindern ist, dass wir uns emotional auf diese und ihre Sichtweise der Welt einlassen. Das ermöglicht uns, in herausfordernden Situationen umzudenken und Lösungen zu finden, die uns ohne diesen Perspektivwechsel nicht unbedingt in den Sinn kommen würden. Für mich hat die Beschäftigung mit diesem Thema zu einer weiten Reise geführt: Mittlerweile begleite ich als systemische Familientherapeutin Tausende Familien und Fachkräfte dabei, Erziehung neu zu denken und neu zu leben.

Meinen Geschichten über den Perspektivwechsel ist ein wichtiger Schritt vorausgegangen. Als bedürfnisorientierte Begleitung für mich noch ein neues Thema war, hat es mir geholfen, erst einmal einen Überblick über die Grundbedürfnisse von Kindern zu gewinnen. Denn Kinder, aber auch Erwachsene brauchen beständige und liebevolle Beziehungen, Sicherheit, individuelle und entwicklungsgerechte Erfahrungen, Grenzen und Strukturen, stabile und unterstützende Gemeinschaften sowie eine sichere Zukunft. Über diese Bedürfnisse wirst du zum Einstieg in das Buch später mehr erfahren. Sie im Hinterkopf zu haben, wird dir in konfliktreichen Situationen helfen, das Verhalten deines Kindes – und auch dein eigenes – besser zu verstehen und nach liebevollen Lösungen zu suchen. Dann können wir eine glückliche Kindheit für unsere Kinder gestalten, ohne uns dabei selbst aufgeben und eigene Bedürfnisse und Grenzen missachten zu müssen.

Was erwartet dich?

In diesem Buch habe ich das Wissen über Entwicklung und Bedürfnisse mit dem Wechsel in die Perspektive des Kindes verwoben, genauso wie ich es in meiner täglichen Arbeit mache. Meiner Erfahrung nach lässt sich beides nicht trennen. Deswegen sind in diesem Buch auch die meisten Kapitel so aufgebaut, dass du anhand von ganz praktischen Beispielen neue Erkenntnisse gewinnen kannst, in denen wir in die kindliche Perspektive wechseln. Ich erzähle Geschichten, wie sie sich täglich abspielen. Wir bewegen uns dabei jeweils weg von einer Loose-Loose-Situation, in der alle verlieren, weil das Bedürfnis deines Kindes nicht gesehen und erfüllt ist und auch du selbst frustriert und unzufrieden bist. Stattdessen gehen wir in eine Win-Win-Situation, in der sicher nicht immer alle Bedürfnisse zu hundert Prozent erfüllt sind, sich aber alle Beteiligten gesehen und wertgeschätzt fühlen. Dafür ist aus meiner Sicht als systemischer Familientherapeutin notwendig, dass wir sowohl das System um dich herum betrachten, beispielsweise deine Herkunftsfamilie, als auch das System in dir drin, wobei wir uns hierbei auf dein inneres Kind konzentrieren. Die Arbeit mit dem inneren Kind habe ich in meiner eigenen therapeutischen Selbsterfahrung sowie durch das wundervolle Buch Nimm dein inneres Kind an die Hand von Gabriela Bunz-Schlösser kennengelernt und später mit der für mich lebensverändernden Methode des Klopfens kombiniert, die ich bei Ilga Pohlmann und Regina Herzog-Visscher erleben durfte. Diese von mir als »kombinierte Innere-Kind-Arbeit« bezeichnete Methode ist eins der Herzstücke für den Erfolg zahlreicher meiner Klient:innen, weil es nicht nur die Symptome von Alltagskonflikten lindern, sondern Probleme auch an deren Wurzel auflösen kann. Wenn du neugierig geworden bist, schildere ich dir die Methode detailliert mit mehreren Anwendungsbeispielen am Ende des Buches. Zur Veranschaulichung dieser und anderer Methoden erzähle ich außerdem immer wieder Geschichten von fiktiven Klient:innen, inspiriert von den Hunderten Fällen, die ich als Beraterin und Familientherapeutin begleiten durfte.

Meine Vision mit diesem Buch ist, dich dabei zu begleiten, gute Gründe für Verhaltensweisen zu erkennen und milde im Herzen zu werden, denn ich glaube fest daran: Es gibt immer einen guten Grund, und das milde Herz ist immer die beste Antwort. Besonders milde darfst du mit dir selbst umgehen, wenn du an manchen Stellen in diesem Buch merkst, dass du in einen inneren Widerstand kommst. Gib dir ausreichend Zeit und Selbstmitgefühl, denn womöglich verbirgt sich hinter dem Widerstand entweder eine Grenze, die es zu achten, oder ein Wert, den es zu wahren gilt, oder aber ein besonderes Wachstumspotenzial, das sich entfalten kann, wenn du den Widerstand hinterfragst und abbaust.

Ein Ausdruck meines milden Herzens ist, wie ich dich in diesem Buch anspreche. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, in diesem Buch lediglich die weibliche Form zu nutzen, sondern spreche Menschen jeglicher geschlechtlichen Identität an. Ich selbst lebe in einer Regenbogenfamilie, die Werte Diversität und Vielfalt sind mir sehr wichtig. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Damit möchte ich nicht nur transparent machen, dass immer mehr Männer und Väter sich mit der eigenen und kindlichen Gefühlswelt auseinandersetzen, sondern auch alle anderen dafür begeistern und dazu einladen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

Übrigens spielt es für die Lektüre überhaupt keine Rolle, ob du dir erst noch Kinder wünschst oder bereits jüngere oder ältere Kinder hast. Vielleicht planst du aber auch gar keine eigenen Kinder, sondern begleitest sie im beruflichen oder familiären Kontext. Oder du möchtest deine eigene Kindheit reflektieren, mit der du dich schon ganz lange auseinandersetzt. Auch dann kann dir dieses Buch eine völlig neue Welt eröffnen, denn: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Lass mich dir zeigen, was das für echte und innere Kinder bedeuten und wie das ganz konkret aussehen kann.

Damit du dich gut darauf einstimmen kannst, die Welt aus der Sicht deines Kindes zu sehen, schauen wir uns nun seine Bedürfnisse – und damit auch unsere – einmal genauer an. Wenn du dein Kind beim Aufwachsen gut begleiten willst, wirst du feststellen, dass hinter jedem Verhalten ein oder mehrere Bedürfnisse stehen. Am eingängigsten fand ich die sieben Grundbedürfnisse, die der Kinderarzt T. Berry Brazelton und der Kinderpsychiater Stanley I. Greenspan formuliert haben.

Die sieben Grundbedürfnisse

1. Beständige, liebevolle Beziehungen

Kinder brauchen einen feinfühligen und achtsamen Umgang mit ihren Gefühlen und Verhaltensweisen. Für ein starkes Selbstwertgefühl ist wichtig, dass Kinder unabhängig davon, wie sie ihre Gefühle gerade zum Ausdruck bringen, lernen und spüren, dass sie okay sind, auch wenn ihr Verhalten manchmal nicht okay ist. Von Anfang an sollten Kinder also eine Trennung von Mensch und Sache erleben. Eine sichere und liebevolle Beziehung zum Kind schafft den Nährboden dafür, dass das Kind sich angenommen und willkommen auf der Welt fühlt. Es braucht mindestens eine feste Bezugsperson als sicheren Hafen, bei der es Co-Regulation erlebt, um Selbstregulation lernen zu können. Nur wenn Kinder sich zuerst von uns ernst genommen und getröstet fühlen, können sie sich selbst ernst nehmen und einen gesunden Umgang mit ihren Gefühlen und den Herausforderungen des Lebens erlernen. Ein feinfühliger Umgang bedeutet, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und grundsätzlich stimmig darauf zu reagieren. Wenn ein Kind also weint, weil das Eis auf den Boden gefallen ist, ist es sinnvoller, die Trauer des Kindes ernst zu nehmen, als das Geschehen zu verharmlosen oder davon abzulenken. Hier lohnen sich wieder der Perspektivwechsel und die Frage: Wie möchte ich, dass auf mich reagiert wird, wenn ich eine Situation als schmerzhaft erlebe? Wie ginge es mir, wenn ich beispielsweise mein Handy verlieren würde und mein:e Partner:in darauf entgegnen würde, dass man doch einfach ein neues kaufen könne?

2. Körperliche Unversehrtheit und Sicherheit

Von Geburt an sind Kinder darauf angewiesen, dass ihre körperlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Bewegung, Ruhe und Gesundheit gut versorgt werden. Wir Erwachsenen tragen außerdem die Verantwortung dafür, dass Kinder in Sicherheit sind. Bereits dieses so offensichtliche Bedürfnis kann aber zu Verunsicherung führen, da wir Bedürfnisse gegeneinander aufwiegen müssen. Ein Kind kann nicht abschätzen, wie gefährlich die befahrene Straße ist. Es will seinem Bedürfnis nach Bewegung und Spiel folgen, wenn es dem rollenden Ball hinterherläuft. Das können wir als Erwachsene jedoch nicht zulassen, da wir Kinder sonst in Gefahr bringen.

Sicherheit bedeutet zudem, dass Kinder keine Gewalt erfahren. Auch wenn wir dieser Aussage leicht zustimmen können, ist es jedoch ein sehr ambitioniertes Ziel, sie auch umzusetzen. Denn nicht nur eine Prügelstrafe oder Anschreien von Kindern ist Gewalt. Auch wenn wir trennungsbasierte Strafen wie Time-outs einsetzen, das Kind gegen seinen Willen wegtragen oder abwertende Aussagen treffen, handeln wir gewaltvoll. Bagatellisierte Gewalt gegen Kinder ist allgegenwärtig und in weiten Teilen auch noch gesellschaftsfähig.

3. Individuelle Erfahrungen

Kein Kind gleicht dem anderen. Deshalb brauchen Kinder einen individuellen Umgang mit ihren jeweiligen Bedürfnissen. Das eine Kind braucht eine Einschlafbegleitung bis ins Grundschulalter, weil es den Übergang in den Schlaf nicht allein schafft, das andere Kind fühlt sich im Familienbett unwohl und möchte seinen eigenen Schlafplatz haben. Das eine Kind geht leidenschaftlich gerne schwimmen, während das andere einem Besuch im Freibad gar nichts abgewinnen kann. Während manche Kinder darauf angewiesen sind, Routinen in ihrem Alltag zu haben, fühlen sich andere davon eingeschränkt. All das ist okay und darf sein! Kinder dürfen mit ihrer Einzigartigkeit und ihren individuellen Voraussetzungen gesehen und anerkannt sein. Für eine gesunde Entwicklung ist es wichtig, dass Kinder genügend Raum haben, ihr eigenes Temperament und ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. Wir können Kindern immer wieder Angebote machen und sie damit auf neue Ideen bringen. Wir können Kinder auch motivieren, mal etwas Neues auszuprobieren, auch wenn sie nur wenig Lust darauf haben. Doch Kinder haben immer das Recht auf eine freie Entscheidung.

4. Entwicklungsgerechte Erfahrungen

Wir dürfen darauf vertrauen, dass Kinder sich entwickeln und lernen wollen. Wir müssen sie nicht in Positionen oder Situationen drängen, die sie noch überfordern. Es reicht, ihnen immer wieder den Raum für Herausforderungen zu lassen und ihnen bestärkend zur Seite zu stehen. Ein Kind will in der Regel aus sich selbst heraus lernen, zu sitzen, zu laufen, zu sprechen, die Welt zu entdecken und mit anderen in Verbindung zu gehen. Es will Hürden überwinden und die eigene Frustrationstoleranz ausbauen. Dabei hat es sein eigenes Entwicklungstempo und seinen eigenen Plan, den es verfolgt. Die Vorstellung, dass ein sehr lebhaftes Kind im Schulalltag nicht lange genug stillsitzen kann, kann Eltern stressen. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass es eher hinderlich ist, Kinder dem System anzupassen und sie in bestimmte Formen zu pressen. Je offener wir für Individualität und Vielfalt werden, umso bunter und differenzierter kann auch unsere Gesellschaft werden. Zahlreiche Vorgaben aus Entwicklungsbögen, zahlreiche Strukturen im Bildungssystem, zahlreiche innere Überzeugungen zum Entwicklungsverlauf von Kindern entspringen weniger einer entwicklungsfördernden Haltung als vielmehr überholten Glaubenssätzen. Wir dürfen den Wandel in der Gesellschaft aus den Kernfamilien heraus vorantreiben, indem wir auf den kindlichen Eigenantrieb vertrauen und uns dafür stark machen, dass Kinder den Raum bekommen, den sie brauchen. Wenn sie dann ihrem Entwicklungsstand entsprechend gefordert und gefördert werden, meistern sie ihre Entwicklungsaufgaben mit Leichtigkeit und Freude.

5. Grenzen und Strukturen

Manche Kinder erleben Rituale, also sich wiederholende Elemente im Alltag, als Halt gebend. Solche Rituale können eine Routine beim abendlichen Zubettgehen sein, eine bindungsintensive Quality Time nach dem Kita- oder Schulbesuch oder eine festgelegte Mittagspause, in der auch die Erwachsenen sich zurückziehen. Wiederkehrende Anker im Verlauf des Tages schaffen Struktur und Sicherheit und dienen Kindern als Orientierung. Wenn Abläufe klar geregelt sind und sich dabei an den Bedürfnissen aller messen, schafft das auch für die Erwachsenen Klarheit, Halt und Entlastung. Denn wenn wir nicht mehr täglich aushandeln müssen, ob zuerst die Zähne geputzt oder ein Buch vorgelesen wird, spart man sich die Ressourcen für solche Auseinandersetzungen auf. Gleichzeitig dürfen Rituale sich auch immer wieder verändern, je nachdem, wie sie der Familie eben dienen.

Auch wenn gestern noch das Bettgehritual für alle stimmig war, kann es heute passieren, dass das Kind in den Widerstand geht oder der:die Erwachsene merkt, dass ein Zahnputz-Musical nach einem anstrengenden Tag nicht mehr drin ist. Wenn Grenzen sichtbar werden, dürfen diese wahrgenommen und akzeptiert werden. Ich behaupte, dass wir sehr stark darauf konditioniert sind, unsere eigenen Grenzen und die anderer zu überschreiten. Familien sind heutzutage häufig auf sich allein gestellt. Es braucht zwei Einkommen, um die Lebenshaltungskosten zu tragen, und viele leben in der unbewussten Annahme, all dies allein stemmen zu müssen. Nur wer etwas leistet, ist wertvoll – egal zu welchem Preis. Überstunden zu machen, sich im Elternbeirat zu engagieren und zum Nachbarschaftsfest einen selbst gebackenen Kuchen mitzubringen, mag für Anerkennung im Außen sorgen. Im Innen wird all das jedoch nur möglich sein, wenn eigene Grenzen überschritten werden.

Kinder zeigen uns in unvergleichlicher Weise und Intensität unsere eigenen Grenzen auf. Wir dürfen anfangen, diese Grenzen wahr- und ernst zu nehmen und frühzeitig darüber zu sprechen. Dabei gibt es unterschiedliche Formen von Grenzen: einerseits starre Grenzen, die unverhandelbar sind, und andererseits flexible Grenzen, bei denen das anders ist. Diese Unterscheidung eröffnet Handlungsspielräume, denn während beispielsweise das regelmäßige Zähneputzen grundsätzlich nicht verhandelbar, also eine starre Grenze ist, können Häufigkeit, Zeitpunkt und Ort durchaus verhandelbar, also eine flexible Grenze sein.

Grundsätzlich sind Grenzen weder gut noch schlecht. Manche sind sinnvoll, andere weniger. Sie existieren, und Kinder brauchen Gelegenheit, eigene Grenzen wahrzunehmen und einen Umgang mit ihnen und den Grenzen anderer zu trainieren. 

6. Stabile und unterstützende Gemeinschaften

Wir sind soziale Wesen und haben ein tiefes Bedürfnis nach Verbindung und Interaktion. Für junge Kinder haben zunächst die primären Bezugspersonen die größte Bedeutung, mit zunehmendem Alter (auch hier in individuellem Tempo und persönlicher Ausprägung) werden zusätzlich Spielpartner:innen immer wichtiger. Die Interaktion mit anderen Menschen erfordert, dass wir eigene Bedürfnisse zurückstellen, und ist somit für Kinder ein großes Lernfeld. Denn die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, sich selbst zu regulieren und Kompromisse einzugehen, erwerben wir erst nach und nach, abhängig auch von der Entwicklung des kindlichen Gehirns. Stabilität entsteht durch Verlässlichkeit und Kontinuität. Unterstützend sind Gemeinschaften dann, wenn jeder so, wie er ist, Teil des Ganzen sein darf und mit den eigenen Stärken und Schwächen angenommen und integriert wird.

7. Sichere Zukunft für die Menschheit

Wie es jedem Einzelnen von uns geht, hat Einfluss darauf, wie es der Gesellschaft und Menschheit als Ganzes geht. Wenn Kinder in Angst und mit Machtmissbrauch erzogen werden, werden sie diese Dynamiken in sich tragen und später reproduzieren. Wenn Kinder dazu gezwungen werden, sich für Fehlverhalten zu entschuldigen, obwohl sie gute Gründe hatten und das große Ganze noch nicht überblicken können, lernen sie nicht, auch auf andere zu achten, sondern sich anzupassen oder ihre Fehler besser vor Erwachsenen zu verstecken. Uns muss bewusst sein, dass wir damit, wie wir die Erziehung unserer Kinder gestalten, die Rahmenbedingungen der nachfolgenden Generationen schaffen. Wie viel Selbstwirksamkeit Kinder in ihrer Kindheit erleben, beeinflusst, wie selbstwirksam sie sich den ungewissen Herausforderungen der Zukunft gegenübersehen und behaupten werden. Auf welche Art und Weise wir gemeinsam mit Kindern nach Lösungen für Hürden oder Konflikte suchen, bahnt den Weg für die Lösungsstrategien, mit denen Kinder an künftige Probleme und Krisen herangehen werden. Deswegen ist eine feinfühlige und friedvolle Begleitung von Kindern längst nicht nur Privatangelegenheit, sondern ausschlaggebend dafür, in welcher Welt nachfolgende Generationen ihr Leben verbringen werden.

Kannst du nicht einfach mitmachen?

Kooperation und Widerstand

Wir müssen zum Bahnhof rennen, damit wir noch rechtzeitig die Bahn erwischen. Aber wir sind zu spät dran und verpassen sie. Ich schwitze und ziehe meine Mütze aus. Du schnaufst noch vom Rennen, nimmst aber sofort meine Mütze und ziehst sie mir wieder auf. Ich will das nicht! Mir ist zu warm! »Ich will das aber! Du warst gerade erst krank!« Ich habe die Mütze auf dem Kopf. Mir ist zu warm. Aber ich muss das jetzt aushalten. Du willst das so.

Wir kommen von draußen rein. Ich bin ganz durchgefroren von einem langen Spaziergang, und meine Windel ist voll. Du hilfst mir aus der Jacke und sagst: »Jetzt bekommst du erst einmal eine frische Windel!« Mir ist noch kalt, ich möchte mich erst ein wenig aufwärmen und schüttele den Kopf. »Keine Diskussion, los jetzt.« Du hebst mich auf den Wickeltisch, ich versteife mich. Mir ist kalt! Ich will nicht ausgezogen werden! »Jetzt mach doch mit, so ist es für uns beide unnötig schwer!« Ich lasse mich von dir ausziehen, obwohl ich es nicht will. Aber ich muss das jetzt aushalten. Du willst das so.

Oma und Opa sind zu Besuch. Ich spiele gern mit ihnen und habe viel Spaß. Beim Verabschieden fragt Oma: »Darf ich dir noch ein Küsschen geben?« Ich schüttele den Kopf. Du sagst: »Du willst doch die Oma nicht traurig machen!?« Oma drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich ekele mich. Aber das muss ich jetzt aushalten. Du willst das so.

Als Jugendliche will ein Klassenkamerad mich küssen. Ich finde ihn eklig. Aber du hast mir beigebracht, niemanden traurig zu machen. Ich habe gelernt, das muss ich jetzt aushalten. Die anderen wollen das so.

In unserem eng getakteten Alltag wünschen wir Eltern uns oft nichts anderes, als dass unsere Kinder einfach mitmachen und funktionieren. Wir haben unzählige Aufgaben und Sorgen im Kopf und auf dem Herzen. Stoßen wir dann auch noch auf den Widerstand unserer Kinder, sind wir oft am Ende unserer Kapazitäten. Wir wollen schließlich das Beste für sie und wir glauben, dass wir auch am besten wissen, was das ist. Oft stimmt das auch! Doch wenn wir ehrlich sind, zeigen verhärtete Fronten und Machtkämpfe wie in der Geschichte oben nicht den besten Weg dorthin. Wir können einmal weiterdenken, was unsere Kinder wirklich lernen, wenn wir ihnen mit solcher Härte und Kompromisslosigkeit begegnen. Der Kuss des Klassenkameraden gibt uns bereits eine Ahnung davon: Stellen wir uns vor, dass unsere Kinder zu Jugendlichen und Erwachsenen werden, die in Situationen kommen, in denen es gut wäre zu sagen: »Ich will das nicht«, und auch dazu zu stehen. Sollen sie dann wirklich gelernt haben, ein »Ich aber schon« zu akzeptieren? Vielleicht schleichen sich im ersten Moment bei uns altbekannte Sätze wie »Was uns nicht umbringt, macht uns stark« oder »Da muss man eben durch« ein. Wenn wir uns jedoch mit dem liebevollen und milden elterlichen Herzen verbinden, das nachhaltig das Beste für das Kind möchte, werden wir sehr sicher hinter diesen Mauern den Wunsch entdecken, dass unsere Kinder keine solchen Erfahrungen von Grenzüberschreitungen machen müssen.

Wir finden uns also vor der Herausforderung wieder, bessere Wege zu finden, wie wir als Erwachsene dafür sorgen können, dass unser Alltag so läuft, dass am Ende des Tages alle Beteiligten nicht nur satt und sicher sind, sondern sich auch gesehen, geborgen und geliebt fühlen. Damit sich kleine wie große Menschen gesehen fühlen, brauchen sie Zuwendung und Aufmerksamkeit. Der erste Schritt ist also, zunächst dem kindlichen und anschließend dem elterlichen Widerstand genau diese Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken.

Unsichtbares sehen lernen. Das Eisbergmodell

Damit wir uns für die Perspektive unseres Kindes öffnen, kann uns das sogenannte Eisbergmodell helfen. Der größte Teil eines Eisbergs befindet sich unter der Wasseroberfläche und ist für uns nicht sichtbar. Genauso ist das mit den Gedanken, Bedürfnissen und Gefühlen unseres Kindes: Das meiste davon entzieht sich unseren Blicken und ist verborgen. Wir sehen nur, was das Kind gerade tut, wie es sich uns zeigt. Dieses sichtbare Verhalten lässt uns aber oft ratlos zurück, wenn wir es isoliert betrachten: Warum will das Kind partout die Mütze nicht anziehen? Warum will es sich so gar nicht wickeln lassen? Diese Ratlosigkeit ruft wiederum Ohnmacht in uns hervor. Wir fühlen uns nicht mehr handlungsfähig. Haben wir jetzt keine souveränen und friedvollen Strategien zur Hand, bleiben uns nicht mehr viele Möglichkeiten übrig: Wir erstarren und tun nichts. Oder wir lassen unsere Werte und guten Vorsätze fallen und handeln genau entgegengesetzt zu ihnen, um überhaupt irgendetwas zu tun. In dem Fall passiert, wofür wir uns im Nachgang häufig schlecht fühlen: Wir werden laut, grob oder unfair zu unseren Kindern. Üben wir jedoch, unter die Wasseroberfläche zu schauen und das Unsichtbare und Verborgene zu erkennen, können sich uns neue Erklärungsansätze erschließen, warum unser Kind sich jetzt genau so verhält und nicht anders. Daraus entwickeln wir neue Ideen, wie wir unseren Kindern und ihren Widerständen begegnen können.

Mit dem Eisbergmodell können wir vom äußerlichen Verhalten unseres Kindes auf seine unsichtbaren Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle schließen. Wir wandern von der Spitze des Eisbergs Stück für Stück nach unten zu den verborgenen Schichten. Dafür gehen wir im Folgenden Schritt für Schritt vor und betrachten eine Ebene nach der anderen. Es ist übrigens nicht nötig, den Anspruch zu haben, das Eisbergmodell in jeder schwierigen Situation anzuwenden. Das braucht Übung, die besonders am Anfang sicher nur in entspannten Momenten und rückwirkend stattfinden kann. Je routinierter wir in der Anwendung des Eisbergmodells sind, umso schneller werden wir es irgendwann auch einsetzen können, wenn eine Situation sehr konfliktreich ist oder gerade eskaliert. Dieser neue Modus ersetzt irgendwann unsere alten, weniger hilfreichen Handlungsmuster, wodurch die friedvolle und achtsame Begleitung des Kindes mit der Zeit wie automatisch passieren und sich dadurch auch immer leichter anfühlen wird. Für den Anfang reicht es völlig aus, das Modell im Nachgang zur Reflexion von Ereignissen zu nutzen, die nicht so gelaufen sind, wie wir es uns wünschen würden. Genau aus solchen Situationen lernen wir! Du kannst während des Lesens immer wieder an deine ganz individuellen und konkreten Alltagssituationen denken, die dich in der Begleitung deines Kindes herausfordern. Damit übst du deinen neuen Blick ein. Vielleicht stoßt ihr wie in der Beispielgeschichte auch immer wieder auf Konflikte beim Anziehen oder Wickeln?

Wir beginnen im Modell ganz oben, beim kindlichen Verhalten. Wir beobachten achtsam und beschreiben es möglichst wertfrei. Allein dieser erste Schritt ist für viele von uns schon sehr herausfordernd, da wir im Alltag gewohnt sind, Dinge schnell zu bewerten. Das macht häufig auch Sinn und entlastet uns bei den vielen Entscheidungen des täglichen Lebens, da wir nicht lange nachdenken müssen, um den nächsten Schritt zu machen. Leider schränken wir über derart schnelle Reaktionen unseren Handlungsspielraum drastisch ein und laufen immer wieder auf den gewohnten und nicht immer hilfreichen Pfaden.