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Break the Cycle: Wie Eltern für ihre Kinder negative Familienmuster überwinden
Nichts konfrontiert uns schneller und stärker mit den Konflikten der Herkunftsfamilie als die Begleitung der eigenen Kinder, insbesondere in stressigen Situationen. Carina Thiemann, systemische Familientherapeutin und Gründerin des erfolgreichen Instagramkanals und Unternehmens »Weltvonunten«, hilft Eltern diesen Kreislauf zu durchbrechen und für den eigenen Nachwuchs eine unbeschwerte und liebevolle Kindheit zu gestalten.
Drohen, schimpfen, strafen, beschämen, ignorieren: Diese Anleitung für Cyclebreaker ermöglicht es Familien, Schritt für Schritt hinderliche und häufig unbewusste Verhaltensmuster und Prägungen wahrzunehmen und aufzulösen. Das Buch ermutigt Eltern mit vielen Fallbeispielen, Impulsen, Übungen und Geschichten dazu, die Gründe für ihr eigenes und das Verhalten ihrer Kinder zu verstehen und mit ganz viel Empathie für alle Familienmitglieder neue Wege im Zusammenleben zu gehen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mehr Liebe als Schmerz an die nächste Generation weitergeben durch bewusste Elternschaft
Den Kreislauf durchbrechen und eine unbeschwerte Kindheit gestalten: Diese Anleitung für Cyclebreaker ermöglicht es Familien, Schritt für Schritt hinderliche und häufig unbewusste Verhaltensmuster und Prägungen wahrzunehmen und aufzulösen. Das Buch ermutigt Eltern mit vielen Fallbeispielen, Geschichten, Impulsen und Übungen dazu, die Gründe für ihr eigenes und das Verhalten ihrer Kinder zu verstehen und mit mildem Herzen für alle Familienmitglieder neue Wege hin zu einem gelingenden Miteinander zu gehen.
CARINATHIEMANN ist systemische Kinder-, Jugend- und Familientherapeutin, Ausbilderin sowie Supervisorin. Sie arbeitete als Erzieherin, Sozial- und Traumapädagogin und Einrichtungsleitung, u.a. in Krippe und Kindergarten, Hort, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendamt. 2020 gründete sie ihr Unternehmen Weltvonunten und begleitet seitdem tausende Familien und Fachkräfte mit ihren unterschiedlichen Angeboten auf dem Weg hin zu mehr Leichtigkeit, Souveränität und Freiheit im Umgang mit echten und inneren Kindern. Ihr erstes Buch »Ich fühle was, was du nicht siehst« erschien 2023 bei Kösel. Carina Thiemann lebt mit ihrer Familie bei München.
www.weltvonunten.de
@welt_von_unten
Carina Thiemann
Wie du alte Muster durchbrichst und mit deinem Kind neue Wege gehst
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Copyright © 2025 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger
Umschlag: zero-media.net
Umschlagmotiv: Stocksy / Sergey Narevskih
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-32125-3V002
www.koesel.de
Für meine und alle KinderFür meine und alle Eltern
Einleitung: Vielleicht hat es uns doch geschadet
Dein Gepäck
Wer warst du, bevor dir gesagt wurde, wie du zu sein hast?
Spuren in Kinderseelen
Gebüschwege statt Nervenautobahnen
Was dich in diesem Buch erwartet
Kapitel 1: Kerben in Stammbäumen
Cyclebreaker-Fallen
Epigenetik
Die Chance im Problem
Die Wahrheitspolizei
Mehr als »harte Fakten«
Kapitel 2: Vom Ignorieren zum Wahrnehmen
Bedingungslos
Getrieben von deiner Leistungswunde
Wahrnehmungsfilter aus der Kindheit
Es braucht nicht mehr, sondern das Passende
Wertfreie Wahrnehmung
Die Gefühlsachterbahn des Cyclebreakings
Kapitel 3: Vom Bagatellisieren zum Paraphrasieren
Dein »Normal«
Jedes Problem war erst eine Lösung
Vom Mut, Einsicht zu zeigen
Der versteckte Nutzen
Dein Gepäck als Wegweiser
Das harte elterliche Herz
Neue Geschichten und Geschichte neu schreiben
Die Magie des Paraphrasierens
Gespräch der Eltern
Kinder
Dich selbst paraphrasieren: Nachbeeltern
Wissen von heute und Fehler von gestern
Kapitel 4: Vom Disvalidieren zum Validieren
Deine re-aktivierte Bindungshungerwunde
Die sinnvollere Alternative: Gleichzeitigkeit
Warum dich dein Kind nicht manipulieren kann
Diese Werte kämpfen in dir
Die souveränste Version deiner selbst
Gut, schlecht, wer weiß das schon?
Raus aus der beschämten Isolation
Korrigierende Erfahrungen
Kapitel 5: Vom Beschämen zur Selbstreflexion
Er-erbte Gefühle
Zwiebeln schälen
Das Ende der Tapferkeit(swunde)
Kapitel 6: Vom Bestrafen zur elterlichen Führung
Transgenerationaler Ballast
Reisevorbereitungen zur elterlichen Führungsrolle
Mit vier Leitfragen von der Kontrollwunde hin zur Klarheit
Cyclebreaker-Bonusfrage: Worum geht es noch?
Die Parentifizierungswunde und ihre Folgen
Kapitel 7: Vom Dramatisieren zum Halten
Übertragene Angst
Die »Arena« Familientisch
Die Vergeblichkeit der Perfektionswunde
Die Lösung in dir
Medienkonsum und Verbundenheit
Kapitel 8: Vom Einengen zum Wegbereiten
Welcher Schmerz gehört zu uns?
Neue Wege anstelle der Überangepasstheitswunde
Anleitung für Cyclebreaker
Hinsehen und Bewusstsein entwickeln
Familienrad für die ganze Familie
Familienrad für dein Kind
Wie lernt mein Kind eigentlich?
Erkenntnisse und Klarheit gewinnen
Circle of Influence
Genogrammarbeit
Anliegen und Zielformulierung
Bodenanker
Zusammenhänge aufdecken
Anteilearbeit
Kombinierte Innere-Kind-Arbeit
Muster durchbrechen
Glaubenssatz-Klopftechnik
Externalisierung und Aufstellungsarbeit
Schlusswort: Du bist nicht, was dir passiert ist
Manifest: Für unsere Kinder
Ein etwas anderer Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Du liegst nachts wach und grübelst, was du am Tag zuvor mit deinem Kind alles falsch gemacht hast. Du scannst jede Stunde auf genervte Reaktionen und Grenzüberschreitungen. Du machst dir Sorgen, was du damit angerichtet hast, und hast ein schlechtes Gewissen. Am nächsten Morgen rastest du trotzdem schon wenige Minuten nach dem Aufstehen wieder aus, weil dein Kind dir zu nah ist oder zu weit weg, dein*e Partner*in zu lethargisch, dein ganzes Lebensgefühl zu eng.
Du rennst durch den Tag, als ginge es um dein Leben, und merkst gleichzeitig: Du kommst nicht weiter, denn du drehst dich im Kreis. Du hältst im Alltag die vielen Bälle mit Präzision und Geschick in der Luft, während du dich immer wieder fragst: »Wofür? Wofür das alles? Was mache ich hier eigentlich?«
Doch ab und zu blitzen sie trotzdem immer wieder auf: diese kurzen Momente von Leichtigkeit, Magie und Liebe. Wenn du vor Stolz platzen möchtest über die ersten Schritte deines Kindes, das erste Bild, das erste Zeugnis. Wenn du dich verbunden fühlst, mit dir selbst, deiner Familie, dem Hier und Jetzt und der ganzen Schönheit dieser Welt. Das sind die Momente, in denen es dir gelingt, der Elternteil zu sein, der du sein möchtest. Phasenweise wärst du sogar gern Kind mit dir als Elternteil.
Doch so richtig viel Einfluss hast du nicht darauf, wie oft es diese Momente gibt. Sie wirken wie willkürliche Geschenke des Schicksals. Denn immer wieder tappst du in die Fallen alter Verhaltensweisen, die du doch eigentlich so dringend vermeiden möchtest: Dir reißt der Geduldsfaden und du beschämst dein Kind, weil es sich nicht allein anzieht. Dir fallen Sätze aus dem Mund, die du sofort bereust.
»Du bist doch kein Baby mehr!«
»Wenn du dich nicht sofort fertig machst, ist der Besuch bei Oma gestrichen!«
Deine Wut, wenn dein Kind nicht hört, treibt dich in eine Spirale aus Schimpfen und Dramatisieren.
Den Vorsatz, deinem Kind eine glücklichere und unbeschwertere Kindheit zu schenken, als du sie selbst erlebt hast, brichst du regelmäßig mit großer Sicherheit. Du denkst eigentlich auch, dass du alles dafür tust. Doch die gewünschten Ergebnisse bleiben aus. Dann fühlst du dich noch schuldiger.
Damit bist du nicht allein. Die meisten Eltern wollen ihren Kindern liebevoll, achtsam und feinfühlig begegnen. Die bedürfnisorientierte Erziehung ist mit einer Flut an Ratgebern, Blogartikeln, Instagram-Profilen und Onlineangeboten auf offene Ohren und Herzen gestoßen. Doch genau diese Eltern, die hohe Standards verfolgen, es wirklich gut mit ihren Kindern meinen und bereits einiges an Wissen gesammelt haben, scheitern permanent an ihren eigenen Ansprüchen, brennen aus oder wissen einfach nicht mehr weiter.
Eigentlich ist diesen Eltern klar, dass sie ihren Kindern auf Augenhöhe begegnen, freundlich mit ihnen sprechen und gute Lösungen für Konflikte im Familienleben finden wollen. Doch sie schaffen es einfach nicht.
Vielleicht geht es dir ähnlich. Du merkst: Es reicht nicht.
Es reicht nicht, gute Vorsätze zu haben.
Was ist das für ein scheinbarer Magnetismus, der dich immer wieder zu Verhaltensweisen und Aussagen hinzieht, die doch eigentlich deinen Werten und Ansprüchen widersprechen?
Wenn du dieses Buch in der Hand hältst, hast du wahrscheinlich schon eine Ahnung, woher dein Leidensdruck kommen könnte. Du spürst, dass du nicht die*der Erste bist, die*der schimpft, schreit und ignoriert, sondern dass dir in der Vergangenheit ein schweres Gepäck aufgeladen wurde.
Vermutlich hast auch du schon ähnliche Momente wie den oben beschriebenen mit deinem Kind erlebt, in denen du dich plötzlich angehört hast wie deine früheren Bezugspersonen aus deiner eigenen Kindheit, obwohl du doch genau das verhindern wolltest. Oder du hast dir gewünscht, emotional für dein Kind in einer schwierigen Situation verfügbar zu sein – konntest es aber einfach nicht. Es war wie verhext.
Als du mit der Geburt deines Kindes als Elternteil geboren wurdest, hat das wie bei den meisten Menschen etwas mit dir gemacht, tief innen. Es holt etwas hervor, was lange verborgen war. Dein Kind bringt dich in Berührung mit Gefühlen, die du vielleicht noch nie oder zumindest schon sehr lange nicht mehr gefühlt hast. Elternteil zu werden, bringt Erinnerungen nach oben, die lange verschüttet waren.
Wenn du an deine eigene Kindheit zurückdenkst, dann hast du entweder konkrete Erinnerungen an Verletzungen oder schwierige Zeiten oder vielleicht auch nur ein diffuses Gefühl von »Irgendetwas hat da nicht gepasst«. Manche Eltern, mit denen ich zusammenarbeite, erinnern sich sehr gut an belastende Ereignisse oder auch Traumata. Andere haben gar keinen Zugang zu Kindheitserinnerungen. Bei manchen sitzt der autoritäre Erziehungsstil der eigenen Eltern noch tief, der von Verbindungslosigkeit, Leistungsdruck und Schimpfen geprägt war. In unserer Gesellschaft wächst das Bewusstsein dafür, dass uns diese früheren Erziehungsmethoden vielleicht doch geschadet haben könnten oder zumindest Spuren hinterlassen haben, die wir uns so vielleicht nicht freiwillig ausgesucht hätten. Wir lebten lange Zeit in einer Gehorsamsgesellschaft, in der es zum guten Ton gehörte, Kinder abzuwerten, zu bestrafen, zu beschämen und ihre Gefühle zu missachten, »weil sie es ja sonst nicht lernen«.
Werte, mit denen die Generationen vor uns aufwuchsen
Deutsches Kaiserreich (ca. 1870–1918)
In der Zeit der Industrialisierung waren Familienstrukturen stark patriarchalisch. Kinder wurden als »kleine Erwachsene« betrachtet, die auf Gehorsam und Respekt getrimmt wurden. Disziplin und Fleiß galten als wichtige Tugenden.
Weimarer Republik (1918–1933)
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es Bemühungen, die Erziehung und das Bild vom Kind zu modernisieren. Erste Stimmen für eine kindgerechtere Erziehung wurden laut, darunter Maria Montessori, die Kinder als eigenständige Persönlichkeiten betrachteten, die von Geburt an kompetent und schützenswert sind.
Nationalsozialismus (1933–1945)
Mit dem Machtantritt Hitlers verherrlichte die staatliche Propaganda die »arische Familie« und setzte auf disziplinierte, soldatische, grausame und strenge Erziehung im Dienst der nationalsozialistischen Ideologie. Kinder sollten gehorsam sein und bereit, sich dem Kollektiv unterzuordnen.
Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder (1945 bis 1960er-Jahre)
In der Wiederaufbauzeit blieben alte, autoritäre Strukturen in der Erziehung bestehen. Viele Menschen waren von Gefangenschaft, Hunger, Flucht und Verlust von Angehörigen traumatisiert und emotional nicht in der Lage, ihren Kindern Verbindung und Geborgenheit zu schenken. Die Wirtschaftswunderzeit versprach Statusgewinn durch materielles Eigentum und Leistung – Werte, die Großeltern- und Elterngenerationen bis heute zutiefst prägen.
Erst in den 1970er-Jahren brach der autoritäre Konsens in der Erziehung langsam auf, aber es sollte noch bis weit in die 2000er-Jahre dauern, bis liebevolle Begleitung zum Goldstandard wurde. Und dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen.
Warum du das Gefühl hast, wie so viele Eltern an der bedürfnisorientierten Erziehung zu scheitern, liegt damit auch an der transgenerationalen Weitergabe von Interaktionsmustern, also Denkweisen, Überzeugungen, unbewussten Prägungen, Verhaltensweisen und mehr. Diese Übertragung kann gravierenden Einfluss haben. Oft ziehen sich dysfunktionale Verhaltensmuster und Beziehungsdynamiken wie ein roter Faden durch mehrere Generationen einer Familie. Der Erziehungsstil kann hierbei ein Aspekt sein. Ein anderer sind klassische Traumata wie Flucht, Krankheit oder Krieg, Erlebnisse, die unsere Vorfahr*innen zur Genüge erlebt haben. Aber auch so etwas wie häufige Beziehungsabbrüche, berufliche Misserfolge oder wiederkehrende Konflikte können Spuren hinterlassen. Diese Erlebnisse und Erfahrungen deiner Vorfahr*innen können auch bei dir wirken, in der Gegenwart.
Genau diese Tatsache ist es, die häufig mit dem Wunsch vieler Eltern, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, kollidiert: Sie wollen sich auf die Reise des glücklichen Familienlebens begeben, haben jedoch Übergepäck. Mit diesem Rucksack können sie ihre Reise zu mehr Leichtigkeit, Souveränität und Freiheit nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen antreten. Diese Einsicht nötigt Eltern, sich dem alten Gepäck, das an die Oberfläche kommt, zu stellen und die offenen Themen zu bearbeiten. Denn sie sind jetzt nicht mehr das letzte Glied der Kette.
Plötzlich bist auch du nicht mehr die letzte Generation, nicht mehr nur »Kind von«, »Frau oder Mann von«, sondern auch »Mutter oder Vater von« einem ersten oder weiteren Kindern. Jetzt ist es an dir, ob du dein Gepäck deinem Kind vererben willst – oder ob du den Kreislauf durchbrechen kannst, ein Cyclebreaker bist, der Liebe statt Schmerz weitergibt.
In diesem Buch möchte ich dir zeigen, wie du zum Cyclebreaker werden kannst und neue Wege auf eurer Familienreise findest. Auch dir kann es gelingen, aus der Enge und den scheinbar unüberwindbaren Verhaltensmustern und Beziehungsdynamiken auszubrechen und endlich das Leben zu leben, das du dir erträumst.
Als systemische Familien-, Kinder- und Jugendtherapeutin ist genau das der Kernpunkt meiner Arbeit: Ich habe Tausende Familien begleitet, in ihrem Alltag die Werte zu leben, die sie leben wollten, und sie dabei unterstützt, gut für sich und ihre Kinder zu sorgen. Mit wirklichen Werten meine ich die, die wir aus aufrichtigem Herzen und fundiertem Wissen heraus leben wollen. Sie entsprechen unserer puren Essenz, der Version von uns, die als perfektes Wesen auf die Welt gekommen ist. Doch im Laufe des Lebens kommen uns erlernte Werte, ich nenne sie auch »innere Sinnlos-Auflagen«, in die Quere und die ganzen Erfahrungen, die dich verwundet, verletzt und von dir selbst entfernt haben. Um die Kluft zwischen deinen Herzenswerten, deiner puren Essenz, und den erlernten Werten wird es in diesem Buch oft gehen.
Mein Wunsch ist, dass du dich wieder erinnerst: Wer warst du, bevor dir gesagt wurde, wie du zu sein hast?
Seit ich Weltvonunten im Jahr 2020 gegründet habe, habe ich in meinen Therapien, Gruppenangeboten, Onlinekursen und Live-Events viele Einblicke in Familiengeschichten bekommen. Ich erlebe, wie Paare in Ehekrisen geraten, sich streiten, verzweifeln oder sich überfordert fühlen. Manche verstricken sich so sehr, dass sie keinen Ausweg mehr sehen, andere erleiden tiefe Verletzungen. Doch ich sehe auch, wie sie sich versöhnen, erfolgreich neue Wege gehen, alte Lasten abwerfen und Wiedergutmachung finden. Ich möchte mich bei all den Familien bedanken, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben, mich an ihren Geschichten und Entwicklungen teilhaben lassen und die mit ihrem Mut, ihre Herausforderungen anzugehen, dafür sorgen, dass diese Welt ein friedlicherer, schönerer und verbundenerer Ort wird – insbesondere für Kinder.
Aus meiner Arbeit habe ich wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen, was die Eltern von heute in ihrer eigenen Kindheit als stärkend und was sie als schwächend erlebt haben. Welcher Umgang ihrer eigenen Eltern hat ihnen gutgetan und dazu beigetragen, dass sie ihr volles Potenzial entfalten und in Übereinstimmung mit ihrem Herzen und ihren Wünschen leben können? Welche Verhaltensweisen und Haltungen haben hingegen eher dazu geführt, dass Herzen verletzt und Beziehungen belastet wurden, sodass auf weniger gesunde Strategien zurückgegriffen werden musste?
Auf diese Fragen hin habe ich die Berichte, Herausforderungen, Erklärungsansätze und Veränderungen, deren Zeugin ich als Familientherapeutin in der Begleitung der Eltern sein durfte, systematisch untersucht. Herausgekommen sind sieben Verhaltensmuster und Beziehungsdynamiken, die sich immer wieder gezeigt haben. Sie umfassen ein breites Spektrum vom Beschämen über Gefühle bagatellisieren oder ignorieren bis zum Strafen und Einengen. Jedem dieser Interaktionsmuster habe ich ein Kapitel dieses Buches gewidmet.
Sie sind das Ergebnis unserer bisherigen Prägungen. Sie sind der Grund dafür, dass wir oft nicht die Eltern sind, die wir gerne sein möchten, und gleichzeitig sind sie der Ausdruck genau davon. Denn was wir erlebt haben und als vertraut empfinden, das geben wir – oft unbewusst – auch an unsere Kinder weiter.
Doch wie keine Generation zuvor haben wir Ressourcen und Möglichkeiten, unser Emotionsmanagement, unsere Konfliktfähigkeit und Fehlerkultur auf gesunde Beine zu stellen. Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel. Es ist an der Zeit, die Herzenswerte, die wir wirklich vertreten, endlich auch zu verinnerlichen, zu verkörpern und zu leben.
In dem Moment, in dem du zu einem Elternteil geworden bist, hast du die großartige Chance bekommen, von deinen Vorfahr*innen ererbte Schuld, Scham und andere belastende Gefühle zu verwandeln und Verantwortung zu übernehmen – für dein Kind, dich selbst und deine Geschichte. Denn dein Kind wird dich in Windeseile vor die Herausforderung der Abgrenzung stellen. Das ist das Beeindruckende am Zusammenleben mit ihnen: Sie lassen uns immer wieder unsere Werte und Ansichten hinterfragen.
So bitter es klingt und so krass es sich in der ersten Zeit auch anfühlt, es kann niemand mehr für dich diese Verantwortung übernehmen außer dir selbst. Du bist erwachsen und stehst nun vor dieser Entwicklungsaufgabe, mit all den Voraussetzungen und all dem stärkenden und schwächenden Gepäck, das du eben dabeihast. Was dir dein Leben ungemein leichter machen wird, ist die Verantwortung, die tatsächlich zu dir gehört, von den ererbten Schuldgefühlen und überhöhten Ansprüchen zu trennen.
Wir müssen nicht die Last der ganzen Gesellschaft oder unserer Ahn*innen tragen. Wir dürfen lernen, uns abzugrenzen, für uns einzustehen und nicht mehr den Fußabtreter der Gesellschaft und unserer Vorfahr*innen zu geben. Wir dürfen die Wut, die wir so oft gegenüber unseren Kindern verspüren, endlich in die Bahnen lenken, in die sie wirklich gehört. Wir dürfen aufhören, ständig unsere eigenen Grenzen zu überschreiten und Bedürfnisse hintanzustellen. Wir müssen das schlechte Gewissen nicht mehr wegschieben, das wir haben, wenn wir den Satz hören: »Unser Alltag ist ihre Kindheit.« Vielleicht ist es an der Zeit, dem schlechten Gewissen einmal bewusst und mutig entgegenzutreten und herauszufinden, welche wichtigen Botschaften es für uns hat. Und wie es uns dabei helfen kann, die Eltern zu werden, die wir gerne sein möchten.
Dafür können wir einer wichtigen Spur folgen: dem, was ich das kindliche Symptomverhalten nenne. Wenn dein Kind Verhaltensweisen zeigt, die euch als Familie zu schaffen machen, kann eine transgenerationale Verstrickung dahinterstehen. Ängste, Druck, Anspannung und viele andere Themen können übertragen werden und sich vielfältig ausdrücken: Einnässen, stark rebellisches Verhalten und Ruhelosigkeit sind nur einige Beispiele. Geschwisterrivalitäten sind eins der häufigsten Beratungsanliegen in den 1:1-Begleitungen bei Weltvonunten. In den innerfamiliären Streitigkeiten zwischen Kindern können sich Dynamiken, Konfliktmuster und noch fehlende Bewältigungsstrategien wunderbar offenbaren. Näheres wirst du in den Fallgeschichten sehen, die ich dir in den einzelnen Kapiteln erzählen werde.
Mein Blick auf das kindliche Symptomverhalten, das ich mit transgenerationalen Verstrickungen verbinde, ist eine Besonderheit meines Buches, die ich mit zahlreichen praktischen Hilfestellungen und Anregungen zur Reflexion verbinde. Dieses Symptomverhalten ist der Pfad, dem du auf einer Reise folgen kannst, um transgenerationale Verstrickungen aufzudecken, mehr Bewusstsein für bislang verdeckte Muster zu entwickeln und fundiertere Entscheidungen zu treffen. So kannst du dein Kind beim Wachsen begleiten und dabei über dich hinauswachsen.
Selbst wenn unsere Kinder sich irgendwann nicht mehr aktiv zurück erinnern können, hinterlassen wir mit allen unseren Aussagen, Blicken, Entscheidungen, Handlungen und Interaktionen Spuren in ihren Seelen. Wenn wir unseren Kindern Momente voller Geborgenheit, Sicherheit und Selbstvertrauen ermöglichen, werden sie sie tief in sich speichern. Sie werden aber auch die Verwundungen speichern. Diese Spuren wirken sich nicht nur darauf aus, wie sie die Welt und sich selbst betrachten, sondern haben, wie Donna Jackson Nakazawa in ihrem Buch Wenn die Kindheit krank macht eindrucksvoll zeigt, auch Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit, bis ins Erwachsenenalter. Unterdrückte Gefühle und traumatische Erlebnisse, zu denen auch Bindungstraumata, also genau die von mir beschriebenen Interaktionsmuster des Ignorierens, Bagatellisierens oder sonstiger emotionaler Stress gehören, können das Risiko für chronische Krankheiten im späteren Leben erheblich erhöhen. Das Buch basiert auf Forschungen zu negativen Kindheitserfahrungen und beschreibt, wie diese Erlebnisse langfristige Auswirkungen auf das Immunsystem, die Gehirnentwicklung und die Stressverarbeitung haben können. Nakazawa erklärt, dass Kindheitstraumata nicht nur zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen führen, sondern auch körperliche Beschwerden wie Autoimmunerkrankungen, Herzprobleme und chronische Schmerzen begünstigen können.
Trotz der negativen Auswirkungen von Traumata betont das Buch auch die Möglichkeit der Heilung. Mit Unterstützung, Therapie und der Entwicklung von Resilienz können Menschen die gesundheitlichen Folgen negativer Kindheitserfahrungen mindern. Als Cyclebreaker-Elternteil sorgst du also nicht nur für ein entspannteres Familienleben, sondern betreibst auch aktive Gesundheitsprävention für dein Kind. Kann es ein wertvolleres Geschenk geben als eines, das das Lebensgepäck deines Kindes leichter machen wird?
Wie bist du nicht nur im Herzen ein Cyclebreaker, sondern lebst auch so? Wie verlässt du die alten, gewohnten Reaktionsmuster oder »Nervenautobahnen«, wenn du aus deiner Prägung eher Schmerz, Leid, Drama, Missachtung, Scheitern, Beziehungsabbrüche und Gewalt kennst? Und wie suchst du dir für deine Reise stattdessen »Gebüschwege«, die zwar ungewohnt sind, aber zu Verbindung, Frieden, Freiheit, Liebe und Wachstum führen?
Aus meiner Erfahrung lässt sich der Weg auf drei Kernpunkte herunterbrechen:
1. Choose your hard
Es ist hart, sich den Schatten deiner Vergangenheit zu stellen. Genauso hart ist es jedoch, dein Familienleben ohne Selbstreflexion, ohne Hinterfragen und persönliches Wachstum zu gestalten. Choose your hard.
Erlaube dir, auch hier einmal unerschrocken zu Ende zu denken: Du wiederholst unbemerkt die Muster und Dynamiken aus deiner Familie. Aus der Theorie und meiner praktischen Arbeit als Familientherapeutin kann ich dir sagen, dass das zwangsläufig zu weiteren Verwundungen, zu Missachtung, verhärteten Fronten, belasteten Beziehungen und schließlich zur Weitergabe von Schmerz statt Liebe führt.
Beide Wege sind auf ihre Art und Weise hart. Du hast täglich die Wahl, für welchen der beiden du dich entscheidest.
2. #tunwaszutunist
Das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, ist für viele Eltern ein großer Belastungsfaktor. Doch wer Kinder liebevoll begleiten will, der kommt nicht drum herum, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Statt im ständigen inneren Widerstand zu sein, hilft eine pragmatische Haltung von #tunwaszutunist, also herausfordernde Aufgaben in Dankbarkeit und Demut anzugehen. Gleichzeitig bedeutet das nicht, sich ständig selbst zu überfordern – es kann auch ein #tunwaszutunist sein, den eigenen Unterstützungsbedarf anzuerkennen und Hilfe einzufordern.
3. Das milde Herz ist immer die beste Antwort
Für die meisten von uns ist es normal, für Fehler beschämt, ausgelacht oder gedemütigt zu werden. Es hieß zwar immer: »Es gibt keine dummen Fragen.« Doch die gab es sehr wohl und das haben wir auch deutlich zu spüren bekommen. Diese Erfahrung einer destruktiven Fehlerkultur steckt uns in den Knochen und führt dazu, dass wir uns schuldig und ohnmächtig fühlen, wenn wir uns einen Fehltritt leisten oder aus der Haut fahren. Was jedoch hilfreicher ist, als hier in Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen stecken zu bleiben oder diese zu leugnen oder zu verdrängen, ist ein mildes Herz für uns selbst. Wir dürfen eine neue Fehlerkultur etablieren und leben.
Die große Herausforderung beim Cyclebreaking ist die: Genau die Fähigkeiten, die du für eine Verhaltensänderung brauchst, sind oft durch den Stress der transgenerationalen Muster blockiert – Selbstregulation und Mitgefühl mit dir selbst beispielsweise. Und dann rasen wir doch wieder über die alten Nervenautobahnen, statt uns neue Wege durch das Unterholz zu bahnen. Für diese Mechanismen will ich dir mit meinem Buch ein Bewusstsein verschaffen, damit es dir gelingen kann, sie aufzulösen.
Mit meinem Wissen zu den transgenerationalen Interaktionsmustern, zahlreichen realen (anonymisierten und teilweise vereinfachten) Fallbeispielen und meiner Einordnung als erfahrene Familientherapeutin möchte ich dich dabei unterstützen, deinen Kindern schon viel früher stärkende Ressourcen mit auf den Weg zu geben und gar nicht erst über Jahre und Jahrzehnte in die Falle der Wiederholungen zu tappen. So kannst du als Teil der heutigen Elterngeneration nicht nur frühzeitig stärkend auf die Entwicklung und Potenzialentfaltung der Kinder von heute wirken, sondern auch dafür sorgen, dass die transgenerationale Weitergabe von Ballast endet.
Wenn es dir (noch!) schwerfällt, dich selbst zu beobachten oder deine Herzenswerte zu leben, kann es sein, dass Wunden aus deiner Kindheit dich daran hindern. Es gibt dann (noch) gute Gründe, warum es für dich sicherer oder sinnvoller ist, noch nicht zu wachsen, nicht zu reifen.
In der familientherapeutischen Begleitung von Eltern konnte ich einige solcher Wunden, wie die Bindungshungerwunde, die Leistungswunde und die Perfektionswunde, wiederkehrend beobachten und kategorisieren. Ich stelle sie dir in den einzelnen Kapiteln vor. Vermutlich entdeckst du dich in einer oder mehreren wieder. Das kann eine weitere wertvolle Spur sein, der du beim Aufdecken transgenerationaler Verstrickungen auf deiner Erkundungsreise folgen kannst.
Mit seelischen Wunden ist es ganz ähnlich wie mit körperlichen: Sie müssen versorgt werden, um zu heilen. Bleiben sie unbeachtet, können sie sich entzünden und größere Probleme verursachen. Beschämungen, die du als Kind erfahren hast, sind wie Schmutz in einer Wunde, der dafür sorgt, dass sie immer weiter eitert und nie richtig abheilt. Erfahrungen im Hier und Jetzt reaktivieren die alte Wunde und sorgen dafür, dass du dich wieder klein, hilflos und ausgeliefert fühlst wie damals.
Deswegen brauchen unsere alten Wunden, unser altes Gepäck unsere Zuwendung, damit wir für uns sortieren können, was wir davon noch behalten und vor allem, wie wir es für uns nutzen wollen. Denn vermutlich ist eine Kindheit ohne Gepäck nicht nur eine Illusion, sondern auch gar nicht so sehr das beste Ziel. Ohne Gepäck zu sein, würde auch bedeuten, nicht aus Fehlern gelernt zu haben, nicht an Herausforderungen gewachsen zu sein, nicht erkannt zu haben, dass mehr in dir steckt, als du vermutet hast.
Um deine Wunden zu versorgen und den Kreislauf der Weitergabe zu durchbrechen, kannst du ganz konkrete Schritte gehen. Aus meinen Erfahrungen heraus habe ich dir im letzten Teil des Buches eine klare Struktur und eine Anleitung für Cyclebreaker erarbeiten können, die auch dir dabei helfen wird, mehr Bewusstsein, Klarheit, Verständnis, Selbstmitgefühl, ein mildes Herz und neue Handlungsspielräume zu erlangen.
Märchen
Wie oft erzählen wir uns selbst das Märchen vom »Nicht können« …
Ich kann doch nicht zugeben oder laut aussprechen, wie erschöpft ich bin.
Oder traurig
Oder wütend
Oder verzweifelt
Oder einsam
Ich kann mich doch nicht so zeigen
Wie ich
wirklich bin
In unseren Herzen wohnt
Die tiefe Sehnsucht danach
Gesehen zu werden
Und in unseren Knochen steckt
Die große Angst genau davor
Aus Gründen!
Denn Leid
Missachtung
Härte
Schmerz
Hass
Waren und sind reale Erfahrungen
Aber weißt du was
Ich fang jetzt mal an
Mich raus aus der beschämten Isolation zu wagen
Höre auf, mir Märchen zu erzählen
Und stattdessen
Trage ich mein Leuchten in die Welt
Meine Wahrheit
Meine pure Essenz
Da, wo alle es sehen können
Schreibe ich diesen Text
So, wie ich ihn im Herzen fühle
Stattdessen werde ich zu mir selbst
auch wenn das am meisten Angst macht
Wagst du es mit mir?
Ich beobachte in der bedürfnisorientierten Begleitung von Kindern in der letzten Zeit immer häufiger den gefährlichen Trend, bestimmte Verhaltensweisen zu normalisieren und bei der Unterstellung guter Gründe aufzuhören. Das achtjährige Kind nässt regelmäßig ein? Das ist sicher nur eine Phase, »irgendwas mit der Entwicklung«. Das vierjährige Kind ist im Geschwisterstreit nicht zu bändigen? »Ist doch sicher soziales Lernen.« Das wäre in vielen Fällen nicht zu Ende gedacht, denn nicht nur das Verhalten von Kindern hat einen guten Grund, sondern auch die Bedürfnisse dahinter, die erfüllt werden wollen: wie gesehen und bedingungslos angenommen zu werden und Verbindung zu erfahren.
Um im Familienleben ganz konkrete Erleichterung und Konfliktlösungen zu erreichen, müssen wir tiefer graben: Kann das Symptomverhalten auf transgenerationale Verstrickungen und deren belastende Folgen hinweisen? Wir können uns diese Verknüpfungen wie Linien vorstellen, die von unseren Kindern zu uns, von uns zu unseren Eltern und von den Eltern zu unseren Großeltern und immer weiter reichen. Eine schöne Visualisierung dieser Verknüpfungen ist das Genogramm, das die Vorfahr*innen mehrere Generationen verbildlicht und das ich in der Anleitung für Cyclebreaker vorstelle. Über jede dieser Linien werden Informationen, Prägungen, Gefühle, Erfahrungen und mehr weitergegeben. Von Generation zu Generation landet schließlich sichtbares Symptomverhalten bei unseren Kindern.
Wenn wir nun bei der Normalisierung des kindlichen Verhaltens und beim reinen Verständnis dafür stehen bleiben, könnte das in meinen Augen fatale Folgen nicht nur für die kindliche Entwicklung, sondern für die ganze Familiendynamik haben. Auch wenn wir Verhalten und Gefühle validieren und gute Gründe dafür annehmen, ist es ein wesentlicher Aspekt elterlicher Verantwortung, bis zu den Gründen des Verhaltens vorzudringen, um Kindern eine freie Potenzialentwicklung zu ermöglichen.
Mir ist bewusst, dass es zunächst überfordern kann, wenn wir nach komplexen Gründen für das Verhalten unserer Kinder suchen sollen. Denn das bedeutet auch, dass es keine einfache Lösung gibt. Viele schätzen jedoch konkrete Anweisungen, an denen sie sich orientieren können. Das Problem daran ist, dass »Pflasterlösungen«, wie ich sie nenne, in den allermeisten Fällen nicht nachhaltig »funktionieren«. Ich vergleiche sie gerne mit Krücken, die bei einem gebrochenen Bein zwischenzeitlich das Laufen wieder möglich machen können, nicht jedoch auf die Ursache und deren Behebung abzielen.
Denn jeder Mensch ist individuell, jede Familie hat unterschiedliche Bedürfnisse. Mir scheint, dass wir in unserer heutigen Leistungsgesellschaft teilweise so starke Auflagen haben, wie wir zu funktionieren haben, dass wir das Wesentliche als anstrengend und belastend empfinden: miteinander in Verbindung zu sein, aufeinander und auf uns selbst zu achten, Freude am Zusammensein und am Leben zu empfinden. Stattdessen wollen wir einen »Quick Fix«, damit unser Leben wieder »läuft«.
Natürlich gibt es Herausforderungen im Außen und strukturelle Schwierigkeiten, mit denen Familien zu kämpfen haben und die uns das Leben schwer machen. Ich weigere mich jedoch zu akzeptieren, dass das Wohl der Kinder und die Unbeschwertheit ihrer Kindheit dafür herhalten sollen. Auch das mag aufstoßen. Umso wichtiger finde ich es, das klar und deutlich zu sagen: Kinder können nicht länger den Preis dafür zahlen, dass ihre Eltern erschöpft, überlastet oder überfordert sind und nach schnellen Lösungen suchen.
Wenn wir die Suche nach transgenerationalen Belastungen nicht länger beiseiteschieben, kann sie uns dabei helfen, die Eltern zu werden, die wir gerne sein möchten – ohne uns dabei ins eine oder andere Extrem zu stürzen. Denn auch das beobachte ich oft: Im einen Extrem priorisieren wir die Bedürfnisse des Kindes zu jeder Zeit am höchsten und bewahren das Kind vor allem. In Wirklichkeit erfüllt man sich hier eigentlich auch ein eigenes Bedürfnis, beispielsweise nach Kontrolle oder Selbstaufwertung. Im anderen Extrem bagatellisieren wir Symptomverhalten und missachten kindliche Rechte, vermeintlich im Sinne der Eltern, denen sonst alles zu viel ist.
Drei Cyclebreaker-Fallen
Auch wenn du es gut meinst und den Weg einer bewussten Elternschaft beschreitest, kannst du leicht in diese Extrem-Fallen tappen:
Überkompensation
Jedes Verhalten ist immer entweder ein Ruf nach oder Ausdruck von Liebe. Lies das noch mal! Haben deine Eltern dir sehr enge Grenzen gesetzt und dabei nicht im Blick gehabt, was du eigentlich an Freiraum und Entfaltungsmöglichkeit gebraucht hättest, könnte es sein, dass in deinem Unterbewusstsein Grenzen als etwas Schlechtes gespeichert hast.
Weil du es gern besser machen und die Fehler deiner Eltern nicht wiederholen möchtest, kann es passieren, dass du deinem Kind zu wenig Grenzen setzt. Grenzen sind immer Verhandlungssache, je nachdem, wie die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gerade sind. Je jünger ein Kind, desto weniger Bedürfnisaufschub kann es leisten und desto mehr Co-Regulation und Halt von den Eltern braucht es. Das passiert nicht nur in Verbindung, sondern auch durch liebevolle Abgrenzung.
Doch aufgrund deiner eigenen Erfahrung kennst du das Gefühl gar nicht, dass Grenzen auch Sicherheit und Halt vermitteln können. Ich sage oft zu den Familien, die ich begleite, dass es tatsächlich total unfair ist, dass sie jetzt etwas weitergeben sollen, was sie selbst gar nicht erfahren durften. Du darfst das auch bedauern und betrauern. Wie bei einem Pendel ist nur wichtig, dass du immer aus dem validierenden Fühlen, das deinen Schmerz würdigt, wieder in eine starke souveräne Erwachsenenrolle findest. Selbstführung ist hier das A und O. Mit der Pendelbewegung kannst du dich dann in die kraftvolle Haltung bringen, die du brauchst, um neue Lernerfahrungen zu machen, wie zum Beispiel die Erfahrung, dass Grenzen nicht nur einschränkend, sondern auch haltgebend sind.
Wiederholung
Bleibst du im Unklaren über deine eigene Geschichte und nutzt Wachstumschancen nicht, ist sehr wahrscheinlich, dass du im Umgang mit deinem Kind Dinge wiederholst, die du selbst erlebt hast. Das mag an einigen Stellen gut und sinnvoll sein, doch an anderen Stellen Schmerz bewirken, wo eigentlich Liebe gebraucht würde. Hier braucht es Klarheit, Wissen und den Weg heraus aus der beschämten Isolation, um andere Wege, Familie zu gestalten und zu leben, kennenzulernen.
Verleugnung
»Uns hat es doch auch nicht geschadet«, ist der klassische Satz von Menschen, die Zusammenhänge und Auswirkungen aus der Kindheit leugnen. Tief darunter verborgen ist oft einerseits eine Angst vor den Gefühlen, die aufgewirbelt werden könnten, wenn man sich selbst Fehler eingesteht. Andererseits zeigt der Satz auch eine sehr kluge Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Die wenigsten von uns haben eine gute Fehlerkultur erlernen dürfen. Dazu braucht es viel Rückgrat und ein mildes Herz, um eine mögliche Schuld aus der Vergangenheit in Verantwortung im Hier und Jetzt zu verwandeln und sich selbst zu vergeben. Deswegen betone ich immer wieder so eindringlich, dass hinter jedem Verhalten ein guter Grund steckt und wir gleichzeitig nie in unserer Entwicklung stehen bleiben sollten. So wird es möglich, Dinge wieder in Ordnung zu bringen und das Fundament für ein glückliches und zufriedenes Leben zu schaffen.
Ich weiß und glaube auch allen, dass alles zu viel ist. Doch die Abstriche bei den Kindern und in der Qualität unseres Umgangs mit ihnen zu machen, halte ich für falsch. Zu oft habe ich die Folgen solcher Entscheidungen bei erwachsenen Kindern begleitet. Zu oft habe ich bezeugt, was auch vermeintlich kleine Missachtungen für tiefe Spuren hinterlassen können, die Jahrzehnte später in der Therapie aufkommen und versorgt werden wollen.
Ich bin hier sehr klar in der Sache und doch auch milde im Zwischenmenschlichen. Denn ein solches Kippen in Extreme hat ja auch seine guten Gründe. Ich weiß um die Verunsicherung von Eltern, die so sehr alles richtig und im Sinne ihrer Kinder machen wollen. Es gibt nur eben keinen »Quick Fix« für alle. Es liegt in unserer Verantwortung, uns dieser Komplexität zu stellen, sie zu durchdringen und im Sinne aller Familienmitglieder damit umzugehen. Die inspirierenden Menschen, die ich begleite, beweisen mir täglich: Das ist möglich.
Vielleicht ist das schon ein wichtiger und transformativer Perspektivwechsel für dich: Symptomverhalten ist kein Beweis für deine elterliche Unzulänglichkeit, sondern ein Hinweisgeber für dein Wachstumspotenzial und das deiner Familie.
Im Moment mag das Symptomverhalten deines Kindes dich einfach nur anstrengen und überfordern. Oder du hältst es für normal und lebst mit der Überzeugung, dass Familie eben anstrengend ist. Vielleicht bist du auch müde und erschöpft davon, immer wieder die Bedürfnisse deines Kindes zu lesen und zu erfüllen. Doch die transgenerationalen Verstrickungen und die Aussicht darauf, Probleme wirklich an der Wurzel zu lösen, machen dich neugierig. Diese Neugier allein reicht fürs Erste, um in die Geheimnisse der transgenerationalen Weitergabe und der Gestaltung eines Familienlebens in Leichtigkeit und Souveränität einzutauchen. Das nächste Puzzleteil, das du dafür benötigst, ist Wissen über die theoretischen Erklärungsansätze.