Ich habe dich geliebt - Papst Leo XIV. - E-Book

Ich habe dich geliebt E-Book

Papst Leo XIV.

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Beschreibung

Papst Leo XIV. präsentiert mit "Ich habe dich geliebt – Dilexi te" sein erstes apostolisches Schreiben – eine leidenschaftliche geistliche Ermahnung, die die Liebe zu den Armen ins Zentrum stellt. Diese kommentierte Ausgabe erschließt den Text in seiner theologischen, ethischen und historischen Tiefe: Mit sachkundigen Anmerkungen, biblischen Querverweisen und Reflexionen zu Armut, Gerechtigkeit und kirchlicher Sendung. "Ich habe dich geliebt – Dilexi te" lädt ein, über die Mitte des Evangeliums neu nachzudenken – und die Kirche wachzurufen zu einem Dienst aus Liebe. Andreas R. Batlogg, Stefan von Kempis, Ursula Nothelle-Wildfeuer, Helmut Rakowski und Eva Maria Welskop-Deffaa ordnen das Schreiben aus theologischer, sozialer und kirchenhistorischer Sicht ein. 

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2025

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PAPST LEO XIV.

ICH HABE DICH GELIEBT

DILEXI TEÜBER DIE LIEBE ZU DEN ARMENDAS ERSTE LEHRSCHREIBEN DES PAPSTES

Herausgegeben von

Andreas R. Batlogg und

Stefan von Kempis,

Ursula Nothelle-Wildfeuer,

Helmut Rakowski

und Eva Maria Welskop-Deffaa.

Originaltitel des Apostolischen Schreibens:

Dilexi te. Esortazione apostolica del Santo Padre Leone XIV sull’amore verso i poveri

© Dicastero per la Comunicazione – Libreria Editrice Vaticana 2025

Für diese Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an

[email protected]

Umschlaggestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © Stefano Spaziani

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

ISBN Print: 978-3-451-03757-3

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-84112-5

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-84113-2

Inhalt

APOSTOLISCHE EXHORTATION DILEXI TE DES HEILIGEN VATERS LEO XIV. ÜBER DIE LIEBE ZU DEN ARMEN

ERSTES KAPITEL. EINIGE WESENTLICHE PUNKTE [4-5]

Der heilige Franziskus [6-7]

Der Schrei der Armen [8-12]

Ideologische Vorurteile [13-15]

ZWEITES KAPITEL. GOTT ERWÄHLT DIE ARMEN

Die Erwählung der Armen [16-17]

Jesus, der arme Messias [18-23]

Die Barmherzigkeit gegenüber den Armen in der Bibel [24-34]

DRITTES KAPITEL. EINE KIRCHE FÜR DIE ARMEN [35-36]

Der wahre Reichtum der Kirche [37-38]

Die Kirchenväter und die Armen [39-40]

Der heilige Johannes Chrysostomus [41-42]

Der heilige Augustinus [43-48]

Die Sorge für die Kranken [49-52]

Die Sorge für die Armen im monastischen Leben [53-58]

Die Gefangenen befreien [59-62]

Zeugen evangeliumsgemäßer Armut [63-67]

Die Kirche und die Unterweisung der Armen [68-72]

Die Begleitung der Migranten [73-75]

An der Seite der Geringsten [76-79]

Volksbewegungen [80-81]

VIERTES KAPITEL. EINE GESCHICHTE, DIE WEITERGEHT

Das Jahrhundert der Soziallehre der Kirche [82-89]

Strukturen der Sünde, die Armut und extreme Ungleichheit verursachen [90-98]

Die Armen als Subjekte [99-102]

FÜNFTES KAPITEL. EINE BESTÄNDIGE HERAUSFORDERUNG [103-104]

Noch einmal der barmherzige Samariter [105-107]

Eine unausweichliche Herausforderung für die Kirche von heute [108-114]

Geben, auch heute noch [115-121]

KOMMENTARE DER HERAUSGEBERINNEN UND HERAUSGEBER

Universale Solidarität vs. Globalisierung der Gleichgültigkeit und WegwerfkulturAndreas R. Batlogg SJ – Stefan von Kempis

Dilexi te – Eine Programmschrift Leos XIV. im Anschluss an FranziskusUrsula Nothelle-Wildfeuer

Der Umgang mit den Armen als Weg zur GeschwisterlichkeitBr. Helmut Rakowski OFMCap

Nächstenliebe vollbringt Wunder.Eva Maria Welskop-Deffaa

DIE HERAUSGEBERINNEN UND HERAUSGEBER

ANMERKUNGEN

APOSTOLISCHE EXHORTATION DILEXI TE DES HEILIGEN VATERS LEO XIV. ÜBER DIE LIEBE ZU DEN ARMEN

1. »Ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« (Offb 3,9), sagt der Herr zu einer christlichen Gemeinde, die im Gegensatz zu anderen keine Bedeutung oder Ressourcen hatte und Gewalt und Verachtung ausgesetzt war: Auch wenn »du nur geringe Kraft hast, werde ich sie kommen lassen, damit sie sich vor dir niederwerfen« (vgl. Offb 3,8-9). Dieser Text erinnert an die Worte des Lobgesangs Marias: »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen« (Lk 1,52-53).

2. Die Liebeserklärung im Buch der Offenbarung des Johannes verweist auf das unerschöpfliche Geheimnis, das Papst Franziskus in seiner Enzyklika Dilexit nos über die göttliche und menschliche Liebe des Herzens Christi vertieft hat. Darin haben wir bewundert, wie Jesus sich »mit den Geringsten der Gesellschaft« identifizierte und wie er durch seine vollendete liebende Hingabe die Würde jedes Menschen sichtbar gemacht hat, umso mehr, »je schwächer, elender und leidender er ist«.1 Die Liebe Christi zu betrachten »hilft uns, den Leiden und Nöten der anderen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und macht uns stark, an seinem Werk der Befreiung mitzuwirken, als Werkzeuge für die Verbreitung seiner Liebe«.2

3. Aus diesem Grund bereitete Papst Franziskus, in Fortsetzung der Enzyklika Dilexit nos, in den letzten Monaten seines Lebens eine Apostolische Exhortation über die Sorge der Kirche für die Armen und mit den Armen vor, die den Titel Dilexi te tragen sollte, mit dem Gedanken, dass Christus sich an jeden Einzelnen von ihnen wendet und sagt: Du hast wenig Kraft, wenig Macht, aber »ich [habe] dir meine Liebe zugewandt« (Offb 3,9). Da ich dieses Projekt gewissermaßen als Erbe erhalten habe, freue ich mich, es mir – unter Hinzufügung einiger Überlegungen – zu eigen zu machen und es noch in der Anfangsphase meines Pontifikats vorzulegen. Ich teile den Wunsch meines verehrten Vorgängers, dass alle Christen den tiefen Zusammenhang zwischen der Liebe Christi und seinem Ruf, den Armen nahe zu sein, erkennen mögen. Auch ich halte es nämlich für nötig, auf diesen Weg der Heiligung zu dringen, denn in dem »Aufruf, ihn in den Armen und Leidenden zu erkennen, offenbart sich das Herz Christi selbst, seine Gesinnung und seine innersten Entscheidungen, die jeder Heilige nachzuahmen sucht«.3

ERSTES KAPITEL

EINIGE WESENTLICHE PUNKTE [4-5]

4. Die Jünger Jesu kritisierten die Frau, die ihm ein sehr kostbares wohlriechendes Öl über das Haupt gegossen hatte: »Wozu diese Verschwendung?«, sagten sie, »Man hätte das Öl teuer verkaufen und das Geld den Armen geben können!« Aber der Herr sagte zu ihnen: »Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer« (Mt 26,8-9.11). Diese Frau hatte verstanden, dass Jesus der demütige und leidende Messias war, über den sie ihre Liebe ausgießen konnte: Was für ein Trost war dieses Salböl auf dem Haupt, das wenige Tage später unter Dornen leiden sollte! Es war zwar nur eine kleine Tat, aber wer leidet, weiß, wie groß auch eine kleine Geste der Zuneigung ist und wie viel Trost sie bringen kann. Jesus versteht das und bestätigt ihre zeitlose Gültigkeit: »Auf der ganzen Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis« (Mt 26,13). Die Einfachheit dieser Tat offenbart etwas Großes. Keine Geste der Zuneigung, auch nicht die kleinste, wird vergessen werden, besonders wenn sie denen gilt, die in Schmerz, Einsamkeit und Not sind, wie es der Herr in dieser Stunde war.

5. Und eben in dieser Perspektive verbindet sich die Liebe zum Herrn mit der Liebe zu den Armen. Jener Jesus, der sagt: »Die Armen habt ihr immer bei euch« (Mt 26,11), drückt dasselbe aus, wenn er seinen Jüngern verspricht: »Ich bin bei euch alle Tage« (Mt 28,20). Gleichzeitig kommen uns wieder die Worte des Herrn in den Sinn: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Hier geht es nicht um Wohltätigkeit, sondern um Offenbarung: Der Kontakt mit denen, die keine Macht und kein Ansehen haben, ist eine grundlegende Form der Begegnung mit dem Herrn der Geschichte. In den Armen hat er uns auch weiterhin noch etwas zu sagen.

DER HEILIGE FRANZISKUS [6-7]

6. Papst Franziskus erinnerte an die Wahl seines Namens und erzählte, dass ihn nach seiner Wahl ein befreundeter Kardinal umarmte, küsste und ihm sagte: »Vergiss die Armen nicht!«4 Es handelt sich um dieselbe Empfehlung, die die kirchlichen Autoritäten dem heiligen Paulus gaben, als er nach Jerusalem hinaufging, um seine Sendung prüfen zu lassen (vgl. Gal 2,1-10). Jahre später konnte der Apostel sagen: »Das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht« (Gal 2,10). Und das war auch die Entscheidung des heiligen Franz von Assisi: Christus selbst war es, der ihn in dem Aussätzigen umarmte und sein Leben veränderte. Die leuchtende Gestalt des Poverello wird uns stets weiter inspirieren.

7. Er war es, der vor acht Jahrhunderten eine dem Evangelium entsprechende Erneuerung unter den Christen und in der Gesellschaft seiner Zeit bewirkte. Der junge Franziskus, der zunächst reich und übermütig war, wurde durch die Begegnung mit denen, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren, neu geboren. Der von ihm ausgehende Impuls bewegt bis heute die Herzen der Gläubigen und vieler Nichtgläubiger und »hat die Geschichte verändert«.5 Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach den Worten des heiligen Paul VI. diesen Weg beschritten: »Die alte Geschichte vom barmherzigen Samariter war das Paradigma der Spiritualität des Konzils.«6 Ich bin überzeugt, dass die vorrangige Option für die Armen eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft bewirkt, wenn wir dazu fähig sind, uns von unserer Selbstbezogenheit zu befreien und auf ihren Schrei zu hören.

DER SCHREI DER ARMEN [8-12]

8. Hierzu gibt es einen Text aus der Heiligen Schrift, von dem wir immer ausgehen müssen. Es handelt sich um die Offenbarung Gottes an Mose am brennenden Dornbusch: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen […]. Und jetzt geh! Ich sende dich« (Ex 3,7-8.10).7 Gott zeigt sich in Sorge angesichts der Not der Armen: »Als sie zum Herrn schrien, setzte ihnen der Herr einen Retter ein« (vgl. Ri 3,15). Wenn wir also den Schrei der Armen hören, sind wir aufgerufen, mit dem Herzen Gottes zu fühlen, der sich um die Nöte seiner Kinder und besonders der Bedürftigsten kümmert. Bleiben wir hingegen diesem Schrei gegenüber gleichgültig, würde der Arme gegen uns zum Herrn schreien, und eine Sünde läge auf uns (vgl. Dtn 15,9), und wir würden uns vom Herzen Gottes selbst entfernen.

9. Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei, der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt. Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst. Zugleich sollten wir vielleicht besser von den vielen Gesichtern der Armen und der Armut sprechen, weil es sich um eine facettenreiche Problematik handelt. Es gibt nämlich viele Formen der Armut: die derjenigen, denen es materiell am Lebensnotwendigen fehlt, die Armut derer, die sozial ausgegrenzt sind und keine Mittel haben, um ihrer Würde und ihren Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen, die moralische und geistliche Armut, die kulturelle Armut, die Armut derjenigen, die sich in einer Situation persönlicher oder sozialer Schwäche oder Fragilität befinden, die Armut derer, die keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit haben.

10. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Engagement für die Armen und für die Beseitigung der sozialen und strukturellen Ursachen der Armut in den vergangenen Jahrzehnten zwar an Bedeutung gewonnen hat, aber nach wie vor unzureichend bleibt: Auch weil die Gesellschaften, in denen wir leben, oft Lebens- und Politikorientierungen bevorzugen, die von zahlreichen Ungleichheiten geprägt sind, und daher zu den alten Formen der Armut, deren wir uns bewusst geworden sind und die wir zu bekämpfen versuchen, neue, manchmal subtilere und gefährlichere Formen hinzukommen. Aus dieser Perspektive ist es sehr zu begrüßen, dass die Vereinten Nationen die Beseitigung der Armut zu einem der Millenniumsziele erklärt haben.

11. Mit dem konkreten Engagement für die Armen muss auch ein Mentalitätswandel einhergehen, der sich auf kultureller Ebene bemerkbar macht. Die Illusion, dass ein Leben in Wohlstand glücklich macht, führt viele Menschen nämlich zu einer Lebenseinstellung, die auf Ansammlung von Reichtum und sozialem Erfolg um jeden Preis ausgerichtet ist, auch wenn dies auf Kosten anderer geschieht und man dabei von ungerechten gesellschaftlichen Idealen bzw. politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen profitiert, die die Stärkeren begünstigen. So sehen wir in einer Welt, in der es immer mehr arme Menschen gibt, paradoxerweise auch die Zunahme einiger reicher Eliten, die in einer Blase sehr komfortabler und luxuriöser Bedingungen leben, beinahe in einer anderen Welt im Vergleich zu den einfachen Menschen. Das bedeutet, dass es nach wie vor – manchmal gut getarnt – eine Kultur gibt, die andere ausgrenzt, ohne dies überhapt zu bemerken, und die es gleichgültig hinnimmt, dass Millionen von Menschen verhungern oder unter menschenunwürdigen Bedingungen überleben. Vor ein paar Jahren sorgte das Foto eines leblosen Kindes an einem Mittelmeerstrand für erhebliches Aufsehen; leider werden derartige Vorkommnisse, von einer kurzzeitigen Gefühlsregung abgesehen, immer mehr zu irrelevanten Randnotizen.

12. Wir dürfen im Hinblick auf die Armut nicht unachtsam werden. Besonders besorgen uns die gravierenden Umstände, in denen sich sehr viele Menschen wegen Nahrungs- und Wassermangels befinden. Jeden Tag sterben Tausende von Menschen an den Folgen von Unterernährung. Auch in den reichen Ländern sind die Zahlen der Armen nicht weniger besorgniserregend. In Europa gibt es immer mehr Familien, die mit ihrem Einkommen nicht bis zum Monatsende auskommen. Generell ist eine Zunahme verschiedener Formen der Armut zu beobachten. Armut ist nicht mehr als ein einheitlicher Zustand zu verstehen, sondern äußert sich in vielfältigen Formen wirtschaftlicher und sozialer Verarmung und spiegelt das Phänomen wachsender Ungleichheit auch in allgemein wohlhabenden Lebensumfeldern wider. Wir erinnern daran: »Doppelt arm sind die Frauen, die Situationen der Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden, denn oft haben sie geringere Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen. Und doch finden wir auch unter ihnen fortwährend die bewundernswertesten Gesten eines täglichen Heroismus im Schutz und in der Fürsorge für die Gebrechlichkeit in ihren Familien.«8 Obwohl in einigen Ländern wichtige Veränderungen zu beobachten sind, sind »die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer. Mit Worten behauptet man bestimmte Dinge, aber die Entscheidungen und die Wirklichkeit schreien eine andere Botschaft heraus«,9 vor allem wenn man an die ärmsten Frauen denkt.

IDEOLOGISCHE VORURTEILE [13-15]

13. Jenseits der Daten – die manchmal so »interpretiert« werden, dass man glauben könnte, die Situation der Armen sei gar nicht so schlimm –, ist die allgemeine Lage ziemlich klar: »Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich für das Wachstum als wirksam erwiesen haben, aber nicht für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Der Reichtum ist gewachsen, aber ohne Gerechtigkeit, und so entsteht neue Armut. Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert hat, dann misst man sie mit Kriterien aus anderen Epochen, die mit der heutigen Realität nicht vergleichbar sind. In anderen Zeiten galt beispielsweise der fehlende Zugang zu Elektrizität nicht als Zeichen von Armut und war kein Grund für große Not. Armut wird immer im Kontext der realen Möglichkeiten eines konkreten historischen Moments analysiert und verstanden.«10 Jenseits von besonderen und kontextbezogenen Situationen wurde 1984 in einem Dokument der Europäischen Gemeinschaft festgestellt, dass »verarmte Personen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen [sind], die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist«.11 Wenn wir jedoch anerkennen, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geburtsort die gleiche Würde haben, dürfen wir die großen Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen nicht außer Acht lassen.

14. Die Armen gibt es nicht zufällig oder aufgrund eines blinden und bitteren Schicksals. Noch weniger ist Armut für die meisten von ihnen eine freie Entscheidung. Und doch gibt es immer noch Personen, die dies behaupten und damit ihre Blindheit und Grausamkeit offenbaren. Natürlich gibt es unter den Armen auch solche, die nicht arbeiten wollen, vielleicht weil ihre Vorfahren, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, in Armut gestorben sind. Aber es gibt viele – Männer und Frauen –, die dennoch von morgens bis abends arbeiten, vielleicht Kartons sammeln oder ähnliche Tätigkeiten ausüben, obwohl sie wissen, dass diese Anstrengungen nur dem Überleben dienen und ihr Leben nicht wirklich verbessern werden. Wir dürfen nicht sagen, dass die meisten Armen arm sind, weil sie sich keine »Verdienste« erworben haben gemäß jener falschen Vorstellung der Meritokratie, nach der scheinbar nur diejenigen Verdienste haben, die im Leben erfolgreich gewesen sind.

15. Auch Christen lassen sich oft von weltlichen Ideologien oder politischen und wirtschaftlichen Orientierungen anstecken, die zu ungerechten Verallgemeinerungen und abwegigen Schlussfolgerungen führen. Die Tatsache, dass praktizierte Nächstenliebe verachtet oder lächerlich gemacht wird, als handle es sich um die Fixierung einiger weniger und nicht um den glühenden Kern der kirchlichen Sendung, bringt mich zu der Überzeugung, dass wir das Evangelium immer wieder neu lesen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, dass eine weltliche Gesinnung an seine Stelle tritt. Wenn wir nicht aus dem lebendigen Strom der Kirche herausfallen wollen, der dem Evangelium entspringt und jeden Moment der Geschichte fruchtbar werden lässt, dürfen wir auf gar keinen Fall die Armen vergessen.

ZWEITES KAPITEL

GOTT ERWÄHLT DIE ARMEN

DIE ERWÄHLUNG DER ARMEN [16-17]

16. Gott ist barmherzige Liebe, und sein Heilsplan der Liebe, der sich über die Geschichte erstreckt und sich in ihr verwirklicht, besteht vor allem darin, dass er zu uns hinabgestiegen und mitten unter uns gewesen ist, um uns von der Knechtschaft, von den Ängsten, von der Sünde und von der Macht des Todes zu befreien. Mit barmherzigem Blick und mit einem Herzen voller Liebe hat er sich seinen Geschöpfen zugewandt und sich ihrer menschlichen Bedingtheit und damit ihrer Armut angenommen. Er ist selbst arm geworden, gerade um die Beschränkungen und Schwächen unserer menschlichen Natur zu teilen. Er ist wie wir im Fleisch geboren, und wir haben ihn in der Kleinheit eines in eine Krippe gelegten Kindes sowie in der äußersten Erniedrigung des Kreuzes gesehen, wo er unsere radikale Armut geteilt hat, welche der Tod ist. Es ist also gut nachvollziehbar, warum man auch theologisch von einer vorrangigen Option Gottes für die Armen sprechen kann, ein Ausdruck, der im Kontext Lateinamerikas, speziell bei der Vollversammlung von Puebla, aufgekommen ist, der aber im nachfolgenden Lehramt der Kirche gut integriert ist.12 Diese »Präferenz« stellt niemals eine Ausgrenzung oder Diskriminierung anderer Gruppen dar, was bei Gott unmöglich wäre. Sie soll vielmehr das Handeln Gottes betonen, der voller Mitgefühl für die Armut und die Schwäche der ganzen Menschheit ist: Indem er ein Reich der Gerechtigkeit, der Geschwisterlichkeit und der Solidarität errichten will, trägt er insbesondere diejenigen im Herzen, die diskriminiert und unterdrückt werden, und er fordert auch von uns, seiner Kirche, eine entschiedene und radikale Parteinahme für die Schwächsten.

17. In diesem Zusammenhang sind die zahlreichen Stellen des Alten Testaments zu verstehen, in denen Gott als Freund und Befreier der Armen dargestellt wird, als derjenige, der den Schrei des Armen hört und eingreift, um ihn zu befreien (vgl. Ps 34,7). Gott, die Zuflucht der Armen, prangert durch die Propheten – denken wir besonders an Amos und Jesaja – die Ungerechtigkeiten gegenüber den Schwächsten an und ermahnt Israel, auch den Kult von innen heraus zu erneuern: Denn man kann nicht beten und Opfer darbringen, während man die Schwächsten und Ärmsten unterdrückt. Von Anfang an macht die Heilige Schrift die Liebe Gottes durch den Schutz der Schwachen und Bedürftigen mit solcher Intensität sichtbar, dass man von einer Art »Schwäche« Gottes ihnen gegenüber sprechen könnte. »Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen […]. Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt.«13

JESUS, DER ARME MESSIAS [18-23]

18. Die gesamte alttestamentliche Geschichte der Vorliebe Gottes für die Armen und des göttlichen Wunsches, auf ihren Schrei zu hören – an die ich kurz erinnert habe –, findet in Jesus von Nazaret ihre volle Verwirklichung.14 In seiner Menschwerdung »entäußerte [er] sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen« (Phil 2,7) und in dieser Gestalt wirkte er unser Heil. Es handelt sich um eine radikale Armut, die auf seiner Sendung beruht, das wahre Antlitz der göttlichen Liebe zu offenbaren (vgl. Joh 1,18; 1 Joh 4,9). Daher kann der heilige Paulus in einer seiner wunderbaren Zusammenfassungen sagen: »Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2 Kor 8,9).

19. Tatsächlich zeigt das Evangelium, dass diese Armut jeden Aspekt seines Lebens betraf. Seit seinem Kommen in diese Welt erlebte Jesus Schwierigkeiten, die etwas mit Ablehnung zu tun haben. Der Evangelist Lukas berichtet von der Ankunft Josefs und Marias, die kurz vor der Geburt stand, in Betlehem und stellt mit Bedauern fest, dass »in der Herberge kein Platz für sie war« (vgl. Lk 2,7). Jesus wurde in bescheidenen Verhältnissen geboren; gleich nach seiner Geburt wurde er in eine Krippe gelegt; und schon bald flohen seine Eltern nach Ägypten, um ihn vor dem Tod zu retten (vgl. Mt 2,13-15). Zu Beginn seines öffentlichen Lebens wurde er aus Nazaret vertrieben, nachdem er in der Synagoge verkündet hatte, dass das Jahr der Gnade, über das sich die Armen freuen, in ihm seine Erfüllung finde (vgl. Lk 4,14-30). Auch als er starb, gab es keinen Platz für ihn: Sie führten ihn zur Kreuzigung aus Jerusalem hinaus (vgl. Mk 15,22). Von diesen Umständen her lässt sich die Armut Jesu klar zusammenfassen. Es handelt sich um dieselbe Ausgrenzung, die die Definition der Armen ausmacht: Sie sind die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Jesus ist die Offenbarung dieses privilegium pauperum. Er zeigt sich der Welt nicht nur als armer Messias, sondern auch als Messias der Armen und für die Armen.

20. Es gibt einige Hinweise zur sozialen Stellung Jesu. Zunächst einmal übt er den Beruf eines Handwerkers oder Zimmermanns aus, téktōn (vgl. Mk