Ich habe dir vertraut - Gabriele Walter - E-Book

Ich habe dir vertraut E-Book

Gabriele Walter

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Beschreibung

Nach Elmars Seitensprung flüchtet Senta an den Ferienort ihrer Kindheit ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern - eine Entscheidung, die sie bereits am nächsten Morgen bereut, als sie im alten Holzschuppen auf eine unbekannte Frauenleiche starrt. Durch das Wiedersehen mit ihren beiden Jugendfreunden, die in Folge der Ereignisse wieder in ihr Leben treten, holt die Vergangenheit sie ein. Alte Konflikte brechen auf. Der unaufgeklärte Tod einer Freundin aus Jugendtagen wirft Fragen auf, die möglicherweise mit der Frauenleiche in Zusammenhang stehen. Lügen, Psychoterror, Intrigen und folgenschwere Ereignisse bringen Senta an den Rand ihrer psychischen Kraft. Letztendlich weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann und ob sie das ganze unbeschadet übersteht.

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Die Autorin

Im Jahre 1954 wurde sie in Schwäbisch Hall geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Schwäbisch Gmünd. 1973 heiratete sie. 1981 zog die Familie ins Nördlinger Ries.

Bereits als Teenager schrieb sie Kurzgeschichten für ihre Freundinnen. Nach der Schulzeit wollte sie ihren größten Wunsch, Schriftstellerin zu werden, in die Tat umsetzen. Doch das Leben kam dazwischen. Erst Jahre später gelangte sie nach einigen Umwegen in eine Situation, die sie erkennen ließ, dass allein das Schreiben genau das war, was sie schon immer tun wollte. Und so wurde es zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens.

Während ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau, Ausbilderin und Seminarleiterin durfte sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kennenlernen und zwischenmenschliche Erfahrungen sammeln, die sich in ihren Romanen widerspiegeln.

Ihre Romane handeln von der Liebe, die stets geheimnisvoll und zuweilen sogar gefährlich sein kann, von Schicksalen, wie sie einem täglich begegnen, und mystischen Ereignissen, die der Verstand mitunter nur schwer erklären kann. Es geht jedoch immer um Frauenschicksale. Starke, schwache, träumende, liebende und mit dem Schicksal hadernde Frauen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zweiter Teil

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Prolog

Sekunden nur starrte Carmen fassungslos auf seine zum Schlag erhobene, feingliedrige Hand.

„Das wagst du nicht, dazu hast du nicht den Mumm“, spottete sie herablassend, mit verächtlich nach unten gezogenen Mundwinkeln.

„Ach, meinst du?“

Unverhohlener Zorn klang aus seiner Stimme. Blitzschnell machte er einen Schritt auf sie zu und schlug ihr erbarmungslos mit dem Handrücken ins Gesicht.

Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen. Brennender Schmerz durchzuckte ihre wie feines Porzellan schimmernde Wange, die sich zusehends rötete. Lediglich winzig aufblitzende Lichter erhellten die spontan aufgetretene Dunkelheit vor ihren Augen. Trotz ihres Entsetzens über seine Reaktion, und obwohl ihre rechte Gesichtshälfte brannte, als hätte jemand ein Feuer darauf entzündet, fasste sie sich verhältnismäßig schnell. Wutentbrannt blitzten ihn ihre bernsteinfarbenen, tränennassen Augen an. Ihr sonst so ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem vollen karmesinrot geschminkten Mund wirkte verzerrt als sie brüllte: „Du feiger Dreckskerl. Was fällt dir ein?“

„Ich habe es satt“, spie er ihr hasserfüllt entgegen und fügte deutlicher werdend hinzu: „Ich habe es so verdammt satt. Du bist wie sie. Du bist keinen Deut besser.“ Erneut schlug er zu. Diesmal mit der Innenfläche seiner immer noch erhobenen Hand auf ihre andere Wange.

Sie taumelte, stolperte einige Schritte rückwärts, bis sie an einen Sessel stieß, an dessen Rückenlehne sie sich festhalten konnte. „Du bist wahnsinnig“, flüsterte sie. Ihr Gesicht brannte, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. Gleichzeitig spürte sie ein unerklärliches Verlangen, eine unbändige Gier nach seinen Händen auf ihrem Körper. Der Schock, dachte sie, der Schock macht mich irrsinnig. Niemand hat das Recht mich so mies zu behandeln. Sie musste dem Kerl schnellstens klarmachen, dass er so nicht mit ihr umspringen konnte. „Du elender Schlappschwanz bist unfähig eine Frau wie mich – eine richtige Frau – zu befriedigen. Denkst du etwa, auf diese Weise könnte es dir gelingen?“

Wütend über so viel Unverfrorenheit biss er die Zähne zusammen. Seine Kieferknochen traten warnend hervor. Er schnaufte wie ein wild gewordener Stier durch die Nase, packte sie an den Schultern und schüttelte sie hart, ohne an die möglichen Folgen zu denken.

„Ha“, entfuhr es ihr, führte jedoch im Geiste einen plötzlich durch ihren Kopf jagenden, zugegebenermaßen perversen Gedanken zu Ende. Warum eigentlich nicht? Die Vorstellung ist gar nicht schlecht. Seine so unerwartet zur Schau getragene Männlichkeit könnte diese abgeschmackte Liebschaft eventuell wieder aufpeppen. Ihr Gesicht brannte noch. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie ließ ihren Kopf aufreizend langsam in den Nacken sinken, öffnete den Mund und ließ ihre Zunge verführerisch über die vollen Lippen gleiten. „Ja“, stöhnte sie aufreizend lächelnd, während sie seinen Gürtel ergriff, das Leder durch die Schnalle zerrte, den Hosenbund aufknöpfte und fast gleichzeitig den Reißverschluss herunterzog.

Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was sie vorhatte und sich fragte, ob ihr seine Schläge möglicherweise die Sinne vernebelt hatten? Fassungslos gab er ihr einen kräftigen Stoß gegen die Brust, der sie fast zu Fall brachte.

Sie lachte gurrend und fuhr mit beiden Händen durch ihr blondgelocktes, mittlerweile zerzaust in die Stirn hängendes Haar, wodurch sich ihre vollen Brüste aufreizend hervorhoben. Seinen schnellen Blick darauf registrierend, bewegte sie sich aufreizend langsam auf ihn zu und noch ehe er sie erneut von sich stoßen konnte, krallte sie eine Hand in seinen Oberarm und griff mit ihrer anderen in seine Hose. „Komm schon, lass die Hose runter. Könnte sein, dass mir dieses neue Spiel gefällt.“

„Du kapierst es nicht“, bemerkte er mit verächtlich nach oben verzogenem Mundwinkel. Dann, von einer Sekunde zur anderen, erschlafften seine angespannten Gesichtszüge und sein Blick wurde eiskalt. „Das ist kein Spiel.“

„Angst vor der eigenen Courage?“, spöttelte sie weiter und fügte, als er sich abwandte, mit frustriert klingendem Unterton hinzu: „Du willst doch nicht etwa gehen? Jetzt wird es doch erst interessant.“

Mit ausdrucksloser Mine zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch und schloss den Gürtel. „Wie konnte ich mich nur mit dir einlassen?“

„Stellst du diese Frage tatsächlich mir?“

Ohne darauf zu antworten, wandte er sich ab und eilte zur Tür.

„Gib es schon zu“, rief sie hinter ihm her, „du willst es lieber hart. Die harte Tour bringt dich in Fahrt. Alles andere ist doch nur sentimentales Larifari. Lass es uns machen. Jetzt. Bei einer Frau, die dich verliebt umschmeichelt und mit Glupschaugen anhimmelt, kriegst du doch gar keinen hoch. Eine Frau, die deine dunkle Sinnlichkeit herausfordert, brauchst du. Du brauchst mich! Du brauchst mich wie der Teufel die Seelen, und du willst mich. Gib es zu, mein kleiner Spielgefährte kam doch stets erst auf Touren, nachdem ich dich zuvor so richtig anturnte.“

Zwei Schritte vor der Tür blieb er stehen, hörte sich an, was sie sagte und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er ihr voll und ganz zustimmte. Nicht Liebe zog ihn zu ihr hin, sondern lediglich ihr aufreizendes Verhalten. Mit ihrer Ausgelassenheit und ihrer Lust am Leben hatte sie ihn in einen Taumel versetzt, der ihn glauben ließ, dass er sie liebte – ganz am Anfang. Aber dann, mit der Zeit, schälte sich ihr wahres Ich heraus. Immer wieder zeigte sich ihr verkommener, geltungssüchtiger Charakter. Auch sie gehörte zu jener Sorte Frauen, die ihre eigenen egoistischen Pläne verfolgten. Er hätte sie schon vor Wochen verlassen sollen. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Nie wieder wollte er mit so einer etwas zu tun haben. Nie wieder. Er ging rasch weiter und öffnete die Tür.

„Halt! Du lässt mich hier nicht einfach so stehen. Wenn du jetzt gehst, ist deine Karriere zu Ende“, drohte sie.

Augenblicklich schloss er die Tür wieder und wandte sich zu ihr um. „Wie willst du das denn anstellen, ohne dich selbst an den Pranger zu stellen?“

„Da wird mir sicher etwas Passendes einfallen“, meinte sie höhnisch lächelnd und streichelte die immer noch brennende Wange.

Sie befand sich durchaus in der Position, ihm zu schaden, das wusste er. Nicht nur, weil die Spuren seiner Wut ihre Wange immer noch deutlich sichtbar zierten, sondern auch und vor allem, weil sie sich auf einem gesellschaftlichen Parkett bewegte, auf dem fast alles möglich war.

Unsäglicher Hass gegen die Frau quoll plötzlich wie brodelnde Lava aus den tiefen seines Unterbewusstseins. Er ballte die Hände zu Fäusten und eilte auf sie zu. Noch einmal wollte er ihr in aller Deutlichkeit klarmachen, dass sie zu ihrem eigenen Besten auf derartige Aktionen verzichten sollte. Als er den kleinen Beistelltisch erreichte, bemerkte er den Kerzenständer aus weißem Marmor.

Erster Teil
Kapitel 1

Obwohl Senta gewohnheitsmäßig früh aufstand, um, wie sie stets verlauten ließ, das Leben in vollen Zügen zu genießen, starrte sie nun doch etwas verwundert in die aschfarbige Dunkelheit des vom Mond nur schwach beleuchteten Zimmers. Sie warf einen kurzen Blick auf den Wecker und stellte erstaunt fest, dass er erst kurz nach fünf zeigte. Ach ja, kam langsam die Erinnerung zurück, da war was, ein dumpfes Geräusch ... Vermutlich habe ich nur geträumt?

Sie drehte sich auf den Rücken und lauschte der Stille. Dennoch beschlich sie ein unbehagliches Gefühl, das jedoch vermutete sie, möglicherweise an der ungewohnten Umgebung und dem fremden Bett liegen könnte. Unsinn, versuchte sie, sich deshalb zu beruhigen, ich habe geträumt. Am besten schlafe ich eben auf meinem eigenen Kissen. Na, das wird ja dann noch was geben, bis ich mich an ein neues gewöhnt habe, überlegte sie und dachte dabei an ihre Stuttgarter Wohnung, die sie am Abend zuvor geradezu fluchtartig verlassen hatte.

Einmal tief durchatmend drehte sie sich wieder zur Seite. Doch obwohl sich ihre Unruhe, mit der Erinnerung an den letzten Abend verflüchtigte, gelang es ihr nicht wieder einzuschlafen. Zumal diese, zunächst unterschwellig, doch letztendlich beharrlich von beängstigenden Gedanken unterbrochen wurde, die sich um das abseits vom Ort stehende Haus ihrer Großeltern drehten. Da könnte jederzeit ein Landstreicher eindringen, ohne von den Nachbarn bemerkt zu werden.

Ein Landstreicher mit Auto? Wohl kaum. Und woher sollte ein Fremder wissen, dass das Haus zurzeit leer steht? Todesanzeigen und die Leute reden. Hier am Ort weiß doch jeder über jeden Bescheid. Beim Bäcker oder Metzger kann schnell mal ein Wort fallen, das jemanden, den es nichts angeht, dazu animiert, sich die Sache mal genauer anzusehen. Aber das Auto? Unsinn! Was habe ich nur immer mit dem Auto? Das Geräusch könnte auch von einem Einbrecher verursacht worden sein. In so alten Häusern gibt es immer was zu holen. Niemand weiß, dass ich hier bin und nichts deutet darauf hin. Mein Auto steht in der Garage. Vielleicht spinnst du dich jetzt mal aus.

Einmal durchatmend drehte sie sich wieder auf den Rücken und starrte lauschend an die Zimmerdecke. Knirschen … Schritte! Der Kiesweg im Garten …, da geht jemand. Das sind eindeutig Schritte? Leises Maunzen erregte ihre Aufmerksamkeit. Und was ist …? Eine Katze, überlegte sie erleichtert aufatmend, nachdem ihre Gedanken sich längst bereit erklärt hatten, sich in furchterregende Abgründe zu begeben. Suchend tasteten ihre Finger nach der Nachttischlampe. Bevor sie jedoch den Schalter fand, hörte sie erneut dieses Maunzen und gleich darauf auch wieder Schritte. Ganz nah. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, zog ihre Hand zurück und rutschte tiefer unter die Decke.

Normalerweise hätte sie irgendein Licht in der Wohnung angelassen, um sich, falls sie während der Nacht auf die Toilette musste, in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Stattdessen hatte sie einfach die Rollos im Schlafzimmer hochgezogen. Das kalte Licht des Vollmondes hatte ihr am Abend vollkommen genügt. Mittlerweile befand sich der Mond allerdings auf der anderen Seite des Hauses und die Umrisse der Möbel konnte sie nur noch schemenhaft wahrnehmen. Allerdings durfte sie nun, wollte sie vermeiden, dass die Person, die da draußen herumschlich, auf sie aufmerksam wurde, keinesfalls das Licht anschalten.

Den Gedanken kaum zu Ende gedacht, hörte sie erneut ein dumpf knallendes Geräusch. Als ob jemand …, ja, das könnte der Kofferraumdeckel eines Wagens gewesen sein. Senta lauschte angestrengt. Und das? Eine Autotür?

Ihre Vermutung bestätigt sich, als gleich darauf ein Auto gestartet wurde. Es muss direkt auf der Einfahrt stehen.

Plötzlich fiel ihr der Waldweg ein, der direkt am Haus vorbeiführte. Und ich werde hier fast verrückt vor Angst, dachte sie, während sich ihr Körper ausatmend entspannte. Vermutlich ein Liebespärchen, das die Abgeschiedenheit suchte. Vielleicht haben die beiden ja einen kurzen Spaziergang gemacht oder sind ausgestiegen, um eine Zigarette zu rauchen?

Dennoch drückte Senta erst auf den Lichtschalter der Nachttischlampe, als das Motorgeräusch des Wagens in der Ferne verstummte. Sie griff nach ihrer Brille, setzte sie auf und da an Schlaf ohnehin nicht mehr zu denken war, schlug sie die Decke zurück und sprang munter aus dem Bett. Zunächst schaltete sie den Heißwasserboiler und den Heizstrahler im Bad ein, dann machte sie einige Dehnübungen. Da das Aufheizen des Wassers eine Weile dauern würde, schlenderte sie in die Küche um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.

Während sie ausgiebig duschte, dachte sie nur einmal kurz an Elmar, diesen missratenen Weiberhelden, schob den Gedanken jedoch sofort weit von sich. Die nächsten Tage wollte sie sich nur auf sich selbst konzentrieren.

Erfrischt und voller Tatendrang rubbelte sie sich gut ab und schlüpfte in eine knielange Jogginghose und eines ihrer geliebten Schlabber-T-Shirts.

Verlockender Kaffeeduft empfing sie in der Küche.

In der Hand die Tasse schlenderte sie ins Wohnzimmer, öffnete die Schiebetür und trat auf die mit Natursteinen gepflasterte Terrasse hinaus. Tief sog sie die würzige, nach Sonnenblumen, Astern und Nebel duftende, feuchte Herbstluft ein. Sie fröstelte. Zu dieser Jahreszeit und vor allem, so früh am Tag, war es in den leichten Klamotten doch zu kühl.

Senta stellte die Kaffeetasse auf den Fenstersims, lief zurück ins Badezimmer, schlüpfte in ihren weichen Frottierbademantel und wickelte ihn fest um ihre schmale Gestalt.

„Ja! Das ist entschieden besser“, flüsterte sie, während sie die Arme vor der Brust überkreuzte und ihre Oberarme warm rubbelte. Erneut trat sie auf die Terrasse hinaus, nahm die Tasse mit dem inzwischen etwas abgekühlten Getränk und nippte daran.

Der Morgen graute bereits. Nebelschleier zogen langsam über den gepflegt wirkenden Rasen, erhoben sich gespenstisch, lösten sich auf oder streiften Bäume und Büsche und verfingen sich in deren Geäst. Die Sonne, ein verschwommener gelber Fleck, versteckte sich noch tief hinter den Weiden, die in der Ferne das Ufer des schmalen Bachbetts säumten. Ihre kaum nennenswerte Leuchtkraft drang nur schwach durch den grauen Dunst der Nebelschwaden.

Das war es, was der Großvater so sehr geliebt und die Großmutter all die Jahre nur ertragen hatte, weil sie wiederum ihn liebte. Diese beruhigende Stille, aus der er immer wieder, wie er ihr einmal erzählte, neue Kraft schöpfte. Dieselbe Stille allerdings, die ihre Großmutter stets als beklemmend empfand. Ein Grund, vermutlich der ausschlaggebende, weshalb sie sich nach seinem Tod nur sehr selten hier aufhielt.

Wie auch immer. Senta hatte sich schließlich auch eine Wohnung in der Stadt genommen. Eine gemütliche Dachwohnung in einem typischen Jugendstilstadthaus im Westen Stuttgarts mit verhältnismäßig großer Dachterrasse, die einen beeindruckenden Blick über Stuttgart bot. Nach und nach hatte sie Kübelpflanzen besorgt, Tomaten- und Paprikasetzlinge in Terrakottakästen gesetzt und Kräuter wie Petersilie, Schnittlauch und Kerbel gesät. Am meisten jedoch liebte sie ihre Blumen. Wie jedes Jahr blühten Astern, Dahlien und Gladiolen auch jetzt zum Herbstanfang noch immer in den herrlichsten Farben. Ganz besonders erfreute sie sich an deren zauberhaftem Anblick, während sie auf der blauweißgestreiften, zwischen zwei Buchsbäumen stehenden Hollywoodschaukel lag. Sie hatte das Monstrum im ersten Sommer angeschafft und eigenhändig zusammengeschraubt.

Obwohl sie sich hier im Hause ihrer Großeltern geborgen fühlte, vermisste sie ihre eigene Wohnung nun doch ein wenig.

Über die Terrasse schlendernd, sog Senta noch einmal die kühle Luft tief in ihre Lungen. Einer plötzlichen Eingebung folgend stellte sie die Tasse wieder auf dem Fenstersims ab. Voller Vorfreude stieg sie die zwei flachen Stufen zum Garten hinunter und lief über den schmalen Weg, vorbei an brach liegenden Gemüsebeeten, die nun von Brennnesseln, Löwenzahn, Schachtelhalm und Unkräutern, deren Namen sie nicht kannte, überwuchert wurden, direkt zum Holzschuppen. Ihr spontaner Entschluss, Feuer im alten Beistellherd der Küche zu machen, beruhte auf dem Wunsch das glückselige Wohlgefühl zurückholen, das sie stets als Kind früh morgens empfunden hatte, wenn sie, den Schlaf noch in den Augen, die Küche betrat.

Kurz bevor sie den Schuppen erreichte, stolperte sie über ein flaches Hindernis. „Mist! Selbst zum Gehen zu dusslig“, beschimpfte sie sich selbst. Ich hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen.

Doch nun stand sie schon mal hier, also konnte sie auch gleich einen Arm voll Holz mitnehmen.

Die seit langem nicht mehr geölten Scharniere quietschten, als sie die Tür öffnete. Ein Geräusch, ähnlich dem Maunzen einer Katze. Das ist doch …

An der Wand herunter tastend, suchte Senta den Lichtschalter, der sich hier irgendwo befinden musste. „Na, bitte“, flüsterte sie leise, als sie ihn fand und herunterdrückte. „Mist!“, entfuhr es ihr sogleich, als es dunkel blieb – stockdunkel, da es im Schuppen lediglich ein winziges Fenster auf der Südseite gab. Die Glühbirne ist kaputt, fügte sie in Gedanken hinzu.

Einen Moment blieb sie stehen, damit sich ihre Augen an die schummrige Dunkelheit, die die Nacht vom Morgen trennte, gewöhnen konnten. Es würde ja genügen, wenigstens so viel zu sehen, dass sie nicht auch noch über herumliegende Holzscheite stolperte und sich doch noch verletzte.

Den harzigen Duft des Holzes, der schon während ihrer Kindheit ein warmes Gefühl der Geborgenheit in ihr weckte, tief in ihre Lungen inhalierend, schloss sie einen Moment genießerisch die Lider. Noch einmal sog sie ihn durch ihre Nase. Doch diesmal bemerkte sie einen Geruch, der irgendwie nicht in ihre Erinnerung passte. Seltsam, dachte sie und schnüffelte einige Male wie ein Jagdhund auf Fährtensuche. Es roch zwar nach Holz, wie immer, aber zunehmend drängte sich dieser süßlich, gleichzeitig strenge Geruch in den Vordergrund, den sie nicht einzuordnen vermochte, von dem sie nur wusste, dass er nicht hierhergehörte. Der süßliche Geruch einer verwesenden Maus oder Ratte?

Senta entschloss sich, zur Terrasse zurückzugehen und zunächst ihren Kaffee zu trinken. Inzwischen würde es dann schon heller werden.

Zehn Minuten später konnte sie ihre Ungeduld und die Vorfreude auf ein knisterndes Feuer nicht mehr bändigen. Sie lief in die Küche, zog Großvaters Schublade heraus, in der sich lauter praktische Dinge für kleine Notfälle im Haushalt befanden, und entnahm ihr die Taschenlampe.

Unwillkürlich schnupperte sie erneut, als sie den Schuppen wieder betrat. Sie knipste die Taschenlampe an und ließ deren Lichtstrahl langsam über das aufgestapelte Holz wandern. Es riecht nach …, überlegte sie und schnupperte noch einmal, jedenfalls nicht nach Verwesung. Es riecht nach Holz. Parfüm? Und …

Vorsichtshalber suchte sie die Decke nach Spinnweben ab. Schließlich wurde der Schuppen schon längere Zeit von niemandem betreten. Zu ihrer Verwunderung waren, bis auf wenige in den Ecken, keine vorhanden. Der gemähte Rasen fiel ihr ein. Jemand hat den Rasen gemäht und dafür Großvaters Rasenmäher aus dem Schuppen geholt. Mutter hat gar nicht erwähnt, dass sie einen Auftrag an den hiesigen Gärtner erteilt hat. Ist auch egal. Dennoch suchte die Stelle ab, an der sie das Gerät vermutete. Ja, da steht …

Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, für eine Sekunde setzte ihre natürliche Atmung aus, nachdem sich ihr Mund zu einem hauchenden „Ha …“ geöffnet hatte. Der Lichtkegel der Taschenlampe, die sie, nachdem sie ihr fast entglitten wäre, krampfhaft umklammerte, erfasste einen Fuß und gleich darauf den Körper einer Frau. Eine Sekunde dachte sie an eine Obdachlose, die Unterschlupf gesucht und ihr nun erschrocken entgegenstarrte.

„Hallo? Hallo Sie, was machen Sie hier?“, fragte Senta vorsichtig, sich gleichzeitig der bizarren Komik ihrer Worte bewusst, da ihr im selben Moment die unnatürlich gekrümmte Haltung der Frau auffiel. Von dieser Person würde sie keine Antwort mehr erhalten.

Der Oberkörper der Toten lag, nach hinten gebogen, über einem losen Haufen Holz. Ein Arm lag auf ihr, die Hand im Schoß, der andere, über ihrem Kopf, verschwand fast hinter dem Holzhaufen und die Füße streckte sie seltsam verdreht von sich. Ganz so, als hätte sie jemand wie einen Sack Kartoffeln geschultert und dann einfach herunterrutschen lassen.

Senta wich einen Schritt zurück. Vergessen war der Grund, der sie hierhergeführt hatte. Panik ergriff sie, ihr Magen rebellierte, ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie die Tote wie hypnotisiert anstarrte. Müsste ich bei diesem grauenvollen Anblick nicht laut schreien? Macht man das nicht so?

Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie wollte weglaufen, gleichzeitig hielt eine unbekannte Macht sie zurück. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr weder sich abzuwenden, noch einen Schritt aus dem Schuppen zu tun. Die Zeit schien still zu stehen, während sich ihr Blick auf die weit aufgerissenen, erstaunt blickenden Augen einer Frau fixierte, die wie es Senta schien, selbst bis zu ihrem letzten Atemzug nicht begreifen wollte, was mit ihr geschah. Noch etwas bemerkte sie in diesen Augen, eine Art Erkennen und eine unendliche Traurigkeit. Geht’s noch? Meine blühende Fantasie ... Dieser Gedanke und plötzliches Glockengeläut vom nahen Kirchturm das in ihren Ohren dröhnte wie Totengeläut, brachte sie in die Realität zurück. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Es ist sieben Uhr. Langsam löste sich ihre Erstarrung. Dennoch empfand sie die Situation unwirklich wie einen Film oder einen bösen Traum, während das geisterhaft, blutleer wirkende Gesicht, die unterschiedlichsten Gemütsbewegungen in ihr hervorrief. Mitleid, Wut und Trauer.

Sie lenkte ihr Augenmerk auf die vornehm wirkende Gestalt der Toten, zumindest auf das, was davon sichtbar war. Rückschlüsse auf irgendeine Form von Gewalteinwirkung konnte sie nicht erkennen. Jedoch bemerkte sie, obwohl sie nur wenig von Haute Couture verstand, dass es sich bei dem Kleid der Frau um ein edles Cocktailkleid und keinesfalls um ein billiges Fähnchen handelte.

Der strenge Geruch – Urin. Sie hat sich nass gemacht.

Die schmalen Fesseln an den wohlgeformten Beinen fielen ihr auf. Für Fußkettchen wie geschaffen. Aber sie trägt keines. Ist in ihren Kreisen wohl nicht üblich. Ein Schuh fehlt. Wo der wohl abgeblieben ist? Unwillkürlich suchte sie den Boden des Schuppens ab, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Vermutlich ist er vom Fuß gerutscht, als der Mörder die Leiche vom Tatort hierher transportiert hat.

Sentas Blicke wanderten wieder an der Toten hinauf.

Die Frau trug Schmuck. Einen schmalen Armreif und eine Uhr. Ihre Hand wirkte gepflegt, die Nägel manikürt. Sie trug drei Goldringe, ein zierlicher mit Perle, ein ziemlich auffälliger mit einem grünen Stein – vermutlich Jade und einen Ehering. Sie war also verheiratet. Eine feine goldene Kette nah am Hals fiel ihr ebenfalls auf und die Ohrringe mit demselben Stein, den auch der Ring zierte. Was darauf schließen lässt, dass es sich nicht um Raubmord handelt. Der Ehemann? Hat er sie hier abgelegt? Das Quietschen der Scharniere, das ich für das Maunzen einer Katze hielt.

Plötzlich kam ihr auch das Auto wieder in den Sinn, dessen Motorgeräusch sie vor knapp einer Stunde gehört hatte. Fast glaubte sie, es immer noch zu hören … Die Nerven. Oh Gott, ich muss die Polizei rufen!

Sie bewegte sich langsam einen Schritt rückwärts, drehte sich um und prallte prompt gegen eine Wand. Eine von weichem Stoff umgebene Wand. „Haa, haa“, hauchte sie angstvoll und so leise, als käme ihre Stimme bereits aus dem Jenseits, in das sie nun, instinktiv befürchtend, ebenfalls verfrachtet werden würde.

„Sch…, ich bin ja da“, redete der Mann, der sie um Haupteslänge überragte, mit beruhigend tiefer Stimme leise auf sie ein. Er zog sie fest an sich und streichelte über ihr noch feuchtes, lose auf den Rücken fallendes Haar.

Sentas Puls raste. Ihr Herz überschlug sich fast, so schnell und heftig pumpte es ihr Blut durch die Adern. Der Mörder ist zurückgekehrt und wird mir sicher nicht die Möglichkeit geben, ihn zu verraten. Einen Augenblick dachte sie paradoxerweise an das Kaninchen, das ihr Großvater ein letztes Mal streichelte, bevor er dessen Leben mit einem Handkantenschlag aufs Genick beendete. Was kann ich tun? Der Mann ist riesig und sicher viel stärker als ich ... Mach was! Fort! Du musst fort von hier, befahl sie sich selbst.

Windend und mit ihren Fäusten heftig gegen seinen Körper trommelnd, kämpfte sie, um sich zu befreien. Als das nicht gelang, trat sie, so heftig sie konnte, gegen das Schienbein des Riesen.

Doch der schien ihren Tritt nicht einmal bemerkt zu haben, denn er bewegte sich keinen Millimeter.

Mist! Ist der Kerl aus Stahl? Es gibt nur eine Stelle, das herauszufinden. Blitzschnell stieß sie ihr Knie in seine Weichteile und nutzte, als er sie unverzüglich losließ, die Gelegenheit, an ihm vorbeizulaufen. Sein schmerzverzerrtes Gesicht nahm sie zwar erleichtert wahr, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass sie sich noch immer in Gefahr befand. Der Mann würde sich bald erholen und irgendwie ins Haus gelangen.

„Verdammt nochmal! Spinnst du?“, krächzte er. „Warte gefälligst. Erkennst du mich denn nicht? Ich bin’s doch – Raphael.“

„Raphael? Der Raphael?“ Konsterniert blieb Senta augenblicklich stehen, wandte sich zu ihm um und betrachtete ihn genauer. Dieser Mann, mindestens einen Kopf größer als sie, mit muskulösem, gut durchtrainiertem Körper, sollte ihr Raphael sein? Unmöglich! Dieser Mann besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem etwas zu pummeligen Lausbuben, der sie damals mit stets schelmischem Lächeln im Gesicht, auf Schritt und Tritt begleitete. Dieser Mann, der mittlerweile wieder hoch aufgerichtet vor ihr stand, hätte in jedem Actionfilm mitspielen können, und zwar nicht nur wegen seines Körpers, nein, auch wegen des schönen Gesichts, das äußerst markante männliche Züge aufwies. Allein die dunklen Augen, deren Blick nun wohlwollend auf ihr lag … Ja, das könnten Raphaels Augen sein. Und die schwarzen Locken fallen ihm noch immer so ungezügelt wie früher in die Stirn. Was darauf schließen lässt, dass er mit der Haarbürste nach wie vor auf Kriegsfuß steht.

Diese Locken, die dem Jungen ein freches und ungestümes Aussehen gaben, verliehen dem Mann die kühnen Züge eines Freibeuters, die jede Frau unwillkürlich zu romantisch, leidenschaftlichen Gedanken animierte.

Bei Raphael handelte es sich um einen der beiden Jungs, mit denen sie während ihrer Ferien das Dorf und die Umgebung unsicher gemacht hatte. Damals waren sie Freunde, aber jetzt? Sie wusste nichts von ihm. „Wer garantiert mir, dass du nicht ihr Mörder bist? Ich habe den Jungen gekannt, aber nicht den Mann. Und überhaupt … Was tust du hier?“

Er blickte ruhig, ja, fast verklärt auf sie herunter. „Stimmt“, flüsterte er heiser, „es ist lange her.“

Senta antwortete nicht.

Er räusperte sich. „Nach der Beerdigung deiner Großmutter unterhielt ich mich mit deiner Mutter. Als sie erfuhr, dass ich berufsbedingt fast täglich an dem Haus vorbeikomme, bat sie mich, ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Ich bin auf dem Weg in den Wald, und als ich Licht im Haus bemerkte, dachte ich, es wäre besser, mal nachzusehen.“

Sie deutete auf sein Jagdgewehr. „Du schießt auf Tiere?“

Er nickte. „Manchmal schieße ich auf Tiere. Mein Gott, Senta, ich bin Förster.“

„Förster? Du?“, fragte sie überrascht.

Er griff in seine Tasche und zog das Handy heraus. „Ist das so unvorstellbar?“

Nein, dachte sie, das ist es nicht. Er hat den Wald und die Tiere schon immer geliebt.

In diesem Moment bemerkte sie den wachsam am Haus sitzenden Hund und deutete auf ihn. „Und wer ist das?“

„Das ist Sam“, antwortete er ruhig.

„Sam …, was für eine Rasse?“

„Ein Münsterländer.“

Senta sah ihn an als hätte sie ihn nicht verstanden.

„Wird das jetzt das „sag-mir-was-für-einen-Hund-du-hast-und-ichsag-dir-wer-du-bist“ Fragespiel?“ Er warf einen kurzen Blick auf die Leiche, dann wieder zu Senta. „Wir müssen die Polizei benachrichtigen“, sprach er weiter. „Mein Gott, du zitterst ja wie Espenlaub. Das ist der Schock. Komm, lass uns ins Haus gehen“, bat er und machte einen großen Schritt auf sie zu, „bevor du hier zusammenbrichst.“

„Ich glaube, das ist keine gute Idee“, erklärte sie jedoch misstrauisch und wich ängstlich zurück. „Bleib mir bloß vom Leib.“ Noch während sie sprach und ihre Blicke nachdenklich über seine Statur wanderten, wurde ihr die Sinnlosigkeit ihrer Reaktion bewusst. Würde er sie töten wollen, wäre sie sicher die Letzte, die ihn davon abhalten konnte. „Also gut. Ich könnte dir wohl sowieso nicht entkommen?“

„Nein, sicher nicht“, bemerkte er trocken und folgte ihr über die Terrasse ins Wohnzimmer, wo er sie sanft in einen Sessel drückte.

Wie kann er nur so ruhig bleiben? Mal von der Leiche abgesehen, wir begegnen uns nach langer Zeit zum ersten Mal und er gibt sich wortkarg wie eh und je. Hat er denn keine Fragen? Ist er etwa immer noch sauer, weil ich angeblich Jochen geküsst habe? Blödsinn! Unbewusst schmunzelte sie vor sich hin.

Er drohte damals, sie eines Tages zu küssen und zwar so, dass sie nie wieder einen anderen Mann küssen würde.

„Du lächelst? Was geht in diesem süßen Köpfchen vor?“, fragte er, während er fürsorglich eine Decke über sie legte, eine Locke hinters Ohr strich, zärtlich ihre Wange streichelte und letztendlich seinen Zeigefinger unter ihr Kinn legte, um es sachte anzuheben.

Geraume Zeit fühlte sich Senta hilflos seinem Blick ausgeliefert. Sie hätte in diesen Augen versinken und nie wieder auftauchen mögen.

Doch dann schüttelte Raphael den Kopf und der Zauber war verflogen. Er wandte sich von ihr ab und wählte die Nummer der Polizei.

Senta hörte nicht, was er sagte, sie steckte zu sehr mit ihren eigenen Gedanken fest …

Sie war noch nicht fünfzehn, er fast siebzehn, während des letzten Sommers, den sie hier verbracht hatte. Jochen hatte sich mit seinen sechzehn wer weiß was auf sich eingebildet. Jedenfalls überrumpelte er sie eines Tages mit einem Kuss. Sie hätte sich geschmeichelt fühlen müssen. Immerhin handelte es sich bei dem gutaussehenden, smarten Typ, um den begehrtesten Mädchenschwarm des Ortes.

Senta jedoch hatte ihn zornig von sich gestoßen, und ihn von Stund an mit Verachtung für seine schändliche Tat gestraft. Ihr junges Herz gehörte einem anderen Jungen, einem, den sie schon immer mochte. Während dieses Sommers war allerdings ein fremdes, ungeheuer aufregendes Gefühl hinzugekommen.

Jochen dagegen hatte nur gelacht und einen Tag später damit vor Raphael geprahlt.

Sie konnte sich noch genau an dessen traurigen Blick erinnern und an die Worte, die er ihr wütend entgegengeschleudert hatte, bevor er weggelaufen war. Nur allzu gerne hätte sie ihm alles erklärt, doch es hatte sich keine Gelegenheit mehr dazu ergeben. Er hatte sich nicht mehr bei ihr blicken lassen und sie hatte ihn nirgends finden können, obwohl sie all ihre gemeinsamen Lieblingsplätze abgesucht hatte. Zwei Tage danach war sie von ihrer Mutter abgeholt worden.

Senta räusperte sich. Sie musste sich zusammenreißen. „Kaffee?“, fragte sie kurz angebunden und erhob sich.

„Gern.“

Er folgte ihr in die Küche und beobachtete sie dabei wie sie Kaffee in eine Riesentasse goss.

„Zucker, Milch?“

„Nein, danke.“

Als sie ihm die Tasse reichte, bemerkte sie erneut den durchdringenden Blick, mit dem er sie musterte. Oder nimmt er mich gar nicht wahr, starrt er durch mich hindurch und denkt an die Tote im Schuppen? Wie auch immer, ihr Herz, begann unvernünftigerweise schneller zu schlagen. „Ich habe ihn nicht geküsst, er hat mich überrumpelt.“

Verwundert zog er seine Augenbrauen hoch. „Wie bitte? Was meinst du?“

Blöde Kuh, schalt sie sich selbst und hätte sich am liebsten auf den Mund geschlagen. Wie konnte sie erwarten, dass er sich noch an diese Geschichte erinnert? Sich der Peinlichkeit der Situation bewusst, schüttelte sie über ihre Dummheit verständnislos den Kopf. „Nichts. Schon gut. Ich bin wohl ein wenig verwirrt.“

Er nickte, sagte nur: „Ah – ja.“ Dann ließ er seinen Blick an ihr heruntergleiten und meinte grinsend: „Ich kann nicht sagen, dass mich stört, was ich hier sehe, aber vielleicht solltest du dich doch besser anziehen?“

Senta bemerkte, dass sie immer noch ihren Bademantel trug. Ohne ein Wort zu entgegnen, lief sie ins Schlafzimmer, öffnete ihren Koffer, zog Jeans und ein ordentliches T-Shirt heraus und schlüpfte rasch hinein.

Kapitel 2

Keine halbe Stunde später wimmelte es in Großmutters Garten von Polizisten. Kriminaltechniker suchten nach Fuß- und Reifenspuren. Sie gossen Gipsabdrücke, vermaßen, stellten Nummernschildchen auf und fotografierten. Das übliche Prozedere, eben. Großmutter hätte das gefallen. Nicht, dass sie sich eine Leiche in ihrem Schuppen gewünscht hätte, aber die Menschen, die Aufregung, das Drumherum hätte sie genossen.

Senta beantwortete die Fragen einer Polizistin, so gut wie möglich. Da betrat die blendende Erscheinung eines hochgewachsenen Mannes, mittleren Alters, im eleganten anthrazitfarbenen Designeranzug, das Wohnzimmer. Gerade als sie zum x-ten Mal wiederholte, dass sie die Frau im Schuppen weder kannte, noch wusste, wie sie dort hingekommen war.

„Aber haben Sie denn nichts gehört?“, bohrte die Polizistin weiter.

„Hören Sie mir jetzt mal gut zu“, erwiderte Senta mittlerweile gereizt. „Ich traf gestern Nacht ziemlich spät hier ein, war müde und wollte nur noch schlafen. Die Leiche könnte schon seit Tagen hier liegen.“

„Nein, könnte sie nicht, wir wissen bereits, dass der Tod etwa gegen zwei Uhr eingetreten ist“, antwortete die Beamtin überheblich.

Der ziemlich arrogant blickende Schönling tippte auf die Schulter der Polizistin. „Lassen Sie mich mit der jungen Dame sprechen“, sagte er in nicht zu überhörendem Befehlston.

„Aber ich …“, wollte die Polizistin einwenden, doch als sie dem Mann, der warnend die Augenbrauen hochzog, einen Blick zuwarf und anscheinend erkannte, um wen es sich handelte, zog sie sich augenblicklich zurück.

Die Mundwinkel des Mannes verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen, dann wandte er sich Senta zu und sein Lächeln veränderte sich. „Hallo, Senta. Wie damals, du bist hier und schon geht die Post ab.“

Senta zog nun ihrerseits die Augenbrauen verwundert nach oben und schaute ihn fragend an.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein. Du erkennst mich nicht?“, fragte er enttäuscht.

„Sollte ich?“

„Na, hör mal! Ich bin’s, Jochen.“

„Jochen?“, rief sie erstaunt aus. „Du“, sie ließ ihren Blick an ihm heruntergleiten, „du hast dich ein wenig verändert. Was machst du hier?“

„Zufall. Mutters Geburtstag. Habe ich dir gegenüber nicht mal erwähnt, welches Spektakel sie stets darum macht“, erklärte er, während er sich zu ihr aufs Sofa setzte.

„Ja, hast du. Hat sich das inzwischen noch nicht gelegt?“, erkundigte sie sich stumpfsinnig.

„Nein, aber sie ist trotz allem meine Mutter. Was soll ich machen? Wie auch immer, die Ki1 Ludwigsburg verständigte mich, und da ich seit einigen Tagen vor Ort bin, wollte ich mir selbst ein Bild machen.“

„Du bist bei der Kripo?“

„Staatsanwaltschaft“, erklärte er von oben herab. „Du hast also nichts mitgekriegt?“, lenkte er ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tote.

„Wie?“ Senta fühlte sich irritiert. Allerdings konnte sie sich nicht erklären, ob es daran lag, dass er hier so unerwartet an ihrer Seite saß oder an dem Umstand, dass aus dem smarten Jungen ein so phantastisch aussehender Mann geworden ist? Nein, dachte sie, es ist sein Verhalten. Nach wenigen persönlichen Worten schwenkt er, ohne sich nach meinem Befinden zu erkundigen oder wenigstens ein paar einleitenden Worten zu professionellen Fragen. Und dann dieser lauernde Blick und der erwartungsvolle Ton. Denkt er etwa, dass ich die Frau getötet habe?

Jochen legte eine Hand auf ihren Arm. „Hast du was gehört oder konntest du etwas beobachten?“

„Nein! Das habe ich bereits gesagt, und zwar mehrmals. Das heißt …, irgendein Geräusch hat mich geweckt. Zunächst, so aus dem Schlaf gerissen, war ich nicht sicher, ob ich wirklich etwas gehört habe, aber kurz darauf wurde ein Wagen gestartet. Ich dachte an ein Liebespärchen, das spazieren war. Möglich, dass ich vom Zuschlagen der Tür geweckt wurde.“

„Und du hast nicht gleich nachgesehen?“

Diese Frage musste logischerweise folgen. Trotzdem ließ sie etwas in Jochens Tonfall für eine winzige Sekunde aufhorchen. „Nein. Wozu?“

„Du hast also nichts beobachtet?“, verhörte er sie eindringlich weiter.

Senta schüttelte den Kopf. „Nein! Verdammt nochmal! Glaubst du mir etwa nicht? Welchen Grund könnte ich haben, mich selbst in Gefahr zu begeben oder dir etwas zu verschweigen?“

„Tja, welchen Grund könntest du haben?“, murmelte er langsam vor sich hin, während seine Augen zu schmalen Schlitzen wurden, durch die er sie intensiv musterte. Verlegen räusperte er sich, lehnte sich entspannt zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch sein glattes blondes Haar. „Wenn ich mir vorstelle, was der Kerl dir angetan hätte, hätte er gewusst, dass du im Haus bist.“

„Vermutlich nichts“, sagte sie gelassen.

„Wie?“

Er als Staatsanwalt sollte doch in der Lage sein, eins und eins zusammenzuzählen, wunderte sich Senta. „Ich denke, hätte er es gewusst, läge die Leiche sicher nicht in meinem Schuppen.“

Einen Augenblick betrachtete er sie verdutzt, bevor er kaum merklich nickte. „Ach so. Ja, da hast du vermutlich recht. Wie konnte ich nur so gedankenlos sein?“ Wieder räusperte er sich. „Das liegt sicher daran, dass mich dein Anblick völlig aus dem Konzept gebracht hat. Du hast immer noch das Gesicht eines Engels, eines Engels der erwachsen geworden und noch schöner ist“, schmeichelte er lächelnd. „Ich könnte noch ein oder zwei Tage bleiben. Vielleicht gehst du ja mal mit mir spazieren oder wir setzen uns zusammen und reden – eventuell bei einem Abendessen. Na, was sagst du?“

Tja, was soll ich darauf sagen?

Aus dem an selbstgerechter Überheblichkeit leidenden Jochen von damals, schien inzwischen ein zwar immer noch von sich überzeugter, aber durchaus angenehmer Zeitgenosse geworden zu sein. Er wirkte auf sie wie ein Mann, der in der Lage ist, in kniffligen Situationen die richtige Entscheidung zu treffen. Obwohl sie ihre Zeit lieber, wie schon als kleines Mädchen, mit Raphael verbringen würde, nickte sie. „Warum nicht?“

Er tätschelte wohlwollend ihr Knie und erhob sich. „Das muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein“, wechselte er das Thema. „Was tust du überhaupt hier?“

„Meine Mutter will das Haus verkaufen und ich habe die rühmliche Aufgabe übernommen, es zu entrümpeln.“ Das entsprach zwar nicht der ganzen Wahrheit, aber die ging ihn, da sie für diesen Fall nicht relevant war, auch nichts an.

„Ah, ja.“ Er nickte. Dann fiel sein Blick auf Raphael. Eine Weile sagte er nichts, dann fragte er: „Und was macht er hier?“

„Er?“

„Raphael. Was hat er hier zu suchen?“ Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel über sein Missfallen zu.

„Er befand sich auf dem Weg in den Wald. Er ist Förster“, antwortete sie arglos.

„Ich weiß, dass er Förster ist“, erklärte er ungeduldig, „aber was wollte er hier bei dir?“

„Er bemerkte Licht im Haus.“

Jochen sah sie forschend an. „Und?“ Seine Stimme klang zunehmend gereizt.

„Raphael kam auf Wunsch meiner Mutter, immer wieder mal hier vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Und nachdem so ziemlich jeder im Ort weiß, du bestimmt auch, dass das Haus leer steht, fühlte er sich verpflichtet nachzusehen, wer sich hier aufhält.“ Sie lächelte kopfschüttelnd und erklärte scherzhaft. „Er stand plötzlich vor mir. Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt hat, die Leiche oder er.“

Jochen blickte eine Weile nachdenklich an ihr vorbei. Wieder verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Lass mich mal resümieren. Du nimmst also an, von einem Geräusch geweckt worden zu sein?“

Senta nickte. „Das habe ich dir doch bereits erzählt.“

„Warum hast du nicht gleich nachgesehen, wer oder was dieses Geräusch verursacht hat?“, drang er störrisch weiter in sie.

„Auch darauf habe ich dir schon geantwortet.“ Resignierend atmete sie einmal tief ein und blies die Luft laut wieder aus. „Aber bitteschön. Zunächst überlegte ich, ob ich überhaupt ein Geräusch gehört oder nur geträumt habe. Als ich das Geräusch dann zum zweiten Mal hörte, wollte ich nachsehen, aber bis ich endlich den Lichtschalter fand, hörte ich wie ein Wagen gestartet wurde und …“

„Was geschah dann?“, fiel er ihr ins Wort.

„Ich lauschte dem Geräusch des Wagens nach, das kurz darauf in der Ferne verschwand. Da ich nicht mehr einschlafen konnte, knipste ich das Nachttischlämpchen an, stand auf und machte Kaffee.“

„Kaffee wäre jetzt nicht schlecht“, murmelte er.

Sie sah ihn kurz an, dann lenkte sie ihren Blick zur Küche und erhob sich. „Da ist noch welcher in der Thermoskanne.“

„Darf ich?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten ging er in die Küche.

Sie folgte ihm. „Bedien dich nur.“

„Und was hast du dann getan?“, befragte er sie weiter, während er sich eine Tasse vom Regal nahm, sie kurz unter fließendem Wasser ausspülte und Kaffee eingoss. „Was suchtest du im Schuppen?“

Sie schauderte beim Gedanken an den Schuppen und die Frau, die dort immer noch reglos über dem Holzhaufen lag. „Holz. Mir war kalt. Ich wollte ein Feuer im alten Küchenherd machen.“

Er nippte an der Tasse, stellte sie auf dem Küchentisch ab und setzte sich auf einen der beiden Stühle. Argwöhnisch kniff er die Augen abermals zusammen. „Dass deine Großmutter nicht längst auf Zentralheizung umgestellt hat? Wie konnte sie das bloß aushalten?“

„Was soll das?“, fuhr sie ihn unwirsch an. „Du weißt genau, dass es eine Zentralheizung in diesem Haus gibt. Was hast du eigentlich vor? Glaubst du etwa, ich habe die Frau umgebracht und dort draußen deponiert?“

„Setz dich doch.“ Er deutete auf den anderen Stuhl. „Weshalb also bist du in den Schuppen gegangen?“

„Ich wollte Holz holen“, antwortete sie trotzig, fügte dann aber erklärend hinzu: „Ich erinnerte mich daran, wie gemütlich es immer war, wenn Omi ein Feuer im Beistellherd gemacht hat. Ich wollte in der warmen Küche gemütlich meinen Kaffee trinken. Außerdem habe ich die Heizung heute Nacht nicht angeschaltet. Und wie du sicher bereits bemerkt hast, ist es immer noch kühl im Haus, obwohl Raphael die Heizung inzwischen eingeschaltet und die Heizkörper aufgedreht hat.“

Er legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. „Ist schon gut. Du gingst also in den Schuppen und sahst die Tote? Das war sicher kein angenehmer Anblick für dich“, erwähnte er verständnisvoll.

Senta schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das war’s nicht. Ich stand dermaßen unter Schock, dass ich wie gelähmt dastand und die Frau anstarrte. Ich konnte nicht mal schreien. Verstehst du? In den Krimis schreien die Frauen immer, wenn sie eine Leiche finden, ich konnte das nicht. Ich betrachtete die Leiche wie ein Gemälde.“

„Ah, ja“, Jochen nickte, während die Andeutung eines Lächelns in seinem rechten Mundwinkel sichtbar wurde. „Und“, er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, wo sich Raphael mit einem Beamten unterhielt, „er war auch hier?“

„Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst als ich quasi wieder zu mir kam und den Schuppen verlassen wollte, stand er plötzlich vor mir.“ Sie blickte an ihm vorbei zu Raphael, der im Wohnzimmer am Fenster stand und seinerseits Jochen und sie beobachtete. Ja, er beobachtet uns. Hat er etwas zu verbergen? Befürchtet er, ich könnte ihm mit meiner Aussage schaden? „Im ersten Moment“, murmelte sie vor sich hin, „dachte ich …“

„Ja? Was dachtest du?“, fragte er listig.

Wie erwachend riss sie ihren Blick von Raphael, dessen Name sie auch jetzt wieder an den als humorvoll geltenden Erzengel erinnerte, dem nachgesagt wird, dass er den Menschen während ihres Lebenswegs ein angenehmer Reisebegleiter sei. Raphael scheint seinen Humor jedoch verloren zu haben. Sein Gesichtsausdruck wirkt eher bedrohlich. Sie wandte sich wieder Jochen zu, senkte dann aber den Blick, damit er ihr nicht in die Augen sehen konnte. „Ich war so erleichtert. Ja, heilfroh mit der Toten nicht mehr allein sein zu müssen.“

„Denkst du nicht, es ist genug?“, mischte sich Raphael in das Gespräch. Unbemerkt war er an ihre Seite getreten und legte einen Arm schützend und ja, irgendwie besitzergreifend um ihre Schulter.

Jochen setzte augenblicklich eine undurchdringliche Mine auf, holte einmal tief Luft und senkte seinen Blick. „Ja, es ist genug“, murmelte er. Hervortretende Wangenknochen deuteten darauf hin, dass er, um seine offensichtliche Abneigung gegen Raphael zu verbergen, seine Zähne zusammenbiss. Er erhob sich, stellte sich breitbeinig vor Raphael auf, bedachte ihn mit einem letzten, durchbohrenden Blick und ging.

Ob sich seine Antwort auf die Befragung bezog, konnte sie im Moment nicht klar erkennen. Jedoch erkannte sie, dass die beiden Freunde ihrer Kindertage sich nicht besonders mochten. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zwischen den Männern mehr stand als ein Kuss aus Kindertagen. Jochens Verhalten ließ eindeutig darauf schließen, dass er Raphael diesen Mord nur allzu gerne anhängen würde.

„Wir wären dann soweit“, wandte sich ein Beamter, der neugierig umherblickend das Haus betrat, an Jochen. „Sollten Sie sich selbst noch ein Bild vom Fundort machen wollen, bevor die Leiche weggeschafft wird, müssten Sie das jetzt tun. Der Leichenwagen ist soeben eingetroffen.“

Jochens Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er von der Vorstellung, die Tote ansehen zu müssen, lieber Abstand nehmen würde.

Es war wohl eher selten, vermutete Senta, dass ein Staatsanwalt den Tatort besichtigte.

„Ja. Ja, sicher“, antwortete Jochen pflichtbewusst. „Was sagt die Kollegin von der Pathologie? Wurde sie im Schuppen ermordet? Hat man sie schon identifiziert?“, erkundigte er sich, während er dem Beamten folgte.

„Frau Doktor Bertram geht davon aus, dass die Tote wohl im Schuppen abgelegt, aber nicht hier getötet wurde. Sie konnte noch nicht identifiziert werden, da sie keinerlei Papiere bei sich hat. Fest steht nur, dass sie nicht aus dem Ort stammt“, berichtete dieser.

„Wer sagt das?“

Der Polizist deutete auf Raphael. „Dieser Herr.“

Jochen hob sein Kinn und musterte Raphael einen Moment. „Dieser Herr, so, so. Na dann, lassen Sie uns nach draußen gehen“, meinte er und folgte dem Beamten.

Raphael schob den Stuhl zurück, auf dem eben noch Jochen saß, und nahm darauf Platz. „Warum hast du ihm nicht gesagt, was du wirklich dachtest?“

Irritiert wusste sie eine Sekunde lang nicht, was er meinte. „Habe ich das nicht?“

„Nein, hast du nicht und ich danke dir dafür“, sagte er ruhig.

Eine ganze Weile betrachtete sie nachdenklich sein Gesicht. Dieses Gesicht, das sie am liebsten gestreichelt hätte. Obwohl sie die Antwort längst kannte, konnte sie es sich nicht verkneifen, ihn zu fragen. „Raphael, hast du etwas zu verbergen?“

„Sehe ich so aus?“, stellte er eine Gegenfrage.

Sie nickte. „Ja“, antwortete sie knapp.

Er lehnte sich zurück und überkreuzte die Arme vor seiner Brust. „Und?“

„Was und?“

„Warum hast du verschwiegen, dass du mich für den Mörder hieltest?“

Sie musterte ihn eine Weile stumm, dann lächelte sie. „Weil du keiner bist. Ja, ich gebe es zu, in dem Moment, als ich gegen dich prallte, dachte ich tatsächlich, dass der Mörder zurückgekommen ist, aber als du dich zu erkennen gabst, wusste ich, dass du nicht der Mörder sein kannst.“

Er lächelte nun ebenfalls. „Aber nicht sofort.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht sofort. Aber das lag am Schock.“

Nachdenklich nickend ergriff er ihre Hand und streichelte sanft ihren Handrücken. „Was gibt dir Gewissheit, dass ich es nicht getan habe? Wie sagtest du noch? Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.“

„Bist du verheiratet?“, platzte sie mit der Frage heraus, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte. Im selben Augenblick hätte sie sich am liebsten auf ihren vorlauten Mund geschlagen. Sie fühlte Hitze in ihrem Körper aufsteigen und wie sich eine verräterische Röte auf ihre Wangen legte. Obwohl sie wusste, es würde die Peinlichkeit der Situation nicht mehr ändern, presste sie ihre Lippen fest zusammen und senkte verlegen den Blick. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.

Raphael jedoch beschäftigte offenbar eine ganz andere Frage. Sein starrer Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen.

Als sie annehmen durfte, dass er die Frage gar nicht gehört hatte, atmete Senta erleichtert auf.

Plötzlich blinzelte er. Wie erwachend blickte er ihr direkt in die Augen und fragte unterkühlt: „Was hat das damit zu tun?“

Sentas Herz tat einen Sprung. Sie riss die Augen auf, hob die Achseln an, senkte sie wieder und schluckte. Auf diese Weise gewann sie genügend Zeit, um sich eine passende Antwort zu überlegen. „Wie wir mittlerweile beide bemerkten, fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit“, erklärte sie harmlos. „Es interessiert mich einfach.“

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, antwortete er knapp. „Sonst noch Fragen?“

„Nein – nein. Es …, es tut mir leid“, stotterte sie kopfschüttelnd.

Plötzlich grinste er. „Was tut dir leid? Dass ich nicht verheiratet bin oder dass du gefragt hast?“

„Ja – nein. Was machst du …, mein Gott, ich bin völlig durcheinander.“

Mit zusammengepressten Lippen versuchte er, sich das Lachen zu verkneifen. Dabei schien er ihre Verwirrung sichtlich zu genießen. „Du denkst doch nicht etwa, der Kuss ist …“

„Der Kuss?“, unterbrach sie ihn hastig – zu hastig. „Welcher Kuss?“

Er winkte ab. „Du kommst nun sicher allein zurecht.“

Sie nickte heftig. „Ja. Es geht schon.“

Er entfernte sich einige Schritte von ihr, blieb stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Oder willst du, dass ich bleibe?“

Senta bekam keine Gelegenheit mehr, ihm zu antworten.

Einer der Beamten kam polternd herein und stellte sich vor Raphael auf. „Herr Mayrhofer, Sie sind vorläufig festgenommen wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes an der noch nicht identifizierten Toten. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie ab jetzt sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden und Sie haben das Recht einen Anwalt zu konsultieren.“

Entsetzt sprang Senta auf. „Wie bitte? Wer hat das angeordnet?“, fragte sie empört.

„Staatsanwalt Grimmeisen“, war die knappe Antwort.

Senta blickte von dem Beamten zu Raphael, der ungläubig den Kopf schüttelte, da er anscheinend ebenfalls nicht fassen konnte, was da vor sich ging.

„Dieser bornierte Lackaffe“, presste er wütend durch seine Zähne. Dann sah er sie bittend an. „Kann Sam bei dir bleiben?“

Sie nickte kaum merklich. „Ja, natürlich. Was kann ich sonst noch für dich tun?“

Raphael beugte sich zu ihr hinunter, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und bat leise: „Ruf Doktor Pauli an.“

„Bist du etwa krank?“, erkundigte sie sich besorgt. Im selben Augenblick wusste sie wie dämlich ihre Frage war.

Raphael verdrehte auch prompt die Augen. „Er ist Anwalt. Wirst du das für mich tun?“

„Das wird nicht nötig sein“, unterbrach ihn Jochen, der passenderweise genau rechtzeitig eingetreten war, um Raphaels letzte Worte zu hören und nun überheblich von Senta zu Raphael blickte. „Du kannst deinen Anwalt selbstverständlich vom Präsidium aus anrufen“, fügte er erklärend hinzu, als der Beamte Raphael Handschellen anlegte.

„Ist das wirklich nötig?“, empörte sich Senta, während der Polizist Raphael bereits unsanft abführte.

Jochen zuckte gleichgültig mit den Achseln.

„Vorschrift!“

Bevor Raphael durch die Terrassentür verschwand, warf er ihr noch einen letzten bittenden Blick zu.

Senta drückte beide Augen zu und nickte unmerklich, dann warf sie Jochen einen strafenden Blick zu. Und so was nennt sich Freund.

Jochen wich unwillkürlich ein wenig zurück. „Ich muss ihn festnehmen lassen, wenn ich nicht als befangen gelten will“, erklärte er und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Aber ich werde alles tun, dass diese Geschichte schnellstmöglich aufgeklärt wird. Ich kann mir doch ebenso wenig vorstellen, dass Raphael ein Mörder ist.“

„Und mit welcher Begründung verhaftest du ihn denn?“, entgegnete sie erregt.

„Die Indizien sprechen für sich und gegen Raphael“, antwortete er aufreizend ruhig.

„Indizien. Welche Indizien?“, begehrte sie auf. „Ich sehe hier keine Indizien.“

Er trat auf sie zu, packte sie an den Oberarmen als wolle er sie schütteln, ließ sie aber im nächsten Moment wieder los und wandte sich von ihr ab. „Zermartere dir deswegen nicht dein reizendes Köpfchen“, murmelte er und fügte laut und deutlich hinzu: „Überlasse das den Leuten, die etwas davon verstehen.“

Senta fühlte sich plötzlich ausgelaugt wie nach einem Marathonlauf. Die Lust mit Jochen zu diskutieren war ihr gründlich vergangen, darum entschied sie, es zu lassen. Es erschien ihr zwecklos, Raphael auf diese Weise helfen zu können. Mit Gezeter konnte man bei Jochen noch nie etwas erreichen. „Sicher hast du recht“, lenkte sie darum ein.

Er musterte sie eine Weile als könne er in ihrem Gesicht lesen, ob sie wirklich meinte, was sie sagte. „Sehen wir uns heute Abend? Ich kenne da ein Lokal, hervorragende Küche, exzellente Weine. Na, wie ist es?“

Sie lächelte entschuldigend. „Ich denke nicht“, gab sie zögernd von sich und fügte erklärend hinzu: „Du verstehst sicher, dass mir nach einem Ereignis wie diesem, der Sinn nicht nach einem fröhlichen Abend steht?“

Mit zwei Fingern streichelte er zärtlich über ihre Wange. „Du bist verärgert. Alles ist wieder wie damals. Ich bin der böse Junge, der den armen, so unschuldig wirkenden Raphael piesackt. Aber du täuschst dich. Wir sind inzwischen erwachsen geworden. Ich wollte dich lediglich ein wenig ablenken“, bemerkte er enttäuscht.

Senta wollte nur endlich ihre Ruhe haben und was den Abend betraf, mochte sie ihn entschieden lieber, gemütlich unter einer warmen Decke, auf dem Sofa verbringen. Aber so wie er sie jetzt ansah, tat er ihr fast leid. Außerdem kam ihr plötzlich ein Gedanke, der es ihres Erachtens wert war, verfolgt zu werden. Womöglich ist es nicht schlecht, mich gut mit ihm zu stellen? Sie nickte. „In Ordnung. Warum nicht?“

„Gegen acht?“

Sie nickte abermals.

„Du wirst es nicht bereuen. Ich freue mich darauf, alles von dir zu erfahren, was du während der letzten Jahre so getrieben hast.“ Er war fast zur Tür draußen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ach, und lass die nächsten Tage die Zentralheizung an. Wir haben den Schuppen erstmal versiegelt, wegen der laufenden Ermittlungen.“

Sie erhob sich und trat ans Küchenfenster.

Zwei schwarz gekleidete Männer schoben einen grauen Blechsarg in den Leichenwagen.

Senta lief ein Schauer über den Rücken, wodurch sich eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen bildete. Ein erschreckender Anblick. Gehört nicht hierher. Gehört ins Fernsehen oder ins Kino – Tatort oder irgendein anderer Krimi. Allenfalls noch in die Nachrichten. Dass ausgerechnet in ihrer Umgebung ein Mord geschehen würde, hätte sie nie für möglich gehalten. Ihr wurde erneut übel. Wieder sah sie das blasse Gesicht mit den aufgerissenen Augen vor sich. Warum musste diese Frau sterben? Wem war sie im Weg? Hat sie ihren Mörder gekannt? Der Ausdruck in diesen starren Augen … Und der Mörder? Wo hat er die Frau umgebracht? Im Schuppen sicher nicht. Er hat sie dort nur abgelegt. Und zwar, weil er wusste, dass das Haus zurzeit leer steht. Folglich kennt sich der Mörder im Ort aus. Denn außer den Dorfbewohnern wussten nur ich und natürlich Mama und Papa davon.

Autotüren wurden zugeschlagen. Der Leichenwagen fuhr vom Grundstück, das mittlerweile von Gaffern nur so wimmelte.

Wie konnten all die Leute davon erfahren?

„Hier gibt es nichts zu sehen“, erklärte ein Polizist, um die Leute zu verscheuchen. Doch obwohl er ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen schritt, wollte es ihm offensichtlich nicht so recht gelingen.

Senta konnte die sensationslüsterne Neugier der umstehenden Menschen nicht verstehen. Andererseits, wann geschieht schon mal in einem Kuhdorf – wie Mami sagt – etwas so außergewöhnlich Tragisches wie ein Mord? Hier stirbt man anständig … im Bett. Allenfalls noch durch einen Unfall auf der Straße.

Sie vernahm leises Winseln. Ihr Blick fiel auf Sam, der immer noch auf demselben Platz saß, auf dem er schon saß, als Raphael sich von ihm verabschiedet hatte. Er wirkte ein wenig verloren mit seinem gesenkten Kopf und dem Blick, der sie immer wieder unauffällig musterte, ohne den Kopf auch nur einmal anzuheben. Vielleicht fand sie ja ein Leckerli, das sie ihm geben konnte. Also wandte sie sich vom Fenster ab und bewegte sich langsam, fast apathisch auf den Geschirrschrank zu. Sie nahm eine kleine Schüssel heraus, füllte Wasser hinein und stellte sie vor Sam auf den Boden. Dann holte sie den Ring Fleischwurst aus dem Kühlschrank, den sie am Abend zuvor mit einigen anderen Lebensmitteln von zuhause mitgebracht hatte, und schnitt eine dicke Scheibe herunter.

Als sie auf Sam zuging, hob er den Kopf und winselte als wolle er sagen: „Gut, dass du da bist, aber kannst du mir mal erklären, warum ich hier bin?“ Er machte keinerlei Anstalten von dem Wasser zu trinken. An der Wurst schnupperte er kurz, ließ sie aber unbehelligt liegen.