Morgen hast du mich vergessen - Gabriele Walter - E-Book

Morgen hast du mich vergessen E-Book

Gabriele Walter

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Beschreibung

Morgen hast du mich vergessen Als Milan an Alzheimer erkrankt, steht Sophie ihm zur Seite. Doch dann gerät er zunehmend in Situationen, die er als belastend für Sophie empfindet und entscheidet sich, während eines klaren Moments, ins Pflegeheim zu gehen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt tritt Jonathan, der weltberühmte Pianist und Sophies Jugendliebe, wieder in ihr Leben und stürzt sie in ein Gefühlschaos. Da erleidet Milan einen Unfall und eine darauf folgende Untersuchung bringt überraschende Erkenntnisse. Sophie wird vor eine schwere Entscheidung gestellt.

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„Das Glück des Lebens besteht nicht darin, wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.”

- Carl Hilty -

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 1

Sophie steckte die letzte Kerze auf Milans Geburtstagstorte und trug sie auf den festlich gedeckten Frühstückstisch. Sie hoffte, er würde Gefallen daran finden, zumal es sich um seine Lieblingstorte handelte – Nusstorte.

Letztes Jahr hatte er sich dadurch an Geschehnisse erinnert, die sie selbst längst vergessen hatte. Solche Tage waren selten geworden, seit vor etwa vier Jahren der schleichende Prozess des Vergessens begonnen hatte.

Sie erinnerte sich an die Tage, als sie manchmal über seine Vergesslichkeit sogar gelacht hatten. Unwillkürlich legte sich bei diesem Gedanken ein Lächeln auf ihre Lippen.

Dann hatte er begonnen, sich Notizen zu machen. Zunächst lagen Zettelchen auf seinem Schreibtisch und klebten an seinem PC. Dann lagen welche auf seinem Nachtkästchen. Als Sophie einmal einen fragenden Blick darauf warf, meinte er nur, dass er das am anderen Tag nicht vergessen dürfe. „Ich bin jetzt in einem Alter, da vergisst man schon mal was“, tat er seine Vergesslichkeit lapidar ab.

Schon, dass er sein Alter erwähnte, empfand Sophie als äußerst irritierend, da er von Jugend an sehr auf sein Äußeres geachtet hatte. Und trotz der grau melierten Haare sah Milan immer noch fantastisch aus.

Sophie war vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens fasziniert von seiner Erscheinung. Noch bevor sie damals seine Gestalt in Augenschein genommen hatte, war ihre Aufmerksamkeit von seinen mit schwarzen Wimpern umrahmten, bernsteinfarbenen, geradezu mystisch anmutenden, mitunter gar eine gewisse Kälte ausstrahlenden Augen angezogen worden. Vor allem da diese Kälte von den winzigen Lachfältchen an den Augenaußenwinkeln als Lüge enttarnt wurde und seinem männlich markanten Gesicht sympathische Züge verlieh.

Seinen sportlichen Körper verdankte er dem täglichen Joggen und den wöchentlichen Besuchen in den Fitnessstudios, die er stets als erstes auskundschaftete, egal wo er sich gerade befand auf dieser Welt. Er hatte im Keller einen Freizeitraum mit etlichen Sportgeräten eingerichtet, noch bevor er vor etwa zwei Jahren mit dem Laufen aufhörte. Bis vor wenigen Monaten hatte er die Geräte regelmäßig, wenn auch zunehmend kürzer benutzt. Inzwischen hatte er ganz damit aufgehört. Außerdem hatte er sich, was seine Gesundheit anging, schon immer ausgewogen und abwechslungsreich ernährt. Wenig Alkohol, am Abend mal ein Glas Wein, kaum Süßigkeiten, wenn überhaupt, dann Obst und ab und an ein Stück Kuchen. Kuchen liebte er.

Wie auch immer, Tage nach diesem Gespräch öffnete sie morgens die Kühlschranktür und nahm verwundert Milans Lesebrille, die er bereits nach dem letzten Abendessen gesucht hatte, von der Wurstdose. Das bestätigte Sophies Vermutung, dass mit Milan etwas nicht stimmte. Nachdem sie ihn darauf angesprochen hatte, war er wütend geworden, hatte sie angeschnauzt, seine Brille aus ihrer Hand gerissen und war aus dem Haus gelaufen.

Als er jedoch eines Abends völlig außer sich und erschöpft von seinem Büro bei der Mainpost nach Hause gekommen war und erklärt hatte, er sei gelaufen, weil er vergessen habe, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, willigte er ein einen Arzt aufzusuchen. Nach einigen Tests folgte die Diagnose: Alzheimer. Er erhielt Medikamente, die das Fortschreiten der Krankheit entschleunigen sollten. Aufhalten ließ sich die Krankheit dadurch jedoch nicht.

Seit Wochen beunruhigte sie diese innere Unruhe an ihm, die vor einigen Wochen aufgetreten war. Oftmals ließ ihn diese rastlos durch die Räume ihres Hauses irren – mit zunehmender Kleinschrittigkeit, als würden seine Füße am Boden kleben. Auch nachts wanderte er häufiger, von Schlaflosigkeit geplagt, durch die Räume.

Nicht immer bemerkte sie es und so hatte sie ihn schon ab und zu am Morgen schlafend auf seinem Lieblingssessel vorgefunden. Natürlich war es dadurch nicht ausgeblieben, dass sie sich große Sorgen um sein Wohlergehen gemacht hatte. Zunächst war er selbst verwundert und meinte nur, es ginge ihm so viel durch den Kopf. „Ich musste nachdenken“, erklärte er dann.

Vor Monaten hatte er damit begonnen, Kurzgeschichten niederzuschreiben über Ereignisse, die er während seiner Zeit als Korrespondent in London, Prag, Kapstadt und zuletzt in Washington erlebt hatte. Und er führte Tagebuch. Er schrieb alles auf, was ihm tagsüber einfiel, und alles, was er vergessen und an das er sich später wieder erinnert hatte.

An manchen Tagen vergaß er es, dann erinnerte ihn Sophie daran. Daraufhin erinnerte er sie stets daran, dass sie ihm versprochen hatte, dieses Tagebuch eines Tages weiterzuschreiben. „Wenn ich mich längst verloren habe. Wenn ich …, wenn all das, was mich ausmacht, nicht mehr existiert“, pflegte er dann oft zu sagen. Meistens verlor sich dann sein Blick in der Ferne. Obwohl er nie davon sprach, dass ihn dieser Gedanke ängstigte, wusste Sophie um seine Gefühle.

Gerade hatte Sophie die Torte mitten auf dem Tisch abgestellt, als Milan fertig angezogen mit seiner Laptoptasche unter dem Arm das Esszimmer betrat.

„Was hast du vor?“, fragte Sophie verblüfft.

„Was habe ich wohl vor? Ich fahre nach Bonn. Michail Gorbatschow landet heute in Deutschland und ich führe das Interview. Du weißt doch, wie sehr ich den Mann verehre“, erklärte er aufgeregt.

„Oh!“ Das war Juni 1989, dachte Sophie. Sie musste nicht lange überlegen, wie sie ihn dazu bringen konnte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Inzwischen war sie geübt darin, ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Schatz, bevor du fährst, musst du mir aber noch den großen Karton vom Schlafzimmerschrank herunterheben.“

„Wenn es denn unbedingt sein muss“, erklärte er großmütig. Sofort legte er seine Tasche auf das Sideboard, eilte vor Sophie ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. „Was wolltest du noch?“

„Ach, weißt du was, das hat sich erledigt. Jetzt frühstücken wir erst mal gemeinsam, wie jedes Jahr an deinem Geburtstag“, erklärte Sophie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf den Mund. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte sie lächelnd, bevor sie seine Hand ergriff und ihn ins Esszimmer zog. „Schau, ich habe eine Geburtstagstorte für dich gebacken.“

„Müssten da nicht mehr Kerzen drauf sein?“, fragte er humorvoll, als er sich der Torte zuwandte.

Sophie lächelte. „Stimmt, aber fünfundfünfzig Kerzen bringt man auf einer so kleinen Torte nicht ganz einfach unter.“

„Musst du nächstes Mal eben eine größere kochen.“

„Backen“, verbesserte ihn Sophie unwillkürlich.

„Hab ich doch gesagt“, fuhr er sie an. Doch sogleich lächelte er wieder und fragte: „Soll ich sie ausblasen?“

„Na klar und du darfst dir auch etwas wünschen.“

„Was soll ich mir wünschen?“ Plötzlich schaute er sie durchdringend, so offenbar mit klarem Verstand an, ehe er sagte: „Wirst du mich verlassen? Ich bin dir doch nur noch eine Last.“

Bevor Sophie ihn hinsichtlich seiner Angst beruhigen konnte, schlug seine Stimmung wieder um. Er klatschte einmal in die Hände, beugte sich über die Torte und blies die Kerzen aus.

Seine Fahrt nach Bonn und Michail Gorbatschow waren vergessen.

Nachdem er sich gesetzt hatte, verlief das Frühstück wie an jedem Morgen. Selbst der anschließende Spaziergang war seit einigen Monaten zur Routine geworden.

Während der Nacht hatte es zu schneien begonnen. Eine weiße Schneedecke bedeckte die Umgebung. Sophie liebte den Winter und freute sich an der glitzernden Pracht.

„Es ist Winter“, flüsterte Milan. „Ich mag nicht Schlittschuhlaufen.“

„Schlittschuhlaufen?“, fragte Sophie irritiert.

„Ja. Ich mag das nicht. Der Kerl hat dich geküsst. Ich erinnere mich genau an diesen Idioten, der mit dir über das Eis tanzte. Dieser Musikerfuzzi, den du damals so angehimmelt hast. Wie hieß der nochmal …?“

Sie hatte es sich größtenteils abgewöhnt, von der Zukunft zu sprechen, da Milan selbst das, was für die folgenden Stunden geplant war, wieder vergaß. In seiner Begleitung sprach sie nur über die Gegenwart und sehr oft über die Vergangenheit. Da kamen mitunter Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend zum Vorschein, von denen er ihr nie erzählt hatte. Manchmal traten auch Erinnerungen hervor, die sie gemeinsam erlebt und sie selbst längst vergessen hatte.

Sophie blieb stehen und schaute ihn einige Sekunden unverwandt an. „Ich weiß jetzt nicht, was du …?“

„Jetzt tu bloß nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine. Der Kerl …, wie heißt der nochmal?“, überlegte Milan einige Sekunde krampfhaft, bevor er sich mit dem Handballen gegen die Schläfe klopfte, als könne er dadurch seine Gedanken ordnen. „Jo! Wie kann man nur Jo heißen?“

„Du meinst Jonathan Ottinger. Jo, ist die Abkürzung seines Namens“, erklärte Sophie.

Milan nickte zustimmend vor sich hin. „Schnee! Ist das nicht schön?“, sagte er plötzlich.

Während sich für Milan das Fenster zur Erinnerung bereits wieder geschlossen hatte, erinnerte sich Sophie plötzlich umso deutlicher an jenen Tag und ein leises Kribbeln machte sich in ihrem Magen bemerkbar. Jo! Ja …, Jonathan Ottinger. Mein Gott, war ich verschossen in dich. Ich sehe es noch vor mir, als wäre es gestern gewesen …

***

„Was meinst du, besuchen wir nachher die Schlittschuhbahn?“, fragte sie Milan bewusst begeistert, obwohl sie wusste, dass er mit diesem Wintersport „sinnlos umhergleitender Schlittschuhläufer“ nichts anzufangen wusste. Aber für Sophie gab es nichts Schöneres, als im Winter über die Eisbahn zu flitzen und Pirouetten zu drehen. Also musste sie ihn dazu bringen, diesen Sport genauso zu lieben, wie sie selbst es tat.

„Das tut mir leid, ich kann das nicht.“

„Du kannst nicht Schlittschuhlaufen?“, tat Sophie unwissend, obwohl sie sich sehr wohl daran erinnerte, dass er das bereits einmal erwähnt hatte, und ermunterte ihn. „Das ist ganz leicht. Ich bringe es dir gerne bei.“

„Ich weiß nicht?“, erwiderte er lustlos.

„Jetzt gib dir mal ’nen Ruck. Du weißt nie, ob du etwas kannst, bevor du es nicht zumindest versucht hast“, ermunterte sie ihn und bettelte mit einem Blick, der das Herz eines Steins – hätte dieser ein solches – zum Erweichen gebracht hätte. „Komm schon, lass uns Spaß haben!“

Wie hätte Milan seiner geliebten Sophie diese Bitte abschlagen können? Wenig später betraten sie die Eisbahn und sie erklärte ihm auf einleuchtende Weise, wie er sich auf dem Eis verhalten sollte.

„So, jetzt öffne die Fußspitzen. Die Fersen sollen sich berühren. Und nun verlagere beim Laufen das Gewicht von einem Bein auf das andere, damit sich die Füße nebeneinander statt voreinander bewegen. Am besten du hältst deine Knie leicht gebeugt, gehst sozusagen ein wenig in die Hocke. So hast du einen viel besseren Stand“, erklärte sie. „Beginne mit kleinen Schritten. Hey! Nicht nach unten schauen, schau nach vorne. Schau mich an.“

Milan machte vorsichtig den ersten, den zweiten Schritt und stolperte. Als er sich, an Sophie klammernd, wieder gefangen hatte, meinte er schmunzelnd: „Es ist wunderschön in enger Umarmung mit dir zu stehen, aber muss das wirklich auf Eis sein?“

Sophie lächelte aufmunternd. „Jetzt gib nicht gleich auf. Du lernst das schon. Schließlich bist du ein sportlicher Typ.“

„Das hast du also bemerkt?“, fragte er bemüht heiter mit versteckter Skepsis.

„Wer nicht!“, stimmte sie seiner Bemerkung zu, da ihr bereits mehrfach aufgefallen war, wie sehr er von Studentinnen angehimmelt wurde.

„Nein, Sophie, bring mich bitte runter. Ich lerne das nie“, bat er resignierend, nachdem er ein weiteres Mal gestolpert war.

„Na gut. Ich hab eine Idee. Du setzt dich auf die Bank, ziehst die Schlittschuhe aus und besorgst uns einen Glühwein! Ich drehe inzwischen noch eine Runde. Wer weiß, wann ich sonst wieder dazu komme. Und wenn du möchtest, gehen wir danach zu dir.“

Bei der Aussicht auf einen gemeinsamen Abend mit ihr in seiner Wohnung hellte sich sein Gesicht auf. „Meinetwegen. Eislauf ist eben nicht so mein Ding.“

Während Milan auf der Bank Platz nahm und damit begann, sich von den Schlittschuhen zu befreien, flitzte Sophie wie ein Wirbelwind über die Eisbahn. Sie hatte das Schlittschuhlaufen bereits als Fünfjährige von ihrem Vater gelernt, der schon als Junge mit Schulfreunden Eishockey gespielt hatte. Er war also ein ausgezeichneter Läufer und für sie ein ebenso guter Lehrer.

Hintereinander machte sie zwei Sprünge, drehte eine Pirouette und lief rückwärts weiter. Plötzlich fühlte sie eine Hand, die ihre linke fest zupackend ergriff. Dem Läufer erstaunt einen Blick zuwerfend, ließ sie sich auf seine offensichtliche Aufforderung ein, gemeinsam mit ihm zu laufen. Ihr Herz begann einige Takte schneller zu schlagen und ein süßes Prickeln lief über ihren ganzen Körper. Dieses sinnliche Knistern, das sie stets bei seinem bloßen Anblick verspürte, übermannte sie nun auf eine geradezu exorbitante Weise. Mit keinem anderen Mann hatte sie sich jemals zuvor so verbunden gefühlt. Wie ein mächtiger Strudel zog seine Berührung sie aus der Realität in ein Universum, in dem es nur zwei Menschen gab: Sie und ihn. Als er sie nun mit einer schwungvollen Drehung fest an seinen Körper zog, schmiegte sie sich einen kurzen Moment an ihn und ließ zu, dass er auch ihre rechte Hand ergriff.

Nach einer gemeinsamen Umdrehung ließ Jonathan ihre rechte Hand wieder los und drehte sie mit einem leichten Zug nach außen von sich weg. Bevor sie sich jedoch von ihm lösen konnte, zog er sie erneut an sich und tanze einige Umdrehungen mit ihr in Walzermanier übers Eis.

Sie konnte nicht anders, als diesen Spaß zu genießen. Denn ein Spaß war es durchaus, so wundervoll leicht mit einem Partner übers Eis zu tänzeln. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie sich fühlte.

Jonathan lachte ebenfalls fröhlich.

Jeder konnte sehen, wie wunderbar die beiden Menschen harmonierten und wie sehr es zwischen ihnen knisterte.

Doch dann plötzlich war da dieser Moment, als Sophie erkannte, was sie hier tat. Abrupt ließ sie ihn los, um sich mit einer Drehung von seiner fest auf ihrem Rücken liegenden Hand zu befreien. Er jedoch beeilte sich, sie zu erreichen und ihre Hand erneut zu ergreifen. Doch diesmal entzog sie sich seinem Griff und stieß ihn von sich.

„Sophie!“, rief er und lief ihr hinterher. „Verdammt nochmal! Jetzt lass uns doch mal Spaß haben!“

„Lass mich in Ruhe!“, rief sie zurück und beeilte sich, an die Bande zurückzukommen, wo Milan bereits mit einem Becher Glühwein auf sie wartete. Sie verließ die Eisbahn, nahm Milan das noch lauwarme Getränk ab und trank hastig einen kräftigen Schluck, worauf sie sich auch gleich verschluckte. Hustend und nach Luft ringend gab sie Milan den Becher zurück.

„Langsam, das nimmt dir niemand weg“, spöttelte Jonathan – der ihr bis zur Bande gefolgt war – und klopfte ihr sachte auf den Rücken.

„Hau ab!“, krächzte sie zwischen Husten und Luftholen, während sie ihren Ellbogen nach hinten stieß, um ihn wegzustoßen.

Der Schlag an seine Brust kam so unerwartet, dass Jonathan das Gleichgewicht verlor und auf dem Hintern landete. „Verdammt! Was habe ich dir eigentlich getan?“

Ja, was hast du mir getan?, fragte sich nun auch Sophie. Und schon tat ihr der rücksichtslose Schlag leid. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. „Tut mir leid.“ Doch Sophie hatte nicht mit der Kraft gerechnet, mit der er nun an ihr zog. Statt ihm aufhelfen zu können, verlor sie den Halt und stolperte direkt auf ihn.

„Ah!“, stöhnte er, blickte ihr eine Sekunde tief in die Augen, bevor er seine Hände spontan an ihr Gesicht legte und sie küsste.

Sophie fühlte sich von Jonathans Kuss derart überrumpelt, dass sie nicht anders konnte, als ihn zu erwidern. Oh Jo, lass uns das nie wieder beenden, dachte sie eine Sekunde. Doch im nächsten Moment spürte sie Milans Hände an ihrer Schulter. Ernüchtert löste sie sich aus Jonathans Umarmung. Mit Milans Hilfe rappelte sie sich auf. Ohne sich weiter um Jonathan zu kümmern, ging sie zur Bank und begann ihre Schlittschuhe auszuziehen.

„Können wir dann gehen?“, fragte Milan sichtlich verärgert.

***

Während sich Sophie an diese durchaus reizvolle Geschichte erinnerte, musste sie unwillkürlich lächeln.

„Findest du das lustig? Sophie! Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte Milan unzufrieden.

Sophie blieb stehen, besah sich die Landschaft und holte tief Luft. Sie hatte kein Wort von dem gehört, was Milan ihr berichtet hatte. Schuldbewusst suchte sie eilig nach einer Erklärung, die ihn zufriedenstellen konnte. „Entschuldige, ich war gerade in Gedanken bei … Fynn. Letztes Jahr an Weihnachten …, erinnerst du dich? Der kleine Wildfang hätte fast den Weihnachtsbaum umgeworfen? Gott sei Dank ist nicht mehr passiert als ein paar zerbrochene Kugeln.“

„Ach ja? Nein, ich erinnere mich nicht“, erklärte er nachdenklich. Plötzlich blieb er stehen und sagte: „Aber ich weiß noch, wie wir die Glaskugeln in diesem Antiquitätengeschäft in Nürnberg erstanden haben. Sie lagen dort in der Auslage und du warst restlos begeistert. Du hast gegrinst wie ein Honigkuchenpferd und ich konnte deiner fast kindlichen Freude, sie entdeckt zu haben, einfach nicht widerstehen. Wir haben damals nicht nur die Kugeln aus dem Schaufenster gekauft.“

„Stimmt! Und mir hat das Herz geblutet, als immerhin drei davon zu Bruch gegangen sind. Deine Schwester hat sich bereits für dieses Weihnachten angemeldet“, berichtete sie. „Ich habe mich eben gefragt, ob der Junge sich wohl noch immer so wild gebärdet. Vielleicht sollte ich Plastikkugeln an den Baum hängen“, überlegte sie.

„Ja, das ist eine gute Idee.“

„Findest du?“, fragte Sophie, während sie stehen blieb und ihn anlächelte, da sie seine Abneigung für alles Künstliche und vor allem für Plastik kannte.

„Keine gute Idee?“, fragte er nachdenklich und fügte nach einigen Sekunden erkennend hinzu: „Ich mag kein Plastikzeug.“

„Stimmt! Wir werden später darüber sprechen. Aber du wolltest mir etwas erzählen?“

„Wollte ich das? Lass uns nach Hause gehen. Mir ist kalt.“

Sophie war das recht. Sie hatte noch einiges für den Abend vorzubereiten, da sie Gäste erwarteten. Obwohl Milan sicher längst vergessen hatte, dass heute sein Geburtstag war, wollte sie ihn mit ihrer Mutter und einigen Freunden feiern. In so geselliger Runde lebte Milan immer wieder auf, und manchmal erinnerte er sich durch die Gespräche an Geschehnisse, die sein Leben bereichert hatten. Sophie wollte ihm diese Erinnerungen erhalten, solange es möglich war.

***

Wie erwartet kam ihre Mutter bereits eine halbe Stunde, bevor die anderen Gäste eintreffen würden. Sie hatte Sophie versprochen, ihren allseits beliebten Kartoffelsalat fürs Abendessen beizusteuern. Der Schweinebraten in der Röhre hatte bereits die erwartete Farbe angenommen. Sophie gab noch einen kräftigen Schuss Bier an die Soße.

„Ich war heute Nachmittag an Papas Grab“, berichtete Daniela Kampmann. „Stell dir vor, wen ich da getroffen habe.“

Sophie wandte sich fragend ihrer Mutter zu, während sie die Temperatur etwas höher drehte, damit der Braten auch die gewünschte knusprige Kruste erhielt.

„Diesen weltberühmten Pianisten. Du kennst ihn doch auch. Warte, wie heißt der noch? Ottinger. Jonathan Ottinger. Warst du nicht sogar mal in den verschossen? Ja und wie! Komisch, dass ich mich jetzt erst daran erinnere. War das ein Drama damals. Und dann bist du zum Studium nach Florenz zu Gina gezogen.“

„Seltsam, dass du das jetzt sagst“, erwiderte Sophie und erklärte: „Milan hat mich heute Nachmittag ebenfalls an ihn erinnert.“

„Ach ja? Wie denn das?“

„Das erzähle ich dir ein anderes Mal“, sagte Sophie, als in diesem Moment die Türglocke anschlug.

Birgit und Hannes Wintertaler, ein Ehepaar, das vor Jahren in das Haus zwischen ihrem und dem ihrer Mutter eingezogen und zu guten Freunden geworden waren, betraten gut gelaunt das Haus. Ein ehemaliger Kollege von Milan und dessen Ehefrau, gefolgt von Robert und Laura, schlossen die Gästeliste.

Alle ließen sich Sophies Abendessen schmecken und lobten die Köchin. Auch der restliche Abend verlief wie erwartet fröhlich und heiter. Da die Gäste um Milans Alzheimererkrankung wussten, konnten sie entsprechend agieren. Dennoch gab es Momente, da wirkte Milan, als wäre er gedanklich weit weg und wie in sich selbst versunken. Dann wieder schien es so, als folgte er aufmerksam den Gesprächen und verhielt sich, als hätte er alles unter Kontrolle. Er lächelte, nickte bejahend, selten verneinte er. Doch Sophie kannte dieses Verhalten, eine Fassade aufzubauen, und wusste um das Bestreben, seine Schwäche zu überspielen.

Als der letzte Gast das Haus verlassen hatte, begann Sophie den Tisch abzuräumen. Sie konnte es nicht leiden, nach so einem feuchtfröhlichen Abend am anderen Morgen ein Chaos vorzufinden. Also trug sie die Gläser in die Küche. Milan folgte ihr mit einigen leeren Flaschen und stellte sie in den Flaschenkorb.

„Danke für den reizenden Abend. Ist doch immer wieder schön, so ein Treffen mit Familie und Freunden. Allerdings verstehe ich nicht, weshalb die alle auf einmal da waren.“

Sophie nickte verstehend. „Aber Liebling, es war wegen deines Geburtstages. Du hast heute Geburtstag.“

„Ach ja …? Ja, jetzt erinnere ich mich an den Kuchen mit Kerzen“, antwortete er nachdenklich. Plötzlich sah er Sophie mit klarem Blick an, dann legte er seine Arme zärtlich um sie und sagte: „Es tut mir so leid, dass ich dir das antue. Sophie, ich liebe dich wie am ersten Tag oder noch viel mehr. Dass du auch jetzt noch an meiner Seite bist, dafür danke ich dir. Aber bitte versprich mir, dass du mich in eine Pflegeeinrichtung bringst, wenn es schlimmer wird.“

„Ich verspreche es“, sagte Sophie.

„Du bist schön“, sagte er und fügte mit einem Blick auf das Geschirr hinzu: „Lass das jetzt stehen, es gibt Wichtigeres, oder bist du zu müde?“

Sophie hätte gerne „ja, das bin ich“ gesagt. Aber sie wusste um sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit. In letzter Zeit blieb es nach solchen Offerten ohnehin beim Kuscheln, da sein Begehren nach sexueller Aktivität durch die Krankheit zunehmend zurückgegangen war. Ihre eigenen Wünsche hatte sie seinen angepasst. Obwohl sie in diesem Moment etwas in seinen Augen las, das kurz in ihr den Wunsch nach körperlicher Nähe weckte, ahnte sie bereits, dass es auch in dieser Nacht bei zärtlichen Berührungen bleiben würde.

Wenig später lag sie darum nur wenig enttäuscht neben ihrem leise schnarchendem Ehemann. Sie zog die Steppdecke über seine Schultern und drehte sich auf die Seite.

Kapitel 2

„Guten Morgen, Liebling. Möchtest du heute gar nicht aufstehen?“, fragte Sophie, als sie am Morgen das Schlafzimmer betrat. „Der Kaffee ist fertig und das Frühstück wartet.“

Milan murmelte etwas vor sich hin, das Sophie nicht verstand, drehte sich auf die andere Seite und zog die Decke über seinen Kopf.

Sie versuchte erneut ihn zu motivieren, doch er gab nur einen murrenden Ton von sich, der ihr klar machte, dass er keine Lust hatte aufzustehen. Sie entschloss sich, ihr Frühstück alleine zu sich zu nehmen und Milan erst einmal in Ruhe zu lassen.

Gerade während sie das Geschirr in die Spülmaschine stellte, betrat Milan die Küche.

„Gibt es heute kein Frühstück?“, fragte er schlecht gelaunt.

„Hast du dich doch entschlossen dein Bett zu verlassen? Ich hab schon ohne dich gefrühstückt, weil du offenbar keine Lust hattest aufzustehen“, erklärte sie.

„Wie kommst du denn darauf? Hättest mich halt wecken müssen“, maulte er gereizt, als hätte er ihre zuvor gestellte Frage nicht gehört.

„Hab ich doch“, antwortete sie nun ebenfalls gereizt, sich ihm zuwendend. „Oh! Möchtest du dich zuvor nicht anziehen?“, fügte sie hinzu, als sie feststellte, dass er splitterfasernackt vor ihr stand. „Dein Frühstück steht auf dem Tisch. Aber zuvor solltest du dir wirklich etwas überziehen.“

Er blickte an sich hinunter. „Ja, das …“

„Na, dann beeil dich, ich muss los. Gunnar erwartet mich in der Redaktion. Stell dir vor, er möchte, dass ich ein Interview mit einem Promi führen soll.“

„Du lässt mich allein? Ich kann nicht …“, begehrte er auf. „Da drüben in unserem Schlafzimmer ist …“, flüsterte er.

„Was ist …?“

Milan legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. „Pst! Ich darf es nicht verraten. Aber der steht da in der Ecke.“

„Wer?“

„Na, mein Großvater. Der will …, dass ich mit ihm auf die Jagd gehe. Ich mag das aber nicht. Du musst ihm das sagen.“

Sophie versuchte Milan zu beruhigen. Außerdem bot sie ihm an, mit ihm gemeinsam im Schlafzimmer nachzusehen.

Als sie das Schlafzimmer betraten, fragte Milan: „Warum gehen wir jetzt schlafen?“

„Du wolltest mir im Schlafzimmer etwas zeigen.“

„Wollte ich …? Ich mag jetzt nicht ins Bett“, fauchte er aufbrausend und fügte bestimmt hinzu: „Ich hab Hunger!“

Obwohl Sophie natürlich gewusst hatte, dass sie niemanden im Zimmer vorfinden würde, war sie nun zunächst beruhigt, dass Milan die Sinnestäuschung offenbar vergessen hatte. Bisher hatte es die eine oder andere unruhige Nacht gegeben – Albträume. Doch sowie Sophie das Licht angeschaltet und tröstend auf ihn eingeredet hatte, war es ihr bisher stets gelungen ihn zu beruhigen. Diese Situation ließ jedoch erahnen, dass er eine weitere Phase der Krankheit betreten hatte. Ein Besuch beim Neurologen war angesagt. Vielleicht konnte die Medikation angepasst werden. „Du wolltest dir doch etwas anziehen.“

„Ach ja, das mach ich“, antwortete er und blickte sich suchend um. Dann ergriff er seinen Morgenmantel, der stets am Fußende seines Bettes lag.

„Möchtest du dich nicht gleich richtig anziehen? Ich habe dir deine Sachen schon rausgelegt.“

Ohne zu antworten, legte er den Morgenmantel wieder zurück und begann die bereitgelegte Kleidung anzuziehen. „Gehen wir dann spazieren?“

„Du frühstückst jetzt erst mal“, antwortete Sophie und warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. „In etwa fünfundzwanzig Minuten kommt Anselm. Er wird heute mit dir spazieren gehen. Ich muss in die Redaktion.“

„Wer ist Anselm?“

„Anselm ist …“

„Mein Gefängniswärter – weiß ich doch“, antwortete er ernst. Doch gleich darauf deutete er, ein schelmisches Grinsen im Gesicht, mit dem Zeigefinger auf Sophie und meinte: „Hab ich dich drangekriegt.“

Das war einer der Momente, in denen sie für Sekunden die Hoffnung hegte, der geistige Verfall wäre vielleicht doch aufzuhalten. Sie lächelte. „Hast du.“

„Wann kommst du zurück?“, fragte er besorgt, während er sich auf dem Rand seines Bettes niederließ und nach seinen Socken griff. Als er sich vorbeugte, um sie über seine Füße zu ziehen, stöhnte er angestrengt.

Wie selbstverständlich nahm ihm Sophie die Socken aus der Hand, ging vor ihm in die Hocke, streichelte liebevoll über sein Knie und lächelte ihn zärtlich an, bevor sie ihm die Socken über die Füße zog. „Das kann ich dir noch nicht sagen. Anselm bleibt heute bis vier Uhr bei dir. Mama wird danach kommen. Sie wird dir das Abendbrot machen und anschließend könnt ihr euch die Zeit mit einem Spiel oder einem schönen Film vertreiben, falls ich dann nicht schon zu Hause bin.“

„Was soll das?“, fuhr er sie plötzlich an, während er sich ruckartig erhob, doch schwankend wie ein Sack Mehl sogleich wieder aufs Bett plumpsen ließ. „Ich bin doch kein kleines Kind, das rund um die Uhr bewacht werden muss.“

Diese Stimmungsschwankungen waren Sophie nichts Neues mehr. Um ihn zu beruhigen, legte sie Milan eine Hand auf die Schulter, beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich wollte doch nur, dass du dich nicht langweilst.“

„Wie kommst du darauf, dass ich mich langweilen könnte? Ich muss noch diesen Artikel verfassen. Du weißt schon ... Jedenfalls benötige ich dazu meine Ruhe.“

„Na dann, mach mal. Ich lese ihn am Abend gegen, sofern du das möchtest“, bot sie ihm freundlich an.

In diesem Moment schlug die Hausglocke an.

„Anselm ist da und ich muss jetzt los.“ Sophie gab Milan noch einen weiteren Kuss auf die Wange, griff nach ihrer Jacke und öffnete die Haustür. „Guten Morgen, Anselm. Heute ist er ein wenig unleidlich.“

„Keine Sorge, Frau Prager, das krieg ich schon hin.“

Sorgen machte sich Sophie keine. Sie wusste, dass sie sich auf den jungen Mann verlassen konnte. Besorgt war sie jedoch über die fortschreitende Demenz ihres Mannes.

Kapitel 3

Jahrelang war Sophie als Auslandskorrespondentin für einen deutschen Fernsehsender an allen möglichen Brennpunkten der Welt tätig gewesen. Stand die Welt irgendwo in Flammen, war sie stets vor Ort. Ja, sie hatte fast jedes Elend auf der Welt gesehen, hatte über Kriege in Nahost, Hungersnöte in Afrika und Indien, Terroranschläge, Nuklearkatastrophen, Erdbeben und Überschwemmungen berichtet. Sie war es auch, die nach Thailand geflogen war, um über den Tsunami und die Nachbeben im Indischen Ozean zu berichten. Ein Jahr zuvor hatte sie dort mit Milan einen ihrer wenigen Urlaube verbracht.

Ganz anders war die Karriere von Milan verlaufen. Nachdem er ein Jahr Praktikum an der Main Post absolviert hatte und ein weiteres, bei dem er mehr Verantwortung übernehmen konnte, bot sich ein Praktikum bei einem regionalen Rundfunksender an. Als dann ein Fernsehsender auf ihn aufmerksam wurde, bekam seine Kariere einen immensen Sprung nach vorne. Er war einige Jahre ebenfalls als Korrespondent im Ausland tätig, allerdings hatte es ihn nur selten in Krisengebiete gezogen. Politisch interessiert, agierte er lieber auf der politischen Bühne der entsprechenden Regierungssitze.

Zunächst lebten sie in einer kleinen Wohnung mitten in Berlin. Sophie war während dieser Zeit für einen privaten Sender tätig, Milan arbeitete für einen öffentlich-rechtlichen. Danach lebten sie einige Jahre in den USA. Milan schrieb während dieser Zeit drei Bücher, in denen er brisante politische Themen in Angriff nahm. Sophie verbrachte selten längere Zeit zu Hause. Dann, vor nunmehr gut zehn Jahren, erklärte Sophie, dass sie genug von der Welt gesehen habe und zukünftig nur noch als freie Journalistin arbeiten wolle, da sie unter anderem vorhabe, weitere Bücher zu schreiben. Also bat sie Milan darum, nach Deutschland zurückzukehren. Er stimmte spontan zu. Als das bekannt wurde, lockten einige große Tageszeitungen mit lukrativen Stellenangeboten, die sich jedoch alle zerschlugen, als Sophie ihm ihren Wunsch unterbreitete, in die Nähe ihrer Eltern ziehen zu wollen. Milan war sofort einverstanden. Wie wunderbar es sich doch fügte, dass neben dem Angebot eine politische Diskussionsrunde im Fernsehen zu leiten, ausgerechnet die Main Post zu dieser Zeit einen Chefredakteur suchte. Bis zu seiner Erkrankung leitete er diese politische Diskussionsrunde, war ab und an auch als Gast in anderen Sendungen zu sehen und hatte die Position bei der Zeitung inne.

Sophie hatte während dieser Zeit zwei Bücher geschrieben und des Öfteren Artikel für die Zeitung verfasst. Nach Milans Ausscheiden tat sie dies nun für dessen Nachfolger, den neuen Chefredakteur Gunar Franke.

Nachdem Sophie von Gunar erfahren hatte, wen sie interviewen sollte, nickte sie gleichermaßen überrascht und nachdenklich. Im Leben hätte sie damit nicht gerechnet. Promiinterviews führte sie normalerweise ohnehin nicht. Also begehrte sie zunächst dagegen auf. Doch als Gunar ihr mit ungewöhnlich bittendem Dackelblick erklärte, dass Jonathan Ottinger ein schwieriger Interviewpartner sei und er sich einfach nicht vorstellen könne, dass eine junge Journalistin dafür geeignet sei, mit diesem als introvertiert bekannten Mann reden zu können, ließ sie sich erweichen.

Sie würde also Jo wiedersehen. Ein wenig Herzklopfen verursachte der Gedanke an ihn schon.

Ihr Cousin hatte ab und zu etwas über ihn berichtet. Robert und Jonathan waren, seit sie gemeinsam das Gymnasium besucht hatten, ein Leben lang Freunde geblieben. Von ihm wusste sie auch, dass Jonathan mit seiner Frau einige Jahre in Australien gelebt hatte. Die beiden schrieben sich Briefe und gelegentlich telefonierten sie miteinander. Erst als die Technologie weiter voranschritt und man übers Internet skypen konnte, schrieben sie keine Briefe mehr. Soweit sie von Robert erfahren hatte, war Jonathan seit Jahren geschieden. Eine weitere Ehe war er nicht eingegangen. Es gab wohl wechselnde Partnerinnen, aber keine hatte es geschafft, ihn wieder vor den Traualtar zu schleppen.

Das Treffen sollte um elf Uhr im Hotel Würzburger Hof stattfinden, in dem Jo‘s Management einen Raum für das Interview angemietet hatte.

Als er viertel nach elf noch nicht erschienen war und Sophie ihren Kaffee getrunken hatte, rief sie den Kellner, um zu bezahlen. Das ist doch wieder typisch für Jo, dachte sie, und ich muss mir das wirklich nicht bieten lassen. Prompt erinnerte sie sich an jenen Sonntagnachmittag, an dem er sie versetzt hatte. Sie hatte sich damals unbeschreiblich traurig und wertlos gefühlt. Das war der Tag, an dem ich Gina beim Packen geholfen habe, erinnerte sie sich. Höchste Zeit, mal wieder mit ihr zu skypen.

Der Kellner wollte gerade abkassieren, als sich ein Mann Ende fünfzig, mit sportlich durchtrainiert wirkender Figur auf den Sessel gegenüber Sophies niederließ. „Das geht auf mich und bringen Sie nochmal zwei Kaffee und zwei Gläser Champagner. Schließlich haben wir etwas zu feiern. Nicht wahr …, Sophie?“, fragte er mit diesem unwiderstehlichen Lächeln, das ihm den Anschein gab, die ganze Welt erobern zu können.

Sophie konnte nicht fassen, wie selbstgerecht er einfach über sie zu bestimmen versuchte. „Ich trinke um diese Zeit noch keinen Alkohol. Bringen Sie mir bitte ein Wasser“, wandte sie sich an den Kellner.

Der Kellner nickte. „Sehr gerne“, antwortete er und ging, um die Bestellung aufzugeben.

„Immer noch die gleiche Spielverderberin“, bemerkte er zynisch.

„Ich wüsste jetzt aber auch nicht, was wir zu feiern hätten?“, fragte sie, ihm dabei direkt in die Augen blickend. Jetzt erst betrachtete sie ihr Gegenüber genauer.

Er schien zu der Gattung Mensch zu gehören, der man das Alter auf den ersten Blick nicht ansah – trotz seines von silbernen Strähnen durchzogenen Haares und der grauen Schläfen. Vermutlich lag das auch an seinem von der Sonne verwöhnten Teint und an dem markant geschnittenen Gesicht, das lediglich kleine Lachfältchen an den Augenwinkeln zierten. Was jedoch seiner Attraktivität keinen Abbruch tat – im Gegenteil.

Mit seinen siebenundfünfzig Jahren sieht er immer noch verdammt gut aus, dachte sie, während sich ihre Eingeweide in einen süß schmerzenden Ball aus Sehnsucht verwandelten. Sie atmete einmal tief ein und sagte: „Sie sind zu spät. Aber das ist ja nichts Neues.“

„Ich weiß und das tut mir sehr leid“, erwiderte er ernst, entgegen seinem zuvor euphorischen Auftreten.

Sophie hatte plötzlich das Gefühl, dass er nicht die heutige Verspätung meinte. „Nun, ich bin hier. Was möchten Sie mir denn erzählen?“

„Sie? Wir waren doch damals per du. Jetzt mach dich doch mal locker. Du tust ja gerade so, als wärst du gezwungen worden, dieses Interview zu führen. Das ist doch dein Job? Oder wie siehst du das?“

„Normalerweise habe ich Wichtigeres zu tun, als mich mit Promis zu unterhalten“, erklärte Sophie distanziert, da seine beeindruckende persönliche Ausstrahlung ihr inneres Gleichgewicht nun doch ziemlich ins Wanken brachte. „Ich bin nur hier, um meinem Chefredakteur einen Gefallen zu tun. Er meinte, eine unerfahrene Kollegin wäre dir nicht gewachsen.“

„Ich gelte als schwierig, ich weiß. Aber auf diese Weise gelingt es mir ganz gut, mir Antworten auf lästige Fragen zu ersparen, die dann meistens doch anders gedruckt werden. Äußerst selten, dass einem das Wort im Mund nicht umgedreht wird. Als ich eben erkannt hatte, um wen es sich bei der Journalistin handelte, die mir die Main Post auf den Hals geschickt hat, konnte ich nicht anders, als dich eine Weile zu beobachten. Ist dieses Wiedersehen nicht eine wunderbare Gelegenheit, die wir nutzen sollten?“, fragte er sehr ernst und wirkte dadurch ganz und gar nicht mehr überheblich. „Du bist noch schöner geworden“, fügte er leise hinzu, ihr dabei tief in die Augen blickend.

Einige Sekunden hielt Sophie seinem Blick stand, bevor sie ihr Haupt senkte.

Er räusperte sich und meinte: „Es ist so viel Zeit vergangen. Wir beide haben ein Leben gelebt. Ich möchte gerne wissen, wie es dir ergangen ist.“

„Wie ich Robert kenne, hat er dir doch sicher das eine oder andere berichtet?“

„Hat er. Damals, als ich mich in dich verliebt habe. Da wollte ich alles über dich wissen. Schließlich wären wir fast ein Paar geworden. Leider hast du mir nie geglaubt, dass ich es ernst gemeint habe.“

„Wie auch? So unzuverlässig wie du dich verhalten hast“, entgegnete Sophie. „Aber das ist lange her.“

„Dennoch scheinst du immer noch sauer auf mich zu sein.“

In diesem Moment servierte der Kellner Wasser und Champagner.

Sophies Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an, darum ergriff sie sofort das Glas und trank einen kräftigen Schluck. „Lass uns das Interview hinter uns bringen“, bat sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, während sie das Glas abstellte. Sie fragte ihn nach seinem Werdegang und nach seinen Zukunftsplänen. „Du gibst also an Weihnachten wieder einmal ein Konzert im Dom? Das letzte war vor etwa …, lass mich überlegen …, ziemlich genau dreißig – nein, sogar fünfunddreißig Jahren?“

Diese Frage schien ihn zu amüsieren, denn statt zu antworten, schmunzelte er nur vor sich hin.

Erst als Sophie ihn mit deutlich fragendem Blick und einer auffordernden Handbewegung animierte zu antworten, fragte er: „Erinnerst du dich?“

Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen. Sie wusste genau was er meinte. Um sich zu beruhigen, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. „Ich verstehe nicht …“

Er hob die Hand, um ihrem Einwand zuvorzukommen. „Sophie, ich bitte dich. Du weißt, was ich meine.“

„Welches Orchester wird dich begleiten?“, griff sie mit gesenkter Stimme den Faden zum Interview wieder auf, obwohl sie genau wusste, dass er im Dom immer mit der Domkapelle aufgetreten war. Dennoch hielt sie an ihrer Aufgabe, ihn zu interviewen, fest und stellte ihm professionell weitere Fragen über seinen Werdegang und seine Erfolge.

„Ich war damals so verliebt in dich“, sagte er plötzlich, „und als ich dich im Publikum erkannte, gab es kein Halten mehr. Im Café Dom hast du mich dann allerdings darüber aufgeklärt, dass du einen Freund hast.“

Sophie nickte. „Milan. Er ist mein Ehemann.“

„Ich weiß. Robert hat mir damals von eurer Trauung berichtet. Das war ein harter Schlag für mich“, erklärte er und betrachtete sie einige Sekunden intensiv, bevor er weitersprach: „Ich denke, das war der ausschlaggebende Grund, jegliche Hoffnung aufzugeben, dich doch noch für mich zu gewinnen. Ich habe daraufhin Ronja geheiratet“, bemerkte er und fragte: „Bist du glücklich?“

Sophie schloss ihren Laptop. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, aber ja, ich bin glücklich. Und nun, da wir das Interview so erfolgreich hinter uns gebracht haben, möchte ich mich verabschieden“, erklärte sie, schob ihren Laptop in die Businesstasche und erhob sich.

Sofort erhob auch er sich. Während er seinen Blazer zuknöpfte, räusperte er sich verlegen. „Sag, hast du Hunger? Wir könnten gemeinsam zu Mittag essen“, schlug er vor. „Hier im Restaurant oder wo immer du möchtest.“

„Nein danke. Mein Mann erwartet mich zu Hause“, antwortete Sophie, sich ihrer Lüge durchaus bewusst. Darum hängte sie ihre Businesstasche über die Schulter und streckte ihm ihre Hand zum Abschied entgegen.

Jonathan ergriff sie und hielt sie länger als nötig fest, während er ihr tief in die Augen blickte. Dann richtete er seinen Blick auf ihre Hand, zog sie an seine Lippen und küsste sie zärtlich.

Ein schmerzhaft ziehendes und gleichzeitig erregendes Gefühl machte sich in Sophies Eingeweiden breit.

„Lass uns nicht so auseinandergehen“, bat Jonathan und fügte fragend hinzu: „Spürst du es denn gar nicht? Da ist immer noch etwas zwischen uns, das ich nicht erklären kann, etwas, das mich nie ganz losgelassen hat. Ich musste oft an damals und an dich denken. Damals ist so viel schiefgelaufen. Vielleicht hättest du gelernt, mir zu vertrauen, hätte ich mehr um dich gekämpft. Bitte, Sophie, ich möchte dich gerne wiedersehen – als Freunde.“

„Lass es gut sein, Jo. Zwischen uns gibt es keine Gemeinsamkeiten, die zu einer Freundschaft gehören. Du lebst in deiner Welt und ich in meiner.“

Kapitel 4

Jonathan zog sein Handy aus der Hosentasche und setzte sich auf den Rand des Bettes. Bevor er jedoch eine Nummer wählte, blickte er sich in seinem ehemaligen Jugendzimmer um, das er hier, an seinem Geburtsort, einem luxuriösen Hotelzimmer vorgezogen hatte. Er fühlte die Wärme, die dieser Raum ausstrahlte und dachte unwillkürlich über die Unpersönlichkeit der Hotelzimmer nach. Wie so oft in letzter Zeit wurde er sich dadurch auch der inneren Leere seines derzeitigen Lebens bewusst.

Sophie! Mein Gott! Dass ausgerechnet sie ihn interviewen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Ich habe sie sofort erkannt. Obwohl mehr als dreißig Jahre vergangen sind, hat sie sich kaum verändert. Sie ist älter geworden, ja, fraulicher … und noch schöner.