Wenn die Schatten länger werden - Gabriele Walter - E-Book

Wenn die Schatten länger werden E-Book

Gabriele Walter

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Beschreibung

Noras heile Welt bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als sie erfährt, dass ein Tumor in ihrem Kopf wächst. Sie muss schnellstens operiert werden. Doch am Abend vor der lebensverlängernden Operation, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung. Ohne ihre Familie zu informieren, verschwindet sie heimlich aus der Klinik. Ist es ein makabrer Zufall, dass gerade an diesem Punkt ihres Schicksalsweges, die Liebe in ihr Leben tritt und sie dazu zwingt, ihre Situation neu zu überdenken?

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Die Autorin

Im Jahre 1954 wurde sie in Schwäbisch Hall geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Schwäbisch Gmünd. 1973 heiratete sie. 1981 zog die Familie ins Nördlinger Ries.

Bereits als Teenager schrieb sie Kurzgeschichten für ihre Freundinnen. Nach der Schulzeit wollte sie ihren größten Wunsch, Schriftstellerin zu werden, in die Tat umsetzen. Doch das Leben kam dazwischen. Erst Jahre später gelangte sie nach einigen Umwegen in eine Situation, die sie erkennen ließ, dass allein das Schreiben genau das war, was sie schon immer tun wollte. Und so wurde es zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens.

Während ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau, Ausbilderin und Seminarleiterin durfte sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kennenlernen und zwischen-menschliche Erfahrungen sammeln, die sich in ihren Romanen widerspiegeln.

Ihre Romane handeln von der Liebe, die stets geheimnisvoll und zuweilen sogar gefährlich sein kann, von Schicksalen, wie sie einem täglich begegnen, und mystischen Ereignissen, die der Verstand mitunter nur schwer erklären kann. Es geht jedoch immer um Frauenschicksale. Starke, schwache, träumende, liebende und mit dem Schicksal hadernde Frauen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Irgendwie makaber …, dachte Nora, hier zu sitzen und ausgerechnet an diesem Abend das alte Tagebuch in Händen zu halten.

Sie erinnerte sich daran, wie sie es vor langer Zeit, mit einigen anderen überflüssig gewordenen Gegenständen, ganz unten, in den aufklappbaren grauen Karton verpackt hatte. Anschließend hatte sie diesen auf den Dachboden gebracht und hinter anderen Kartons verstaut. Im Laufe der Jahre war er ihr ab und zu in die Hände geraten. Einmal riss sie ihn sogar versehentlich ein. Mit Klebeband ausgebessert, schob sie ihn dann in die hinterste Ecke der Dachschräge zurück. Jedenfalls wollte sie dieses vermaledeite Tagebuch nie wiedersehen, geschweige denn darin lesen. Warum nur hatte sie es nicht gleich vernichtet?

Ausgerechnet Lena musste es finden, während sie sich auf der Suche nach einer kitschigen, wahrscheinlich viel zu farbenfrohen 70erjahre Dekoration für ihr Zimmer befand. Vermutlich, weil sie annahm, ihr würde dadurch das gewisse Etwas einer Trendsetterin anhaften. Nora konnte sich gut vorstellen, wie sich Lena durch all die verstaubten, längst ausrangierten Möbel gekämpft und die Kisten mit alten Klamotten durchwühlt hatte, die sie schon vor Jahren in den Altkleidercontainer geben wollte. Sie dachte an die in mancherlei Hinsicht unnötig aufbewahrten, teilweise in Vergessenheit geratenen Erinnerungsstücke und Urlaubssouvenirs. An solche, die sie einfach nur kitschig fand und an andere, die nicht mehr zu ihrem oder dem Stil des Hauses passten, an denen aber dennoch auf sonderbare Weise ihr Herz hing.

Freudig erregt, doch ernsthaft betonend, es nicht ein einziges Mal aufgeschlagen zu haben, obwohl sie schon ein wenig neugierig gewesen wäre, hatte sie es ihrer Mutter überreicht – selbstverständlich in Erwartung eines besonderen Lobes. Dabei schien sie vollkommen überzeugt, ihr mit diesem Kleinod eine große Freude zu bereiten. Natürlich nahm sie an, es würde sie aufheitern über all die „netten“ Begebenheiten ihrer Ehe nachzulesen. Das Kind konnte ja nicht ahnen, welch seelische Qualen einige Erinnerungen an längst vergangene Zeiten bei ihr auslösen würden.

Erinnerungen an Ereignisse, die ihr Leben für lange Zeit bestimmt hatten, die immer noch wie kleine spitze Nadeln in ihre gerüttelte Seele stachen, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. An die Zeilen dieses Tagebuches, das sie so schändlich missbraucht und hauptsächlich benutzt hatte, um ihren ehelichen, mitunter peinigenden Frust und ihre Traurigkeit los zu werden, auch nur zu denken, tat schon weh. Sie sah es einen Augenblick abschätzend an, dann warf sie es unwirsch auf den Tisch.

*

Weihnachten 1988, sie waren fast drei Jahre verheiratet, legte Frank ihr ein Päckchen in die Hände. Eingepackt in blaues Weihnachtspapier, mit goldfarbenem Band umwickelte und obenauf thronte eine Schleife, die größer war, als das Päckchen selbst. Als sie es öffnete, sah sie zunächst nur zerknülltes Seidenpapier. Darunter kam ein schmales, weinrotes Kunstlederetui zum Vorschein. Erwartungsvoll hob sie es heraus und klappte es auf. Da lag auf dunkelblauem Samt ein weißgoldenes Bettelarmband mit vier zierlichen Anhängern.

Während Frank es aus dem Etui nahm und um ihr Handgelenk legte, gab er ihr zu jedem Anhänger eine kleine aber liebevolle Erklärung. „Das Herz soll dich an meines erinnern, das allein für dich schlägt. Der Schirm sagt dir, dass ich dich, nein – unsere Familie immer schützen werde. Gutes Schuhwerk ist nötig, da wir hoffentlich noch einen langen, gemeinsamen Weg vor uns haben, darum der kleine Pantoffel. Der Stern steht für Tristan, und wenn du einverstanden bist“, er lächelte sie verliebt an, „hänge ich dir bald einen zweiten dran. Oh Nora, du weißt, wie sehr ich dich liebe.“

Nora war gerührt.

Doch Frank gab ihr keine Gelegenheit sich zu fassen. Die Tränen der Rührung waren noch nicht getrocknet, da machte er sie auf ein weiteres Geschenk, unter dem restlichen Seidenpapier aufmerksam.

Es handelte sich um ein Tagebuch. Die Idee, ein solches zu führen, war schon Monate zuvor entstanden. Doch wie so viele kleine Geistesblitze und all die mehr oder weniger wichtigen Wünsche, die in der täglichen Hektik untergehen oder immer wieder verschoben werden, verhielt es sich auch mit dem Kauf eines Tagebuches. „Woher wusstest du?“

„Du hast es neulich mal erwähnt. “

Nora schüttelte fassungslos den Kopf. Sie hielt das Büchlein wie einen Schatz in ihren Händen. Viel mehr als das Armband, schien es ihr, stand dieses Tagebuch für Franks Liebe. Sie war überzeugt, nur ein Mann, der eine Frau wirklich liebt, hört ihr so aufmerksam zu und erfüllt ihr Wünsche, die sie, seien sie groß oder so klein wie dieser, nur einmal ganz nebenbei erwähnt hatte. Nora fühlte sich glücklich und hoffte, viel Schönes hinein schreiben zu können …

*

Leider hat sich diese Hoffnung nur in begrenztem Maß erfüllt. Sie war so ahnungslos. Oder wollte sie die ersten Schatten, die bereits an diesem Weihnachtsfest auf ihr Glück fielen, einfach nicht wahrhaben? Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.

Nora warf erneut einen Blick auf das Tagebuch. Sie griff danach, ohne wirklich zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Während sie es noch angewidert ansah, erhob sie sich, trat ans Fenster und legte ihre Stirn an das kühle Glas.

„Bald ist alles vorbei ...“, flüsterte sie, während ihr Blick den Himmel abtastete.

Die Sonne hing wie ein riesiger roter Feuerball zwischen den knorrigen, alten Eichen. Bald würde sie eintauchen in das Flammenmeer aus Rottönen, das sie bereits am Horizont entzündet hatte. Dann würde das leuchtende Rot nach und nach einem dunklen Violett weichen und das wiederum der Nacht. Morgen – Tag – Abend – Nacht. Wie Perlen auf einer Schnur reihen sich die Tageszeiten aneinander. Nichts wird sich daran jemals ändern.

War es wirklich erst vier Tage her, als ihre heile Welt, wie ein Kartenhaus, jäh in sich zusammenfiel?

*

Nora duschte. Sie ließ sich Zeit, genoss das prickelnde Nass, das warm über ihren Körper floss. Ihr war, als gewinne sie mit jedem Tropfen neue Lebensenergie. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich, hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Und gegen Morgen dann erwacht, geplagt von diesen verdammten Kopfschmerzen. Inzwischen größtenteils verschwunden, war lediglich ein unangenehmer Druck im Kopf zurückgeblieben.

Nachdem sie sich gut abgerubbelt, Slip und T-Shirt angezogen hatte, setzte sie sich auf den runden Badehocker um Socken überzuziehen – seit sie von diesen Kopfschmerzen gequält wurde, viel es ihr schwer sich zu bücken. Noch während sie darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich schwummrig vor den Augen, sie hörte lautes Rauschen in ihrem Kopf und noch bevor sie sich mit der Situation auseinandersetzen konnte, wurde es dunkel um sie.

Als sie die Lider wieder aufschlug, blickte sie in Franks Gesicht und bemerkte die Panik in seinen Augen. „Nora, komm zu dir. Um Gottes Willen! Nora, was ist mit dir?“

„Was – was ist …?“, murmelte sie verwirrt. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf dem flauschigen Badvorleger lag.

„Nora, was hast du bloß? Wie oft muss ich dich noch bitten, endlich einen Arzt aufzusuchen? Das hat sicher mit diesen Kopfschmerzen zu tun. Mit dem Kopf ist nicht zu spaßen. Da stimmt doch was nicht“, tadelte er.

„Jetzt mach mir nicht auch noch Vorwürfe“, schmollte sie.

„Was erwartest du denn?“, fragte er verärgert. „Ich mach mir Sorgen.“

„Ja, ist ja schon gut“, versuchte sie, ihn zu beruhigen, während sie unsicher den Boden abzutasten begann, um irgendeinen Halt zu finden.

„Langsam. Wie geht es dir jetzt? Ist wieder alles in Ordnung? Mein Gott, was rede ich? Nichts ist in Ordnung. Sag mal, verschweigst du mir etwas? Oh Gott, ich bin völlig durcheinander. Kannst du denn aufstehen?“, sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus.

„Ja, ich denke schon.“ Immer noch benommen, versuchte sie ihren kraftlosen Körper mühsam aufzusetzen.

Frank ging das offenbar zu langsam, denn er hob die zarte Gestalt kurzerhand auf seine Arme, trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie behutsam aufs Bett legte und fürsorglich zudeckte.

„Ich rufe jetzt Doktor Benrath“, sagte er knapp und wandte sich zur Tür.

„Warte! Ich habe heute um neunuhrdreißig einen Termin im Krankenhaus. Doktor Benrath hat mich bereits untersucht. Er hat mich an Doktor Steiner überwiesen und der ...“

„Steiner? Die Praxis am Marktplatz. Ist der nicht Neurologe?“, unterbrach er sie.

Nora nickte. „Der Termin war gestern. Doktor Steiner ließ zunächst ein EEG erstellen und untersuchte mich dann neurologisch – Reflexe, Motorik, Gleichgewichtssinn und Sehvermögen. Als ich ihm von den immer wiederkehrenden starken Kopfschmerzen erzählte und davon, dass ich mitunter Dinge doppelt sehe, wirres Zeug rede und manchmal beim Sprechen regelrechte Aussetzer habe, nickte er nur und meinte, um sicherzugehen, wären weitere Untersuchungen von Nöten. Er will, dass ich ein CT machen lasse. Darum überwies er mich in die Kinik.“

Frank starrte sie ungläubig an. „Warum hast du mir davon nichts erzählt? Du hättest mir das sagen müssen. Oh Gott, Nora, hoffentlich ist es nichts Schlimmes“, meinte er besorgt.

Sie zog die Augenbrauen hoch und zuckte unmerklich mit den Achseln. „Siehst du, darum habe ich dir nichts gesagt, damit du dir nicht Sorgen machst, bevor überhaupt feststeht was mir fehlt. Aber jetzt …, Frank, ich habe Angst. Jetzt noch mehr als gestern.“

„Warte!“ Er lächelte verlegen. „Lauf nicht weg, ja?“, versuchte er zu scherzen. „Ich komme gleich wieder.“

Nora hörte, wie Frank mit seinem Chef sprach. Nichts anderes hatte sie erwartet. Selbstverständlich würde er sie in die Klinik begleiten.

Als er zu ihr zurückkam, setzte er sich schweigend auf den Bettrand. Lächelnd ergriff er ihre Hände, zog sie fest in seine Arme und streichelte tröstend über ihren Rücken. „Wie geht es dir?“

„Ich habe wieder starke Kopfschmerzen und …, nur so ein Gefühl, als wäre ich gar nicht richtig hier“, flüsterte sie.

„Du wirst das schon schaffen“, versuchte er sie zu beruhigen, während er sie wie ein Kind in seinen Armen wiegte.

Die Zeit schlich förmlich dahin.

Nora warf einen Blick auf den Wecker. Erst zwanzig nach acht.

„Erst kurz nach acht“, bemerkte auch Frank in diesem Moment. „Hätte ich bloß den Notarzt gerufen“, fuhr er ungeduldig fort, „dann wärst du längst in der Klinik.“

Nora seufzte. Gestern, dachte sie, war alles noch nicht so …, so …, sie suchte nach dem richtigen Wort, fand es aber nicht. Jedenfalls, sinnierte sie weiter, handelte es sich gestern bei diesem Kliniktermin lediglich um eine Vorsorgeuntersuchung. Jetzt scheint alles anders zu sein.

„Wir fahren!“, riss Frank sie plötzlich aus ihren Gedanken. „Ich kann nicht länger warten. Komm, steh auf, ich helfe dir beim Ankleiden und dann fahren wir.“

Während der Fahrt sprach Nora kein Wort. Nicht einmal klar denken konnte sie. Und Franks aufmunternde Worte nervten eher, statt sie zu beruhigen. Er hat Angst um mich, dachte sie verständnisvoll. Die starke Heldin in einem sentimentalen Liebesfilm, die sich von keinem Schicksalsschlag unterkriegen lässt, würde in so einer Situation vermutlich ihren verzweifelten Ehemann trösten. Aber ich bin nun mal keine Heldin und das hier ist kein Film, sondern bittere Realität.

Nora hatte Angst. Dabei wusste sie noch nicht einmal wovor.

Nachdem sie einer jungen Frau im Anmeldezimmer einige Fragen beantwortet hatte, bat diese sie freundlich, noch kurz Platz zu nehmen, man würde sich gleich um sie kümmern.

Auf einem Stuhl ganz in ihrer Nähe, saß eine sehr junge Frau, die ebenfalls unter einer Krankheit im Kopf zu leiden schien. Ihr giftgrüner Turban, der melancholische Ausdruck auf ihrem Gesicht, die Art sich unruhig umszusehen, während sie unkonzentriert in einer Zeitschrift blätterte und dann wieder mit dem Mann an ihrer Seite sprach, ließen darauf schließen.

Ein kräftig wirkender Mann im Rollstuhl sitzend wurde hereingefahren. Sein Alter war schlecht zu schätzen. Die Frau, die ihn schob, vermutlich seine Ehefrau, beugte sich nach einem Zeichen seiner linken Hand, besorgt und überaus liebevoll über ihn. Gleich darauf griff sie in ihre hellblaue Umhängetasche und beförderte eine Flasche Wasser hervor, von der sie ihn vorsichtig trinken ließ. Er selbst schien nicht mehr in der Lage sie zu halten.

Während sich Nora weiter umsah, fragte sie sich, welches Schicksal sie womöglich mit einem dieser Menschen teilte.

Nach etwa einer halben Stunde unruhigen Wartens, wurde sie von einer altjüngferlich anmutenden Frau im weißen Kittel aufgerufen und in den Untersuchungsraum geführt.

Ein junger Arzt klärte sie über die Komplikationen dieser Untersuchung auf: „In seltenen Fällen kann es zu einer Überempfindlichkeitsreaktion kommen, wie Niesreiz, Übelkeit, Schwindel oder Kopfschmerzen. Informieren Sie uns dann bitte sofort.“

Nora nickte.

Gleich darauf trat eine freundlich lächelnde Ärztin auf sie zu, deren blasses Gesicht müde wirkte. Während sie ihr ein Kontrastmittel in die Vene der Armbeuge spritzte, erklärte sie ihr, dass sich dadurch eventuell ein Wärmegefühl im Körper entwickeln könnte, das jedoch schnell wieder verschwinden würde. Das Kontrastmittel sei aber notwendig, um die Aussagekraft der Bilder zu erhöhen. Sie lächelte Nora noch einmal aufmunternd zu, bevor sie eine Assistentin herbeiwinkte, die sie in den Raum führte, in dem der Computertomograph stand. Dort bat man sie, ihren Schmuck abzunehmen und sich flach auf den Tisch des Geräts zu legen. Die Assistentin erklärte ihr, dass sich der Tisch langsam durch die Öffnung bewegen und die Röhre sich spiralförmig und kontinuierlich um sie drehen würde. Ganz nebenbei reichte sie ihr Kopfhörer und bat sie, diese aufzusetzen. „Damit die Aufnahmen nicht verwackeln“, erklärte sie weiter, „ist es notwendig ruhig liegen zu bleiben und auf die Atemkommandos zu achten, die Ihnen über die Kopfhörer vermittelt werden.“

Die Prozedur dauerte etwa eine halbe Stunde. Nachdem ein Pfleger ihr vom Tisch geholfen hatte, bat die Ärztin sie, sich einen Moment zu gedulden.

Der besorgte Ausdruck, den Nora in den Augen der jungen Frau bemerkte, verstärkte das ungute Gefühl, das sich mittlerweile in ihr breitgemacht hatte. Zudem kam sie sich seltsam ausgeliefert vor.

Als die Ärztin sie dann bat, ihr in Doktor Neuners Sprechzimmer zu folgen, atmete sie nur noch flach, doch ihr Puls begann zu rasen. Was hat das zu bedeuten? Sollen die Untersuchungsergebnisse nicht an Doktor Steiner weitergeleitet werden? Es ist also noch schlimmer, als ich ohnehin befürchtet hatte.

Doktor Neuner, ein untersetzter Mann mit buschigen Augenbrauen, betrachtete konzentriert die CT-Bilder, als sie und Frank eintraten. Nickend wandte er sich ihnen zu, begrüßte sie freundlich und bat sie Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ihr gegenüber auf die Kante seines ziemlich stabil wirkenden Mahagonischreibtisches.

„Frau Baumann, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir haben es hier mit einem höchst bösartigen, schnell wachsenden, primären Tumor zu tun. Das heißt, es handelt sich um einen vom Hirngewebe selbst ausgehenden, aus den Gliazellen des Gehirns entstandenen Tumor. Ein Glioblastom. Ihre CT-Bilder zeigen das typisch unregelmäßig geformte Glioblastom mit randständig starker Kontrastmittelaufnahme. Ebenso typisch dafür ist die girlandenartige Formation.“

Tut es ihm wirklich leid, dass nicht wir, sondern ich einen Tumor habe? Redet er deshalb so schnell und so viel? Totreden …? Ja genau, das nennt man doch totreden? „Was heißt das genau?“, fragte Nora, darum bemüht, gefasst zu wirken, obwohl es in ihrem Kopf hämmerte und sie sich gedrängt fühlte, laut zu lachen. Du kannst jetzt nicht lachen, der denkt sonst, du spinnst.

„Wir benötigen noch ein MRT.“

„Ein MRT? Wozu?“, wollte Nora wissen.

„Ein CT liefert nur horizontale Schnittbilder. Ein MRT liefert Bilder ganz beliebiger Schnittführungen, wie zum Beispiel horizontale, diagonale oder vertikale. Das ermöglicht uns eine präzise Beurteilung der einzelnen Gewebestrukturen und damit eine sehr genaue Diagnose“, erklärte er.

„Ach so.“

„Außerdem werde ich eine stereotaktische Hirnbiopsie zur Bestätigung der Diagnose vornehmen. Dabei wird Gewebe aus dem betroffenen Areal entnommen und ausgewertet. Dann sehen wir weiter. Jedenfalls müssen wir schnellstens operieren. Und Frau Baumann, … ich muss Sie darauf hinweisen, dass mit entfernen der Hauptmasse des Tumors, das Fortschreiten der Erkrankung nur verlangsamt, aber nicht dauerhaft verhindert werden kann, da einzelne Tumorzellen das gesunde Gehirngewebe immer schon infiltrativ durchwandert haben. Eine Radikalresektion ist in diesem Sinne nicht möglich. Selbst mit einer Bestrahlung und einer Chemotherapie können diese nicht vollständig abgetötet werden.“

„Doktor Neuner, wenn ich ihre Ausführungen richtig verstanden habe, bedeutet diese Diagnose letztendlich für mich, dass ich sterben werde.“

Einen Moment presste er die Lippen zusammen, dann räusperte er sich. Offenbar fiel es ihm, nach all den Diagnosen und Prognosen die er im Laufe seiner Berufsjahre erstellt hatte, immer noch schwer, die unheilvollen Worte auszusprechen. Er nickte bestätigend. „Es tut mir leid. Diese Krankheit ist lebensbegrenzend.“

„Lebensbegrenzend?“ Was für ein Wort. „Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“, fragte Nora leise.

„Sie erwarten doch nicht wirklich, dass ich jetzt eine Prognose abgebe? Warten wir doch erst mal die Biopsie ab.“

„Doktor“, meldete sich nun Frank, dem es erst mal die Sprache verschlagen hatte, „sagen Sie uns Ihre Meinung. Bitte!“

„Wenn Sie sich operieren lassen, zwei Jahre, eventuell länger, genauso gut kann es auch schneller gehen. Ich weiß es nicht, ich gehe hier von allgemein bekannten Erfahrungswerten aus. Sollten Sie sich jedoch nicht operieren lassen, zirka drei, vier Monate. Doch auch das sind nur Erfahrungswerte. Es gab Patienten, die nach der Operation länger als zwei Jahre lebten, aber auch solche, die es nicht einmal zwei Monate schafften. Einer meiner Patienten, den ich vor dreieinhalb Jahren operierte, lebt immer noch. Es geht ihm gut. Gestern starb eine Frau, die sich einer Operation verweigerte, vier Wochen nach der Diagnose. Bei einer anderen Patientin habe ich vor zirka einem halben Jahr ein Glioblastom diagnostiziert. Auch sie unterzog sich keiner Operation. Sie lebt noch. Trotzdem sind die Chancen, Zeit zu gewinnen, nach einer Radikalresektion entschieden größer.“

Frank sprang von seinem Stuhl auf. Unwillkürlich fuhr er mit allen zehn Fingern durch sein kräftiges dunkles Haar und zerrte daran, als würde ihm auf diese Weise eine Offenbarung zuteilwerden. Das tat er immer, wenn er nervös war oder nicht mehr weiterwusste. „Du musst dich auf jeden Fall operieren lassen, Nora“, beschwor er sie.

Nora nickte unweigerlich.

Doktor Neuner rutschte von der Schreibtischkante, ging um denselben herum und nahm in dem schwarzen Ledersessel Platz. „Wir setzen am besten gleich den OP-Termin fest“, meinte er. Sich auf den Monitor seines PCs konzentrierend, gab er einige Daten ein. Dann schrieb er mehrere Zahlen auf einen Zettel und reichte ihn Nora.

Während der Fahrt nach Hause hingen beide jeweils ihren eigenen düsteren Gedanken nach …

Nora warf einen Blick auf Frank. Er schien sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, aber an seiner angespannten Haltung erkannte sie, dass er sich gedanklich mit ihr und dem Tumor beschäftigte. Sie dagegen versuchte, die entsetzlichen Gedanken, die unaufhörlich an die Tür ihres Bewusstseins klopften, auszuschließen. Dabei fühlte sie sich wie jemand, der diese Tür, die bereits einen Spalt weit offenstand, wieder zuzog und sich gegen die Tür stemmend, an den Türgriff klammert, um zu verhindern, dass sie erneut geöffnet wird. Und das obwohl er wusste, dass ihm dies auf Dauer nicht gelingen konnte.

Zu dumm, ich habe vergessen, bei den Mayers abzusagen, da muss ich gleich anrufen. Den Termin könnte ich eventuell auf morgen Vormittag verlegen. Morgen Vormittag, da war doch was …? Ja richtig, da ist das Treffen mit den Verantwortlichen des neuen Jugendzentrums. Na mal sehen, ich krieg die Mayers schon unter. Das Hähnchen! Mist! Ich habe das Hähnchen nicht aus der Gefriertruhe genommen. Egal, dann gebe ich es zum Auftauen in die Mikrowelle. Es regnet. Muss das jetzt sein?

Frank schaltete die Scheibenwischer an.

Eine Weile beobachtete sie deren regelmäßiges Hin und Her. Dann blickte sie aus dem Seitenfenster. April, April, tut was er will …

*

Kaum merklich schüttelte Nora den Kopf. Ihr Blick fiel erneut, ohne es wirklich wahrzunehmen, auf das Tagebuch in ihrer Hand. Zu dem Zeitpunkt war mir zwar klar, was diese Diagnose bedeutete, aber irgendwie schien alles so unwirklich zu sein. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, einem Albtraum, aus dem ich jeden Moment erwachen müsste …

*

Nora stieg aus dem Wagen und wartete teilnahmslos vor der verschlossenen Haustür, bis Frank sie öffnete. „Ich bin müde. Macht es dir was aus, wenn ich mich ein wenig niederlege?“, fragte sie so normal, als hätte sie nur einen harten Arbeitstag hinter sich.

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen aus denen er sie zunächst verwundert, dann, als erwache er genau in diesem Moment, zunehmend verstehend betrachtete. Die entsetzliche Nachricht, die sie beide bis tief ins Mark getroffen hatte, wurde zwingend von Gedanken begleitet, die sich zunächst im Kopf breitmachen – rationale Gedanken. Doch nun zeigte die Mimik seines Gesichts, was sein Herz in aller Deutlichkeit zu begreifen schien – er würde sie verlieren. „Nein, nein, natürlich nicht“, murmelte er. „Aber wir müssen reden, wir müssen … Nora, mein Gott. Nora, warum du?“

„Warum nicht ich?“, fragte sie sanft. „Wen würdest du statt meiner sterben lassen?“

„Mich …! Mich!“, wiederholte er noch einmal. „Denn ohne dich verliert das Leben für mich sowieso jeden Sinn.“

Nora schüttelte den Kopf. „Rede doch keinen Unsinn. Du wirst das schaffen, du und die Kinder. Sie sind der Sinn deines Lebens, vergiss das nicht. Du wirst all das tun, wozu ich nicht mehr in der Lage bin.“

„Wozu du nicht mehr …? Klingt, als träfst du ein Arrangement für einen Kuraufenthalt. Aber so einfach ist das nicht. Ich schaffe das nicht. Ohne dich bin ich nichts. Ich liebe dich und ich will dich nicht verlieren. Mein Gott!“ Er packte sie an ihren Oberarmen, als wolle er sie schütteln. „Nora hast du überhaupt begriffen, was der Arzt gesagt hat? Du wirst sterben.“

„Das war Teil der Abmachung, als wir uns entschlossen geboren zu werden“, sagte sie, immer noch in diesem aufreizend sanften Ton.

„Nora, verdammt!“, fluchte er verzweifelt. Er zog sie in seine Arme und legte sein Kinn auf ihrer Schulter ab. „Ich will dich nicht verlieren, du musst wieder gesund werden.“

Nora starrte, bemüht die Fassung zu bewahren, über ihn hinweg. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und strich tröstend über seinen Rücken. „Frank finde dich mit den Tatsachen ab. Je schneller du das tust, umso besser wirst du mit dieser Situation umgehen können.“

„Das werde ich sicher nicht. Wie könnte ich? Plötzlich ist alles so sinnlos geworden.“

„Nichts ist sinnlos. All das, was während unseres Lebens geschieht, ergibt irgendeinen Sinn, auch wenn wir diesen mitunter nicht sofort verstehen. Dennoch müssen wir gewisse Dinge so akzeptieren, wie sie nun mal sind.“

Wieder fuhr Frank sich mit beiden Händen durchs Haar. „Sag mir einen vernünftigen Grund, warum du sterben musst?“

„Das kann ich nicht. Aber wer weiß, irgendwann, wenn wir uns da oben wiedersehen, wirst du es vielleicht erfahren und du wirst dich an meine Worte erinnern.“

Frank lächelte. „Du und deine Philosophien. Doch egal was noch geschieht, ich bin bei dir und werde dich halten, wenn es sein muss, bis zu deinem letzten Atemzug.“

Sie nickte. „Ich weiß. Da ich den aber voraussichtlich nicht in den nächsten Stunden machen werde, lass mich ein wenig alleine. Bitte.“

„Wie du willst. Ich gehe an die frische Luft, sonst ersticke ich an deiner Gelassenheit.“ Er eilte aus dem Haus und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.

Nora blieb mit hängenden Schultern zurück, starrte auf eine Wand ihrer Diele, als wäre diese gar nicht vorhanden. Ihr war zumute, als stünde sie in einem Vakuum. Sie fühlte sich ausgebrannt. Da existierte nichts mehr, nur diese unendliche Leere. Doch dann atmete sie einmal tief durch und plötzlich löste sich ihre innere Erstarrung. „Ich werde sterben!“

So schnell sie konnte, lief sie in den Keller, stolperte auf einer der Stufen, fing sich und lief weiter, lief über den langen Flur in Franks schalldichten Proberaum. Dort angekommen schloss sie die Tür und schrie, schrie so laut sie konnte, schrie sich die Angst und die Wut von der Seele, schrie, bis sie nicht mehr schreien konnte. Nach Atem ringend, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, um dann völlig entkräftet an ihr hinunter zu rutschen und vornüber auf die Knie zu sinken.

Ich werde sterben. Ich werde einfach nicht mehr da sein und Tristan und Lena werden ohne Mutter sein. Wer wird Tristan aufmuntern, wenn er wieder mal nen Hänger hat und Lena, die immer alles bis aufs kleinste i-Tüpfelchen erzählen muss … Sie wird lernen mit ihrem Vater über all die Dinge zu sprechen, die eine angehende Frau normalerweise mit der Mutter bespricht. Oh Gott, ich werde meine Kinder nie mehr in meinen Armen halten, werde sie nie mehr streicheln können. Ich werde nie mehr meiner Arbeit nachgehen, nie mehr durch das kleine Wäldchen joggen, nie mehr reiten, nie mehr schwimmen können. Und den Schluss meiner Lieblingsserie werde ich auch nicht mehr mitbekommen. All das, was mein Leben ausmacht, wird immer noch getan werden, das Leben auf diesem Planeten wird weitergehen, aber ohne mich. Ich werde sterben! Was schockt mich daran eigentlich so sehr? Alle Menschen müssen eines Tages sterben. Das ist eine Tatsache, um die wohl noch niemand herumgekommen ist. Zumindest ist mir keiner bekannt. Außer Jesus natürlich, aber selbst der musste zuerst sterben, bevor er ins ewige Leben eingehen konnte. Seltsam, obwohl wir tagtäglich mit diesem Wissen und vor allem damit, dass es uns eines Tages selbst widerfahren wird, konfrontiert werden, belastet es uns kaum. Es schlummert tief in unserem Unterbewusstsein und nur, wenn uns das Leben daran erinnert, denken wir kurz darüber nach, verdrängen es aber gleich wieder. Der Tod ist wie ein wildes Tier, das im Hinterhalt lauert, darauf bedacht, Beute zu reißen. Nein! Er ist wie ein weiser alter Mann, der sich im Verborgenen aufhält, um uns nicht zu erschrecken. Nur, wenn wir einen geliebten Menschen zur letzten Ruhe betten, zeigt er sich uns, dann verschwindet er wieder. Lässt uns unser Leben weiterleben, ohne uns zu ängstigen. Warum ist das so? Warum fürchten wir den Tod nicht, solange wir nicht wissen, wann er kommt? Und warum ändert sich das schlagartig, wenn er an unsere Tür klopft? Vielleicht, weil sich der Alte bis zu diesem Zeitpunkt nur von hinten zeigt? Das ändert sich, wenn wir ihm gegenüberstehen. Der Tod zeigt sein Gesicht – das Sterben.

Ich weiß, wie die biologischen Abläufe des Sterbens sind. Die Wahrnehmung wird durch verringerte Hirnaktivität eingeschränkt, die Atmung wird flacher, das Sehvermögen zunehmend schlechter, das Hörvermögen funktioniert nur noch eingeschränkt und das Augenlicht erlischt völlig, bevor das Herz aufhört zu schlagen. Einfach so, unmittelbar gefolgt vom Hirntod. Aber jetzt weiß ich auch, zumindest ansatzweise, wie die Zeit davor sein wird.

Zaghaft lösten sich die ersten Tränen, wurden zu Rinnsalen und benetzten ihre Wangen, während ihr Körper von heftigen Weinkrämpfen durchgeschüttelt wurde. „Gott lass mir Zeit, ich habe noch so vieles zu erledigen. Hörst du? Du musst mir Zeit geben, ich kann jetzt noch nicht sterben. Bitte Gott, du kannst ein Wunder geschehen lassen.“

Heftige Kopfschmerzen waren die Antwort auf ihre Bitten. Als sie wenig später, mit von Tränen verschmierter Wimperntusche den Raum verließ, wusste sie, dass all das nicht zählte, dass die anderen ihr Leben, leben würden, egal ob sie es teilen würde oder nicht. Sie würden sich arrangieren. Ja, es würde sicher anders verlaufen, als sie es geplant hatte, doch für die Kinder und Frank würde es das Leben sein, das es zu leben galt, auch ohne sie.

Jetzt ging es um ihr Leben, sie würde nicht so einfach sterben, nicht ohne richtig gelebt zu haben.

Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann betrat sie die Küche, nahm das Hähnchen aus der Gefriertruhe und gab es in die Mikrowelle zum Auftauen. Währenddessen führte sie souverän einige Telefonate, als wäre nichts Wesentliches geschehen. Anschließend ging sie wieder in die Küche, machte sich daran das Hähnchen zu würzen, es auf den Grillspieß zu stecken und in den Backofen zu hängen. Fertig, dachte sie, wusch sich noch einmal die Hände und schlenderte ins Wohnzimmer. Müde stellte sie sich ans Fenster und betrachtete wehmütig ihren Garten, der sich jetzt im Frühjahr am schönsten zeigte. Noch immer blühten vereinzelt bunte Primeln zwischen Gruppen von roten Tulpen, blauen Hyazinthen und gelben Osterglocken.

Die Forsythie ist fast verblüht. Dafür hat der Kirschbaum bereits sein rosa Kleid angelegt und die Purpur Magnolie zeigt ihre prächtigen Blüten. Bald werden sich die Knospen der Pfingstrosen öffnen. Werde ich das noch erleben?

Frank, der etwa zehn Minuten später zurückkam, sah sie nur einen Augenblick zögernd an, dann ging er auf sie zu und nahm sie wortlos in die Arme. Obwohl er sich manchmal wie ein Macho benahm, wenn sie ihn brauchte, war er stets für sie da.

Das Gespräch mit den Kindern das sie an diesem Abend führten, verlief ruhig. Da auch sie diese Mitteilung erst mal verarbeiten mussten.

Tristan erhob sich, zuckte nur hilflos mit den Achseln und küsste Nora auf die Wange. „Entschuldige Mama, ich ...“

„Ist schon gut, wir sprechen später oder morgen noch mal darüber, aber wenn du mich oder Papa brauchst, dann komm zu uns.“

Er nickte nur und verließ den Raum.

Nora wäre ihm gerne gefolgt. Sie wusste, was er jetzt empfand, er hatte bereits erfahren, was sich hinter dem Namen Glioblastom verbarg. Der Vater eines Freundes war daran gestorben, nachdem er einige Monate im Rollstuhl und die letzten Tage im Bett verbracht hatte. Nach und nach hatten seine Organe aufgehört zu funktionieren. Alle, die ihn kannten und liebten, hatten Gott letztendlich angefleht, ihn zu sich zu holen, weil sie ihm das qualvolle Dahinsiechen gerne erspart hätten und weil es für sie unerträglich geworden war, ihm dabei zuzusehen. Armer Tristan dachte sie, wie kann ich ihm helfen, diese Nachricht zu verkraften? Sicher legt er sich jetzt auf sein Bett, setzte sich den Kopfhörer auf und lässt sich, an die Decke starrend, von lauter Musik zudröhnen.

Lena, die noch nichts von dieser Krankheit wusste, wirkte zuversichtlich. Zumindest ließ das ihre gelassene Mimik erkennen. Sie war stets so stolz eine Mutter zu haben, die immer gut drauf war. Eine Mutter, um die sie, wie sie stets betonte, von ihren Freundinnen beneidet wurde. Nicht zuletzt, weil sie sich verständnisvoller und toleranter verhielt als die Mütter der anderen Mädchen. Ganz so, wie die Mädchen das von einer Künstlerin erwarteten. Sie zeigte sich nie leidend wie Beates Mutter, der, kaum dass sie etwas gearbeitet hatte, der Rücken so wehtat, dass sie sich niederlegen musste. Und auch nicht wie Iris Mutter, die, laut deren Aussage, ständig erkältet, mit Taschentuch bewaffnet, schniefend durchs Haus lief. Ekelhaft, hatte Lena deren Leiden beschrieben.

Als es langsam dunkel wurde und Tristan offenbar immer noch kein Interesse zeigte, sein Zimmer zu verlassen, ging Nora zu ihm. Sie klopfte kurz an die Tür, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Abgeschlossen! „Tristan“, rief sie durch die Tür und klopfte noch einmal. Keine Reaktion. Schon wollte sie sich enttäuscht zurückziehen, da hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Er öffnete die Tür, drehte sich um und ging, ohne ein Wort zu sagen, mit gesenktem Kopf zu seinem Bett zurück. Erst als Nora sich auf den Bettrand gesetzt hatte, begann er zu sprechen.

„Tut mir leid Mama, ich kann nicht mehr klar denken. Du hast einen“, es fiel ihm sichtlich schwer, das Wort auszusprechen, „Gehirntumor. Du willst dich operieren lassen und du hast vor, zu kämpfen. Was solltest du auch sonst tun? Aber ich weiß, was auf dich zukommt. Oh Mama, nicht du. Warum du?“ Mit Tränen in den Augen, die Hände zu Fäusten geballt, gegen seine Schläfen gepresst, starrte er an die Zimmerdecke und rief wütend: „Wo ist denn dein Gott der Liebe, von dem du immer sprichst? Und wenn es ihn wirklich gibt, was ich im Moment stark bezweifle, wie kann er dann so grausam sein, mir meine Mutter zu nehmen?“ Verzweifelt ließ er sich plötzlich in Noras Arme sinken und weinte bitterlich.

Nora fühlte sich hilflos, wie nie zuvor in ihrem Leben. Wie sollte sie ihm helfen, da sie doch nicht einmal sich selbst helfen konnte? Sie schloss ihre Arme fest um ihn und weinte mit ihm, bis sie keine Tränen mehr hatten.

Es folgte eine grauenvolle Nacht. Ihre Gedanken drehten sich nur um die Krankheit, um ihre Familie und um all das, was es noch zu tun gab. Sie wusste, dass Frank, der stumm neben ihr lag, ebenfalls keinen Schlaf fand, doch keiner sprach ein Wort. Einmal hörte sie ihn leise schnarchen. Normalerweise musste sie nur an seinem Kissen ziehen, dann hörte er damit auf, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. In dieser Nacht ließ sie es zu, da es vielleicht das letzte Mal war, dass sie ihn schnarchen hörte.

Auf die Nacht folgte ein Tag, an dem sie nicht über die Krankheit sprachen und es folgte ein weiterer, an dem sie sich elend fühlte, von Kopfschmerzen, Übelkeit und Ängsten gequält. Sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, ließ die Rollos herunter, verkroch sich ins Bett und dachte über Tristans und Lenas Zukunft nach. Was darf ich davon wohl noch miterleben, was werde ich versäumen?

Wie so oft während der letzten Tage setzte sie sich mit ihrer eigenen Endlichkeit auseinander.

Als Frank gegen Abend von der Arbeit nach Hause kam, sprachen sie lange miteinander. An diesem Abend begann sie, die Krankheit zu akzeptieren …

*

Immer noch nachdenklich, einen Schleier sanfter Melancholie über den Augen, blickte Nora durch das große Fenster in den mittlerweile abendlich anmutenden Park. Endlich, nach dem ungemütlich kalten und verregneten März, hatte jetzt im April der Frühling endgültig Einzug gehalten. Bäume und Sträucher standen in voller Blüte und erinnerten sie im Zwielicht der untergehenden Sonne an ein Gemälde von Thomas Kinkade.

Mehr oder weniger interessiert beobachtete sie eine alte Frau, die allein auf der Bank, unter dem noch nicht erblühten Fliederbusch saß. Ihr Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, um die letzten wärmenden Strahlen in sich aufzunehmen. Beim Anblick eines jungen Pärchens, das händchenhaltend durch den Park schlenderte, wobei sich die junge Frau immer wieder verliebt an die Schulter des Mannes schmiegte, musste Nora unwillkürlich lächeln. Dann entdeckte sie die beiden Männer, die nah vor einer Bank standen. Sie unterhielten sich derart angeregt über ein offensichtlich wichtiges Thema, dass sie vergaßen, sich zu setzen. Oder stritten sie etwa? Nein, jetzt lachten beide.

Machen diese und ähnlich friedvoll anmutenden Szenen der Harmonie, das wesentliche unseres Lebens aus? Tatsache ist, dass traurige, mitunter grauenvolle Ereignisse, die tagtäglich auf der ganzen Welt geschehen, uns nur wenig berühren. Es sei denn, sie betreffen uns selbst. Ein Unglück trifft immer nur den, dem es geschieht, vielleicht noch die Angehörigen. Für all die anderen dreht sich die Erde weiter, als wäre nichts geschehen.

Während Noras Blick über die kahle, lediglich mit einem Kreuz geschmückte Wand des Zimmers gleitete, erinnerte sie sich an den heutigen Morgen. Frank hatte sie ins Krankenhaus gebracht. In seinen Augen hatte sie maßlose Hilflosigkeit und Schmerz gesehen. Beides hatte ihn während der letzten Tage nie ganz losgelassen. Sein um diese Jahreszeit bereits leicht gebräuntes Gesicht, hatte entsetzlich grau gewirkt. Die feinen Linien, die dieses markante Gesicht seit geraumer Zeit zu durchziehen begannen und es noch interessanter machten, schienen tiefer geworden. Seine ohnehin schmalen Lippen, die er fest zusammengepresst hatte, glichen einem dünnen Strich. Nichtsdestotrotz, oder gerade deshalb, hatte er eine innere Kraft ausgestrahlt, die ihr geholfen hatte, ebenfalls stark zu sein oder wenigstens so zu tun.

Nora fröstelte. Glioblastom, wann wird dieses Wort seinen Schrecken verlieren?

Glioblastom – hinter diesem Namen verbarg sich so ziemlich das Bösartigste, das es an Krankheiten gab, das wusste sie mittlerweile. Ein Todesurteil, das in den meisten Fällen langsam und qualvoll vollstreckt wurde. Sie hatte Fachzeitschriften gelesen, im Internet recherchiert und Berichte Betroffener gelesen. Manche hatten ihr sogar Hoffnung vermittelt. Auch mit Doktor Neuner hatte sie gesprochen. Er hatte versucht, ihr Mut zu machen, hatte sie angehalten zu kämpfen. Dennoch fragte sie sich, ob es sich bei dem operativen Eingriff, der Chemo- und Strahlentherapien nur um Eventualitäten handelte, dieses Leiden zu verlängern? Oder handelte es sich dabei um eine reelle Chance, dem Leben noch eine besonders aufregende, tiefgründige und ereignisreiche Zeit abzugewinnen?

Wie auch immer, darüber will ich jetzt nicht nachdenken.

Frank würde bald mit den Kindern kommen. Sie wollten diesen Abend mit ihr gemeinsam verbringen. Dabei würde sie in deren besorgten Gesichtern wie in einem offenen Buch lesen. Sie würde die Angst in ihren Augen sehen. Das wiederum würde ihr geradezu körperliche Schmerzen bereiten. „Oh Gott!“ Wie gerne hätte sie ihrer Familie all das hier erspart.

Es wäre besser, sie würden nicht kommen. Besser für wen? Geht es mir wirklich um Frank und die Kinder? Oder ist es nicht eher so, dass ich diese besorgten Blicke nicht ertragen kann? „Können sie mir nicht wenigstens das ersparen?“, flüsterte sie. Gleich darauf schämte sie sich ihrer egoistischen Gedanken.

Morgen werden die Ärzte mich operieren. Sie werden die Kalotte öffnen. Diesen Namen hatte sie sich gemerkt. Er klang irgendwie harmloser als Schädelknochen. Darunter stößt man auf die so genannte Duva, die harte Hirnhaut. Erst nach deren öffnen sieht man die Hirnoberfläche und den Tumor. Eine schaurige Vorstellung. Besonders die, dass sie dann in meinem Hirn herumwühlen, wie in einem Suppentopf. Na ja, ganz so wird es wohl nicht sein. Sie werden das Ding vorsichtig herausschälen, anschließend die harte Hirnhaut wasserdicht verschließen und das Kalottenstück wiedereinsetzen.

Eine Sache bereitete ihr allerdings Sorgen. Die Tatsache, dass gesunde Teile ihres Hirns verletzt werden könnten. Es wäre dann möglich, dass sie dabei „nur“ ihre Erinnerung verlor. Unter Umständen konnte sie sich aber nicht mehr bewegen und musste umsorgt werden wie ein Kleinkind. Es konnte sogar noch schlimmer kommen – sie könnte ins Koma fallen oder gar sterben. Wobei sich die Frage stellte, ob Letzteres wirklich das Schlimmste wäre.

Egal, was die Ärzte auch sagten, eines schien sicher, ihr Leben würde nie mehr sein wie zuvor.

Als sie erneut einen Blick auf das Tagebuch warf, glaubte sie ein leises Flüstern zu hören. „Du hast das Heute und heute hast du auch noch ein Gestern. Ob es ein Morgen für dich geben wird, weißt du nicht und wenn, gibt es morgen vielleicht kein Gestern mehr.“

Ziemlich verwirrend und unerwartet heftig traf sie die Erkenntnis, dass das Gestern, das Heute und das Morgen zu einem Ganzen verschmelzen könnten. Nur noch der Augenblick zählte. Denn in ihrem Kopf lauerte ein gefräßiges Ungeheuer, das Krebs hieß und dessen Beute aus ihrem Gehirn bestand. Es würde fetter und fetter werden, und noch während es sich daran labte, würde es „Junge“ kriegen, lauter kleine Metastasen und die würden sich auf andere Organe ihres Körpers stürzen, während sie ihr so ganz nebenbei auch noch ihre Zeit stahlen. Zeit …, leider hatte sie den Wert der Zeit erst viel zu spät erkannt.

Weshalb sollte man auch nachdenken über etwas, das einem im Überfluss zur Verfügung steht? Wer tut das schon?

Sie tat es, jetzt, da sie um deren Wert wusste. Und noch etwas wurde ihr bewusst – wie wertvoll die ihr noch verbleibende Zeit war – und dass sie diese um nichts in der Welt vergeuden wollte.

Ein halbe Stunde, bemerkte sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Ich habe noch eine halbe Stunde, um über mein restliches Leben zu entscheiden. Doch was habe ich noch von meinem Leben zu erwarten? Wann ist es zu spät, einem Traum nachzujagen? Wann ist ein Leben vollendet? „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie leise vor sich hin.

Nur eins wusste sie genau, standen Frank und die Kinder erst mal an ihrem Bett, gab es kein Entrinnen mehr. Sie würden bleiben, bis sie eingeschlafen war. Und morgen früh, noch bevor sie erwachte, würde Frank bereits wieder an ihrem Bett sitzen, ihre Hand halten und ihr Mut zusprechen, bis man sie durch die OP–Tür schob.

Morgen …, werde ich morgen noch über mein Leben bestimmen können?

Wie einen lästig gewordenen, zerschlissenen alten Gürtel, der sie zwar manchmal ganz gut gekleidet, aber leider viel zu oft eingeengt hatte, warf Nora das Tagebuch aufs Bett.

Was wenn …?

Ein, wie sie sogleich vor sich selbst zugab, bizarrer Gedanke stahl sich kurz in ihre Überlegungen. Dennoch öffnete sie den Schrank, griff nach ihrer Handtasche und zog das Portmonee heraus. Ausweis, Kreditkarte, Geld, die Krankenkassenkarte, alles drin. Die Tabletten gegen die entsetzlichen Schmerzen, die ihr noch Doktor Benrath verschrieben hatte, befanden sich ebenfalls in ihrer Tasche. Nora steckte das Tagebuch, um es nicht in falsche Hände kommen zu lassen, ebenfalls in die Tasche und stellte sie rasch zurück. Doch dann griff sie erneut danach und legte sie aufs Bett. Fast automatisch zog sie das Nachthemd über den Kopf, griff nach Jeans und Pullover, schlüpfte hinein, zog die Stiefeletten an, nahm den Mantel vom Kleiderbügel und hängte ihn lose über ihre Schultern. Sie klemmte die Handtasche unter ihren Arm, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Der lange kahle Krankenhausgang lag still und menschenleer vor ihr. Grelles, kaltes Licht unterstrich die Sterilität noch zusätzlich. Irgendwo klapperte jemand mit Geschirr. Vermutlich eine der Schwestern, die im Stationszimmer beschäftigt war. Es wurde höchste Zeit. Wollte sie Frank und den Kindern nicht über den Weg laufen, musste sie sich beeilen.

Morgen werde ich zu Hause anrufen. Möglicherweise versteht mich Frank sogar, aber wird er meine Entscheidung auch akzeptieren? Das spielte nun auch schon keine Rolle mehr.

Sie hatte Glück, niemand begegnete ihr. Nur der Pförtner, der in seiner verglasten Sektion, den Telefonhörer in der Hand, auf einer Liste irgendwelche Eintragungen suchte, verabschiedete sich mit einem freundlichen Kopfnicken von ihr.

Im Schutz der Sträucher und Bäume, lief sie über die schmalen Seitenwege des Krankenhausplatzes. Es roch nach Regen.

Hat es im März nicht schon genug geregnet? Nora fröstelte. Obwohl die Tage bereits angenehme Temperaturen aufwiesen, konnten die Abende doch recht kühl sein.

In der Stadt herrschte reges Treiben, Berufstätige nutzten die Gelegenheit abends einkaufen zu können und andere genossen es, den Tag in einem gemütlichen Lokal oder bei einem Spaziergang ausklingen zu lassen.

Sie liebte es, spät am Abend durch die Stadt zu bummeln und sich die Schaufenster der Geschäfte im Lichterglanz zu besehen. Leider gelang es ihr nie, Frank dazu zu überreden, sie zu begleiten. Er wollte abends lieber seine Ruhe haben, sich seiner Arbeitsklamotten entledigt, bequem auf dem Sofa oder sofern das Wetter es erlaubte, auf der Terrasse ein Bierchen oder ein Glas lieblichen Weißwein trinken. Ab und zu setzten sie sich auch vor den Fernseher und sahen sich einen Film an.

Manchmal traf sie sich mit Martina, einer Freundin, die vor etwa zwei Jahren ihren Mann durch einen Autounfall verloren hatte. Sie setzten sich dann in ein Café oder besuchten ihren Lieblingsitaliener und redeten über Gott und die Welt. Hätte sie bei ihr anrufen sollen? Nein, auch Martina hätte nur versucht, sie zu dieser Operation zu überreden.

Bereits in dem Moment, als sie das Krankenhaus verlassen hatte, wurde ihr klar, dass sie nicht in dieser Stadt bleiben konnte, wollte sie nicht Gefahr laufen, von jemandem gesehen und erkannt zu werden.

Hätte ich mir doch vom Pförtner ein Taxi rufen lassen. Sie war sich nicht bewusst, wie endlos sich der Weg zum Bahnhof, der sie nicht nur durch den Park, sondern auch entlang des gesamten Industriegebietes führte, in die Länge zog. Im Auto kam ihr die Strecke nie so weit vor. Na was soll’s.

Hinter der Biegung, etwa fünfzig Meter von ihr entfernt, erblickte sie das lang gestreckte Gebäude mit der riesigen Uhr am Giebel.

Sie würde den nächsten Zug nehmen, der den Bahnhof verließ, egal wohin …

*

Das grelle Licht der Schalterhalle blendete sie und schmerzte in ihren Augen. Ankommende und abfahrende Reisende hetzten durch das Gebäude. Ein Betrunkener torkelte aus der Bahnhofsgaststätte. Er ließ die Passanten laut krakeelend wissen, wie verärgert er über den Wirt war, weil er ihm kein Bier mehr einschenken wollte. Verzerrt ertönte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. Türen wurden zugeschlagen, einer der Züge glitt langsam aus der Halle.

„Der nächste Zug, wohin geht der?“, fragte Nora den Mitarbeiter im Reisezentrum.

„In fünf Minuten fährt einer nach Hamburg. Aber um den zu kriegen, müssen Sie sich beeilen“, informierte er sie mürrisch.

Hamburg – das Tor zur Welt. Von Hamburg aus kann ich überall hin.

Nora bat ihn um ein Ticket.

Der Schalterbeamte brummte lediglich unwillig etwas von einem Automaten, der sich an der Wand um die Ecke befände.

Nachdem sie ihm freundlich erklärt hatte, dass sie vor mehr als zwanzig Jahren das letzte Mal in einem Zug gefahren war und sich mit diesen Automaten nicht auskenne, ließ er sich großmütig dazu herab, ihr einen Fahrschein auszuhändigen. „Aber das ist eine Ausnahme“, murmelte er gar nicht mehr so sauertöpfisch und wünschte ihr sogar noch eine gute Fahrt.

Der hell erleuchtete ICE stand zur Abfahrt bereit auf Gleis vier und der Zugführer wartete auf das Signal des Schaffners.

Was die Zukunft ihr bringen würde, stand in den Sternen. Sie stieg in dem Bewusstsein ein, von ihrem bisherigen Leben Abschied genommen zu haben. Nein, noch nicht so ganz, aber auf dem Weg nach Hamburg würde sie es tun.

Langsam ging sie von einem Wagon zum nächsten. Sie fühlte sich kraftlos und müde, trotz der inneren Unruhe. Ruhe und vielleicht ein wenig Schlaf würden ihr sicher guttun. Am besten, sie suchte sich ein unbesetztes Abteil. Leider schienen all die anderen Reisenden genau dasselbe zu wollen. In jedem Abteil saß bereits mindestens eine Person.

*

„Was wollen Sie mir damit sagen?“, fragte Frank Baumann aufgebracht den diensthabenden Arzt. „Meine Frau muss doch irgendwo stecken. Es kann doch wohl nicht angehen, dass in diesem Krankenhaus eine Patientin einfach so verloren geht?“

Doktor Kettlar, der kurz zuvor Kaffee in eine Tasse gegossen hatte und nun sachte in die heiße Flüssigkeit blies, bat ihn mit einer einladenden Handbewegung sich zu setzen.

Frank war jedoch viel zu aufgeregt und schüttelte ablehnend den Kopf.

Der erschöpft wirkende Arzt setzte sich. Er trank einen Schluck Kaffee, dann schob er mit dem Zeigefinger die Brille auf seiner etwas zu breit geratenen Nase näher an die müden Augen. Während er hilflos die Schultern hob und wieder senkte, sah er Frank mitleidig an. „Es tut mir leid, ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Ihre Frau hat das Krankenhaus offensichtlich heimlich verlassen. Nachdem Schwester Irene es bemerkte, haben wir sie sofort im ganzen Krankenhaus gesucht. Wir suchten sogar auf dem Dach.“

„Auf dem Dach? Was sollte sie denn da oben?“

Doktor Kettlar zog eine Augenbraue hoch. „Können Sie sich nicht vorstellen, unter welchem psychischen Druck ihre Frau steht?“

„Sie meinen …? Nein, Doktor.“ Er schüttelte heftig seinen Kopf. „Meine Frau will leben, die bringt sich nicht um.“

„Wie auch immer, wir haben selbstverständlich auch den Pförtner befragt.“ Er stellte seine Tasse auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück. „Der hat tatsächlich eine Frau die Klinik verlassen sehen, auf die unsere Beschreibung passt. Ohne Gepäck. Vor etwa einer halben Stunde.“

„Und warum hat er sie nicht aufgehalten?“

„Er nahm an, sie wäre eine Besucherin.“

„Ja, ja ich verstehe. Mein Gott, was denkt sie sich nur dabei? Wie kann sie mir und den Kindern so etwas antun?“, murmelte er nachdenklich und starrte verständnislos vor sich hin. Sie hat sich angezogen und nur mit ihrer Handtasche die Klinik verlassen, überlegte er. Nicht einmal ihre Zahnbürste hat sie eingepackt. Das neue lila Nachthemd liegt zusammengeknüllt auf dem Bett, als hätte sie es weggeworfen und mit ihm ihr bisheriges Leben. Was hat das zu bedeuten? Wo will sie um diese Zeit noch hin?

Franks angegriffener Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er hätte die Hackfleischbällchen mit Tomatensoße nicht essen dürfen. Doch er wollte Lena nicht enttäuschen, da es sich um das erste Gericht handelte, das sie ohne ihre Mutter gekocht hatte. Aber das änderte nichts daran, dass er von süßsaurer Tomatensoße mit Basilikum nun mal ständig aufstoßen musste. Diesmal hatte er das Essen zudem auch noch viel zu schnell hinuntergeschlungen. Die Fleischbällchen lagen ihm wie Steine im Magen. Ihm wurde übel. Er fühlte sich so verdammt hilflos. Hatte er nicht schon genug damit zu tun, sich mit dem Gedanken abzufinden, sie möglicherweise in naher Zukunft zu verlieren? Mein Gott – warum? Will sie mir jetzt, am Ende ihres Lebens beweisen, wie wenig sie mich braucht? Das musste sie nicht – er wusste es. Sie hatte ihn nie gebraucht, sie war immer die Stärkere, von Anfang an. Das war ja stets sein Problem. Diese ständige Angst, sie könnte ihn verlassen. Was soll ich nun tun?

„Herr Baumann, wie ich schon sagte, Ihre Frau steht unter großem psychischem Druck“, riss Doktor Kettlar ihn aus seinen Gedanken. „Diese Operation kann zwar verhältnismäßig gut ausgehen, was wir natürlich voraussetzen, sie könnte aber auch ihr ganzes Leben verändern. Versetzen Sie sich doch einmal in die Lage Ihrer Frau. Es wäre nicht das erste Mal, dass Patienten vor so einem Eingriff, einfach nur alleine sein wollen. Sie kommt sicher bald zurück. Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Sollte sie nicht zurückkommen, wird sie sich bestimmt bei Ihnen melden“, versuchte er, ihn zu beruhigen. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf. „Dann machen Sie ihr bitte klar, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzt. Der Tumor wächst, was meist zu einer Herniation führt.“

„Einer Hernia…, was?“

„Einer Einklemmung durch die raumfordernde Wirkung des …“

„Schon gut, ich habe verstanden.“

„Die Überlebenschance ihrer Frau sinkt dann rapide auf durchschnittlich zwei bis drei Monate.“

„Mein Gott! Sie müssen mir das nicht unter die Nase reiben. Das hat mir Ihre Kollegin bereits lang und breit erklärt. Sagen Sie mir lieber, was ich jetzt tun soll?“

„Gehen Sie mit Ihren Kindern nach Hause. Ich melde mich, falls sie zurückkommt.“

Frank reichte dem Arzt resignierend die Hand, bedankte sich noch mal für sein Verständnis und trat mit bangem Gefühl auf den Krankenhausgang hinaus. Lena und Tristan blickten ihm besorgt entgegen. „Wie es aussieht, hat sich Mutti aus dem Staub gemacht“, versuchte er, das Ganze herunterzuspielen.

*

„Papa, du kennst sie doch“ versuchte Tristan, seinen Vater zu beruhigen. „Sie hatte sicher einen guten Grund so zu handeln. Mutti würde nie etwas tun, das ihr oder uns schaden könnte. Sie wird sich ganz bestimmt bei uns melden.“

Tristan glaubte seine Mutter gut genug zu kennen, um zu wissen, warum sie gegangen war. Er nahm an, dass sie sich ebenfalls Gedanken über die Operation und ihre möglichen Folgen gemacht hatte. Sollte sie gut ausgehen, wie viel Zeit würde ihr danach bleiben? Ein Jahr oder zwei? In welchem Zustand würde sie diese verbringen? Er wünschte sich so sehr ein Wunder, aber Wunder geschahen selten. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm fehlen würde. Die endlosen Gespräche, die sie abends, mitunter bis spät in die Nacht geführt hatten. Ihre humorvolle Art ihn immer wieder aufzumuntern, wusste er mal nicht weiter, fehlte ihm ja schon jetzt. Und ihre Liebe, ihre Liebe würde ihm ganz besonders fehlen.

Spielt es eine Rolle, ob ich sie jetzt verliere oder erst in ein paar Wochen oder Monaten …, fragte er sich betrübt. Ja, es spielt eine Rolle, ich möchte ihr doch noch so viel sagen. Vor allem, wie sehr ich sie liebe und was es mir bedeutet, sie als Mutter zu haben. Sie ist die beste Mutter, die ein Kind sich wünschen kann.

Plötzlich erinnerte er sich an einen Abend vor einigen Wochen. Er hatte mit Freunden zusammengesessen. Als er spät heimkam, hatte er das Haus leise betreten, um niemanden zu wecken. Überrascht, noch Licht im Büro seiner Mutter zu sehen, war er dort hingegangen und hatte die lediglich angelehnte Tür ein wenig aufgeschoben. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, scheinbar in Gedanken versunken, ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen. Ihr geradezu melancholisch wirkender Blick schien ins Leere zu starren. Doch sie hatte ihn bemerkt und ihn gebeten, sich kurz zu ihr zu setzen. Er konnte sich noch genau an das Gespräch erinnern …

„Tristan, du bist ein attraktiver junger Mann, viele Frauen werden sich um deine Gunst bemühen.“

„Ach Mama, du bist nicht objektiv“, antwortete er, während er sich auf dem Sessel in der Ecke neben ihrem Schreibtisch niederließ, da sie ihm irgendwie traurig erschien.

„Ich möchte dich um etwas bitten.“

„Ja?“

„Geh verantwortungsvoll mit der Liebe um. Gefühle sind zerbrechlich wie Glas. Du weißt, wie Glas zerbricht, in tausende winzige Splitter, die nicht mehr zusammengefügt werden können. Manchmal kommt es jedoch vor, dass das Glas nur einen Sprung bekommt und weil wir es lieben, behalten wir es. Wir gehen dann sehr vorsichtig damit um, oder stellen es an einen Platz, an dem ihm nichts passieren kann, aus Angst, dass es endgültig zerbrechen könnte. Und da steht es nun, nicht mehr belastbar, unnütz geworden. Es ist nur noch die Erinnerung an etwas, das uns einmal sehr viel bedeutet hat. Darum, mein Großer, achte die Gefühle der Frauen, aber auch deine eigenen, schenk dein Herz nur einer, die du wirklich liebst und die dich genauso liebt.“

„Du bist eine hoffnungslose Romantikerin“, antwortete er.

Tristan räusperte sich. Warum denke ich gerade jetzt daran? Weil sich hinter ihren Worten weit mehr verbarg, als die Sorge um mein Seelenheil?

„Paps, wird Mutti sterben, wenn sie nicht operiert wird?“, unterbrach Lena seine Gedanken.

Frank sah seine Tochter nachdenklich an und ohne ihr eine Antwort zu geben, legte er seine Hand um ihre Schultern. „Last uns nach Hause gehen, wir können hier nichts mehr tun.“

*

Nora konnte nicht sagen was sie bewog, ausgerechnet die Tür des Abteils zu öffnen, in dem eine zierliche, elegant gekleidete ältere Dame saß, obwohl deren immer noch schönes Gesicht, ja, die gesamte Haltung, auf den ersten Blick distanziert und kühl wirkte. Vielleicht gerade deshalb. Vermutlich aber lag es an der Situation, die einer gewissen Komik nicht entbehrte. Ein kleiner, langhaariger Welpe hopste freudig winselnd auf dem Schoß der Dame herum und versuchte hartnäckig, deren Gesicht abzulecken. Der kleine Kerl nahm nicht die geringste Rücksicht auf das beigefarbene Kostüm, dessen ausgezeichnete Qualität Nora auf den ersten Blick erkannte. Und auch der Dame schien es völlig gleichgültig zu sein. Sie schimpfte zwar mit ihm, aber das klang eher nach Ermunterung, so wie sie dazu lachte. Dabei strahlte sie eine Herzlichkeit aus, der sich Nora nicht entziehen konnte. „Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“

Die Dame lächelte ihr offen entgegen. „Wie Sie sehen. Kommen Sie nur herein, junge Frau. Ich freue mich über ein wenig Gesellschaft.“

Nora setzte sich auf den Platz gegenüber. „Der ist aber süß, ein richtiger Wollknäuel. Was für eine Rasse ist das?“

„Der Besitzer meinte, der letzte Liebhaber seiner Border Collie Hündin, müsse ein Bobtail gewesen sein. Wir werden sehen, was daraus wird“, antwortete die Dame.

„Vor allem wird er noch um einiges größer“, meinte Nora, „das kann man schon jetzt an seinen verhältnismäßig großen Pfoten erkennen. Aber er ist wirklich süß. Ich könnte mich glatt in ihn verlieben.“

Die Dame lächelte erneut. „Mir ging es ebenso. Da konnte ich ihn doch nicht zurücklassen. Also entschloss ich mich, ihn als Geschenk für meinen Sohn mitzunehmen.“

„Er wird sich sicher freuen“, bemerkte Nora.

„Das glaube ich eher nicht“, bekannte die Dame amüsiert lächelnd. „Er pflegt anderen Interessen nachzugehen. Aber er wird sich hüten, ein Geschenk von mir abzulehnen. Zwar wird er den Kopf über seine spleenige Mutter schütteln und er wird mich für noch ein wenig verrückter halten, als er es ohnehin schon tut, aber er wird den kleinen Kerl akzeptieren.“ Liebevoll streichelte sie über das Fell des Hündchens, während sie sich interessiert umsah und die Augenbrauen fragend nach oben zog. „Nanu, Sie haben Ihr Gepäck hoffentlich nicht auf dem Bahnsteig stehen lassen?“

Nora schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein, ich habe kein Gepäck.“

„Sie fahren also nicht in Urlaub?“, registrierte die alte Dame.

„Nein!“, antwortete Nora knapp.

„Dann sind Sie geschäftlich unterwegs?“, bohrte sie weiter.

Wollte ich nicht meine Ruhe haben, überlegte Nora, beantwortete aber auch diese Frage wahrheitsgemäß, allerdings mit einem knappen nein.

„Ich merke schon“, lenkte die Dame ein, „Sie möchten Ihre Ruhe haben. Wenn man so alt ist wie ich, sucht man förmlich nach jeder sich bietenden Gelegenheit sich unterhalten zu können. Dabei übersieht man gerne, wie lästig man mitunter ist. Entschuldigen Sie bitte.“

„Aber ich bitte Sie, ich kann das gut verstehen, außerdem ist es sehr nett von Ihnen, sich Gedanken über mich zu machen. Wären alle Menschen so, gäbe es sicher nicht so viele Missverständnisse auf unserem Planeten. Es liegt an mir, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hatte einen schweren Tag.“

Für Sekunden nur legte die Dame ihr mitfühlend die Hand aufs Knie. „Lassen Sie sich von einer alten Frau mit viel Lebenserfahrung einen Rat geben. Mitunter bringen unverhoffte Ereignisse unser ruhig dahin plätscherndes Leben ganz schön ins Wanken und oft genug nehmen wir an, niemals mit den Schwierigkeiten fertig werden zu können. Doch entschließen wir uns dazu, uns der neuen Herausforderung zu stellen, bemerken wir häufig, dass wir uns verändern, stärker werden und daran wachsen.“

Die netten Worte liefen wie Balsam über Noras wunde Seele und einen winzigen Moment fühlte sie sich geneigt, ihre Geschichte zu erzählen. Nichts anderes wäre es für diese Frau, bloß eine Geschichte. Vermutlich würde sie Mitleid empfinden, doch sobald sie zu Hause ankam, würde sie die Frau und ihre Geschichte vergessen. Ihr selbst aber würde es vielleicht Erleichterung verschaffen. „Sie mögen recht haben und ja, ich habe tatsächlich ein Problem. Davor zu fliehen ist allerdings unmöglich, es bleibt mir hartnäckig auf den Fersen.“ Nora lachte nervös. „Trotzdem entschloss ich mich dazu, wegzugehen. Klingt verrückt, nicht wahr?“

Die freundliche Dame hob ihren Zeigefinger hoch und bewegte ihn verneinend hin und her. „Nein, ganz und gar nicht. Ich denke, Sie haben intuitiv gehandelt. Sicher hatten Sie einen guten Grund dafür.“

„Intuitiv? Ja, ich denke, so könnte man es nennen. Allerdings frage ich mich jetzt, ob ich nicht doch eine riesen Dummheit begangen habe. Aber nun ist es zu spät. Der Zug rollt in Richtung Hamburg.“

„Werden Sie Verwandte oder Freunde besuchen?“

„Nein, ich kenne dort niemanden. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wie es von dort aus weitergeht. Ich werde wohl in irgendeinen Flieger steigen, um ans Meer zu gelangen. An irgendein Meer. Wasser, Wellen, die sanfte Brise des Windes, der weite Horizont und Sand. Ich will Sand zwischen meinen Zehen spüren und ihn durch meine Finger rieseln lassen, warmen weißen Sand. Ja, das möchte ich.“ In ihrer Phantasie konnte Nora das Meer bereits sehen und sich selbst am Strand entlanglaufen, die Füße in den mit weißer Gischt gekrönten Wellen. Nora dachte an die malerischen Sonnenuntergänge und an die frühen Morgenstunden. Sie würde einfach nur so am Strand sitzen und warten, bis das Grau des Morgens, vom Licht der aus dem Meer aufsteigenden roten Sonne abgelöst wird.

„Junge Frau ...“

„Entschuldigung, ich war in Gedanken.“

„Das habe ich bemerkt“, meinte sie trocken.

„Mein Name ist Nora Baumann. Sagen Sie doch Nora zu mir“, stellte sie sich vor.

„Gern, wenn Sie mich Lydia nennen. Ich bin Lydia von Radomski“, antwortete sie freundlich lächelnd, „und das ist Elvis“, stellte sie auch gleich das winselnde Wollknäuel vor. „Ich besuchte hier eine alte Schulfreundin. Wir machen das alle zwei Jahre abwechselnd, mal ich sie, mal sie mich. Eigentlich wollte ich dieses Jahr gar nicht fahren. Mit zunehmendem Alter wird man bequemer und da fragt man sich schon mal, ob sich eine solche Anstrengung überhaupt noch lohnt. Mein Sohn bestand darauf. Er meinte, eine Reise würde mir guttun.“ Sie lächelte listig. „Vermutlich wollte er mich nur loswerden, damit er sich in aller Ruhe, ohne meine ständigen Sticheleien, mit diesem Modepüppchen vergnügen konnte. Na ja, was soll’s, ich muss mich wohl damit abfinden, dass mein Sohn ein Trottel ist“, murrte sie und hielt plötzlich inne. „Was wollte ich eigentlich sagen?“