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Nils Binnberg

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Beschreibung

„Ich leide an Orthorexia Nervosa. Den Begriff kenne ich selbst erst seit kurzem, er beschreibt den Zwang, gesund zu essen. Klingt doch gut, meinen Sie? Ist es aber nicht. Ich folge zwanghaft jeder neuen Gesundheitslehre. Beim Verzehr alltäglicher Nahrungsmittel fühle ich mich mittlerweile wie ein Selbstmörder. Ich bin übrigens nur einer von einer Millionen Betroffenen in Deutschland. Beim Mittagessen können wir uns ganz ungezwungen über Fesselsex wie in »Fifty Shades Of Grey« unterhalten. Aber wir verkrampfen, wenn ein Brotkorb herumgereicht wird.

Wann hat unsere Dauer-Diät begonnen? Was versuchen wir zu kontrollieren? Ist es wirklich nur der Wunsch nach grenzenloser Jugend und überirdischer Schönheit? Oder brauchen wir eine Ersatzreligion, weil wir sonst nichts mehr haben, woran wir glauben können? Ich suche Antworten auf diese Fragen und fange bei mir an. Weil mein Leben, wie ich mir eingestehen muss, gerade den Bach runtergeht. . . “

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Nils Binnberg

Ich habe es satt!

Wie uns Ernährungsgurus krank machen

Suhrkamp

Ich habe es satt!

Panik

Ich habe vor neun Jahren eine Essstörung entwickelt: die Sucht, mich gesund zu ernähren. Das klingt erst einmal nicht dramatisch. Tatsächlich ist es fatal.

Man nennt diese Essstörung auch »Orthorexie«. Das Leben eines Betroffenen ist irgendwann nur noch von Essen bestimmt. Unausgesetzt kreisen seine Gedanken darum, während das, was er sich an Nahrung zugesteht, immer weniger wird.

Zuletzt bin ich etwa zwanzig Ernährungslehren gleichzeitig gefolgt. Ich kannte die Nährwertangaben all meiner Nahrungsmittel auswendig. Sie mussten »bio« sein und eine leistungssteigernde Eigenschaft aufweisen.

Meine Ernährungsbiografie in Kurzform: Low-Carb. Paleo. Glutenfrei. Laktosefrei. Clean Eating. Vegan. Jedes dieser Muster war von Intervallfasten begleitet. Und von Schuldgefühlen, wenn ich meine »Tabus« wieder einmal nicht in den Griff bekam. Meine Ernährungsbiografie verlief dabei nicht so chronologisch, wie sie sich hier liest. Eher glich sie einem Ernährungssammelsurium, aus dem ich mir je nach Obsessionsgrad etwas herauszupfte. Immer in der Hoffnung auf ein schlankeres, gesünderes, schlaueres Ich, das mit dem richtigen Essen all seine Lebenskrisen bewältigen könnte.

Bis ich erkannte, dass ich ernsthaft krank bin, vergingen sieben Jahre meines Lebens. Ich weiß heute, wie widersprüchlich meine Geschichte ist. Lange Zeit hielt ich beharrlich an ihrem Plot fest. Weil ich an einer Krankheit litt, aber auch, weil es viele Menschen gab, die sich »Experten« nannten und mich dabei begleiteten. Sie haben mich nicht in die Essstörung getrieben. Aber sie haben mich darin bestätigt. Ich nenne sie heute Gurus, weil sie auf Blogs, in Foren, auf Bestsellerlisten und in sozialen Medien eine Jüngerschaft um sich scharen.

Diese Informationsquellen hatten auch für mich lange Zeit die Aura von exklusiven Geheimclubs, was nicht ungewöhnlich ist für einen Essgestörten: Foren und Kommentarspalten verstärken sein Gefühl, unter Gleichgesinnten und ganz normal zu sein. Nicht, dass ich dort jemals selbst kommentierte oder meine Ansichten über eine gesundheitsfördernde Ernährung kundtat. Obwohl ich viele Weisheiten parat gehabt hätte. Aber ich habe unzählige Diskussionen stillschweigend mitgelesen und mich in meinen Ansichten bestätigen lassen. Nirgendwo war das so leicht wie in dieser Echokammer, in der die Wiederholung die Wahrheit übertönte.

Viele Wege führen in meine Krankheit, einige davon sind ganz alltäglich. Ein diffuses Krankheitsbild, für das es keine überzeugende Therapie gibt. Eine Fastenkur als Vorsatz für das neue Jahr. Ein Fitnesstrainingsprogramm, das zum Leistungssport wird.

Der Auslöser für die Orthorexie ist dabei immer derselbe: Der Betroffene stellt seine vertraute Beziehung zum Essen in Frage. Er entwickelt die Vorstellung, dass er mit der richtigen Ernährung sein Schicksal kontrollieren kann. Dass er seine Lebensdauer verlängern, seine Lebensqualität verbessern, sich selber heilen kann. Andersherum, glaubt er, kann er von falschem Essen krank werden. Es gibt nach Schätzungen bereits eine Million Betroffene in Deutschland. Mag sein, dass diese Zahl überzogen ist. Weil unsere gesamte Kultur besessen ist von körperlicher Selbstoptimierung, ist es schwierig, die Grenze zu ziehen, wann man einfach ein gestörtes Verhältnis zu Essen hat oder eine Essstörung.

Vor ungefähr zwei Jahren bemerkte ich, dass ich immer häufiger Verabredungen in Restaurants schwänzte, wenn mir die Menükarte nicht passte. Die hatte ich vorher im Internet recherchiert. Ich fühlte Wut in mir brennen, wenn meine Freunde mal wieder nicht nach meiner Essens-Pfeife tanzten.

Ich realisierte, dass ich meinen Freund, meinen Job, alles andere im Leben öfter vernachlässigte, weil mein Geist vor allem von Essen bestimmt war. Dass ich seit Monaten nur noch Brei, Räucherlachs, Eier, Avocado, Salat und Fleisch gegessen hatte. Dass ich mich vor Lebensmitteln ekelte, die nicht bio waren, und zwar so extrem, als hätte man mir ein gegrilltes Katzenbaby aufgetischt. Dass sich mein Körper-Tuning ins Aberwitzige gesteigert hatte. Dass ich mich vor manchen Lebensmitteln sogar panisch fürchtete.

An diesem Punkt begann ich, mir Fragen zu stellen. Was stimmt nicht mit mir? Ist mein Körper krank oder ist es meine Wahrnehmung? Haben Blogs, Ernährungsmediziner und Studien mich nicht auf diese Spur gebracht? Bin ich irgendwo falsch abgebogen?

Ich fand keine Antworten. Also machte ich mich auf die Reise. Zurück in mein Leben; hinein in meine eigene Ernährungsbiografie.

Der Tag, an dem das Essen seine Unschuld verlor

Wie die meisten erinnere ich mich an den Moment, an dem ich mich das erste Mal zu dick fühlte. Ich kann auch mit absoluter Genauigkeit abrufen, wie sich mein Wille formte, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.

Menschen wollen aus den unterschiedlichsten Motiven Gewicht verlieren. Bei dem einen ist es ein Besuch beim Arzt, die schockierende Diagnose, nicht gesund zu sein. Andere stellen eines Tages beim Wiegen fest, dass sie, ohne es zu merken, eine Art Kampfgewicht erreicht haben. Wieder andere erleben einen Moment der Selbstentfremdung. Der Anblick im Spiegel oder auf einem Foto wird von heute auf morgen zum Weckruf. Sie erkennen den Pfundsmenschen, der ihnen entgegenschaut, einfach nicht mehr.

Tatsächlich sind diese drei Ereignisse die häufigsten Auslöser für eine Diät. In meinem Fall war es die Waage. Doch ehe ich überhaupt auf die Idee kam, eine zu betreten, bedurfte es eines anderen Zwischenfalles. Er liegt schon etliche Jahre zurück.

Mein Freund und ich waren gemeinsam für ein paar Tage nach Italien gereist, in unseren Sehnsuchtsort Neapel. Es war Spätsommer, Neapel verströmt um diese Jahreszeit eine wilde Hitze, die die Ruhe des bevorstehenden Herbstes noch nicht erahnen lässt. Wir wohnten in einem malerischen Barockhaus in Sanità, einem alten Mafia-Viertel.

Die Stadt ist für so viele Dinge berühmt. Ihre kunstvollen Kapellen und den Blick auf die Amalfiküste mit dem Vesuv im Hintergrund. Die exklusiven Kunstgalerien und die fantasievollen Taxipreise. Am meisten aber für ihre Küche. Für mich war das Essen fast immer das Ausschlaggebende auf einer Reise. Während andere die Routen ihres Lebens nach den weichsten Stränden oder kennerischsten Kunstsammlungen planten, führte mich die Liebe zum Essen rund um die Welt; so auch zu Neapels leicht verbrannter Pizza, die mit ihrem charakteristischen Geschmack aus säuerlichem Teig und dem Püree süßer DOP-Tomaten immerhin zum Weltkulturerbe zählt.

Wir besuchten einfache Trattorien in der Camorra-Zone, in denen sich der warme Duft von sautiertem Speck wie Nebel über den Raum legte, nussige Parmesan-Aromen aus der Küche wehten und der Salzwasserdampf von frischer Pasta unsere Nasen kitzelte. An anderen Abenden aßen wir in einem kleinen Weinkeller oder gönnten uns ein Fine-Dining-Menü am Hafen. Ich hätte mir in diesen rauschhaften Momenten nie vorstellen können, beim Essen irgendwann einmal kein Glück mehr zu empfinden. Oder dass die Neugierde auf Aromen, die Freude an einem geselligen Abend bald nur noch Erinnerungen wären.

Doch genau in diesem Urlaub entstanden sie, die ersten Risse in meiner Liebe. Es war erst nur ein Bauchgefühl. Doch das nistete sich für viele Jahre in meinem Kopf ein.

Wir hatten den vorletzten Tag auf Capri verbracht. Es war mein 33. Geburtstag. An sich kein bemerkenswertes Datum im Leben eines Menschen, und doch hat es sich in meine Erinnerung gebrannt, als Tag meines letzten Festmahls.

Wir hatten einen Tisch beim romantischsten Italiener der Insel reserviert. »Da Paolino« liegt inmitten eines Zitronenbaumwäldchens, damals, zur Erntezeit, baumelten uns faustgroße Zitronen vor der Nase. Wir bestellten den Klassiker »Spaghetti Paolino«, handgemachte Pasta mit gerösteten Kirschtomaten, Anchovis und Kapern. Danach ein scharf gebratenes Kalbskotelett. Zum Anstoßen gönnten wir uns ein paar Gläschen Limoncello. Ein bonbonwassersüßer Schnaps, aus den Zitronen des Wäldchens gebrannt.

Noch vor dem zweiten Gang wurden wir Zeuge einer Szene, die sich zwei Tische entfernt abspielte. Eine kleine Traube japanischer Touristen stand wild kichernd vor dem Tisch einer unscheinbaren, recht übergewichtigen Frau mit einem sympathischen lauten Lachen. Als sich die kleine Ansammlung auflöste, mussten wir mehrmals hinschauen, um zu erkennen, auf was sie den Blick freigegeben hatte. War das nicht dieser James-Bond-Schauspieler? Pierce? Wie heißt er noch gleich? Brosnan?!

Was uns noch eingehender beschäftigte als der Hollywood-Star war die Frage, warum ausgerechnet er, der den Gentleman par excellence verkörperte und zum Sexiest Man Alive gewählt worden war, nicht ein scharfes Bond-Girl à la Ursula Andres oder Famke Janssen an seiner Seite hatte. War seine Begleiterin überhaupt seine Frau? Wir tippten die Begriffe »Brosnan« und »Ehefrau« in die Google-Suchfelder unserer Smartphones. Da waren die Beweisfotos; sie waren ein Ehepaar. Ich schämte mich schon im selben Moment für meine miesen, boshaften, oberflächlichen Gedanken. Noch wusste ich ja auch nicht, was sich sonst noch alles dahinter verbarg.

Abschiedssentimental fuhren wir mit dem Schnellboot zurück in die Stadt und spazierten vom Hafen durch die feuchte Nachthitze zum Hotel zurück.

In Deutschland wartete unser neues gemeinsames Zuhause auf uns. Nach einem Jahr Pendeln war ich von Berlin nach München zu meinem Freund gezogen. Ich tat es für unsere Beziehung. Die Entfernung hatte uns einsam gemacht. Es kriselte.

Ich war nie meisterhaft darin gewesen, meine dunklen Gefühle in Worte zu fassen; er konnte sie lesen wie ein Spürhund. Ich konnte Menschen ein Gefühl von Sicherheit geben. Das liebte er an mir. Ich hatte einen Hang zur Perfektion. Er beherrschte den Stilbruch. Wir ergänzten uns. Es wäre ganz und gar verrückt gewesen, diese Liebe für meinen mies bezahlten Autoren-Job bei einem Berliner Modemagazin zu riskieren. Eher wollte ich die Unsicherheit wagen, ein freier Journalist zu sein. Auch wenn ich München nicht viel abgewinnen konnte.

Unser neues Miteinander hatte sich schnell zurechtgeruckelt, das erste Fremdeln war überwunden, so dachte ich noch, bevor wir nach Neapel fuhren.

Dann kam der letzte Abend vor unserer Rückreise. Die Koffer waren schon gepackt, die Fahrzeit vom Taxi zum Flughafen berechnet, als ich mich, nur in Unterhose, über meinen Freund hinweg auf meine Bettseite warf.

Da traf mich sein Blick. Vielmehr traf sein Blick meinen Bauch. Prüfend.

Ich sah an mir herab. Außer einem Leberfleck oberhalb des Bauchnabels und einer bleistiftdünnen Narbe an einer Stelle, an der ein weiterer Leberfleck gesessen hatte, war mir mein Bauch nie besonders erschienen. Weder hatte ich ein Sixpack noch eine charakteristische Behaarung. Mein Bauch war einfach mein Bauch.

Zeit meines Teenagerlebens hatte ich eine ganz andere Problemzone gehabt: meine Arme. Trommelstabdünn schlenkerten sie beim Gehen so eigenwillig hin und her, als führten sie ein Eigenleben. Selbst bei Brüllhitze trug ich unter dem T-Shirt ein Longsleeve, damit ich nach mehr aussah. Meist trug ich sogar noch ein leichtes Hemd darüber. Mit Schulterklappen, die meinen Oberkörper breiter schummelten.

Als Kind hatte ich von Tanten, den Großeltern und Klassenlehrern häufig zu hören bekommen, ich sei zu dünn – für einen Jungen. Irgendwann hatte ich es selbst geglaubt. Durch diese alte Brille bemerkte ich nicht, dass sich meine Problemzone verschoben hatte.

In Neapel sah ich plötzlich deutlich, wie sich eine ganz und gar nicht kleine Speckrolle über das breite Gummiband meiner Unterhose wölbte. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkniff, einen dicken Kloß umschnürte. Ich fühlte mich bloßgelegt, wie ein mehrteiliger Zellkörper unter einem Brennglas; gnadenlos schien das Licht auf den Makel. Mein Freund sagte irgendetwas Süffisantes, wie: »Na was haben wir denn hier?«

Ich habe den genauen Wortlaut vergessen, verdrängt.

Er bestreitet die Szene bis heute.

An jenem Abend verzog ich mich wie eine Schnecke, die man an ihren Fühlern berührt hat, unter die Bettdecke. Wortlos. Auch am nächsten Tag: keine Worte. Der Vorfall blieb unkommentiert, trotzdem stand er im Raum. Der Blick meines Freundes hatte meinen Blick auf mich selbst verändert. Im Badezimmer streifte ich mir meine Anziehsachen geräuschlos über, hielt dabei kurz die Luft an. So rollte sich mein Speck wie ein ausgewrungener Waschlappen in eine Bauchfalte.

Man sagt, ab dreißig verändere sich beim Mann der Stoffwechsel. Der Energiebedarf sinkt ab diesem Zeitpunkt, weil der Körper weniger Wachstumshormone produziert. Energieüberschuss wird nicht mehr, wie bei Teenagern, als Wärme abgegeben. Selbst, wer ab dieser Phase »wie immer« isst, legt Kilos zu. Ab Mitte dreißig schrumpfen die Muskeln, und dazu wächst der Bauch, gewissermaßen umgekehrt proportional. Der Körper verstellt den Sollwert für den Körperfettanteil. Warum er das tut, ist nicht erforscht. Was hingegen bekannt ist: Der Körper sammelt alles, was er nicht verbrennt, in den Fettzellen.

Bis zu dreißig Kilogramm können es sein, die sich im Lauf des Lebens auf das Teenagergewicht drauflegen. Das passiert hinterrücks. Man könnte auch sagen: in homöopathischen Dosen. Der Körper gewährt dem Bewusstsein genug Zeit, sich an die paar mehr Rundungen zu gewöhnen. Anders gesagt: Das Gewicht verschiebt sich und die Wahrnehmung auch.

Als ich mit Anfang dreißig in einem Modeladen das erste Mal nicht mehr in meine gewohnte Jeansgröße passte, hatte ich das nicht etwa auf mich und mein Essverhalten geschoben, denn das war ja wie immer. Ich schob es auf den Schnitt der Hose. Und mein Hemd mit der Knopfleiste, die sich jetzt plötzlich immer wie ein »S« über meine Körpermitte wölbte? Das war sicher zu heiß gewaschen worden, so beruhigte ich mich.

Wie viele Menschen, die nicht gern in Konflikte gehen, hatte ich gelernt, unangenehme Situationen aus meinen Gedanken zu vertreiben. Nach der Neapel-Reise ging das nun nicht mehr. Zwar wusste ich damals nicht, dass es mit meinem Stoffwechsel bereits bergab ging. Aber ich musste erkennen, dass mein Körper ein anderer geworden war als der, für den ich ihn hielt.

Wenige Wochen später waren wir zu Besuch bei den Eltern meines Freundes. Im Badezimmer entdeckte ich eine digitale Personenwaage; bei uns zuhause hatten wir keine, ich hatte überhaupt noch nie eine besessen. Ich war lange ein schlaksiger Typ gewesen, bei einer Größe von 1,85 Meter habe ich wahrscheinlich immer um die siebzig Kilogramm gewogen. Solange ich in meine alte Kleidergröße gepasst hatte, war alles in Ordnung gewesen.

Diese Waage zu betreten, das befahl mir wahrscheinlich der Kloß in meinem Magen. Er war in den Wochen zuvor spürbarer, größer geworden. Als die Striche auf dem Display nach einem kurzen Puzzeln zum Stillstand kamen, rieselte mir Scham wie glühende Stecknadeln durch den Körper. Die Waage zeigte über zehn Kilos mehr an, als ich in Erinnerung hatte. Vierundachtzig Kilogramm.

Ärzte würden sagen: Das ist bei meiner Körpergröße noch im Rahmen. Körperlich war ich ja auch vollkommen gesund. Ästhetisch fühlte ich mich unzureichend. Ich war das, was man in gewissen Foren, die ich noch kennenlernen sollte, »skinnyfat« nennt. Schlank, mit Fettpolstern an den falschen Stellen.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht mehr männlich genug auszusehen. Richtige Männer, das waren für mich früher Typen wie Marcus Schenkenberg und der Davidoff-Mann. Das schwedische Model und die Werbefigur für den Duft »Cool Water« waren meine Poster Boys, als ich Anfang der neunziger Jahre ein Körperbewusstsein entwickelte. In meiner Schulklasse träumten die Jungs auch davon, so auszusehen wie der Sänger Mark Wahlberg in der Unterwäschewerbung von Calvin Klein: Schwimmerschultern, Sixpack und Bodybuilder-Bizeps.

Ich war gekränkt, dass ich trotz Calvin-Klein-Unterwäsche niemals so aussah, wahrscheinlich niemals so aussehen würde. Die Natur hatte mich dünn gedacht. Zu dem Männerbild dieser Zeit passte das nicht, und so kränkte mich mein Körper.

Erst Ende der neunziger Jahre betraten dünne Jungs in der messerscharf geschnittenen Mode von Designern wie Raf Simons und Hedi Slimane die Bühne. Für mich kamen diese Auftritte zehn Jahre zu spät.

Die paar Pfunde mehr am Bauch waren jedenfalls die zweite bittere Kränkung in meinem Körpergefühl. Ein Mann darf keinen weichen Bauch haben, keine Brüste, keine dicken Oberschenkel oder hängende Hüften; so schreibt es unser kultureller Vertrag vor. Fit und schlank sein gilt als diszipliniert, willensstark, erfolgreich in einer Gesellschaft, in der sehr viele Menschen Übergewicht mit sich herumtragen. Hierzulande sollen neunundfünzig Prozent der Männer und siebenunddreißig Prozent der Frauen davon betroffen sein. Für diese Theorie spricht, dass Männer erst in den achtziger Jahren massenhaft anfingen, in Fitnessstudios an ihren Körpern zu arbeiten.

Der amerikanische Psychiater und Harvard-Professor Harrison Pope hatte dazu eine radikale Theorie: Der muskulöse Männerkörper als Reaktion auf den Feminismus. Mit der Frauen-Emanzipation habe das Rollenbild vom Mann als Krieger und Ernährer an Bedeutung verloren.

Für die Krise der Männlichkeit zog Pope zahlreiche Beobachtungen heran. Die wohl erstaunlichste war der Vergleich zwischen den Spielzeug-Actionfiguren von heute und denen vor vierzig Jahren. Sie sind mit Muskeln bepackt, die einen echten Body-Builder geradezu schmächtig aussehen lassen würden. Das breite Kreuz als Rückzugsort für Männlichkeit. Werden die körperlichen Entgleisungen des Mannes sichtbar, verletzen sie also die ungeschriebenen Regeln des kulturellen Vertrags.

Ein Vertragsbruch also. Das war es, was mir die Digitalanzeige auf der Waage anzeigte. Wie in einem schlechten Roman konnte ich ab sofort das Ende meiner Geschichte voraussagen, als Dickerchen, ungeliebt und sozial geächtet. Ich beschloss, abzunehmen. Das war er: Der Anfang meiner Essstörung. Sie würde mich acht Jahre lang begleiten. Und tut es noch.

Masterplan für ein neues Leben

Wenn ich heute auf dem Smartphone durch mein Fotoalbum wische, bis hin zu dem Neapel-Urlaub vor zehn Jahren, kann ich für kurze Zeit nachempfinden, warum ich mich in der darauffolgenden Zeit an alles klammerte, das schnellen Erfolg versprach. Warum ich Nährstoffen die Macht über mein Glück zuschrieb. Warum ich mich in absurde und immer absurdere Verschwörungstheorien über das Essen verstrickte.

Beim Anblick dieses Bildes befällt mich, damals wie heute, das Gefühl der totalen Entfremdung. Auf dem Bildschirm sehe ich einen Mann, gekrümmt wie ein Bär, gesetzt, väterlich. Er sitzt auf einer Hafenmauer und lächelt peinlich berührt.

Wische ich ein paar Mal nach links, schaut mir ein durchtrainierter, jugendlicher Mann aus einem Badezimmerspiegel in einem New Yorker Hotel entgegen. Er wirkt entschlossen, ist nur mit Unterhose bekleidet, hat ein Sixpack und ein V-Kreuz. Beide Male – ich. Nur Monate liegen dazwischen, nicht mal ein ganzes Jahr.

In dieser Zeit hatte ich es geschafft, mir einen neuen Körper zu entwerfen und mit ihm das Regelwerk, das nach und nach meinen Speiseplan schmälern würde. Nur kam es mir währenddessen gar nicht wie ein Regelwerk oder eine Restriktion vor. Etwas nicht zu essen, wonach ich mich heimlich sehnte, fühlte sich anfangs an wie ein Runners High. Wie der Moment also, in dem der Läufer über sich hinauswächst und der Körper an die letzten Reserven geht. Ich weiß noch, dass ich dieser ersten Zeit häufiger dachte: Wer das schafft, schafft alles.

Nach der Neapel-Reise und dem Schreckmoment auf der fremden Waage hatte ich, um nachhaltig etwas gegen meine zehn Kilos zu viel zu tun, einen Sportmediziner aufgesucht. Er setzte kleine Elektroden auf meine nackte Brust und meine Taille, sie ließen meinen Oberkörper wie ein Kunstwerk von Kusama aussehen und sollten meinen Körperfettanteil messen. Ein Drucker warf stotternd Tabellen, Kurven und Prozentzahlen aus. Ein Balken leuchtete rot, das wirkte beunruhigend.

»Schauen Sie«, hatte der Mediziner gesagt, sein Blick war auf den ausgedruckten Zettel geheftet gewesen, »zu viel Fett am Bauch.« Dieser Befund ließ eine ganze Kette von Erinnerungen und Gedanken im Zeitraffer an mir vorbeiziehen; mein gedankenloses Ernährungsverhalten. Ich schämte mich und fragte sorgenvoll: »Und jetzt?«

Schuld an meinem Bauch seien, erfuhr ich von ihm, vor allem kohlenhydratreiche Lebensmittel. Er tippte einige Informationen in seinen Computer, sein Drucker ratterte und spuckte wieder etwas aus; diesmal den Masterplan für mein neues Leben.

Ein Kraftausdauertraining sollte ich machen, und ernähren sollte ich mich fortan Low-Carb. Das steht für Low Carbohydrate. Zu Deutsch: Man reduziert die sogenannten leeren Kohlenhydrate, enthalten in Kartoffeln, Nudeln, Reis und Brot. Irgendetwas Gutes würde diese Ernährungsweise mit meinem Stoffwechsel machen, ihn anfeuern, beschleunigen, ihn dazu anheizen, mehr Fett zu verbrennen. Ganz verstand ich es in meiner Schockstarre nach der Bauchfett-Diagnose nicht. Low-Carb, das aber blieb von den Worten des Mediziners in meinem Kopf hängen, hatte eine raketenhafte Wirkung.

Der Sportmediziner hatte mir erklärt, dass ich als Erstes alte Muster abstreifen müsste, und genau so tat ich es. In den darauffolgenden Tagen und Wochen häutete ich mich wie eine Schlange von meinen bisherigen Ernährungsgewohnheiten. Von einem Tag auf den anderen mied ich möglichst alle Kohlenhydrate, vor allem aber jeden Zucker, und ernährte mich fast nur noch von Proteinen und Fetten. Der Verzicht fiel mir leicht; obwohl ich nur noch Variationen von Fisch oder Fleisch mit Ratatouille aß, Eiweißshakes trank, Joghurt aus Schafmilch zu mir nahm und Studentenfutter ohne Rosinen, langweilte mich mein Essen nicht. Ich hielt ja, so sagte ich mir, keine Diät. Vielmehr war es eine Ernährungsumstellung.

Etwa zwei Wochen später rieb ich mir verwundert die Augen, als auf dem Display der Waage die Zahl plötzlich bei drei Kilogramm weniger als zuvor einfror. Sie war in Rekordtempo gesunken.