Ich habe nichts ausgelassen - Walter Plathe - E-Book

Ich habe nichts ausgelassen E-Book

Walter Plathe

4,4

Beschreibung

Auf der Bühne gab er den verführerischen Liliom, den schelmischen Schwejk, den tragischen Professor Unrat. In Filmen spielte er komische und ernste Rollen, im Fernsehen war er siebzehn Jahre lang der bodenständig-sympathische "Landarzt". So schillernd und vielseitig die Rollen, so geradlinig und direkt der Charakter dahinter. Walter Plathe – eine echte Berliner Pflanze, ein Typ mit Herz und Schnauze, ein Volksschauspieler, der festhält an seinem Credo: "Die Mutter vons Janze ist das Theater!" Schon sein Großvater betrieb ein privates Volkstheater, doch die Familie warnte den Jungen vor der brotlosen Kunst. So lernte er erst Verkäufer in einer Zoohandlung, verschrieb sich aber schließlich mit Haut und Haar der Schauspielerei, denn: "Ich musste mich entscheiden zwischen meiner Tierliebe und der Lust auf Verstellung und Spiel". Mit viel Humor erzählt Plathe seine Lebensgeschichte.

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Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

ISBN E-Book 978-3-355-50037-1

ISBN Print 978-3-355-01848-7

© 2017 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann, unter Verwendung eines Fotos von Jörg Krauthöfer

Fotos Innenteil: Archiv Walter Plathe

Die Bücher des Verlags Neues Leben

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Schon sein Großvater betrieb ein privates Volkstheater, »eine fidele Mischung aus Operetten-Theater und Schlager-Revue«. Doch die Familie warnt ihn vor der brotlosen Kunst. »Junge, wie dämlich bist du eigentlich? Was willst du auf der Bühne? Die Geschäfte gehen schlecht.« Erst einmal verläuft sein Weg ins Leben »im Zickzack zwischen Tierliebe und der Lust auf Verstellung und Spiel«, dann verschreibt er sich doch mit Haut und Haar dem Theater. Größte Erfolge feiert Plathe heute, wenn er mit Otto-Reutter-Couplets auftritt. Dass in seiner Familiengeschichte der Superstar der Goldenen Zwanziger tatsächlich auftaucht, wie er um Plathes Mutter warb und warum er einen Korb erhielt, ist nur eine der amüsanten Anekdoten, die der Schauspieler in diesem Buch erzählt.

Über den Autor

Walter Plathe, geboren 1950 in Berlin und im Scheunenviertel aufgewachsen, lernte zunächst Fachverkäufer für Zooartikel und sammelte erste Bühnenerfahrungen im Jugendstudio der »Distel«. Nach dem Besuch der Staatlichen Schauspielschule ging er in Engagements ans Staatstheater Schwerin und ans Berliner Theater der Freundschaft, übernahm Rollen in Spielfilmen und TV-Produktionen (»Märkische Chronik«, »Polizeiruf 110«, »Treffpunkt Flughafen«, »Das Traumschiff«). Große Popularität erlangte er als »Landarzt« in der gleichnamigen ZDF-Serie. Er spielte Theater in Hamburg, Düsseldorf, Köln und Berlin und tourt mit Solo-Programmen. So schillernd und vielseitig die Rollen, so geradlinig der Charakter dahinter. Walter Plathe – eine echte Berliner Pflanze, ein Typ mit Herz und Schnauze, der voller Anekdoten und Schnurren steckt. Er hat sie seinem Freund Thomas Herrmann erzählt und mit dessen Hilfe eine höchst vergnüglich zu lesende Lebensgeschichte verfasst.

Ich danke meinem Freund Thomas Herrmann,

der sich meine Geschichten geduldig angehört hat

und mir half, sie zu Papier bringen.

Vielen Dank auch an meinen Manager Teddy Goldhuber für die guten und schweren Zeiten, die wir miteinander erleben durften.

Inhalt

1

Wie ich durch unglückliche Umstände zunächst nicht geboren wurde

2

Wie ich eine glückliche Kindheit verlebte und der »Marktwirtschaft« einen bösen Streich spielte

3

Wie ich auf dem »Weg ins Leben« erfolgreich Mäuse machte

4

Wie ich Schauspieler wurde und zum ersten Mal als »braver Soldat Schwejk« einen großen Erfolg feierte

5

Wie ich eine wunderbare Frau heiratete und meinen Sohn zeugte

6

Wie ich im »Fernsehen der DDR« zahlreiche Rollen spielte, von denen bei vielen nur wenige im Gedächtnis geblieben sind

7

Wie ich Entertainer lernte, weil ich nichts auslassen wollte

8

Wie mich der Chef des DDR-Fernsehens zu einer schlimmen Sache anstiftete, um Schlimmeres zu verhüten

9

Wie ich drei Dackel und drei Pianisten fand

10

Wie ich wieder ein »braver Soldat« wurde

11

Wie ich für eine schnelle Autowäsche die Republik verraten habe

12

Wie ich»Der Landarzt« wurde,einen wunderbaren Kapitalisten kennenlernte

13

Wie ich das Theater liebte und mich am Theater verliebte

14

Wie ich museumsreif wurde

1

Wie ich durch unglückliche Umstände zunächst nicht geboren wurde… dann aber mit gehöriger Verspätung und dicht daneben

Leben ist Glückssache. Besonders am Anfang und am Ende. Wahrscheinlich wird es irgendwo ausgewürfelt, wann, wo und bei welchen Leuten man auf diese Welt kommt. Ebenso die Art und Weise, in der man sie wieder verlässt, sofern man sich nicht selbst um die Ecke bringt. Ich denke: Das Schicksal ist spielsüchtig und hat bisweilen nicht alle Tassen im Schrank. Erschwerend kommt hinzu, dass unser Leben genau genommen schon vor der Geburt beginnt. Mein erster großer Auftritt war bereits für das Jahr 1930 geplant, ist dann aber umständehalber verschoben worden. Die Ursachen dafür lagen unter anderem bei der französischen Artillerie. Aber der Reihe nach.

Meine vorgeburtliche Lebensgeschichte führt nach Leipzig. Ja, es ist wahr, ich bin ein Urberliner mit sächsischem Migrationshintergrund. Aber dieses Schicksal teilen viele Berliner Originale, nicht zuletzt der große und von mir sehr verehrte Heinrich Zille. Der kam mit seinen Eltern aus Radeburg bei Dresden. Ich bin ja wenigstens schon in Berlin geboren.

Zurück nach Leipzig um das Jahr 1910. Dort gab es die »Original-Leipziger Fritz Weber-Sänger«. Diese Truppe war eine fidele Mischung aus Operetten-Theater und Schlager-Revue, ein Vorbote der modernen Popkultur, die das 20. Jahrhundert noch derart prägen würde, dass man fürchtete, die Menschheit könnte sich schlussendlich zu Tode amüsieren. Eine völlig unbegründete Sorge, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte. Als ausgesprochen lebensgefährlich hingegen – mitunter auch für meine Familie – erwiesen sich zwei ausgewachsene Weltkriege und zahlreiche kleinere Gemetzel.

Fritz Weber, der Prinzipal des Ensembles, war von der Vorsehung dazu auserkoren, mein Opa zu werden. Meine künftige Oma, Friedl Weber, besaß Autogrammkarten mit der Aufschrift »Frau Direktor Weber, Vortrags-Soubrette«. Sie war eine wirkliche Dame und ließ sich bis ins hohe Alter mit »Frau Direktor« ansprechen. Nur ich durfte später Oma zu ihr sagen. Aber ich greife wieder vor. Mein Erscheinen auf dieser Familienbühne zog sich etwas hin. Bis ich geboren werden konnte, sollte noch einiges passieren, anderes hätte besser nicht passieren sollen.

Es waren aufregende Zeiten an der Pleiße. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal wurde eingeweiht, vielleicht ist das Weber-Ensemble ja im Rahmen der Feierlichkeiten aufgetreten. Oder zur Gründung des Deutschen Fußballbundes, ebenfalls in der Messestadt. Nicht auszudenken, wenn die durchaus erfolgreichen Fritz-Weber-Sänger ein Engagement auf dem neuen Super-Traumschiff »Titanic« bekommen hätten! Ich hätte keine Chance gehabt. Auch wenn sich meine potenzielle Soubretten-Großmutter in Enrico Caruso verliebt hätte, der in dieser Zeit zum ersten Plattenstar der Musikgeschichte wurde. Sie wäre vermutlich mit ihm durchgebrannt. In Leipzig bestand 1913 auch die reale Möglichkeit, von einem Löwen gefressen zu werden. Acht edle Raubkatzen des Zirkus »Barum« waren entwichen und trieben sich in der Stadt herum. Die meisten wurden erschossen. Durchaus denkbar, dass einer von ihnen sich an Friedl Weber verschluckt hätte. Sie soll sehr giftig gewesen sein. Das alles geschah Gott sei Dank nicht.

Die Schicksalslotterie sorgte dafür, dass »Frau Direktor« ihrem Fritz drei talentierte Kinder schenkte, die dann auch schon bald mit auf der Bühne standen: Erich, Trompete und Gesang; Herta, Sopran, und schließlich das Nesthäkchen Melitta, meine liebe Mama, am Piano. Mit ihrem Auftritt war ich meiner Existenz einen wesentlichen Schritt näher gekommen.

Opa Fritz blieb es erspart, in den ersten großen Krieg zu ziehen. Stattdessen stieg, wie immer in schlechten Zeiten, der Bedarf an guter Laune. Die Weber-Bühne zog in die Reichshauptstadt und feierte dort bescheidene Triumphe. Die zwanziger Jahre wurden auch für den Weber-Clan eine vergoldete Zeit.

Tochter Melitta, eine kleine, zierliche Person mit fast knabenhafter Figur, hatte in Berlin eine gute Partie gemacht, wie man damals sagte. Die Partie bestand aus dem wohlhabenden Direktor der Firma Siemens. So ein Mann war in den unsicheren zwanziger Jahren ein soziales Geschenk des Himmels … Und das Beste: Sie liebte ihn wirklich. Es war wohl die große Liebe ihres Lebens. Die beiden haben geheiratet, und Melitta freute sich auf die dem Hochzeitstage folgende Nacht. Das Paar hatte sich an damals bereits überkommene Konventionen gehalten und auf Sex vor der Ehe verzichtet. Oder im Stil der Zeit ausgedrückt: Es kam nicht zum Äußersten. Das war insofern ein fataler Fehler, als dass sich nun herausstellte, Melittas geliebter Direktor war im Verlaufe des Ersten Weltkrieges wesentlicher Körperteile verlustig gegangen. Der scharfkantige heiße Splitter einer französischen Mörsergranate hatte ihn seiner Männlichkeit beraubt. Daraus kann man dem Geschädigten keinen Vorwurf machen. Er hatte es allerdings verabsäumt, diese Tatsache seiner Braut frühzeitig mitzuteilen. Obwohl oder vielleicht gerade weil er wusste, was Melitta sich sehnlicher wünschte als alles andere auf der Welt: mich. Sie wünschte sich von ganzem Herzen ein Kind, einen Walter. Eine Waltraut wäre ihr sicher auch recht gewesen. Und ihr kriegsversehrter Ehemann machte ihr schließlich ein sehr modernes Angebot, er sagte: »Litti, such dir einen, der dir ein Kind macht – und das ist dann unseres. Ich werde es genau so lieb haben, als wär’s von mir.«

Ich denke, er hat meine Mutter mindestens so geliebt wie sie ihn. Sie war hin- und hergerissen, aber sie konnte nicht über ihren Schatten springen. So etwas Grausames wollte sie ihrem Mann nicht antun. Sie glaubte nicht, dass die kleine Familie auf diese Weise glücklich werden würde. Melitta verließ den Direktor, und ich wurde bis auf Weiteres nicht geboren. Der Direktor hätte mein Vater werden können, wenn er gekonnt hätte.

Die junge Pianistin kehrte auch künstlerisch zurück in den Schoß der Familie. Vater Fritz war eng befreundet mit einem absoluten Superstar, dem wahrscheinlich ersten deutschen Entertainer und Medienstar überhaupt, Otto Reutter. Seine Couplets sind bis heute nicht totzukriegen. Irgendeiner singt sie immer, zum Beispiel den »Überzieher« oder »In 50 Jahren ist alles vorbei«. Peter Frankenfeld hatte damit einen Riesenerfolg, und auch in meinem Leben sollte Reutter noch eine große Rolle spielen. Böse Zungen behaupten, ich wäre dem Alten mit den Jahren immer ähnlicher geworden. Das ist natürlich eine Unverschämtheit, vor allem wenn man weiß, wie Kurt Tucholsky Otto Reutter beschrieben hat: »Ein schlecht rasierter Mann mit Stielaugen, der aussieht wie ein Droschkenkutscher, betritt in einem unmöglichen Frack und ausgelatschten Stiefeln das Podium. Er guckt dämlich ins Publikum und hebt ganz leise so für sich zu singen an.« Auch wenn es nicht so klingt: Tucholsky war ein großer Bewunderer des schlecht rasierten Mannes mit den Stielaugen. Was meine eigene innige Beziehung zu Otto Reutter angeht, so wurden auch in diesem Falle die Weichen meines Schicksals erst mal ohne mich gestellt.

Otto Reutter kam zu Fritz Weber und bat quasi um die Hände seiner Tochter Melitta. Das heißt, er wollte sich die Pianistin des Unternehmens ausborgen, weil sein bisheriger Klavierspieler ausgefallen war. Opa Fritz konnte seinem berühmten Freund kaum etwas abschlagen, und Melitta begleitete den Vortragskünstler auf einigen Gastspielreisen kreuz und quer durch Deutschland. Die beiden müssen außerordentlich gut harmoniert haben, denn das Publikum war begeistert und die Säle waren ausverkauft. So dauerte es nicht lange und Reutter fragte an, ob er die höchst talentierte junge Frau nicht zu seiner ständigen Begleiterin machen könne. Dieses Anliegen von einem der ganz Großen kam einer Krönung gleich. Fritz Weber fühlte sich auch durchaus geehrt, zog aber seine ganz eigene Schlussfolgerung und beschied dem verblüfften Reutter: »Geld verdienen, mei’ lieber Otto, kann ich mit meiner Tochter ooch alleene.« Und das tat er dann auch. Meine Mutter kehrte also zurück zur Familie, aber diese kurze Episode mit dem legendären Otto Reutter hatte langfristig gravierende Folgen. Und zwar für mich und mein Leben. Aber das dauert noch.

Vorerst pflegten die Original Leipziger Weber-Sänger weiterhin die unpolitische Art der Bühnenunterhaltung, was sich zunächst auch bezahlt machte, denn als die Nazis an die Macht kamen, wurde eher das Kabarett verboten, nicht das Cabaret. Webers Truppe bot nicht nur musikalische Programme, auch Burlesken und Possen gehörten zum Repertoire. Sie stammten, so jedenfalls hat man es mir gesagt, aus der Feder von Onkel Ernst. Dieser war der Gatte meiner Sopran-Tante Herta. Die Stücke von Ernst Hofer hießen zum Beispiel »Die Gräfin auf Abwegen« oder auch »Etüden des Herzens«. Diese Titel lassen eine besonders amüsante Spielart von schwülstigem Unsinn vermuten. Die Vermutung wurde Gewissheit, als ich erfolglos versuchte, wenigstens eines dieser in meinem Besitz befindlichen Werke zu lesen. Das war sehr volkstümlich – aber wenigstens in keiner Weise völkisch.

Dann starb Fritz Weber unerwartet an Leberzirrhose. Unerwartet auch deshalb, weil der allseits beliebte Opa niemals getrunken hatte. Er gehörte zu den Glücklichen, die auch ohne Alkohol lustig sein können. Es hat ihm nichts genutzt. Onkel Ernst übernahm die Leitung des Unternehmens – und die Webers kämpften im folgenden Weltkrieg zunächst einmal an der heimatlichen Front der Unterhaltung.

Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, war für meinen Geschmack zwar herzlich unsympathisch und einer der größten Ganoven des Nazi-Reiches, aber keineswegs dämlich. Der Mann hatte sinngemäß formuliert, dass gerade in Zeiten, in denen das Vaterland in Bedrängnis sei, die Unterhaltung eine staatspolitische Bedeutung habe. Ich konnte mich später von der Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis überzeugen. Zumindest, wenn es um totalitäre Staatswesen ging.

Nachdem Goebbels den totalen Krieg erfunden hatte, wurde es langsam eng für die Weber-Sänger, aber die Familie hatte Glück. Niemand musste Soldat werden oder in der Rüstung schuften. Die letzte Tournee organisierte allerdings nicht Onkel Ernst, sondern die Truppenbetreuung der Wehrmacht. Zusammen mit sechzig anderen Künstlern wurde das Ensemble nach Griechenland geschickt.

Dass der Boxer Max Schmeling sowie der spätere UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim im Waffenrock der Wehrmacht ihrem Führer in die Ägäis folgten, gehört für historisch Interessierte zum Allgemeinwissen. Dass »Quick, der Kunstpfeifer« ebenfalls dort tätig war, weiß höchstwahrscheinlich niemand außer mir. »Quick, der Kunstpfeifer« gehörte zur Weber-Wehrmachtsbetreuungstruppe Saloniki und pfiff sich dort nach allen Regeln der Kunst in das Herz meiner Mutter. Melitta Weber verliebte sich bis auf Weiteres unsterblich in diesen Mann, der den bemerkenswerten Nachnamen PLATHE trug. Sie ahnen es, liebe Leserinnen und Leser, »Quick, der Kunstpfeifer« ist mein Namensgeber, zumindest, was den Familiennamen angeht. Er war durchaus keine antike Heldenfigur, eher etwas klein und schmächtig, aber wo die Liebe hinfällt … Meine Mutter hat ihn geheiratet, bis dass der Tod sie scheiden würde.

Auf dem Rückzug ins heimische Reich hatte der Tod jede Menge Gelegenheiten, diese Scheidung zu vollziehen. Aber es traf die anderen. Vom siebzigköpfigen Künstler-Tross ist nicht einmal die Hälfte unversehrt in Deutschland angekommen. Alliierte Tiefflieger durchsiebten immer wieder die Viehwaggons, in denen das geschlagene Künstlervolk quer durch Europa reiste. Die Pianistin und ihr Kunstpfeifer Plathe hatten offenbar große Fans unter den Schutzengeln. Genau wie Onkel Ernst, Tante Herta und Onkel Erich. Ihnen allen wurde kein Haar gekrümmt, während sich um sie herum die blutigsten Szenen abspielten. Sie alle haben bis an ihr natürliches Lebensende möglichst wenig darüber geredet. Meine Mutter zuckte noch im hohen Alter entsetzt zusammen, wenn nur irgendwo ein Sektkorken knallte.

Die ersten Friedensjahre lebte Melitta in Beetz-Sommerfeld nördlich von Berlin. Hier hatten die Schwiegereltern eine kleine Landwirtschaft. Die alten Leute waren nicht mehr gut beieinander, und meine Mutter kümmerte sich um die beiden und rackerte auf dem Hof. »Quick, der Kunstpfeifer« versuchte derweil, in Westdeutschland eine neue Varieté-Karriere zu starten. In der sowjetischen Zone hatten alle ehemaligen Truppenbetreuer ein künstlerisches Berufsverbot. Kunstpfeifer-Plathe versprach meiner Mutter und seinen Eltern, sie sobald wie möglich nachzuholen. Melittas lang erträumtes Familienglück mit Mann und Kind musste einmal mehr verschoben werden.

Bei der Truppenbetreuung hatte Mutter erfahren, dass es beim Militär – ähnlich wie bei den Bühnenschaffenden – oftmals sehr direkt und ruppig zugeht. Deshalb fand sie auch nichts dabei, den russischen Soldaten, die ihr Geschäft im Maisfeld der Schwiegereltern verrichteten, mal deutlich die Meinung zu sagen: »In den Mais scheißen ist eine große Schweinerei, Genossen.« Die Angesprochenen waren einfache Bauernburschen und verstanden kein Wort Deutsch, bis auf eins: »Schwein«. Das kannten sie noch aus dem Krieg. Reflexartig wollten sie meine Mutter umgehend erschießen, doch im letzten Moment kam ein Offizier des Wegs – und zwar einer wie aus dem sozialistischen Lesebuch, ein Verehrer von Heinrich Heine im Besonderen und der deutschen Sprache im Allgemeinen. Er schaffte das Missverständnis aus der Welt und jagte seine Kameraden zum Teufel. Dieser Offizier der ruhmreichen Roten Armee hat meiner Mutter und damit auch mir das Leben gerettet. Der Mann ahnte ja nicht, welchen Dienst er der deutsch-sowjetischen Kultur damit erwies. Ich habe später sehr viel Heine zitiert, und meine erste Theaterrolle spielte ich in einem Klassiker der sowjetischen Gegenwartsdramatik, der heute allerdings kaum noch gegenwärtig ist.

Während Mutter in Beetz-Sommerfeld tapfer die Schwiegereltern pflegte und die Felder bestellte, wartete sie ungeduldig auf die erlösende Nachricht von »Quick, dem Kunstpfeifer«, der sich im Westen auf Arbeitssuche befand. Die Nachricht kam per Telegramm, dem papierenen Vorläufer der SMS, und sie lautete sinngemäß: »Bleibe in Hannover, habe mich in Lissy, die Rollschuhläuferin verliebt.« Das war’s.

Wenn ich schon da gewesen wäre, hätte ich meine Mutter ganz fest in den Arm genommen und getröstet. Arme Melitta! So ein elender Mistkerl! Ich bin heute noch froh, dass »Quick, der Kunstpfeifer« nicht mein Vater geworden ist, und ich kann auch überhaupt nicht pfeifen. Das Einzige, was ich von diesem Menschen geerbt habe, ist der Name »Plathe«. Den wahren Vornamen des Herrn Quick habe ich nie erfahren. Meine Mutter hat ihn nicht in den Mund genommen.

Melitta Plathe ließ sich scheiden und sorgte dafür, dass die Ex-Schwiegereltern gut versorgt waren. 1947 ging sie nach Berlin, wo inzwischen auch die Verwandtschaft wohnte. In der zerteilten und zertrümmerten Stadt fanden sich eine bescheidene Wohnung und ein ebensolcher Broterwerb. Wenn Melitta wegen ihrer kulturellen Wehrmachtsvergangenheit auch nicht künstlerisch arbeiten durfte, so gelang es ihr doch, eine artverwandte Tätigkeit im »Schaugeschäft« aufzunehmen. Sie begann eine Laufbahn als »Propagandistin«.

Das klingt politisch. Die Nazis unterhielten zu Propagandazwecken immerhin einen eigenen, hier bereits erwähnten Minister. Auch die SED legte größten Wert auf Propaganda und betrieb eine umfangreiche Abteilung Agitation und Propaganda, der unter anderem auch das Fernsehen und die dort angestellten Schauspieler unterstanden, mithin also auch ich. Aber mich gab es im Jahre 1947 immer noch nicht. Genauso wenig wie das deutsche Fernsehen.

Meine Mutter ging nicht in die Politik, sondern ins »Marketing«. Propagandisten nannte man seinerzeit jene Menschen, die auf Straßen und Plätzen, in Bahnhöfen und auf Märkten tolle Dinge vorführten und sie den Passanten aufschwatzten. Sie machten »Propaganda« für Korkenzieher, Gurkenraspel, Fleckenwasser, Eierschneider und andere praktische Erfindungen. Meine Mutter begann eine Karriere als Propagandistin für Baby-Öl. Zu diesem Zweck benutzte sie eine Spielzeugpuppe, mit der sie das gleichmäßige Auftragen des famosen Öls auf einen Babyhintern anschaulich demonstrierte. Immer wenn sie mir davon erzählte, haben wir beide herzlich darüber gelacht. Heute scheint mir, dass ihr bei der Pflege einer Baby-Attrappe vielleicht eher zum Heulen war. Sie war inzwischen Anfang vierzig – und ihr Wunsch, ein eigenes Kind zu haben, schien irgendwie unerfüllbar. Und vielleicht hatte sie, nach der Erfahrung mit dem Kunstpfeifer, die Hoffnung auf eine neue große Liebe bereits aufgegeben.

Möglicherweise war ja diese große Traurigkeit oder doch mehr die chemische Zusammensetzung des 47er Baby-Öls ursächlich für das abrupte Ende von Melitta Plathes propagandistischen Auftritten. Sie bekam eine schwere Allergie gegen das Öl und stand wieder auf der Straße. Und das auch im wörtlichen Sinne.

Meine Mutter stand am Stettiner Bahnhof und verkaufte Zeitungen. Morgens ab fünf, bei Wind und Wetter. Es muss ein äußerst ungemütlicher Ort gewesen sein, eine halbe Ruine inmitten einer bizarren Trümmerlandschaft. In diesem Kiez hatte Wolfgang Staudte 1946 den ersten deutschen Nachkriegsfilm, »Die Mörder sind unter uns«, gedreht. Der Film befasste sich mit dem Krieg, mit seinen Tätern und Opfern. Die Produktionsfirma DEFA wurde erst gegründet, als die erste Klappe gefallen war. In der weiblichen Hauptrolle: Hildegard Knef. Und nun war dieser Drehort »Stettiner Bahnhof« der neue Arbeitsplatz von Melitta Plathe.

Wer immer der etwas durchgeknallte Drehbuchautor meiner Familiengeschichte ist – es hat ihm gefallen, dass an diesem Ort im sowjetischen Sektor des Jahres 1948 oder 49 ein gewisser Max Sielaff die Szene betritt. Max stand plötzlich vor Melitta und kaufte eine »Berliner Zeitung«. Am nächsten Tag kam er wieder und streichelte sie sanft mit den Augen. Melitta schenkte ihm das Blatt. Sie sollte ihm noch einiges mehr schenken. Zum Beispiel Wurstbrote, die sie in ihrer kleinen Küche liebevoll für ihn zubereitet hatte und die er neben der geschenkten Zeitung ebenfalls mit zur Arbeit nahm.

Max und Melitta wurden ein Liebespaar, und sie taten all das, was Liebespaare tun. Max blieb so manche Nacht bei ihr, und irgendwann Ende 1949, die Bundesrepublik war schon ein halbes Jahr alt und die DDR gerade gegründet worden, kurz nach der Erfindung der Currywurst und der sowjetischen Atombombe war es dann endlich so weit. Melitta ging schwanger. Mit mir!

Vielleicht war es ja der 27. Dezember 1949. An diesem Tag meldete eine Zeitung in Princeton (USA), Albert Einstein habe eine Theorie der Gravitation entwickelt, von der er sehr überzeugt sei, die er aber leider nicht beweisen könne, und er frage sich, ob dieser Beweis überhaupt jemals erbracht werden könne. Heute, in dem Jahr, in dem man mich genötigt hat, für das vorliegende Buch über mein Leben nachzudenken, ist dieser Beweis gelungen. Die Wissenschaft spricht von einer Jahrhundertsensation. Gut Ding will Weile haben.

In dem Augenblick, als mein genetischer Grundstein gelegt wurde, spielte das Radio mit hoher Wahrscheinlichkeit einen der beiden ganz großen Hits dieses Jahres. »Wer soll das bezahlen« von Jupp Schmitz oder »La vie en rose«, gesungen von Édith Piaf. Da weder Melitta noch Max eine akademische Bildung genossen hatten, vermute ich, es war »Wer soll das bezahlen?«. Das passte auch im Sinne der vielzitierten Ironie des Schicksals wesentlich besser.

Melitta sagte zu Max: »Ich bin schwanger. Wir bekommen ein Kind.«

Max antwortete: »Das ist aber schön. Nur, wie soll ich das bloß meiner Frau beibringen?«

Auf diese Weise erfuhr meine Mutter, dass der Vater ihres werdenden Walters in den Westsektoren eine rechtmäßige Ehefrau hatte. Melitta ließ dem verlogenen Scheinverlobten nicht einmal Zeit, Luft zu holen, da hatte er bereits ihre kleine, aber von der groben Landarbeit und dem Umgang mit gepanschtem Baby-Öl gegerbte rechte Hand im Gesicht. In dieser Ohrfeige lag auch ein gehöriges Maß an Ärger über sich selbst, darüber, dass sie geflissentlich übersehen hatte, wie Max von Zeit zu Zeit in ihre Zeitungskasse griff. Ich kann sie verstehen. Sie wollte endlich und mit aller Macht Glück haben. Sie gab mir ein Lebensmotto auf den Weg, das da lautet: »Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber ein kräftiger Schlag gehört auch dazu.« Man könnte vermuten, diese Erkenntnis kam Melitta genau in dem Moment, als sie meinem Erzeuger aus ganzem Herzen eine gefeuert hat. Max verschwand von der Bildfläche.

Ich hatte es anfangs angedroht, meine Geburt würde sich hinziehen. Aber am 5. November 1950 kam ich dann doch noch zur Welt. Mit zwanzig Jahren Verspätung, aber immerhin. Es gab weitaus Schlimmeres in diesem Jahr: In Ostberlin wurde das Ministerium für Staatssicherheit gegründet, zweiter Mann in der Firma: Erich Mielke. Er sollte es bald zum Hausherrn bringen. In Bonn wurde Hans Globke Personalchef im Kanzleramt. Er sollte bald der Chef des Amtes werden. Ich weiß gar nicht, vor welchem der beiden man sich mehr gruseln konnte. Der eine war ein bildungsferner Polizisten-Mörder, der andere ein studierter Kommentator der Nürnberger Rassegesetze. Einen von den beiden habe ich später live erlebt. Es wurde ein Schlüsselerlebnis.

Auf diese zweigeteilte deutsche Welt des Jahres 1950 kamen außer mir auch Iris Berben, Thomas Gottschalk, der Regisseur Bodo Fürneisen, der Journalist Ulrich Deppendorf und die Marathon-Legende Waldemar Cierpinski. Anders ausgedrückt: Dieser Jahrgang steht für eine hohe Dichte an Schönheit, Erfolg, Kreativität, Sachverstand und Ausdauer. Bedauerlicherweise werden derartige Tugenden niemals gleichmäßig verteilt. Mir scheint, ich habe überdurchschnittlich viel Cierpinski-Willensstärke und einen langen Atem abbekommen. Manche nennen das auch Halsstarrigkeit. Im Gegenzug müsste es bei einer der übrigen Eigenschaften irgendwo ein Defizit geben.

Ich wurde mitten hineingeboren in das Berliner Scheunenviertel, Ackerstraße 149. Hier war ursprünglich die Gegend der Armen und Juden, der Nutten und Kleinkriminellen. Hier fand Heinrich Zille zwischen Mulack-Ritze und Linienstraße sein typisches Milieu. In »meiner« Ackerstraße stand die berühmt-berüchtigtste Mietskaserne der Stadtgeschichte: Meiers Hof. Sechs enge, finstere Höfe galten jahrzehntelang als Symbol der unmenschlichen Berliner Wohnverhältnisse.

Das Scheunenviertel, in dem ich dann aufwuchs, war natürlich nicht mehr das alte Elendsquartier – es hatte auch nicht mehr die Geschäftigkeit und diese ganz besondere Atmosphäre. Aber eine Art magisches Echo der Vergangenheit, ein Hauch von Zille und Co schwebte noch sehr lange über unserem Kiez. Irgendetwas davon ist an mir hängengeblieben. Und ich finde, das ist gut so. Selbst wenn ich mir mit dieser rauen und bisweilen direkten Lebensart der Ackerstraßenkinder späterhin nicht nur Freunde gemacht habe.

Ich liebte die dunklen Häuser und verwinkelten Hinterhöfe. Das Viertel ist von Luftangriffen relativ wenig zerstört worden, aber die Straßenkämpfe hatten ihre Spuren hinterlassen. Viele Fassaden waren mit den Pockennarben der Einschüsse förmlich übersät.