»Ich habe Wut und Hass besiegt« - Rachel Hanan - E-Book
SONDERANGEBOT

»Ich habe Wut und Hass besiegt« E-Book

Rachel Hanan

0,0
15,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Jahr. Im Konzentrationslager ist das eine lange Zeit, eine Zeit, die ein Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Rachel Hanan war 15, als sie ins Konzentrationslager verschleppt wurde, sie überlebte Auschwitz, Bergen-Belsen, Duderstadt und Theresienstadt, bei ihrer Befreiung war sie 16. Sie hat aus diesem Jahr Albträume und dunkle Gedanken mitgenommen, aber auch die Erkenntnis, dass Liebe einen Menschen am Leben erhalten kann. So wie sie und ihre drei Schwestern sich im Lager angesichts unvorstellbarer Härten gegenseitig am Leben erhielten. Rachel macht es sich bis heute zur Aufgabe, diese rettende Liebe an andere Menschen weiterzugeben. Und sie kämpfte in ihrem zweiten Leben darum, wieder glücklich zu sein – mit Erfolg, sagt sie im Alter von 93 Jahren. Dies ist die bewegende Botschaft einer starken Frau, die sich bewusst für die helle Seite des Lebens entschieden hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



RACHEL HANANMIT THILO KOMMA-PÖLLATH

»Ich habe Wut und Hass besiegt«

Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 2023Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Caroline Kaum macht Programm, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design

Umschlagfoto: Jonas Opperskalski

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30114-9V001www.heyne.de

Für meine Eltern Ethel und Fivish,meine Schwester Chaya und ihre Tochter Etia,und meine kleinen Brüder Zvi und Yehuda, die alle in Auschwitz ermordet wurden.

VORBEMERKUNG

Ich habe bei mir über die Jahre und Jahrzehnte festgestellt, dass es weniger das klassische Erinnern ist an das, was ich in Auschwitz und den anderen Konzentrationslagern erlebt habe. Ich denke nicht bewusst zurück, weshalb mir Bilder und Situationen in den Sinn kommen, von denen ich geordnet erzählen könnte, ich werde stattdessen von tief liegenden Gefühlen überwältigt, die mich zurückversetzen in die Vergangenheit und mir das Erlebte so gegenwärtig vor Augen führen, als wäre es eben erst passiert. Viel zu lange habe ich anfangs über das Geschehene geschwiegen; viel zu oft habe ich meine Geschichte später immer wieder erzählt; viel zu ähnlich und doch ganz anders waren die Geschichten anderer Überlebender, die ich getroffen und mit denen ich mich ausgetauscht habe; viel zu sehr ist Auschwitz in das kollektive Gedächtnis der Zeit eingesickert, als dass sich die Konturen zwischen dem tatsächlich Geschehenen und dem persönlich Gefühlten eindeutig abgrenzen ließen.

Wie kann ich trotzdem davon überzeugt sein, dass die folgende Geschichte meine Geschichte ist, die sich genau so zugetragen hat?

Oral History ist der Versuch, Menschen über die Vergangenheit sprechen zu lassen, die jene Vergangenheit selbst erlebt und an Leib und Seele erfahren haben. Es geht um einen ungefilterten, subjektiven und trotzdem wahrhaftigen Eindruck von den Geschehnissen einer Zeit, die lange zurückliegt, einer Vergangenheit, die meist immer noch im Verborgenen liegt, im Dunkel – und die gerade deshalb ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft. Im Fall von Auschwitz und den Verbrechen des Holocaust hat Oral History noch einen tieferen Sinn: Sie wird zu einem Kanal, der es erlaubt, Dinge beim Namen zu nennen, für die es immer weniger Zeugen gibt. Der es erlaubt, Worte zu finden, um das im Grunde Unaussprechliche über die Lippen zu bringen. Geschichten zu erzählen, um das Unbegreifliche begreifbar zu machen. Die Bilder der Vergangenheit lebendig werden zu lassen gegen das Vergessen. Wer sonst außer uns Opfern, die all das erlebt und erlitten haben, sollte das tun?

Das, was ich erinnere, hat sich tief in mir eingegraben und verwurzelt. Meine Erinnerungen sind Gefühle, die seit 80 Jahren in mir schlummern, wachsen, wuchern. Anders als das, was Auschwitz selbst verkörpert, mache ich aus meinem Herzen, aus meinen Gefühlen, aus den Bildern in meiner Seele heute keine Mördergrube mehr.

Ich erzähle hier die Geschichte meines Lebens. Wie ich mit Auschwitz, Bergen-Belsen, Duderstadt und Theresienstadt vier Konzentrationslager überleben konnte und trotzdem oder gerade deshalb in der Lage war, gegen jede Wahrscheinlichkeit, ein zweites gelingendes, glückliches, großartiges Leben zu erfahren. Für das vorliegende Buch habe ich ganz bewusst das Fühlen zugelassen. Vielleicht sprechen wir in meinem Fall also besser von der Emotional History:

Meine Erinnerungen sind meine Gefühle.

»Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht mal vergangen.«

William Faulkner

INHALT

Vorbemerkung

Rachel

1. Albtraum

2. Mesusa

3. Kindsein

4. Vertrauen

5. Papa

6. Mama

7. Anders

8. Pessach

9. Stolz

10. Durst

11. Geburtstag

12. Abschied

13. Nackt

14. Brutal

15. Geruch

16. Tod

17. Schmutz

18. Wunder

19. Freisein

20. Zuhause

21. Danach

22. Heilung

23. Vorurteil

24. Schweigen

25. Schatten

26. Verletzlich

27. Mut

28. Rückkehr

29. Geschwister

30. Gott

31. Menschsein

32. Hass

33. Liebe

Epilog – Auschwitz heute

Glossar

Weiterführende Literatur

Danksagung

Bildteil

RACHEL

Von Omer Meir Wellber

Wir sind gemeinsam durch Treblinka gegangen, ich erinnere mich noch sehr gut, ich hörte Wagner auf meinem CD-Player. Langsam kamen wir uns näher und sie fragte mich, was ich höre, ich sagte, irgendeine Musik, sie fragte, was für eine, ich sagte Wagner, ich glaube Tristan, ich bin mir nicht sicher, sie war neugierig, ich erzählte ihr, dass ich Musiker bin, ein 17-jähriger Musiker, der Klavier spielt und eigene Musik schreibt, sie sagte, sie mag Wagners Musik, sie verstehe den Boykott seiner Musik nicht, oder jeden anderen Boykott von Kultur, ich war überrascht, denn bis dahin genoss ich insgeheim das Gefühl der verbotenen Frucht, wenn ich als Israeli seine Musik hörte, wir fingen an zu reden und hörten nicht mehr auf, es war eine besondere Beziehung zwischen einem 17-jährigen Schüler und einer Holocaust-Überlebenden. Als sie als Mädchen ins Lager kam, war sie etwas jünger als ich zum Zeitpunkt unseres Treffens. Auch die Gedenkstätte Auschwitz besuchten wir gemeinsam, sie zeigte uns, wo sie schlief, wo sie auf die Toilette ging, was man machte, wenn man kein Toilettenpapier hatte, wie man sich nachts warm hielt. Ich nahm ein Blatt vom Boden, ein trockenes Blatt, eines, das Erinnerungen speichert, erst vor ein paar Tagen habe ich es meiner sechsjährigen Tochter gezeigt, als wir nach der Trennung von meiner Partnerin in eine neue Wohnung gezogen sind, ich habe ihr nicht erklärt, woher ich es habe, ich habe ihr nur gesagt, dass es viele Dinge in mir wachhält, ich bin mir nie sicher, wann ich mit meiner Tochter das erste Mal über den Holocaust sprechen soll, soll ich ihr unser kollektives Trauma ersparen? Ist das überhaupt möglich? Rachel meint, das sei unmöglich, es sei aber möglich, daraus zu lernen und zu lächeln und zu verzeihen, sie habe es geschafft, ihr Leben genauso zu leben, nachts von Dr. Mengele träumen und tagsüber an Vergebung glauben. Kann ich bei dir übernachten? Ich fragte sie das einmal, ich fuhr als Teenager zu einem Treffen junger Komponisten in Haifa, sie nahm meinen Freund Dan und mich bei sich auf, ich hatte noch nie bei einem Holocaust-Überlebenden übernachtet, und es war ganz ähnlich wie an jedem anderen Ort, an dem ich bisher war, ich träumte nachts nicht von Mengele, sie bereitete uns Frühstück und kochte Kaffee, wie sie es immer tut, die Krönung unseres Besuchs waren die köstlichen mit Reis gefüllten Weinblätter, mein Lieblingsgericht, das sie jedes Mal zubereitet, wenn ich zu Besuch komme, sie brachte mir sogar welche nach Sde Boker mit, wohin sie kam, um ein Konzert anzuhören, das ich für sie geschrieben habe, ein Bratschenkonzert, das auf den musikalischen Intervallen basiert, die sich aus der Nummer auf ihrem Arm ergeben, 13561 – A, C, E, F, A, die ich mir Jahre später in Berlin auf meinen Arm tätowieren ließ, sie nimmt ein Foto in die Hand, das an ihrem Kühlschrank hängt, und zeigt mir ihre Enkel, die geheiratet haben, die ihren Armeedienst absolviert haben, Stolz in ihrer Stimme, sie hört auf jedes Wort, das fällt, wohl wissend, dass alles zählt, dass das Leben aus vielen Kommas besteht und nur wenigen Punkten.

Omer Meir Wellber

Der israelische Dirigent aus Be’er Scheva, geboren 1981, Musikdirektor der Volksoper Wien und des Teatro Massimo in Palermo, lernte Rachel Hanan 1998 als Schüler auf einer Delegationsreise nach Auschwitz und Treblinka kennen, seitdem sind beide befreundet.

1 ALBTRAUM

Ich habe fast 50 Jahre nicht darüber gesprochen. Die Welt aber hat seitdem nicht aufgehört darüber zu sprechen. Bis heute nicht, dabei ist es 80 Jahre her. Das, was ich persönlich erlebt habe, hat die Welt erschüttert wie kaum ein anderes historisches Ereignis davor und danach. Vermutlich liegt es daran, dass die Welt, oder sagen wir besser, der Mensch, wir alle also bis heute nicht begreifen können, wie es dazu kommen konnte, wieso es überhaupt passiert ist, warum niemand es verhindert hat. Seit es passiert ist, sind sich die Menschen selbst ein Stück weit ein Rätsel. Verunsichert im eigenen Selbstverständnis fragen sie sich: Wer sind wir, wenn wir zu so etwas fähig sind? Jeder Einzelne von uns? Fast scheint es, als hätte der Mensch seitdem den tiefen Glauben an sich selbst verloren, daran, dass im Grunde seiner Existenz etwas Gutes liegt. Ich selbst weiß, zu was die Menschen fähig sind, ich habe es an Leib und Seele erfahren. Letzte Antworten auf die Fragen nach dem Warum, nach dem Wie und dem Wieso habe auch ich nicht finden können. Vielleicht habe ich auch deshalb so lange geschwiegen. 80 Jahre danach versuchen wir uns noch immer eine realistische Vorstellung von jenen Geschehnissen zu machen, Geschehnissen, die sich der Vorstellungskraft entziehen. Nicht meiner, die ich dabei war, womöglich aber Ihrer. Es reicht ein einziger Begriff, nur ein Wort, und die Menschen zucken innerlich zusammen. Zumindest die allermeisten von ihnen. Und ich sage ganz ausdrücklich, zum Glück ist das so. Zum Glück hält die Erschütterung auch 80 Jahre danach immer noch an. Egal wo auf der Welt, egal ob man den Begriff nur aus dem Geschichtsunterricht kennt. Diesen Begriff, der Angst macht, der verunsichert und verstört, bis heute, jeden von uns. Warum ist das so? Ein einziger Begriff und Politik, Wissenschaft und Welt gedenken, ermahnen, forschen, beten und rätseln und versuchen immer noch Erklärungen zu finden für das Unerklärliche. Das Unerklärliche, das einen Namen trägt: Auschwitz.

Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit. Heute bin ich weit über 90 Jahre alt, ich bin das, was man eine »Überlebende« nennt. Ich habe Vater und Mutter in Auschwitz verloren, Brüder, Schwester, Nichte, Cousinen, Großeltern. Von unserer über 200 Mitglieder großen Familiensippe haben nur wenige überlebt. Aber nur zu überleben, das hätte mir im Leben danach nicht gereicht. Als ich endlich anfing über meine Vergangenheit zu sprechen, 50 Jahre später, war der größte Teil meines Lebens selbst schon wieder Geschichte. Ich stand kurz vor dem Ruhestand. Man kann nicht ein ganzes Leben darüber schweigen, nicht über Auschwitz. Heute will ich meine Geschichte in allen mir erinnerbaren, in allen gefühlten Einzelheiten erzählen. Zum allerersten Mal wird sie schriftlich festgehalten, meine Geschichte, die mein Leben ist.

Zeit meines Lebens, also des Lebens nach der Befreiung aus der Lagerhaft, habe ich trotz meiner Schreckenserfahrung erstaunlich gut funktioniert. Ich war Sozialarbeiterin in großen Wohlfahrtsämtern in Israel, später Managerin einer kommunalen Wohlfahrtsbehörde. Ich hatte eine berufliche Aufgabe gefunden, die mir Sinn gab, die mich erfüllte, auch zeitlich ausfüllte. Das war wichtig. Von außen betrachtet war es so: Wer von nichts wusste, der hat auch nichts gemerkt. Es soll nicht großspurig klingen, ich durfte mit vielen großartigen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten, der Erfolg unseres Engagements war nur als Team denkbar. Doch ich nehme für mich in Anspruch, eine gute Sozialarbeiterin gewesen zu sein. Engagiert, empathisch, das Herz am rechten Fleck. Diesen Fleck konnte auch Auschwitz nicht verrücken. Von dem aber, was sich in mir abspielte, wusste außer mir niemand. Woher auch, ich sprach ja nicht darüber. Tagsüber war ich mit meiner Arbeit beschäftigt, mit den Sorgen und Nöten derer, die mir anvertraut wurden. Kinder, Jugendliche, Arme, Benachteiligte, Unglückliche, Schicksalsgeplagte, Straffällige. So viele, die sich für ihr Leben etwas anderes vorgestellt hatten als das, was dann kommen sollte. Ein Gefühl, das ich erstaunlich gut kannte.

Mir wurde ziemlich schnell klar, ich musste mich für den Rest meines Lebens beschäftigt halten, busy sein, wie man heute sagt. Ich musste all die Gedankenfetzen und Erinnerungsreste, die sich regenden Gefühlsruinen in meinem Kopf mit Ignoranz und Nichtbeachtung strafen und somit in Schach halten. Zu viel freie Zeit konnte ich da nicht gebrauchen. Nur, was ich anfangs unterschätzt habe: Gedanken, die nicht gedacht werden, reiben sich unter der Oberfläche und können das Unterbewusste nur allzu leicht entzünden. Das weiß ich heute. Wenn der geschäftige Tag in den Abend überging, wuchs mein Unbehagen jeden Tag aufs Neue. Ich fürchtete die Nacht, ich fürchtete mich davor, ins Bett zu gehen. Wenn ich wach und beschäftigt war, konnte ich meine Gefühle kontrollieren. Nachts aber hatte ich nichts mehr unter Kontrolle. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem ich nicht mehr funktionieren musste, an dem keine beruflichen Ablenkungsmanöver mehr im Kalender notiert waren. Dieser Tag würde kommen, so viel war sicher.

Nur, wie lebt man mit diesem entzündeten Geist? Lange vor meiner Pensionierung malte ich mir aus, was geschehen würde, wenn ich auf einmal unendlich viel Zeit haben würde. Zeit für Familie, Freunde, Ferien, das sollte schön werden, sicherlich, aber natürlich wusste ich, dafür war ich während meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin psychologisch zu gut geschult worden, dass sich das Unbewusste und das Verdrängte meiner bemächtigen konnten. Ich würde reichlich Zeit für diejenigen Gedanken bekommen, die nachts immer da waren und die ich tagsüber immer irgendwie erfolgreich nicht denken, nicht beachten, einfach verdrängen konnte. Während meiner Zeit in den Konzentrationslagern in Auschwitz, in Bergen-Belsen, in Duderstadt und in Theresienstadt musste ich meine Gefühle unterdrücken und ausschalten, sonst hätten sie mich um den Verstand gebracht. Man muss in einer solchen Situation seine Gefühle abtöten, will man nicht ganz von ihnen vernichtet werden, so ähnlich hat der österreichische Psychoanalytiker Viktor E. Frankl seine Auschwitz-Erfahrung beschrieben. Der Mensch, so viel wusste ich nach meinem Studium, legt seine Erlebnisse im limbischen System ab, seinem Gefühlszentrum. Was aber macht das Gefühlszentrum mit toten Gefühlen? Tote Gefühle sind Traumata, über die sich so schwer reden lässt. Was aber, wenn sie durch die Oberfläche stoßen und reanimiert werden wollen? Der Tag meiner Pensionierung, von dem ich natürlich wusste, dass er kommen würde, würde mir keine Erlösung bringen von meiner harten, fordernden Arbeit. Im Gegenteil: Er machte mir Angst.

Natürlich habe ich die ganze Zeit darüber gesprochen. Über das, was ich in den Jahren 1944 und 1945 erlebt habe. Aber zunächst eben nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellen mag, im geschützten Gespräch mit einem Arzt oder Psychologen oder ganz offen unter Freunden beim Kaffee. Einem Trauma lässt sich nicht mit Ablenkung, Verachtung oder Verdrängung beikommen und so tritt das halluzinierende, retraumatisierende Selbstgespräch an die Stelle einer möglicherweise erfolgversprechenden, zumindest lindernden Therapie. Auschwitz brodelte in mir. Tief unter der Oberfläche meiner Haut brodelten die Gase der Erinnerung wie in einer menschlichen Magmakammer, die kurz vor der Explosion stand. Der Druck der Erinnerungen stieg über die Jahre kontinuierlich an, die Haut wurde dünner, drohte aufzuplatzen. Wenn ich nachts im Bett lag, die Augen schloss und schlafen wollte, wieder und wieder nicht schlafen konnte und dann doch von der Müdigkeit überwältigt wurde, wenn mein Bewusstsein allmählich die Kontrolle abgab, dann überschritten die untoten Gefühle den kritischen Punkt und Auschwitz brach buchstäblich aus mir heraus. Dann habe ich jede Nacht vom Lager erzählt. Ich weiß noch ziemlich genau, wann es anfing. Fünf Jahre nach meiner Befreiung, ich war 21 Jahre alt und frisch verheiratet, nahmen die Albträume Fahrt auf. Albträume sind der lange Arm von Auschwitz, der uns Überlebende Jahre, selbst Jahrzehnte später packt und schüttelt, immer und immer wieder. Ein Schütteltrauma für Leben, Seele, Liebe. Ich war nur ein Jahr meines Lebens in Lagerhaft, ein einziges Jahr, das selbst heute noch in mir steckt und einfach nicht totzukriegen ist.

Ein Jahr – für immer!

Ich durchlebte das Geschehene ein zweites und ein drittes, ein zehntes und ein 35. Mal. Und ein 496. Mal. Ich sprach im Schlaf. Ich weinte im Schlaf. Ich schrie im Schlaf. Ich hatte Todesangst im Schlaf. Mein Körper verkrampfte sich zu einem einzigen großen Muskel und focht jede Nacht aufs Neue einen imaginären Kampf mit den Schatten der Vergangenheit. Wenn die Verzweiflung unüberhörbar und ohrenbetäubend wurde, schüttelte mich Shlomo, mein Ehemann, aus meinen Träumen, hielt seine schweißgebadete, erschöpfte, verängstigte Frau fest, die mit weit aufgerissenen Augen im Bett saß. Shlomo strich mir über die Stirn, nahm mich in den Arm, tröstete mich mit beruhigenden Worten, gab mir zu trinken, nahm meine Hand in die seine und dann versuchten wir gemeinsam, wieder in den Schlaf zu finden. In der nächsten Nacht das gleiche dramatische wie absurde Schauspiel, für das Adolf Hitler, die SS oder die sogenannten Nazis das Drehbuch geschrieben hatten. Ich hätte meinem Ehemann und später meinen Kindern dieses Schauspiel gerne erspart. Ich hätte es mir selbst gerne erspart.

Natürlich wusste Shlomo von Auschwitz, aber er wusste nichts Genaues. Nie hätte er mich nach meinen nächtlichen Albträumen gefragt, ob ich darüber sprechen wollte, was genau mich quälte, wie er mir helfen könnte. Er wollte nicht weiter in der Wunde bohren, die jede Nacht von allein zu bluten anfing. Shlomo wusste instinktiv, er konnte mir gar nicht helfen. Ich war eine junge Frau Anfang, Mitte 20, die selbst gar nicht über das Erlebte reden wollte. Nicht konnte, noch lange nicht. Obwohl ich natürlich spürte, dass da etwas ist in mir, das raus muss. Das Rausholen übernahmen die Albträume. Träume als Ventil, Nacht für Nacht. Sie sind geblieben – bis heute. Auch wenn sie mich jetzt im hohen Alter lange nicht mehr so häufig aufsuchen und lange nicht mehr so heftig ausfallen wie damals. Offenbar geht auch Auschwitz irgendwann einmal in eine Art Vorruhestand.

In den Geschichten meiner nächtlichen Gedankenfilme mischen sich Gegenwart und Vergangenheit, aktuelle Ereignisse und jahrzehntealte Erinnerungen, Terroranschläge in Israel und das Grauen der Shoa. Auschwitz-Gefühle sind Vernichtungsgefühle. Immer. Die Hauptrollen der Albträume sind mit Jassir Arafat und Josef Mengele, dem Arzt von Auschwitz, prominent besetzt. Arafat galt als Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO lange als gefährlicher Terrorist und Israels Staatsfeind Nummer eins. In einem meiner typischen Arafat-Träume lässt er unter Waffengewalt einen Zug anhalten und eröffnet wahllos das Feuer auf die Insassen. Der Zug ist ein Viehwaggon, genauso sah mein Deportationszug nach Auschwitz aus. Die Menschen fallen wie Bowlingkegel der Reihe nach um, sie stürzen auf mich und reißen mich zu Boden. Ich bin unverletzt, aber ich stelle mich tot. Wenn ich überleben will, darf ich jetzt keinen Mucks von mir geben, mich auf keinen Fall bewegen, bloß nicht atmen, sonst muss ich sterben. Ich halte die Luft an, auch im wirklichen Leben, also im nächtlichen Schlaf, bis ich vor Atemnot japsend aufschrecke. Es gibt etwa ein Dutzend Variationen dieses Arafat-Traums, immer wieder war es Shlomo, der mich aus dem Zug rettete und in die Arme nahm. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Arafat und seine Männer den Zug angehalten und losgefeuert haben. Doch jedes Mal liege ich wieder da auf dem Boden, nach Luft japsend, den Tod vor Augen …

Die allerschlimmsten Albträume sind die, in denen Josef Mengele auftritt, der Lagerarzt von Auschwitz. Ich bin ihm dort immer wieder persönlich begegnet, an ihn habe ich eine genaue Erinnerung. Meine Mengele-Träume gehen oft so: Ich bade meine beiden kleinen Söhne Doron und Yaron zu Hause in der Badewanne. Auf einmal tritt Mengele durch die Tür, reißt die Buben aus dem Wasser, presst sie mit Gewalt an sich und läuft mit ihnen davon. Mengele läuft mit seinen kniehohen schwarzen Stiefeln auf einen Hügel, ich laufe schreiend hinterher, ich verfolge ihn, aber ich kann ihn nicht einholen. Ich kann ihn nie einholen. Jede Nacht laufe ich hinter ihm her, er bleibt, wie durch eine Scheibe von mir getrennt, unerreichbar. Die Kinder schreien: »Mama, Mama«, ich schreie ihnen panisch hinterher: »Doron«, »Yaron«, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass ich sie retten werde, dass alles gut wird. Aber das stimmt nicht. Es ist eine Lüge. Das ist das Schlimmste. Dann verschwindet Mengele mit meinen Jungs hinter dem Berg, ich sehe sie nie mehr wieder.

Ein anderes Mal nimmt Mengele Doron und Yaron an die Hand und führt sie seelenruhig Richtung Schornstein, Richtung Gaskammer. Die Jungs denken an nichts Böses, sie vertrauen »Onkelchen« Josef, sie wissen ja von nichts. Wieder laufe ich hinterher, rufe verzweifelt nach ihnen, schreie panisch um Hilfe und kann sie nicht retten. Ich kann sie nie retten. Meine Jungs kommen nicht wieder. Shlomo holt mich zurück ins Jetzt, er ist wieder von den Schreien wach geworden. Auch die Mengele-Träume gibt es in verschiedenen Varianten, mal mit Badewanne, mal mit Gaskammer, mal mit Hügel, immer ohne Happy End. Seit sechs Jahrzehnten kidnappt Josef Mengele meine kleinen Kinder, die in meinen Träumen nie alt werden. Im wirklichen Leben führen sie ein langes, gesundes Leben, beide sind heute selbst schon wieder Rentner, in meinen Träumen bleiben sie meine kleinen Jungs, die meinen Schutz brauchen und die ich als Mutter nicht beschützen kann. In meinen Träumen bin ich Josef Mengele öfter begegnet als in Auschwitz persönlich. In den gut vier Monaten im Vernichtungslager habe ich nicht einmal von ihm geträumt, ich kann mich überhaupt nicht an irgendwelche Albträume erinnern. Ist das nicht verrückt? Ich kann das gar nicht genau erklären, wie sehr die Angst in einem steckt, in allen Zellen und Nervenbahnen, wie sie sich jede Nacht Bahn bricht, obwohl die Gefahr lange gebannt ist. Sie geht nicht mehr weg. Auschwitz ist keine Krankheit, die man heilen, keine Wunde, die sich je schließen lassen könnte. Vielmehr ein Phantomschmerz, der immer wiederkehrt. Auschwitz ist in mir, ich bin ein Teil von Auschwitz. Man wird uns beide nicht mehr trennen können.

Die Wahrheit ist: Die Gefahr ist niemals gebannt, die Furcht geht niemals wieder ganz weg. Als der irakische Diktator Saddam Hussein 1991 im Zweiten Golfkrieg auch Bomben auf Israel werfen ließ und mit Chemiewaffen und Gasraketen drohte, erklärte unsere Regierung, dass wir uns zu Hause verschanzen sollten. Allein das Wort »Gas« reichte aus und ich kehrte nach Auschwitz zurück. Die israelischen Luftabwehrraketen waren ganz in der Nähe stationiert und erschütterten immer wieder unser Haus in Haifa. Während die Sirenen des Fliegeralarms heulten, klebten wir die Zimmerfenster mit Nylon ab, weil man uns gesagt hatte, Nylon könne das Giftgas abhalten. Ich wurde hysterisch, wickelte meinen ganzen Körper in Nylon ein, kroch unter das Bett und wartete ab – nichts passierte. Ähnlich war es im Zweiten Libanonkrieg 2006, als Haifa wieder bombardiert wurde, diesmal von der Hisbollah. Als der Raketenalarm vorbei war, kroch ich unter dem Bett hervor und wusste nicht, ob ich lachen oder mich schämen sollte. Hatte ich alles richtig gemacht oder endgültig den Verstand verloren? Oder war mein Verhalten, nach allem, was ich als junge Frau durchgemacht hatte, völlig legitim und angemessen? Und wer hätte mir darauf eine Antwort geben können, die ich geglaubt, der ich vertraut hätte und die mich hätte beruhigen können?

Auch jetzt herrscht wieder Krieg in Europa. In der Ukraine, davor in Syrien, im Jemen. Es herrscht immer irgendwo Krieg auf der Welt. Wenn ich Krieg erlebe, ob nun selbst ganz direkt oder in den Nachrichten, denn aus dem Weg gehen kann man ihm ohnehin nicht, dann nehmen meine Auschwitz-Albträume wieder zu. Zahlenmäßig und in ihrer Intensität. Fast so, als wäre ich persönlich ein Seismograf für alles Grauen in der Welt. In mir schlägt es aus, wenn es anderswo zu Kriegsverbrechen, Gräueln und Unmenschlichkeit kommt. Als wäre es meine Aufgabe, das spüren und aushalten und dokumentieren zu müssen. Familie und Freunde machen sich Sorgen, sie sagen, ich solle keine Nachrichten schauen und nichts lesen. Meine Antwort ist stets die gleiche: Ich kann die Augen nicht davor verschließen, die Menschen sterben ja trotzdem. Wer Auschwitz erlebt hat, der braucht keine Fernsehnachrichten, um zu wissen, zu was der Mensch in der Lage ist. In den Nachrichten sehe ich traurige Kindergesichter, verschreckte Mütter, Familien auf der Flucht, Leichen. Die Bilder aus der Ukraine verschmelzen mit den Bildern in meinem Kopf, den Bildern von damals. Die Ukraine 2022 ist nicht Auschwitz 1944, aber Krieg ist Krieg. Ist Tod. Leid. Zerstörung. Vertreibung. Verzweiflung. Geschichte wiederholt sich. Auch meine Geschichte wiederholt sich. Nachts in meinen Träumen. Auschwitz war nie ganz weg und ist jetzt wieder ganz nah. Das wird Zeit meines Lebens so bleiben. Ich bin zu alt, um noch naiv zu sein, aber ich bin noch nicht alt genug, um nicht mehr wütend und traurig zu werden. Meine Hände sind feucht, mein Mund ist trocken. Ich muss was trinken, schnell. Ich habe Durst, großen Durst. Es kommt alles wieder hoch.

2 MESUSA

»Ich möchte etwas sagen«, setzte mein Vater Fivish an und bat um Ruhe. Er hatte die Mesusa bereits in der Hand, die er zu unserer Verwunderung zuvor von der Eingangstür unseres Elternhauses abgenommen hatte. Die längliche Schriftkapsel, in der sich ein zusammengerolltes Stück Pergamentpapier mit zwei Tora-Versen befand, hing Zeit meines jungen Lebens, also die letzten fast 15 Jahre, schief dort am rechten Türpfosten, so wie es sich gehörte. Ein Symbol dafür, dass nur Gott die Dinge des Lebens, die einmal in Unordnung geraten waren, wieder geraderücken konnte. Nach jüdischer Tradition ist die Mesusa ein Glücksbringer, sie beschützt und bewacht die Bewohner eines Hauses, unabhängig davon, ob sie sich gerade darin aufhalten oder nicht. In einem der Verse heißt es: »So nehmt euch nun diese meine Worte zu Herzen und in eure Seele, und bindet sie zum Zeichen auf eure Hand, und sie sollen zum Erinnerungszeichen über euren Augen sein. Und ihr sollt sie eure Kinder lehren, indem ihr davon redet, ein jeder von euch, wenn du in deinem Haus sitzt oder auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. Und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore, damit du und deine Kinder lange leben in dem Land, von dem der Herr deinen Vätern geschworen hat, dass er es ihnen geben werde, solange der Himmel über der Erde steht.«

Dass mein Vater die Mesusa nun in seinen Händen hielt, war ein beunruhigendes Zeichen für meinen sechs Jahre älteren Bruder Meir und vermutlich auch für uns sechs jüngere Geschwister. Das Zeichen einer bevorstehenden Veränderung, die nichts Gutes bedeuten konnte. Wobei ich mir zunächst nicht viel dabei dachte. Ich selbst jedenfalls kann mich nicht daran erinnern, dass ich es gleich mit der Angst zu tun bekam. Offen gestanden wundert mich das heute, denn es war noch nie vorgekommen, dass unsere Eltern die Mesusas, die an den Türrahmen der verschiedenen Zimmer, mit Ausnahme der Toilette angebracht waren, abgenommen hatten. Welchen Grund hätte es dafür auch gegeben? Selbst wenn wir ausgezogen wären, was nicht geplant war, hätten wir die Schriftrollen nicht entfernt, zumindest dann nicht, wenn es sich um jüdische Nachmieter gehandelt hätte, auch sie sollten schließlich von Gott beschützt werden. Allein dass die Mesusas jetzt nicht mehr an den Türrahmen hingen, wie es für gläubige jüdische Familien Gesetz war, nahm Meir das Gefühl absoluter Geborgenheit, wie sie nur eine Familie geben kann. Hier konnte etwas nicht stimmen. So hat er es mir erzählt, als wir Geschwister uns, kurz nach unserer Befreiung, das erste Mal in unserem Elternhaus wiedersehen sollten.

Ich selbst war an jenem Tag, an dem mein Vater sich mit Worten an uns wandte, die ich nicht recht deuten konnte, gerade einmal 14 Jahre alt. Ein furchtloses junges Mädchen, dem das Leben bislang wenig Grund gegeben hatte, Angst haben zu müssen. Vielleicht war ich deshalb so grenzenlos naiv, ich dachte, es müsse für alles eine einfache Erklärung geben. Mein Vater Fivish holte tief Luft, er sprach langsam und leise, aber sehr deutlich. »Meine lieben Kinder«, begann er zögerlich, »in wenigen Minuten werden wir unser Haus verlassen müssen und keiner weiß, ob wir jemals wieder zurückkehren werden.« Wenn ich mir diese Worte meines Vaters noch einmal ins Gedächtnis rufe, packt mich jedes Mal ein kalter Schauer, auch weil ich heute weiß, was unmittelbar danach passiert ist. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung. Ich habe das wahre Ausmaß dessen, was er uns sagen wollte, gar nicht verstanden. Vielleicht habe ich seine Worte auch deshalb aus meiner Erinnerung gelöscht. Jedenfalls habe ich seine ungewöhnliche Ansprache einfach nicht ernst genommen. Ich weiß nur noch, dass ich mit meinen Geschwistern irgendwo in einer Ecke hockte, wir kicherten, weil Papa es gar so dramatisch machte, so kannten wir ihn gar nicht. Der bereits volljährige Meir stand neben Vater und wirkte sehr besorgt. Wie besorgt, ahnte ich damals allerdings nicht. Meir nahm Vater beim Wort, er nahm sich seine Worte »zu Herzen und in seine Seele«, wie es der Tora-Vers einem gläubigen Juden nahelegte. Noch Jahre später konnte er Vaters Rede beinahe auswendig wiederholen.

Dass ich heute also überhaupt weiß, was Papa gesagt hat, verdanke ich nur meinem großen Bruder. Er konnte sich auch an das genaue Datum erinnern, an dem Vater seine ungewöhnliche Rede gehalten hatte. Wenn das stimmt, war es der 16. April 1944, Tag 1 der Deportation der jüdischen Familie Cahana aus Unterwischau, einem kleinen, unscheinbaren, vergessenen Ort in den Hügeln des Maramures-Gebirges. Vier Jahre zuvor war der nördliche Teil Rumäniens, zu dem auch mein Heimatort gehörte, vom faschistischen Ungarn annektiert worden, einem Verbündeten von Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, im März 1944 ließ Hitler Ungarn ganz besetzen. Von all den politischen Umstände jener Zeit hatte ich als junges Mädchen so gut wie keine konkrete Ahnung. Ich wusste, es sind harte Zeiten in Europa, wie hart, wusste ich nicht. Dass unsere Familie mit diesem Tag endgültig in den Krieg hineingezogen wurde, den die meisten von ihnen nicht überleben würden, das war mir nicht bewusst. Wie sollte es auch. Unsere Eltern hatten immer versucht, uns so gut wie möglich zu beschützen, alles Böse von uns fernzuhalten, was zumindest in meinem Fall sehr gut gelungen war. An jenem 16. April 1944 aber erklärte Vater, dass wir gleich in ein Arbeitslager nach Oberwischau gebracht werden würden. Ich weiß nicht, was meine Schwestern glaubten, aber ich dachte immer noch, das wird ein richtig großes Abenteuer.

Mein Vater Fivish war ein stiller und gottesfürchtiger Mann, der nicht dafür bekannt war, große Worte zu machen. Ein Mann aber, der bei jedem noch so drängendem Problem Zuflucht fand in seinem Glauben und bei Gott. In echter, sicht- und spürbarer Verzweiflung hatte ich ihn bis dahin noch nie erlebt. Auch deshalb markierte seine eindringliche Rede einen Wendepunkt. In seinem und in unser aller Leben. Ich kann sie nur deshalb hier wörtlich wiedergeben, weil Meir sie während seiner Zeit in den Arbeitslagern aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hat. Er, der seinem Vater charakterlich in so vielem ähnlich war, hat mir gegenüber bezeugt, dass Papa sie genauso gehalten hat. Als Meir sie mir nach dem Krieg das erste Mal vorlas, nach all dem, was passiert war, hat mich das tief berührt. Wie genau Papa schon vorausahnte, was auf uns zukommen würde. Oder wusste er es sogar? »Hört zu Kinder, das ist jetzt sehr wichtig«, setzte Fivish seine Ansprache fort und wurde ungewöhnlich deutlich: »Wir werden Schreckliches erleiden, wir werden das Gesicht des Teufels erblicken und ihr werdet euch fragen: Warum wir? Es kann passieren, dass wir getrennt werden. Aber selbst wenn jeder auf sich allein gestellt sein wird, werden wir nicht aufgeben. Egal was passiert, wir werden uns kein Zeichen von Schwäche erlauben. Wenn wir krank sind, wenn wir verletzt sind, wenn unsere Körper schmerzen, werden wir das niemals zeigen. Wir werden in Stille leiden und in Stille stark bleiben.« Und weiter sprach Fivish, so wie Meir es sich gemerkt hatte: »Akzeptiert euer Schicksal ohne Beklagen, ohne Gott infrage zu stellen. In guten Zeiten gottesfürchtig zu sein ist einfach. In Zeiten wie diesen können wir zeigen, wer wir wirklich sind. Vergesst niemals, wo ihr herkommt, vergesst niemals eure Familie.«

Je länger Fivish sprach, umso mehr Nachdruck legte er in seine Stimme, umso hastiger redete er, umso trauriger wurde sein Gesichtsausdruck. Es war, als würde man ihn hetzen, treiben. Er wusste wohl, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. So hat Meir, damals 20 Jahre alt, ihn jedenfalls erlebt. Was hat unser Vater gewusst und warum hat er nie mit uns darüber gesprochen? »Wir werden Schreckliches erleiden« – seine Worte waren drastisch und schonungslos. Es war das erste Mal, dass er seine Familie und vor allem uns Kinder nicht im Unklaren über das Kommende ließ. Im Gegenteil, er wollte uns ausdrücklich warnen. Unser Vater war der Vorsteher der jüdischen Gemeinde im Ort, der wegen immer neuer Verordnungen und Dekrete regelmäßig auch persönlich mit den ungarischen Faschisten zu tun hatte. Die ganze Zeit über schien er allen Umständen zum Trotz immer noch festen Halt in seinem Glauben zu finden, sogar an jenem 16. April 1944. Zumindest klang es so. Oder tat er nur so, uns zuliebe, um uns nicht noch weiter zu beunruhigen? War er wirklich davon überzeugt, wir wären vorbereitet auf das, was noch kommen würde? Wie sehr er sich doch täuschen sollte. Er verglich die Tränen, die wir bald weinen würden, mit den Tränen, die wir jedes Jahr vergossen hatten, wenn wir feierlich der Zerstörung des jüdischen Tempels auf dem Tempelberg in Jerusalem gedachten und uns erinnerten, wie die Römer einst Juden verfolgt, gedemütigt und getötet hatten.

Weiter kam mein Vater nicht mehr.

Die Haustür wurde aufgestoßen und ungarische Gendarmen brüllten von der Schwelle aus zu uns hinein als wären wir Schwerkriminelle: »Los! Los! Los! Bewegt euch! Abmarsch! Los! Los! Los!« Mein Blick wanderte zum Türrahmen. Dort hing keine Mesusa mehr, die uns hätte beschützen können. Sie brüllten in einem fort. Es dröhnt mir heute noch in den Ohren. Ihr Geifer war beängstigend. Als Papa und Mama aus ihrem Haus traten, bauten sich die Uniformierten vor meinen Eltern auf, als wären sie das Letzte Gericht und schrien ihnen noch ein letztes Mal mitten ins Gesicht: »LOS!« Meine Mutter Ethel senkte den Kopf und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, das konnte ich sehen. Sie weinte. Und Fivish tat, was er uns zuvor erklärt und geraten hatte. Er akzeptierte sein Schicksal in aller Stille, ohne ein äußeres Zeichen von Schwäche und Schmerz. Wer aber sein sonst so zufriedenes, freundliches, sanftes Gesicht kannte, der wusste, dass seine Welt Kopf stand und sein Herz Trauer trug. Aschfahl, grau und ernst stand er da. In seinem Innersten weinte er bitterlich, das weiß ich heute, nur untersagte er sich auch noch die kleinste Träne, die nach außen dringen wollte. Sein tiefer Glaube an Gott verbot ihm jedes Zeichen von Enttäuschung, die er sich selbst als mangelnde Standfestigkeit im Glauben angekreidet hätte. So sehe ich es heute. Damals habe ich das alles nicht verstanden. Ich wusste nicht, was die Polizisten von uns wollten. Ich hatte keine Ahnung, wohin genau wir gehen würden, was das alles sollte. Natürlich, ich war aufgeschreckt, doch Todesangst oder Ähnliches verspürte ich nicht. Als schließlich die ganze Familie vor dem Haus versammelt stand, und wir alle noch ein letztes Mal die Mesusa küssten, bevor Vater sie unter den Tallit, seinen Gebetsmantel, steckte, hoffte ich immer noch, dass alles gut werden würde.

Aber nichts wurde gut. Es begann der Albtraum meines Lebens.

3 KINDSEIN

Meine Kindheit in Vișeu de Jos – zu Deutsch Unterwischau – war einfach wunderschön. Und wunderschön einfach. Mit dem romantischen Landleben, wie es heute gerne in Reisekatalogen und Filmen verklärt wird, hatte es dennoch nichts zu tun. Unterwischau liegt eingebettet zwischen den grünen Hügeln der nordöstlichen Karpaten, ein ländliches Grenzgebiet zwischen Rumänien und der Ukraine. Eine abgeschiedene, vergessene Region, damals wie heute. Bilderbuchhaft gelegen, doch es gab niemanden, der sich auch nur zufällig hierher verirrte oder gar Ferien auf dem Bauernhof buchen wollte. Das alles gab es zu jener Zeit nicht – und gibt es auch heute nicht. Das Leben dort war geprägt von großer Armut und bitterer Frömmigkeit, wenn es bei uns zu Hause auch etwas anders war. Als Kind hat mich das nicht groß gestört, man hinterfragt nicht, warum etwas ist wie es ist – es war eben so. Außerdem eröffnete einem das sogenannte einfache Leben auch vielfältige Möglichkeiten. Wenn nicht viel da ist, wird man erfinderisch. Und wer kann schon einen ganzen Wald seinen eigenen Spielplatz nennen?

Ich erinnere mich, dass ich als junges Mädchen nie still sitzen konnte. Mit meinen Schwestern und Freundinnen tollte ich wild herum, meine Mutter sagte immer, ich würde wie ein junges Reh durch die Welt springen. Durch unseren Garten hinter dem Haus, über die Wiesen und Felder und die Straßen unseres Dorfes bis zum Fluss Bistra, in dem wir in den Sommermonaten baden gingen, obwohl das Wasser kalt und der Fluss für seine starke Strömung bekannt und nicht ganz ungefährlich war. Doch ich war eine sehr gute Schwimmerin, ich hatte es früh gelernt. Puppen, mit denen ich spielen konnte, gab es keine, dafür war kein Geld da. Dafür erinnere ich mich, wie ich das Jonglieren mit fünf annähernd gleich großen Kieselsteinen trainierte, die der Fluss glatt geschliffen hatte. Niemand im Ort jonglierte besser als ich, ich hätte mit der Nummer im Zirkus auftreten können, hätte es nur einen gegeben, davon war ich überzeugt. Puppen habe ich also gar nicht so sehr vermisst, einfach weil mein Leben sich in erster Linie draußen abspielte, in den Wäldern, am Wasser, auf der nach frisch gemähtem Gras duftenden Wiese, unter freiem Himmel.