Ich hätte da ein paar Fragen an Sie - Rebecca Makkai - E-Book

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie E-Book

Rebecca Makkai

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Beschreibung

Der New-York-Times Bestseller endlich auf Deutsch! "Ein wendungsreicher, fesselnder Krimi, perfekt für Fans von Donna Tartts 'Die geheime Geschichte'." People Magazine "Faszinierend." New York Times "Ein unwiderstehlicher literarischer Pageturner." The Boston Globe Eigentlich wollte Bodie Kane ihre Zeit am Internat in New Hampshire für immer hinter sich lassen. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an vier Jahre als Einzelgängerin und an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith. Trotzdem kehrt Bodie als Dozentin für Medienwissenschaften zurück an das College. Als eine ihrer Schülerinnen beginnt, an einem Podcast über Thalias Tod zu arbeiten, gerät sie in einen obsessiven Strudel aus Erinnerung, nächtlicher Internetrecherche und imaginären Gesprächen mit ehemaligen Zeitgenossen. Immer deutlicher steht die Frage im Raum, ob mit dem Sporttrainer Omar Evans damals der richtige Täter gefasst wurde – und Bodie wird klar, dass sie etwas über den wahren Mörder weiß, etwas, das schon seit den 90er Jahren in ihrem Unterbewusstsein verschüttet liegt.  Rebecca Makkais neuer Roman handelt von einem Mordfall, wie er täglich in den Nachrichten steht – und ist dabei ebenso fesselnder Campuskrimi wie Pychogramm einer Frau, die mit ihrer Vergangenheit abrechnet. 

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Seitenzahl: 696

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Das Buch

Bodie Kane ist froh, ihre Jugend hinter sich gelassen zu haben. Mittlerweile hat sie einen erfolgreichen True-Crime-Podcast und denkt kaum noch an ihre Zeit im Granby College zurück — vier Jahre, überschattet von einer Tragödie in ihrer Familie und dem Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith. Doch dann kehrt Bodie als Dozentin nach Granby zurück. Und weckt alle Hunde, die sie so lange schlafen ließ ...

Die Autorin

REBECCA MAKKAI ist eine der renommiertesten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihr Roman Die Optimisten war nicht nur ein New-York-Times-Bestseller, sondern stand auch auf der Shortlist für den Pulitzer Prize und den National Book Award. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie ist ihr vierter Roman. Rebecca Makkai lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Chicago.

Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-177-5

Die Originalausgabe »I Have Some Questions for You«

erschien 2023 bei Viking, New York.

© 2023 by Rebecca Makkai Freeman

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Mark Fearon, Arcangel

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Teil I

1

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Teil II

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Danksagungen

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Für CGG

in freudiger Erinnerung

»Sie haben von ihr gehört«, sage ich – eine Herausforderung, eine Zusicherung. Zu der Frau an der Hotelbar neben mir, die den Fehler gemacht hat, ein Gespräch mit mir anzufangen, zu dem Zahnarzt, der ans Ende seiner Fragen zu meinen Kindern gelangt ist und sich erkundigt, was ich selbst gerade so treibe.

Manchmal wissen sie sofort Bescheid. Manchmal fragen sie: »War das nicht die, die von diesem Mann im Keller gefangen gehalten wurde?«

Nein! Nein. Nicht die.

War das nicht die mit dem Messer im – nein. Die, die mit ihm ins Taxi gestiegen ist und – andere Geschichte. Die, die auf der Studentenparty war, die, bei der er einen Stock benutzt hat, bei der er einen Hammer benutzt hat, die, die ihren Freund von der Entzugsklinik abgeholt hat, und er – nein. Die, die täglich von ihm beim Joggen beobachtet wurde? Die, die so unvorsichtig war, ihm zu sagen, dass ihre Tage ausblieben? Die mit dem Onkel? Moment, die andere mit dem Onkel?

Nein: Es war die im Schwimmbad. Die mit dem Alkohol im – mit den Haaren um – wo der Mann dann gestanden hat – genau. Die.

Sie nicken, beruhigt. Wovon?

Meine Barnachbarin zieht die Selleriestange aus ihrer Bloody Mary und beißt knirschend zu. Mein Zahnarzt bittet mich auszuspülen. Sie nehmen ihren Namen in den Mund, testen ihre Erinnerungen. »Ach so, ja, die«, sagen sie.

»Die«, denn was ist sie jetzt anderes als eine Geschichte, eine Geschichte, die man kennt oder nicht kennt, eine Geschichte mit einer begrenzten Menge an Details, eine Geschichte, die man sich anhand von Geländekarten und Zeitabläufen erschließen kann.

»Die von dem Internat!« sagen sie dann. »Ja, ich erinnere mich, die aus dem Video! Die kannten Sie?«

Es ist die, deren Foto auftaucht, wenn man New Hampshire und Mord eingibt, neben Fahndungsfotos von den Meth-Tragödien jüngerer Jahre. Vor allem ein Foto – auf dem sie lächelt, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, was auf eine unterschwellige, tiefe Traurigkeit hinzudeuten scheint – wird häufig in Clickbaits verwendet. Es ist bloß ein Ausschnitt aus einem Jahrbuchfoto vom Tennisteam; wer Thalia kannte, sieht schnell, dass sie nicht wirklich traurig war, sondern nur für die Kamera lächelte, obwohl sie keine Lust dazu hatte.

Es war die Geschichte, die wieder und wieder erzählt wurde.

Die mit dem Mädchen, das jung, weiß, hübsch und reich genug war, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen.

Die von damals, als wir noch jung genug waren zu glauben, irgendjemand Klügeres wüsste die Antworten.

Vielleicht war es die, bei der wir uns irrten.

Vielleicht war es die, bei der wir uns alle, kollektiv, jeder Einzelne nur federleicht, irrten.

Teil I

1

Zum ersten Mal sah ich das Video 2016. Auf meinem Laptop, im Bett, und mit Kopfhörern, weil ich nicht wollte, dass Jerome aufwachte und ich ihm erklären müsste, was ich da tat. Nebenan schliefen die Kinder. Ich hätte hingehen und nach ihnen sehen, ihre warmen Wangen und ihren heißen Atem spüren können. Ich hätte am Haar meiner Tochter riechen können – vielleicht hätte der Duft nach feuchtem Lavendel und der Kopfhaut eines Kleinkinds genügt, um mich einschlafen zu lassen.

Aber ich hatte gerade einen Link zugeschickt bekommen, von einer Freundin, die ich zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, also klickte ich ihn an.

Lerner und Loewes Camelot. Ich war die Inspizientin und technische Leiterin. Eine Standkamera, zu nah am Orchester, zu weit weg von den jugendlichen Sängern, die keine Mikros hatten, 1995er-VHS-Qualität, hinter der Linse jemand vom AV-Club. Und meine Güte, dass wir nicht umwerfend waren, wussten wir ja, aber wir waren nicht annähernd so gut, wie wir damals dachten. Wer auch immer dieses Video zwei Jahrzehnte später hochgeladen hatte, wer auch immer die Anmerkungen unten hinzugefügt hatte, mit genauen Zeitangaben von Thalia Keiths Auftritten, hatte auch eine Liste aller auf und hinter der Bühne Mitwirkenden gepostet. Beth Docherty als eine zierliche Guinevere, Sakina John strahlend mit Goldzackenkrone auf den Cornrows, Mike Stiles als König Artus, wunderschön und verlegen. Mein Name ist falsch geschrieben, aber er steht da auch.

Deutlich zu sehen ist Thalia zum letzten Mal beim Schlussapplaus, mit ihren dunklen Locken, die sie aus der verschwommenen Masse herausheben. Dann singen fast alle auf der Bühne für Mrs. Ross, unsere Regisseurin, »Happy Birthday«, bis sie von ihrem Platz in der ersten Reihe aufsteht, wo sie jeden Abend saß und sich Notizen machte. Wie jung sie ist; das hatte ich damals nicht registriert.

Ein paar von den Darstellenden gehen ab, treten verwirrt wieder auf. Mehrere Orchestermitglieder hüpfen auf die Bühne, um mitzusingen, Mrs. Ross’ Mann taucht mit einem Blumenstrauß in der Hand aus dem Publikum auf, auch die Crew kommt auf die Bühne, in schwarzen Hemden und schwarzen Jeans. Ich bin nirgends zu entdecken; wahrscheinlich war ich oben am Beleuchtungspult geblieben. Es hätte mir ähnlich gesehen, den Applaus auszusitzen.

Inklusive Aufstellung und Gesang dauert das Geburtstagsständchen zweiundfünfzig Sekunden, in denen man Thalia kein einziges Mal deutlich sieht. In der Kommentarleiste hatte jemand ein Stück von einem grünen Kleid herangezoomt und Fotos von diesem Farbfleck und dem Kleid, das Thalia trug – zuerst als die Fee Nimue, in Gaze gehüllt, dann ohne Gaze als Lady Anne mit einfachem Kopfschmuck –, nebeneinander gepostet. Aber es gab an dem Abend mehrere grüne Kleider. Das von meiner Freundin Carlotta zum Beispiel. Gut möglich, dass Thalia da schon tot war.

In der Diskussion unter dem Video geht es hauptsächlich um den zeitlichen Ablauf. Die Aufführung sollte um 19 Uhr beginnen, aber wahrscheinlich fingen wir mit unserer glücklicherweise gekürzten Fassung fünf Minuten später an. Vielleicht sogar mehr als fünf Minuten. Die Pause wurde nicht mit aufgezeichnet, also gab es Spekulationen darüber, wie lang die Pause eines Highschool-Musicals wohl dauert. Je nachdem, wie hoch man diese beiden Variablen veranschlagte, endete die Aufführung irgendwann zwischen 20 Uhr 45 und 21 Uhr 15. Ich hätte es wissen müssen. Es gab mal einen Ordner mit meinen sorgfältigen Notizen. Aber niemand hatte je danach gefragt.

Der medizinische Gutachter sagte, Thalias Todeszeitpunkt liege zwischen 20 Uhr und Mitternacht, wobei das Musical den Beginn dieser Zeitspanne nach hinten verschiebt – deshalb war das genaue Ende des Musicals online zum Gegenstand grenzenloser Faszination geworden.

Ich bin durch YouTube hierauf gestoßen, hatte ein Kommentator 2015 geschrieben und einen Link zu einem weiteren Video gepostet. Seht euch das an. Es BEWEIST doch, dass da gepfuscht wurde. Der zeitliche Ablauf ergibt so keinen Sinn.

Jemand anders schrieb: Falscher Mann im Knast wg rassistischer Bullen unter der Fuchtel der Schule.

Und darunter: Willkommen in der Querdenkerzentrale! Konzentriert eure Energien lieber auf einen ECHTENUNGEKLÄRTENFALL.

Beim Anschauen des Videos, zwanzig Jahre nach der Tat, löste sich aus den dunklen Ecken meines Gehirns die Erinnerung daran, wie ich mit meiner Freundin Fran, die im Chor mitsang, im Bibliothekslexikon das Wort lusty nachschlug. Um unserem Gekicher wegen »The Lusty Month of May« ein Ende zu setzen, hatte Mrs. Ross verkündet, »lusty heißt einfach kräftig. Ihr könnt es gern nachschlagen.« Aber was wusste Mrs. Ross schon von Lust? Lust war was für junge Menschen, nicht für verheiratete Schauspiellehrerinnen. Aber (»Heilige Scheiße«, wie Fran gesagt hätte) siehe da, dem Webster zufolge heißt lusty in der Tat healthy and strong; full of vigour – gesund und stark; herzhaft. Eins der Beispiele war a lusty beef stew: ein herzhaftes Rindergulasch. Wir flohen lachend aus der Bibliothek, und Fran sang: »Oh, a lusty stew of beef!«

Wo hatte ich diese Erinnerung all die Jahre aufbewahrt?

Beim ersten Durchgang sprang ich hin und her, schaute mir eigentlich nur das Ende richtig an; ich hatte keine Lust, endlosen Teenagergesängen und schlecht gestimmten Saiteninstrumenten zu lauschen. Doch dann – gegen zwei Uhr in derselben Nacht, nachdem die Melatonintablette nicht gewirkt hatte – spulte ich noch einmal zurück und schaute mir alle Teile mit Thalia an. 1. Akt, 2. Szene, war ihr einziger Auftritt als Nimue. Sie kam hypnotisch singend in einem Eisnebel auf die Bühne, hinter Merlin. Irritierenderweise schaute sie immer wieder von ihm weg, rechts neben die Bühne, als suchte sie die Hilfe der Souffleuse. Das war aber kaum möglich; sie brauchte ja nur den einen Song mit den sich immer wiederholenden Zeilen zu singen.

Vorsichtig griff ich über Jerome hinweg nach seinem iPad und rief das Video dort auf, zoomte diesmal ihr Gesicht heran, sodass es größer, wenn auch nicht deutlicher wurde. Es ist kaum wahrnehmbar, aber sie wirkt gereizt.

Und dann, während Merlin seine Abschiedsrede hält und Artus und Camelot auf Wiedersehen sagt, schaut sie erneut über die Schulter zur Seite. Sie formt mit den Lippen ein Wort; ich bilde es mir nicht ein. Ihr Mund scheint sich schließen zu wollen und öffnet sich dann wieder, was einen W-Laut ergibt, wenn ich es nachmache. Sie sagt, da bin ich mir fast sicher: Was. Vielleicht zu jemandem aus meiner Crew, die ein vergessenes Requisit hochhält? Aber was hätte in dem Moment, so kurz bevor sie abging, noch derart wichtig sein können?

Bis 2016 hatte sich in den Kommentaren niemand damit befasst. Alle interessierten sich nur für die genaue Uhrzeit des Schlussapplauses, dafür, ob Thalia in jener letzten Minute noch auf der Bühne gewesen war. (Und dafür, wie hübsch sie war.) Zweiundfünfzig Sekunden, so der Gedankengang, hätten ausgereicht, um jemanden zu treffen, der hinter der Bühne auf sie wartete, und mit dieser Person zu verschwinden, bevor es irgendwer mitbekam.

Ganz am Ende der Aufnahme macht unser illustrer Dirigent Schrägstrich musikalischer Leiter, mit Fliege, den Taktstock noch in der Hand, eine Ankündigung, der niemand mehr zuhört: »Vielen Dank an alle! Wenn ihr geht –«, dann nur noch ein Summen grauer Linien. Wahrscheinlich ging es darum, wann wir alle in unseren Zimmern sein oder dass wir unseren Müll mitnehmen sollten.

Achtet mal auf Guinevere in den letzten zwei Sekunden, schreibt einer. Ist das ein Flachmann? Ich will mit Guinevere befreundet sein! Ich hielt das Video an, und ja, es ist ein Flachmann, den Beth da hochhält, vielleicht im Vertrauen darauf, dass ihre Leute erkennen werden, was es ist, während die Lehrerinnen und Lehrer im Publikum dafür zu abgelenkt sind. Oder Beth war selbst schon so beschwipst, dass es ihr egal war.

Ein anderer fragt, ob irgendwer die Zuschauer identifizieren könne, die im Hinausgehen an der Kamera vorbeikommen.

Wieder ein anderer schreibt: Wenn ihr euch das 2005 Dateline Spezial anschaut, glaubt nichts von dem, was da gesagt wird. SO viele Fehler. Außerdem heißt es THA- wie am Anfang von »thatch« oder »thanks«, und Lester Holt sagt ständig THAY-lia.

Darauf der Nächste: Ich dachte, es heißt TAHL-ia.

Nee, nee, nee, die Antwort. Ich kannte ihre Schwester.

Ein anderer Kommentar: Das Ganze macht mich so traurig. Gefolgt von drei weinenden Emojis und einem blauen Herz.

Danach träumte ich wochenlang nicht etwa davon, wie Thalia den Kopf zur Seite drehte oder mit den Lippen ein Wort formte, sondern von Beth Dochertys Flachmann. In meinen Träumen musste ich ihn finden, um ihn wieder zu verstecken. Ich hatte meinen riesigen Ordner im Arm. Meine Notizen waren keine Hilfe.

Die Leute aus der Theatergruppe hatten darum gebettelt, dieses Musical aufführen zu dürfen – wann immer Mrs. Ross im Jahr davor Wohnheimaufsicht hatte, waren sie darauf zurückgekommen. 1993 hatte es eine Wiederaufführung des Stücks am Broadway gegeben, und selbst diejenigen unter uns, die es nicht gesehen hatten, kannten den Soundtrack, wussten, dass es mittelalterliche Dekolletés, Küsse auf offener Bühne und fantastische Solos beinhaltete. Für mich bedeutete es Schlosskulissen, Throne, Bäume auf Rädern – nichts Kniffliges, keine fleischfressende Hauspflanze, kein Ford Deluxe Cabrio, das auf die Bühne gerollt werden müsste. Den zukünftigen Journalistinnen und Journalisten unter uns würde es endlose einfache Metaphern bescheren. Das Internat als Königreich im Wald, Thalia als Zauberfee, Thalia als Prinzessin, Thalia als Märtyrerin. Was könnte romantischer sein? Was ist so perfekt wie der jähe Tod eines jungen Mädchens mitten in der Entwicklung? Junges Mädchen als unbeschriebenes Blatt. Junges Mädchen als Spiegelung der eigenen Sehnsüchte, unverdorben von denen, die es selbst hatte. Junges Mädchen, das der Idee vom jungen Mädchen geopfert wird. Junges Mädchen als Kind auf einer Reihe von Fotos, alle gekennzeichnet von der Aura eines Mädchens, das früh sterben wird, als hätte schon der Fotograf der dritten Klassen in ihrem Gesicht lesen sollen, dass sie eine war, die nie etwas anderes sein würde als ein junges Mädchen.

Der Zuschauer, der Voyeur, sogar der Täter – sie alle sind raus, wenn ein Mädchen schon tot zur Welt kommt.

Das begeistert die Leute, im Internet und im Fernsehen gleichermaßen.

Und Sie, Mr. Bloch: Ihnen kam es vermutlich auch gelegen.

2

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit fuhr ich im Januar 2018 in einem jener guten alten Blue Cabs, die mich vor langer Zeit so oft vom Flughafen in Manchester abgeholt hatten, in rasantem Tempo erneut zum Gelände des Internats. Mein Fahrer sagte, er habe schon den ganzen Tag Leute nach Granby chauffiert.

»Die waren alle irgendwo im Urlaub.«

»Die waren zu Hause in den Ferien«, sagte ich.

Er schnaubte, als hätte ich einen üblen Verdacht von ihm bestätigt.

Er fragte mich, ob ich Lehrerin in Granby sei. Kurz war ich erstaunt, dass er mich nicht für eine Schülerin hielt. Doch in seinem Rückspiegel sah ich: eine gestandene Erwachsene mit Falten um die Augen. Nein, sagte ich ihm, ich sei nur besuchsweise hier, um einen zweiwöchigen Kurs zu geben. Ich erklärte ihm nicht, dass ich in Granby zur Schule gegangen war und die Strecke, die wir fuhren, so gut kannte wie ein altes Lied. Es schien mir zu viel Information für eine zwanglose Unterhaltung. Ich erläuterte ihm auch nicht das Konzept des Minimesters, weil es zu einfach geklungen und exakt seiner Vorstellung davon entsprochen hätte, was die verwöhnten Kids da so trieben.

Es war Frans Idee, mich an die Schule zu holen. Fran selbst war in all den Jahren kaum weggewesen; nach dem College, Studium und einiger Zeit im Ausland war sie zurückgekehrt, um in Granby Geschichte zu unterrichten. Ihre Frau arbeitet im Zulassungsbüro, und sie leben mit ihren Söhnen auf dem Internatsgelände.

Mein Fahrer hieß Lee und erzählte mir jetzt, er »kutschiere diese Granby-Kids schon rum, seit ihre Großväter da zur Schule gingen.« Granby sei die Art von Schule, auf die man es nur mit familiären Beziehungen schaffe. Ich hätte ihm gern gesagt, wie falsch er da lag, aber die Gelegenheit, seine Annahme zu korrigieren, dass ich eine Außenstehende sei, war längst verstrichen. »Diese Kids machen so viel Mist, Sie würden’s nicht glauben«, fuhr er fort und fragte mich, ob ich den Artikel im Rolling Stone »vor ein paar Jahren« gelesen hätte. Dieser Artikel (»In Freiheit leben oder sterben: Alkohol, Drogen und Tod durch Ertrinken an einem Elite-Internat in New Hampshire«) war 1996 erschienen, und ja, wir hatten ihn alle gelesen und uns von unseren College-Wohnheimen aus Mails geschrieben, wütend über all die Fehler und Mutmaßungen – ähnlich wie wir uns neun Jahre später schreiben sollten, als Dateline alles wieder ans Tageslicht zerrte.

Lee sagte: »Die beaufsichtigen die Schüler da kein bisschen. Wenigstens gibt es die Regel, dass sie kein Uber benutzen dürfen.«

»Komisch, ich habe das Gegenteil gehört«, sagte ich. »Was das Beaufsichtigen angeht.«

»Na klar, die lügen. Die wollen, dass Sie da unterrichten, also erzählen sie Ihnen sonst was.«

In den fast dreiundzwanzig Jahren seit meinem Abschluss war ich nur dreimal in Granby gewesen. Es hatte ein frühes Klassentreffen gegeben, als ich in New York lebte; ich war eine Stunde geblieben. 2008 war ich zu Frans und Annes Hochzeit in der Internatskirche gekommen, der Alten Kapelle. Und im Juli 2013 war ich für ein paar Tage nach Vermont gefahren, um Fran und ihr erstes Baby zu sehen. Das war’s. Unser Zehntes, Fünfzehntes und Zwanzigstes hatte ich gemieden, die Alumni-Treffen in L. A. ignoriert. Erst als das Camelot-Video aufgetaucht war und Fran mich zu einem Gruppenchat hinzufügte, in dem dann am Ende Theatererinnerungen ausgetauscht wurden, bekam ich echte Sehnsucht nach der Schule. Ich dachte, ich würde auf 2020 warten – unser Fünfundzwanzigstes und zugleich die Zweihundertjahrfeier der Schule, zu der sicher viele aus meiner Klasse kommen würden. Doch dann erhielt ich diese Einladung.

Günstig war auch, dass Yahav, der Mann, mit dem ich eine sich hinziehende, ausweglose Fernaffäre hatte, nur zwei Stunden entfernt wohnte, weil er für ein Jahr an der Bostoner Uni Jura lehrte. Yahav hatte einen israelischen Akzent und war groß, brillant und neurotisch. Unsere Beziehung war nicht so, dass ich einfach hinfliegen konnte, um ihn zu sehen. Aber zufällig in der Gegend sein, das konnte ich.

Außerdem wollte ich herausfinden, ob ich dazu in der Lage wäre – ob ich trotz meiner Nervosität, meiner fast jugendlichen Panik, inzwischen so weit war, das Mädchen zu überflügeln, das als Schülerin in Granby gerade so zurechtgekommen war. In L. A. war mir zwar theoretisch klar, dass ich etwas zustande gebracht hatte – eine ehemalige College-Dozentin mit einem vielgepriesenen Podcast, eine Frau, die eine Mahlzeit aus Zutaten vom Bauernmarkt zubereiten und ihre Kinder vernünftig gekleidet auf den Weg zur Schule bringen konnte –, aber in meinem Alltag spürte ich nicht besonders deutlich, was für eine weite Strecke ich zurückgelegt hatte. In Granby, das wusste ich, würde es mich hart treffen.

Da waren also das Geld und der Kerl und mein Ego, und – unter alledem, als unhörbar tiefer Ton – Thalia und das Gefühl, ganz leicht aus dem Lot geraten zu sein, seit ich mir das Video angeschaut hatte.

Jedenfalls hatte man mich gefragt, und ich hatte zugesagt, und hier war ich nun und ließ mich, auf der Rückbank angeschnallt, von Lee, der fünfzehn Stundenkilometer zu schnell fuhr, zum Internat befördern.

Er sagte: »Was bringen Sie denen bei, Shakespeare?«

Ich erklärte ihm, dass ich zwei Kurse unterrichten würde: einen übers Podcasten und einen zweiten über Film.

»Film!«, sagte er. »Gucken die Schüler da Filme oder machen sie selber welche?«

Ich hatte das Gefühl, dass es keine Antwort gab, die Lee nicht noch schlechter von mir und der Schule denken lassen würde. Ich sagte: »Es geht um die Geschichte des Films«, was korrekt und unvollständig zugleich war. Also fügte ich noch hinzu, dass ich bis vor kurzem Filmwissenschaften an der UCLA unterrichtet hatte, mit dem erwünschten Effekt – ein Trick, den ich schon öfter angewendet habe –, dass er direkt auf die Bruins und Football zu sprechen kam. Ich konnte zustimmende Geräusche von mir geben, während er monologisierte. Wir hatten nur noch zwanzig Minuten Fahrt vor uns, und es war unwahrscheinlich, dass er mich jetzt noch über Podcasts ausfragen oder mir Quentin Tarantino herrklären würde.

Die Schule hatte mich an sich nur für den Filmkurs eingeladen; den zweiten Kurs hatte ich zusätzlich angeboten, weil es doppelt so viel Geld brachte – aber auch, weil ich noch nie gut stillsitzen konnte und keine Lust hatte, Däumchen zu drehen, wenn ich schon meine Kinder alleinließ und zwei Wochen im Wald verbrachte. Das Bedürfnis, immer auf Trab zu sein, ist ein Symptom hochfunktionaler Angst und zugleich der Schlüssel zu meinem Erfolg.

Der Podcast, den ich zu der Zeit produzierte, hieß Starlet Fever und war eine Serie zur Geschichte von Frauen im Film – dazu, wie sie von der Industrie verschlungen und wieder ausgespuckt wurden. Er lief so gut, wie man es von einem Podcast vernünftigerweise erwarten konnte, erreichte in diversen Downloadberechnungen manchmal sogar Spitzenplätze. Es ließ sich ein bisschen Geld damit verdienen, und manchmal, sehr aufregend, erwähnte uns ein Promi in einem Interview. Mein Co-Moderator Lance hatte seinen Landschaftsgärtnerjob aufgeben können, ich war in der Lage, die Hilfsprof-Krümel abzulehnen, die UCLA mir hinwarf, und es gab ein paar Literaturagenten, die angeboten hatten, uns zu vertreten, falls wir an einem Buch mitschreiben wollten. Wir steckten knietief in den Vorbereitungen für die kommende Sendung, in der es um Rita Hayworth gehen würde, aber die Recherche dafür konnte ich überall machen.

Auf der Route 9 folgten wir einem anderen Blue Cab mit zwei Jugendlichen hinten auf der Rückbank. Lee sagte: »Na bitte, das sind bestimmt welche von Ihren Schülern. Keins der Kids ist von hier. Die kommen sogar aus anderen Ländern. Heute Morgen habe ich ein paar Mädchen gefahren, die gerade aus China zurückkamen, die haben kein Wort gesagt. Wie können sie am Unterricht teilnehmen, wenn sie kein Englisch sprechen?«

Ich tat so, als müsste ich einen Anruf entgegennehmen, bevor sein Rassismus noch unverhohlener wurde.

»Gary!«, sagte ich zu dem Niemand in meinem Handy und verteilte dann zehn Minuten lang in gewissen Abständen meine M-hms und Okays, während draußen der eisige Wald vorbeiraste. Ohne die Ablenkung durch Lee hatte ich nun allerdings leider Gelegenheit, die Nervosität zu spüren, die ich bisher erfolgreich ignoriert hatte, und zu spüren, wie der Wald mich Richtung Granby verschluckte. Hier war die kleine weiße Kirche, die für mich immer als Zeichen gedient hatte, dass ich bald da sein würde. Hier kam die Abbiegung auf eine schmalere Straße, die sich tief in mein Muskelgedächtnis eingeprägt hatte.

Und prompt fielen mir die zu langen Jeans-Shorts und das gestreifte Tanktop ein, die ich 1991 auf meiner ersten Fahrt nach Granby getragen hatte. Und ich erinnerte mich, dass ich mich gefragt hatte, ob Leute aus New Hampshire einen Akzent hatten, nicht ahnend, wie wenige von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern überhaupt aus New Hampshire stammten. Das sagte ich tunlichst weder zu Lee noch in mein Handy.

Die Robesons, die Familie, bei der ich damals lebte, hatten mich den größten Teil der Strecke, von Indiana aus, an nur einem Tag gefahren, und als wir am nächsten Morgen aufwachten, hatten wir nur noch einen einstündigen Weg vor uns. Ich saß bei heruntergelassenem Fenster hinten, hielt das Gesicht in den Fahrtwind und schaute auf das vorbeirollende kalenderblatthübsche Ackerland und die undurchdringlichen Wälder, schiere grüne Wände. Alles roch nach Pferdedung, woran ich gewöhnt war, und dann, plötzlich, nach Kiefern. Ich sagte: »Da draußen riecht es nach Luftauffrischer!« Die Robesons reagierten darauf, als wäre ich ein kleines Kind, das etwas unglaublich Süßes gesagt hatte. »Wie Luftauffrischer!«, wiederholte Severn Robeson und haute begeistert aufs Lenkrad.

An jenem ersten Tag auf dem Internatsgelände konnte ich kaum fassen, wie dicht der Wald hier war, selbst der Boden schien hier Waldboden zu sein – überall Steine, Stämme, Kiefernnadeln, Moos. Man musste ständig schauen, wohin man trat. Aus Indiana kannte ich nur kleine Ansammlungen von Bäumen zwischen Reihen von Häusern oder hinter Tankstellen – Wäldchen, durch die man ohne weiteres ganz hindurchlaufen konnte. Voller Zigarettenkippen, Getränkedosen. Wenn ich als Kind Märchen gehört hatte, waren das die Wälder, die ich mir vorstellte. Jetzt ergaben all die Geschichten von Urwäldern, verlorenen Kindern, versteckten Höhlen überhaupt erst Sinn. Dies war ein Wald.

Außerhalb von Lees Taxi sah ich das Postamt von Granby und was früher mal der Videoladen gewesen war. Die Circle K gab es noch, aber wegen einer Tankstelle sentimental zu werden war schwierig. Hier kam die Zufahrt zum Internat, und hier kam der Adrenalinstoß. Ich wünschte Gary einen schönen Tag und beendete mein vorgetäuschtes Telefonat.

Als in jenem ersten November alle Blätter fielen, erwartete ich, durch die Bäume hindurch die Häuser und Gebäude zu sehen, die die ganze Zeit dahinter verborgen gewesen waren. Aber nein: Jenseits der kahlen Äste waren bloß weitere kahle Äste. Und jenseits davon noch mehr.

Nachts hörte man Eulen. Manchmal, wenn die Müllcontainer nicht richtig zugeschnappt waren, holten sich Schwarzbären ganze Beutel heraus und zerrten sie übers Gelände, um sie wie Geschenktüten zu öffnen.

Der Wagen, dem wir gefolgt waren, nahm die Abzweigung zum Wohnheim der Jungen, aber Lee wählte die längere Strecke am Unteren Campus vorbei, um mir eine kleine Führung zu geben, und mir blieb nichts anderes übrig, als höflich zuzuhören.

Er sagte: »Wo Sie abgesetzt werden wollen, das ist der Obere Campus, nördlich vom Fluss, mit den schicken neuen Gebäuden. Hier unten ist der alte Teil, den gibt’s schon seit siebzehnhundertsoundso.«

Seit den 1820ern, aber ich korrigierte ihn nicht. Es war mitten am Nachmittag, und ein paar Jugendliche kamen aus der Cafeteria über den Hof getrottet, mit hochgezogenen Schultern, weil es so kalt war.

Lee wies mich auf das Originalgebäude mit den Klassenräumen hin, auf die Wohnheime, wo die pubertierenden Bauernjungen immer gefroren, die Cottages, in denen unverheiratete Lehrkräfte von anno dazumal ihr einsames Leben gefristet hatten, die Alte Kapelle und die Neue Kapelle (beide keine richtigen Kirchen mehr, beide unglaublich alt), das Haus des Direktors. Er zeigte mir die Bronzestatue von Samuel Granby und sagte, irrtümlich: »Das ist der Mann, der die Schule mit nur einem Klassenzimmer gegründet hat.«

Als Schülerin konnte ich nicht an Samuel Granby vorbeigehen, ohne an seinem Fuß zu reiben, ein Brauch, den niemand mit mir teilte. Ich konnte auch an keinem Münztelefon vorbeigehen, ohne den Hörer falsch herum aufzuhängen. Eine ungeheuer originelle und rebellische Aktion, glauben Sie mir.

Als Lee schließlich am Fuß des Oberen Campus anhielt und ich die Tür aufmachte, schlug mir eisige Kälte entgegen. Ich bezahlte, und er sagte, ich solle mich warmhalten – als wäre das eine Option, als wäre dies nicht der absolute Tiefpunkt des Winters, die ganze Welt in Eis und Salz gesperrt. Beim Anblick der Gebäude, die sich nicht verändert hatten, und des schmalen Kamms des White Mountain-Gipfels, der über der Baumgrenze im Osten aufragte, hätte man sich leicht einbilden können, dieser Ort sei mittels Tieftemperaturtechnik konserviert worden.

Fran hatte mir ihre Couch angeboten, aber so, wie sie es gesagt hatte – »also, da ist der Hund, und bei Jacob gibt’s nur Lautstärke elf, und Max schläft nach wie vor nicht durch« –, klang es eher nach einer Geste als einer echten Einladung. Deshalb hatte ich mich für eins der beiden Gäste-Apartments entschieden, direkt oberhalb der Schlucht in einem kleinen Haus, das früher die Geschäftsstelle des Internats gewesen war. Auf jeder Etage gab es ein Schlafzimmer und ein Bad, dazu im Erdgeschoss eine Küche zur gemeinsamen Nutzung. Wie ich feststellte, roch es im ganzen Haus nach Bleichmittel.

Ich packte aus, besorgt, dass ich nicht genügend Pullover dabeihatte, und musste, warum auch immer, an die Münztelefone in Granby denken.

Stellen Sie es sich vor (erinnern Sie sich) – ich mit fünfzehn, sechzehn, ganz in Schwarz gekleidet, selbst wenn ich nicht hinter der Bühne arbeitete, die zusammengeflickten Doc Martens, das dunkle, feine, mein Kohlkopfpuppengesicht rahmende Haar; ich, flanellbewehrt, mit dicken Lidstrichen, wie ich an einem Telefon vorbeikam, ohne hinzuschauen den Hörer abnahm, ihn umdrehte und falsch herum wieder einhängte.

So war es allerdings nur am Anfang; spätestens in der 9. Klasse konnte ich an keinem der Internatstelefone mehr vorbeigehen, ohne den Hörer abzunehmen, auf eine einzelne Taste zu drücken und zu lauschen – denn es gab mindestens eins, an dem man durch das Rauschen hindurch ein Gespräch mithören konnte. Das hatte ich entdeckt, als ich einmal vom Vorraum der Sporthalle aus in meinem Wohnheim angerufen hatte, um zu fragen, ob ich etwas später als 22 Uhr – unsere Ausgangssperrzeit – zurückkommen dürfe, doch nachdem ich die erste Taste gedrückt hatte, hörte ich die Stimme eines Jungen, gedämpft, halbe Lautstärke, der seiner Mutter von den Zwischenprüfungen erzählte. Sie fragte, ob er seine Allergiespritzen auch alle bekommen habe. Er klang weinerlich und heimwehkrank und wie zwölf, und ich brauchte eine Weile, bis ich seine Stimme erkannte: Es war Tim Busse, ein Hockeyspieler mit schlechter Haut und schöner Freundin. Er musste an einem Apparat in seinem Wohnheim telefonieren, auf der anderen Seite der Schlucht. Ich verstand nicht, welche Regeln der Telekommunikation das möglich machten, und als ich meinem Mann später einmal davon erzählte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Das gibt es nicht.« Ich fragte ihn, ob er glaube, dass ich log oder Stimmen gehört hatte. »Ich meine nur«, antwortete Jerome monoton, »dass es das nicht gibt.«

Ich stand wie gebannt im Vorraum der Sporthalle, wollte kein Wort verpassen. Aber irgendwann musste ich in meinem Wohnheim anrufen; ich bat die Aufsichtslehrerin um zehn Minuten zusätzlich, damit ich mir schnell noch das Geschichtsbuch holen könne, das ich in der Cafeteria hatte liegen lassen. Nein, sagte sie, das könne ich nicht. Ich hätte noch drei Minuten Zeit. Ich legte auf, nahm den Hörer wieder ab, drückte eine Taste. Da war immer noch Tim Busses Stimme. Zauberei. Er erzählte seiner Mutter, dass er in Physik durchfallen werde. Ich war überrascht. Und kannte jetzt ein Geheimnis von ihm. Ein geheimes Geheimnis, das er mir nicht hatte anvertrauen wollen.

Danach war ich stillschweigend in Tim Busse verknallt, dem ich vorher nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

In den darauffolgenden Monaten probierte ich jedes Münztelefon auf dem Schulgelände aus, aber es funktionierte nur bei dem in der Sporthalle und auch nur, wenn jemand im Barton Hall telefonierte (und dort vielleicht auch nur bei einem bestimmten Apparat).

Meistens hörte ich nichts als unverständliches Gemurmel. Einmal hörte ich jemanden Pizza bestellen. Manchmal sprach einer Koreanisch oder Spanisch oder Deutsch. Einmal hörte ich »Rhapsodie in Blue«, die Warteschleifenmusik von United Airlines. Gelegentlich bekam ich auch interessantere Dinge mit, Informationsbrocken, die ich für mich behielt. Ich wusste, dass jemand – ich fand nie heraus wer – über Pessach nach Hause fahren würde, sich aber weigerte, mit zu Tante Ellen zu kommen. Ich erfuhr, dass einer seine Freundin vermisste, nein, wirklich vermisste, wirklich, und nein, er habe keine andere, er liebe sie, warum sei sie so, sie solle aufhören, so zu sein, wisse sie denn nicht, wie sehr er sie vermisse?

Uns werden im Leben so selten Superkräfte zuteil. Aber das war meine. Ich konnte die Flure entlanglaufen und wusste Dinge, die niemand von den Barton-Hall-Jungs mir freiwillig erzählt hätte. Ich wusste, dass Jorge Cardenas, wenn er traurig war, nichts trank, weil man so zum Alkoholiker werde und er nicht so enden wolle wie sein Vater.

Es wäre praktisch gewesen, wenn ich eines Tages den Hörer abgenommen und etwas Nützliches erfahren hätte, etwas Belastendes. Zum Beispiel, wie jemand Thalia drohte. Oder etwas über Sie.

Aber es war nur Teil einer allgemeineren Angewohnheit: Ich sammelte Informationen über meine Mitschülerinnen und Mitschüler, so wie manche Menschen Zeitungen horten. Ich hoffte, es würde mir helfen, mehr wie sie zu sein und weniger wie ich selbst – weniger arm, weniger ahnungslos, weniger provinziell, weniger verwundbar.

Jeden Sommer nahm ich das Jahrbuch mit nach Hause und versah alle Fotos mit einem speziellen Code aus farbigen Haken: ob ich sie kannte, sie als Freund oder Freundin betrachtete, in sie verknallt war. Manchmal, in den unendlichen Tiefen der Sommerisolation, schlug ich die Vornamen ihrer Eltern im Internatsregister nach, nur um mich für eine Minute aus einem Zimmer, das ich hasste, aus einem Haus, das nicht meins war, aus einer Stadt, wo ich niemanden mehr kannte, hinauszubeamen.

Es macht mich nicht zu etwas Besonderem, und das wusste ich auch damals schon. Ich sage es nur zur Erklärung: Ich interessierte mich für Einzelheiten. Nicht weil ich sie kontrollieren, sondern weil ich sie besitzen konnte.

Und es gab so wenig, was mir gehörte.

3

Fran und Anne hatten mich zu einem späten Abendessen eingeladen, und so zog ich die Schneestiefel an, die ich mir für die Reise gekauft hatte, und machte mich auf den Weg über die Südbrücke zum Unteren Campus. Es war minus dreizehn Grad, der Schnee hart genug, um darauf zu laufen, ohne einzusinken. Ich fragte mich, ob ich jemandem begegnen würde, den ich kannte, aber anscheinend war ich das einzige lebende Wesen, das sich draußen aufhielt.

Meine letzten Besuche hatten sich immer auf bestimmte Teile des Internatsgeländes beschränkt. Ich war nicht über die Brücken gegangen, hatte kein Schulgebäude betreten. Die Dimensionen schienen jetzt nicht mehr zu stimmen; mein Gedächtnis und meine häufigen Träume von Granby hatten alles Zentimeter um Zentimeter verschoben. Die Statue von Samuel Granby stand zum Beispiel drei Meter weiter oben, als ich dachte. Ich ging dicht daran vorbei und berührte mit dem Handschuh ihren Fuß, um der alten Zeiten willen.

Als ich am Tag, nachdem ich die Einladung der Schule angenommen hatte, morgens aufwachte, dachte ich an die Hauptstraße des Ortes mit all ihren Geschäften, konnte mich aber an ihren Namen nicht erinnern, also googelte ich Granby Internat Karte.

Was ich abgesehen von der gesuchten Antwort (Crown Street!) fand, waren detaillierte Karten vom Internatsgelände, wie es im März 1995 gewesen war, Karten, in die diverse Leute gepunktete Linien eingezeichnet hatten, als grafische Darstellung ihrer Theorien zu den Wegen durch den Wald. Dass der Mord an Thalia die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen und gefesselt hatte, wusste ich ja, aber mir war nicht klar gewesen, wie viel Zeit die Leute tatsächlich darauf verwendeten.

Mich in den Kaninchenbau des Internets hinabzubegeben war nicht gut für meine geistige Gesundheit. (Nachdem ich mir in jener Nacht das Camelot-Video angeschaut hatte, war ich wachgeblieben und hatte Klassenmitglieder und Lehrkräfte sowie Fakten zum Tod durch Ertrinken gegoogelt und mir einen Teil der Dateline-Folge noch einmal angeschaut. Irgendwann wachte Jerome auf, sah meine Augen und brachte mich dazu aufzuhören, eine Erkältungstablette zu nehmen und den Vormittag im Bett zu verbringen.) Also gestattete ich mir jetzt nur eine Stunde, um die Karten zu studieren und zu lesen, was die Leute geschrieben hatten.

Bei dem Wort Kaninchenbau denkt man an Alice im Wunderland und daran, wie sie direkt dort hineinfiel, aber was ich meine, ist ein regelrechtes Kaninchenlabyrinth, mit endlosen, sich windenden Tunneln und Abzweigungen und all der damit einhergehenden Klaustrophobie. Es haute mich um, wie sehr diese Geschichte die Leute interessierte. Für sie war Thalia doch nur ein Gesicht aus ein paar oft geteilten Fotos: eher ein kaum skizziertes Leben als ein Mädchen, das nach Sunflowers-Parfüm roch, dessen Lachen wie ein Schluckauf klang und das sich aufs Bett schmiss wie eine Handgranate.

Aber ich muss zugeben, dass ich mich auch schon so für Leute interessiert habe, die ich gar nicht kenne. Ich interessiere mich für Judy Garland und Natalie Wood und die Schwarze Dahlie. Ich interessiere mich für die Lacrosse-Spielerin, die von ihrem Ex an der Uni von Virginia ermordet wurde, und für das Mädchen, dessen Freund an jenem Tag definitiv nicht bei LensCrafters gearbeitet hatte, und für die Highschool-Schülerin, die im Hinterhof ihres Freundes in Shaker Heights umgebracht wurde, während alle schliefen, und für die arme Martha Mosley und für die Frau im Hotelaufzug, und für die einzige Schwarze auf der Weinparty weißer Damen, die nachher tot auf dem Rasen lag, und für die Frau, die von ihrem berühmten Freund durch die Badezimmertür erschossen wurde, weil er sie für einen Einbrecher gehalten habe, wie er behauptete. Ich habe eine Meinung zu ihrem Tod, eine Meinung, die mir nicht zusteht. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig dabei zumute, dass diese Frauen zum Gemeingut geworden sind, der kollektiven Fantasie ausgeliefert. Dass die Frauen, mit deren Tod ich mich beschäftige, zumeist schön und reich waren. Dass die meisten jung waren, wie uns Opferlämmer am liebsten sind. Dass ich mit dieser Fixierung nicht allein bin.

Dank Frans und Annes vereinter Seniorität waren sie von ihrem Apartment in den Gemeinschaftsgebäuden zu einem Haus avanciert, einem der drei alten Steinhäuser unten beim Haupteingang. Etwas schuldbewusst klingelte ich mit leeren Händen – ich hatte vergessen, Lee beim Weinladen anhalten zu lassen –, aber es war ihr Sohn Jacob, der an die Tür kam und den Golden Retriever meine Beine mit blauen Flecken versehen und auf meine Jeans sabbern ließ.

Ich hoffe, Sie erinnern sich an Fran, denn an Fran sollte man sich erinnern. Fran Hoffnung – jetzt allerdings Hoffbart, sie und ihre Frau haben ihre Nachnamen zusammengefügt. Zumindest an die Hoffnungs werden Sie sich wohl erinnern: Deb Hoffnung gab Englisch, Sam Hoffnung Mathe, und Fran und ihre drei älteren Schwestern wuchsen in der Wohnung auf, die vorne ans Singer-Baird angebaut war, das Mädchen-Wohnheim mit dem komischen steilen Dach. Sie war die mit der lauten Stimme, die die Lip-Sync-Wettkämpfe moderierte und sich die Haare immer pink oder lila tönte. Heute sind sie braun mit grauen Strähnen, was bei ihr genauso cool aussieht wie früher das Pink.

Nachdem ich seine Mütter umarmt hatte, wollte Jacob unbedingt, dass ich ihren Weihnachtsbaum bestaunte, den sie noch stehen gelassen hatten – große, altmodische bunte Glühbirnen und ein paar spärliche Anhänger aus Frans und Annes Kindheit: eine bemalte Snoopy-Hundehütte, eine kleine Silbertasse mit Annes Namen, eine gestickte Eule. Und als offensichtlich neuere Anschaffung eine Ruth-Bader-Ginsburg-Figur mit Spitzenkragen.

Jacob, den ich als rotgesichtigen Neugeborenen mit Koliken kennengelernt hatte, war inzwischen fast fünf und hatte einen kleinen Bruder, den ich bisher nur online gesehen hatte, einen Zweijährigen, der immer wieder angestakst kam, um seine Eisenbahn an meinem Bein herunterzuschieben, bis Anne beide Jungs mit PAW Patrol auf dem iPad bestach. Anne machte uns vegetarische Tacos. Ich aß mehr als sonst, weil Fran immer befürchtete, ich äße nicht genug. Fran mixte einen Krug Margaritas, und wir hörten Bob Marley, was nicht zum Essen passte, aber schöne Gefühle weckte. Fran kam nicht darüber hinweg, dass ich just in dem Moment aus L. A. eingetroffen war, als die Kälte hier ihren Höhepunkt erreicht hatte. »Du wirst so sauer auf mich sein«, sagte sie. »Ich werde zerfließen vor schlechtem Gewissen.«

»Und sofort gefrieren. Zu einer kleinen Eisbahn des schlechten Gewissens.«

Anne fragte, ob ich zusätzliche Socken brauchte, zusätzliche Decken, zusätzliche Irgendwas.

»Vielleicht ein paar Pullover?«, sagte ich. »Ich habe vergessen, dass es auch drinnen so kalt wird.«

Anne flitzte los und kam mit einer ganzen wiederverwendbaren Einkaufstüte voller Pullover und Sweatshirts zurück, plus einer grün-goldenen Granby-Schlafanzughose.

Fran selbst war für das Minimester freigestellt; sie hatte drei Jahre hintereinander ihren Kurs über den Vietnamkrieg unterrichtet und durfte sich jetzt ihrer »beruflichen Weiterentwicklung« widmen, also Bücher lesen, alte Mails beantworten und mit mir trinken. »Wir müssen ja nicht jeden Abend zusammenhocken«, sagte sie, »aber wenn du nicht zu uns kommst, gehe ich davon aus, dass du in deiner Gästesuite liegst, trostlose Hetero-Pornos guckst und über die Arbeit nachdenkst.« Fran hatte mittwochabends Wohnheimaufsicht, aber »an allen anderen Abenden«, sagte sie, »machen wir Party, als wär’s 1995.«

»Mit Zima und SnackWell’s-Keksen?«

»Ich dachte eher ans Sassy-Magazin und lauwarmes Natty Light.«

»Ich muss ja Arbeiten korrigieren«, sagte ich, aber Fran wusste, dass sie mich nicht zu überreden brauchte.

»Wenigstens jeden zweiten Abend. Und Freitag findet eine Party statt, da musst du kommen. Alle wollen dich kennenlernen. Wir nennen sie Midi-Mini, weil, du weißt schon, Hälfte des Minimesters geschafft.«

»Wortspielen können wir hier einfach nicht widerstehen«, sagte Anne.

Anne hatte lange blonde Locken und eine Läuferinnenfigur, gegen die Fran geradezu plump wirkte. Sie trainierte im Herbst mit den Jungs und Mädchen Geländelauf, im Frühling Leichtathletik und war für Fran ganz allgemein die perfekte Kombination aus Zuschauerin, Stichwortgeberin und Managerin. Wenn eine Idee für eine Party gebraucht wurde, hatte Fran gleich zwanzig. Wenn jemand gebraucht wurde, der die Pizzen bestellte, das Eis kaufte und das Wohnzimmer putzte, während Fran die Playlist machte, war das Anne. Sie hatten sich hier in Granby kennengelernt. Anne hatte im Zulassungsbüro angefangen, während Fran ihr kurzes Leben außerhalb der Internatswelt führte. Als sie zurückkam, wurden sie Freundinnen, wehrten sich gegen alle Versuche, sie zu verkuppeln, klagten gemeinsam über die Unmöglichkeit, irgendwen kennenzulernen. Dann fuhren sie über ein langes Wochenende zusammen nach Boston und kamen als Liebespaar zurück.

Und nun war Anne diejenige, die die Jungs ins Bett scheuchte und ihnen sagte, wenn sie still seien, müssten sie nicht baden, während Fran sich über den Tisch lehnte und – als hätten wir nur darauf gewartet, dass ihre Frau den Raum verließ – zu mir sagte: »Erzähl mir alles.«

Sie meinte alles über Jerome, weil ich in unserem Mailwechsel ein paar Wochen davor erwähnt hatte, dass Jerome ausgezogen war und jetzt ein Haus weiter wohnte. Und nun wollte Fran alle Details von mir hören, einschließlich einer Erklärung dafür, dass ich es ihr nicht früher erzählt hatte. »Wir sind ja noch verheiratet«, sagte ich. »Es ist nur nicht das, was unsere Großeltern als Ehe bezeichnet hätten.« Es war schleichend passiert, nichts, was man in den sozialen Medien verkündete oder alten Freundinnen schrieb.

»Wir hatten eine schwierige Phase«, sagte ich, ohne hinzuzufügen, dass diese Phase zwei Jahre zurücklag, als die Kinder fünf und drei waren und ihre lautstarke Allgegenwart den Stress noch vergrößert hatte. Irgendwann war alles, was ich zu Jerome sagte, falsch oder kam im falschen Ton heraus. Alles, was er zu mir sagte, war noch schlimmer. Wir waren nach und nach allergisch aufeinander geworden und merkten schließlich, dass wir beide an einen Menschen gekettet waren, der unseren Anblick kaum mehr ertrug. »Und ungefähr zur gleichen Zeit«, erzählte ich ihr, »kam Jeromes Mutter ins Hospiz. Sie wohnte damals in der anderen Hälfte unseres Doppelhauses, also zog er rüber.« Er ist Maler, und so hatte die Entscheidung auch einen praktischen Aspekt: Er konnte das zweite Schlafzimmer als Atelier nutzen und brauchte keine Miete mehr für sein Atelier in Downtown zu zahlen. Aus steuerlichen Gründen, Zweckmäßigkeit und offen gesagt auch schierer Faulheit blieben wir verheiratet, behielten beide dieselbe Adresse. Die Kinder konnten mal hier und mal dort sein, dachten wir, aber am Ende war es Jerome, der mal hier und mal dort war, und so schlief er zum Beispiel, während ich in Granby war, in meinem Bett, das unser altes Bett war, wo er gelegentlich auch dann schlief, wenn ich dort lag, denn er war gut im Bett, und jetzt, da wir uns nicht mehr den ganzen Tag sahen, hassten wir uns auch nicht mehr. Im Gegenteil, er bedeutete mir ungeheuer viel: Ich war ihm dankbar, wenn er die Kinder nahm, wehmütig, wenn wir miteinander schliefen, verwirrt von seinem Dating-Leben, zu gleichen Teilen geschmeichelt, abgestoßen und besitzergreifend, wenn er mich um Rat in Liebesfragen bat. Ich fand jede Frau, die er datete, grenzwertig verrückt und wusste nicht, ob das an ihm oder an mir lag.

Fran sagte: »Also, es ist ja toll, wie du an Menschen festhältst, die dir mal was bedeutet haben, aber dass er trotz eurer Trennung immer noch bei dir im Haus wohnt, finde ich höchst amüsant.«

»Na ja, nebenan.«

»Das heißt also«, sagte sie, »du bist single?«

»Im Grunde ja. Verheiratet, aber single.«

»Witzig, dass meine Ehe traditioneller ist als deine.«

Ich hatte ihr nichts von Yahav erzählt, vielleicht, weil ich es nicht beschreien wollte. Yahav war sprunghaft und unberechenbar, ein hübsches israelisches Karnickel, dem es genauso zuzutrauen war, geradewegs zu mir gehoppelt zu kommen wie für immer im Wald zu verschwinden. Am Nachmittag, noch am Flughafen, hatte ich ihm geschrieben: Bin wie angedroht in New England eingefallen. Er hatte mir als Antwort nur ein Ausrufezeichen geschickt.

Als ich mich von Jerome trennte, schlief ich noch nicht mit Yahav, aber seine Freundschaft half mir damals zu erkennen, dass nicht jeder mich satthatte, nicht jeder mich für das Wetter verantwortlich machte. Yahav hatte riesengroße warme Hände und einen dichten dunklen Stoppelbart, der Kinn und Hals verschluckte, mehr Dunkelheit als Licht, mehr Nachthimmel als Sterne.

Anne kam zurück, wir schenkten uns nach, und der Abend wurde zu einer Art rückwirkender Klatsch-und-Tratsch-Session. (Moment, erinnerst du dich an Dani Michalek? Weißt du noch, wie sie versucht hat, sich selbst die Nase zu piercen, die sich dann so krass entzündet hat? Ach ja, und dann musste sie doch für einen Monat nach Hause. Ich hatte sie als Laborpartnerin und hab nichts gemacht. Sie hat mich gehasst. Ich sie auch. Was ist wohl aus ihr geworden? Hab ich dir das nicht erzählt? Sie ist evangelische Pfarrerin!)

Annes anspornendes Gelächter, ihre verblüfften Nachfragen, stachelten uns an. Wenn sie nicht dagewesen wäre, hätten wir vielleicht gesagt: »Weißt du noch, der Kurt-Schrein?« und es dabei bewenden lassen. Aber für sie (und eigentlich füreinander) beschrieben wir den aufwändigen Schrein, den wir als Neuntklässlerinnen im Wald für Kurt Cobain errichtet hatten und den wir von dem Tag an, als er wegen einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wurde (Anfang März, weshalb wir dicke Handschuhe trugen, wenn wir die aus den Zeitschriften ausgeschnittenen Fotos an gefrorene Bäume hefteten) bis zu seinem Suizid im April hegten und pflegten. Inzwischen wussten auch andere von dem Schrein, und am Tag, nachdem sein Leichnam entdeckt worden war, fanden Fran und ich an den Bäumen etliche Botschaften vor, weitere Fotos aus Zeitschriften, ein Luftballonherz und etwas, das wie eine vom Frühlingsball übriggebliebene Korsage aussah.

»Wir waren so wahnsinnig in ihn verliebt«, sagte ich. Dann fiel mir ein, dass das in Frans Fall wahrscheinlich gar nicht stimmte. »Also, ich jedenfalls.«

»Oh, ich habe ihn geliebt«, sagte Fran. Sie war betrunkener als ich. »Aber verliebt war ich in Courtney. Kurt war mein Alibi.«

Zum Nachtisch gab es karamellisierte Bananen mit Vanilleeis – Anne war nüchtern genug, um noch am Herd zu hantieren und unsere Forderung, sie solle die Bananen anzünden, zu ignorieren –, und je mehr wir uns in geheimnisvollen Details ergingen und je weniger die geduldig bleibende Anne verstand, desto komischer fanden wir alles.

In Frans Gegenwart war ich so witzig wie sonst nie, jedenfalls fand sie mich witzig. Wir hatten uns im ersten Schuljahr in Weltgeschichte kennengelernt und anfangs nicht miteinander gesprochen, sondern uns nur aus Faulheit meist nebeneinander gesetzt. Den September über hatte ich mich so durchgewurstelt, an der Ecke eines langen Tisches mit lauter Neuen gegessen, zugesehen, wie sie sich in Cliquen aufteilten, und gewusst, dass ich bald allein dastehen würde. Es gab einen Jungen namens Benjamin Scott, der sich schon früh als Genie unseres Jahrgangs etabliert hatte – ein großer Blonder, der nach dem Erwerb von ein paar Doktortiteln in Granby gelandet zu sein schien, so oft, wie er auf Bücher Bezug nahm, die keiner von uns kannte. Irgendwer musste im Unterricht einen Witz darüber gemacht haben, wie es wäre, wenn Benjamin umgebracht werden oder sterben würde, denn ich weiß noch, dass ich sagte: »Wenn du stirbst, kann ich dann deine Noten haben?« Fran war die Einzige, die es gehört hatte. Sie kicherte, sah sich um und sagte laut: »Genau, Benji, wenn du stirbst, kann ich dann deine Noten haben?« Und (ein Wunder!) die ganze Klasse warf sich weg vor Lachen. Sogar Benjamin Scott lachte verlegen. Nach dem Unterricht kam Fran im Flur hinter mir hergelaufen. »Sei mir nicht böse«, sagte sie. »Die Pointe war zu gut, um sie zu verschenken.«

Von da an sorgte ich dafür, dass Fran alle meine geflüsterten Bemerkungen hörte, Sachen, die ich normalerweise gar nicht ausgesprochen hätte. Sie wiederholte sie nicht mehr, grinste aber oder tarnte ihr Gelächter mit Husten. Da Fran das einzige Linkshänderpult im Raum für sich beansprucht hatte, grenzten unsere Schreibflächen aneinander, sodass wir uns Nachrichten nicht hin und her zu reichen brauchten, sondern sie einfach an den Rand unserer Hefte schreiben konnten.

Wo kommst du überhaupt her?, schrieb sie einmal, und ich antwortete West Bumblefuck, was wir damals originell genug fanden, um in Gelächter auszubrechen. Niemand hatte mich je für besonders witzig gehalten. Es war berauschend.

Fran war in einem anderen Mittagessensblock als ich, wohnte bei ihren Eltern und nicht im Wohnheim und spielte Feldhockey, während ich ruderte, und so dauerte es eine Weile, bis wir außerhalb des Unterrichts Freundinnen wurden. Dann allerdings fühlte es sich ganz natürlich an. Wir konnten ja schon die Handschrift der anderen lesen. Sie kam zu mir ins Wohnheim, und wir lernten zusammen für die Geschichtsklausur und danach auch für andere Prüfungen. Irgendwann schrie sie los, weil ich nicht wusste, wer die Pixies waren, und von da an waren wir beste Freundinnen.

Während der gesamten Granby-Zeit war keine von uns je mit irgendwem zusammen – Fran, weil sie sich noch nicht geoutet hatte und dachte, sie sei die einzige Lesbe in New Hampshire; und ich, weil ich fast pathologisch vor dem Risiko zurückscheute, an einem Ort, wo ich mich sowieso schon nur am Rand festklammerte, abgewiesen oder gedemütigt zu werden. Es war entscheidend für mich, dass Granby unverdorben blieb. Die schlimmen Dinge passierten in Indiana; in Granby durfte ich mich von nichts verletzen lassen. Sobald mir in New Hampshire jemand das Herz bräche, würde hier alles anfangen zu bröckeln. Im Sommer, zu Hause, ging ich mit ein paar Jungs. Aber nicht in Granby, noch nicht mal für einen Ball. Fran scharte ein paar Leute für Homecoming um sich, eine Phalanx der Begleitungslosen, und ich schloss mich ihnen an und trug Chucks zu meinem Kleid, damit jeder wusste, dass ich es nicht ernstnahm. Da wir beide nie liiert waren, gab es bei uns nicht diese Monate der Trennung, in denen die Eine immer nur mit ihrem Freund (oder ihrer Freundin) zu Mittag aß. Wenn Fran und ich uns miteinander zu langweilen begannen, holten wir einfach noch jemanden dazu. Carlotta French, Geoff Richler oder eine polnische Schülerin namens Blanka, die uns während ihres kompletten Semesters in den USA nicht von der Seite wich.

An jenem Abend nun fingen wir aus irgendeinem Grund an, die Leute aufzuzählen, die seit der Schulzeit gestorben waren. Wir taten das nicht mit der gebotenen Würde – aber Sie müssen bedenken, dass wir betrunken waren und in Erinnerungen schwelgten, da gehörte das irgendwie dazu.

Zach Huber, ein Jahr über uns, stürzte im Irak mit dem Hubschrauber ab. Puja Sharma, die ein paar Wochen vor dem Highschool-Abschluss aus Granby flüchtete, starb zwei Jahre später in ihrem Zimmer am Sarah Lawrence College an einer Überdosis. Kellan TenEyck war erst im vergangenen Frühjahr in seinem Auto auf dem Grund eines Sees gefunden worden. Er war geschieden und alkoholabhängig und hatte insgesamt ein schreckliches Leben gehabt. In Granby hatte er so heiter gewirkt, so unauffällig. Er hatte rote Haare, die ihm ins Gesicht fielen, wenn er dem Lacrosse-Ball hinterherrannte.

Wir hatten acht Tote gezählt, als Fran sagte: »Aber drei allein im letzten Schuljahr, das ist sicher der Rekord.«

»Außer vielleicht im Zweiten Weltkrieg oder so«, sagte ich. Aber da dachte ich ans College. Schüler zogen nicht in den Krieg. Vielleicht wollte ich das Thema wechseln. Ich hatte Fran bisher nicht erzählt, wie viel ich in letzter Zeit an Thalia dachte, wie gegenwärtig ihr Tod mir wieder geworden war, seit ich jede Woche für meinen Podcast über tote und entrechtete Frauen im frühen Hollywood sprach, über ein System, das Frauen entsorgte wie alte Filmkulissen: Man entledigte sich ihres Leichnams, wie Granby sich von dem Schlamassel distanzierte und der Mord an ihr sie zum Gemeineigentum gemacht hatte.

»Moment«, sagte Anne. Sie stand schon an der Spüle und wusch ab. »Drei sind gestorben, aus der ganzen Schule oder nur aus eurem Jahrgang?«

Nur aus unserem Jahrgang, bestätigten wir. »Und es gab auch keine anderen Toten in anderen Jahrgängen«, fügte Fran hinzu. »Drei sind gestorben, und sie waren alle in unserer Klasse.«

»Drei von wie vielen, hundertzwanzig? Das ist ja absurd.«

»Zwei davon gemeinsam«, sagte ich, »nur einen Monat vor dem Abschluss. Zwei Jungs, die nach Quebec raufgefahren waren, um zu trinken, sind auf dem Rückweg von der Straße abgekommen. Und natürlich Thalia Keith, ein paar Monate davor.«

»Meine Güte«, sagte Anne. »Von Thalia wusste ich, aber von den anderen nicht. Was für ein Jahrgang.«

»Die Abschlussfeier war schräg«, sagte ich. Und aus irgendeinem Grund fanden Fran und ich das wahnsinnig komisch und konnten uns nicht mehr halten vor Lachen, während Anne mit der seifigen Spülbürste in der Hand neben uns stand.

4

Die Lichter vom Kirchturm der Alten Kapelle schufen auf dem verschneiten Schulhof lange geometrische Formen – das Gegenteil von Schatten. Es sah so schön aus, dass ich es vermied, darauf zu treten. Möglich, dass der Tequila meine Wertschätzung steigerte.

Ich konnte mich nicht erinnern, als Schülerin derart von Schnee verzaubert gewesen zu sein, allerdings war mir auch vor allem im Gedächtnis geblieben, wie kalt es hier im Winter gewesen war, so dermaßen kalt. Beim Betrachten des Prospekts hatte ich gedacht, dass all die Fotos vom Skiteam und Schneeschuhwandern Eindruck schinden sollten. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass es irgendwo tatsächlich so viel kälter sein konnte als in Indiana. Mir war nicht klar gewesen, dass diejenigen, die Skifahren konnten, das Internat beherrschten, als machte diese zusätzliche Fortbewegungsart sie zu Angehörigen einer überlegenen Spezies. Und ich hatte noch nicht begriffen, wie dünn meine Socken waren, wie unzulänglich meine gebrauchten Mäntel.

Ich kam am Couchman vorbei, damals das finsterste, schäbigste Wohnheim, aber es musste kürzlich renoviert worden sein. Die Steine sahen im Flutlicht verblüffend sauber aus, die Feuertreppe wirkte neu und elegant. Am Anfang meines ersten Jahrs hatte ich hier häufig auf der alten, rostigen Treppe gesessen, um die Nachmittagssonne zu genießen und in Ruhe zu lernen. Vielleicht war es merkwürdig, auf dem Fortsatz eines Jungen-Wohnheims zu hocken, aber damals erschien es mir logisch. Hier hatte Dorian Culler mir später in jenem Herbst aus dem Fenster zugerufen, ob ich da säße, um ihn zu stalken. Er fand das derart witzig, dass es die nächsten dreieinhalb Jahre lang das Leitmotiv aller unserer Interaktionen war. Vor seinen Freunden sagte er solche Sachen wie: »Bodie, ich hab deinen Brief bekommen, aber der war echt schräg. Jungs, sie hat mir über zehn Seiten lang geschrieben, wie sehr es sie nach meinem Mannesfleisch verlangt. Ihr Wort, nicht meins. Bodie, du musst dich wieder einkriegen.« Unnötig zu sagen, dass ich nie irgendwas getan hatte, außer unfreiwillig ein paar Mal in Französisch mit Dorian zusammenzuarbeiten. Oder er sagte: »Bodie, dass du unserer Familie nach London hinterhergereist bist, war nicht okay. Lieg ich da in meinem Hotelbett und hör auf einmal so ein Stöhnen unter mir, und es riecht irgendwie so nach Thunfisch, und da liegt Bodie unterm Bett und vergnügt sich mit sich selbst.«

Es war die Art von Scherz, die keinen Raum für eine Entgegnung ließ. Ich kapierte nie, ob er mit mir zu flirten glaubte, oder ob ich auf der Sozialskala so weit unter ihm stand, dass es der pure Hohn war. Einmal versuchte ich mitzuspielen: »Ja, ich bin durch dein Fenster eingestiegen; ich wollte dich fragen, ob du mich zum Frühlingsball begleitest, und wenn du nicht ja sagst, sterbe ich« – aber er lachte nur noch lauter und sagte zu seinen Freunden: »Seht ihr? Ich sollte sie anzeigen! Mensch, Bodie, das ist sexuelle Belästigung, wie sie im Buche steht.«

Ich hatte die Südbrücke etwa zur Hälfte überquert, als ich ausrutschte, ins Stolpern geriet und mich schon mit dem Kinn aufs Eis knallen sah – stattdessen fiel ich hart auf Ellbogen und Unterarme und lag ein paar Sekunden lang mit dem Gesicht nach unten da, benommen, durchgerüttelt. Seltsamerweise fühlte ich mich gedemütigt, obwohl niemand es gesehen hatte. Außer all den Gespenstern meiner Jugend.

Es setzte mir noch aus einem anderen Grund zu, einem dummen Grund: Ich hatte unverwundbar nach Granby zurückkehren wollen. Die fünfzehnjährige Bodie mochte auf dem Eis gestürzt sein, mochte zerbrechlich sein oder gar zerbrochen, mochte sich eines Nachts beim Kurt-Schrein in den Schlaf getrunken haben und halb erfroren aufgewacht sein, tief erschrocken, weil sie hätte sterben können, nicht ganz sicher, ob das nicht sogar ihre Absicht gewesen war. Aber die vierzigjährige Bodie hatte sich doch im Griff, hatte ihren Körper und Geist seit langem unter Kontrolle. Und hier erhob sich nun der harte, kalte Boden gegen mich, um mir zu zeigen, wie leicht man ausrutschen konnte.

Danach war ich vorsichtiger. Ich musste mich, die verwöhnte Frau aus L. A., ermahnen, die Füße zu belasten und das Gewicht leicht nach vorne zu verlagern. Ich schaltete mein Handylicht ein und achtete auf Glatteisstellen.

Als ich die Tür zum Gästehaus öffnete, traf ich auf den Mann, der sich im Erdgeschossapartment einquartiert hatte – ein junger Mensch in Skinny-Jeans. Er war nach einem verspäteten Flug aus Newark gerade angekommen und würde hier zwei Wochen lang Webdesign unterrichten. Er bot mir ein Bier an; ich nahm stattdessen Wasser und eine der Orangen aus dem Obstkorb, den man uns als kleine Aufmerksamkeit hingestellt hatte.

So was wie dieses Internat habe er noch nie gesehen, sagte er. Er fragte mich, ob die Kids hier alle Genies seien oder was.

»Sie sind intelligent«, sagte ich, dankbar, dass er nicht gefragt hatte, ob sie alle reiche Waisen seien, »aber es sind normale Teenager. Ein paar kommen aus anderen Staaten. Einige aus Gegenden in den USA, wo die Schulen nicht besonders gut sind. Viele, deren Eltern selbst schon auf dem Internat waren, für die gehört sich das einfach so.«

Der Mann, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte, blinzelte. Er hielt sein Craftbeer vor der Brust umklammert.

Früher, wenn ich über die Ferien zu Hause war, hatte ich meinen Freundinnen und Freunden in Broad Run Granby oft zu beschreiben versucht. Das Schlimmste, was ich tun konnte, war, es nobel erscheinen zu lassen, also stellte ich es, ohne mir dessen bewusst zu sein, eher wie eine Strafanstalt dar. Nicht wenige glaubten, ich wäre gegen meinen Willen dort hingeschickt worden.

»Stellen Sie es sich wie ein kleines geisteswissenschaftliches College vor, nur für Jüngere. Oder wie – gab es auf Ihrer Schule Begabtenkurse? Tun Sie so, als gäb’s hier nur Begabtenkurse.«

»Bloß im Wald«, sagte er und lächelte schwach. »Begabtenkurse im Wald.«

Zu meiner Zeit hatten wir keine Minimester, erzählte ich ihm; wenn wir aus den Ferien kamen, war es direkt mit Mathe, Verbkonjugationen und pH-Werten weitergegangen. Wer jetzt hier zur Schule ging lernte was über Winterwaldwirtschaft, Textilkunde, Abnormale Psychologie, Shakespeare-Monologe, die Geschichte des Rap.

Skinny-Jeans schüttelte den Kopf. »In meiner Schule konnte man noch nicht mal zwischen zwei Fremdsprachen wählen. Alle hatten Spanisch. Sogar die Puerto-Ricaner.«

Ich lachte. »Über eine leicht verdiente gute Note freut sich doch jeder.«

Es stimmte schon, wenn ich sagte, dass meine Gefühle in Bezug auf Granby ambivalent waren, dass ich dort eine schwere Zeit gehabt hatte – aber ich wurde allmählich etwas nüchterner und spürte das vertraute Bedürfnis, Granby ein wenig in Schutz nehmen, zu beweisen, dass es kein ganz und gar elitäres Internat war und auch ich nicht als elitär beargwöhnt werden musste. Also sagte ich jetzt, was ich in solchen Situationen immer sage: »Es ist eine fantastische Schule. Dass ich dank eines Stipendiums hierherkommen konnte, hat mein Leben verändert.« Man beachte meine wohlüberlegte Wortwahl – wie ich einfließen ließ, dass Reichtum mit Sicherheit nicht zu den Privilegien gehörte, die ich im Leben gehabt hatte. Das mit dem Stipendium war gelogen, aber nur, wenn man’s ganz genau nahm.