»Ich hätte dir noch so viel zu erzählen« - Annette Kolb - E-Book

»Ich hätte dir noch so viel zu erzählen« E-Book

Annette Kolb

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Beschreibung

Annette Kolb ist bekannt als Romanautorin, als Kämpferin für die deutsch-französische Verständigung und als Verfasserin von Musikerbiographien. Sie war aber auch eine versierte Briefschreiberin, die mit zahlreichen bedeutenden Zeitgenossen im Austausch stand. Unter den Briefpartnern finden sich Rilke, Hesse und René Schickele, Thomas, Erika und Klaus Mann, Carl Jacob Burckhardt, Hermann Kesten, Dorothy Thompson und viele mehr. Diese Auswahlausgabe zeigt Annette Kolb als kritische Zeitzeugin, scharfzüngige Kommentatorin und als großherzige Freundin. Ergänzt durch sachkundige Erläuterungen, bieten diese Briefe ein ebenso persönliches wie vergnügliches Porträt einer außergewöhnlichen Autorin und einer ganzen Epoche.

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Seitenzahl: 356

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Annette Kolb

»Ich hätte dir noch so viel zu erzählen«

Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller

Cornelia Michél | Albert M. Debrunner

FISCHER E-Books

Vorwort

Annette Kolb war im Laufe ihres fast hundert Jahre währenden Lebens äußerst produktiv. Neben zahlreichen Feuilletonartikeln, literarischen Aufsätzen und zwei Musikerbiographien schrieb sie drei Romane, die stark autobiographisch geprägt sind. Letztere werden bis heute immer wieder neu aufgelegt. Ihre Essays, Erzählungen und vieles mehr findet man antiquarisch oder in der 2018 erschienenen kommentierten Werkausgabe. Als Autorin ins öffentliche Bewusstsein trat Annette Kolb mit ihrem Buch Briefe einer Deutsch-Französin, das bei seinem Erscheinen mitten im Ersten Weltkrieg einen Skandal auslöste. Die Verfasserin wurde vom Bayerischen Kriegsministerium zunächst mit einer Reise- und Briefsperre belegt, konnte dann aber in die Schweiz ins Exil gehen. So stehen Briefe am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere. Dennoch sind die Briefe Annette Kolbs bis heute nur interessierten Fachleuten bekannt. Diese sind sich indes einig, dass Annette Kolbs Briefe es ebenso verdienten, gelesen zu werden, wie ihre Romane.

Bis jetzt ist nur ein kleiner Teil von Annette Kolbs Korrespondenz veröffentlicht worden. Vorliegendes Buch versammelt zum ersten Mal Briefe aus mehreren Jahrzehnten und an verschiedenste Adressaten. Die Briefe bieten sowohl Einblick in Annette Kolbs Leben als auch in eine ganze literarische Epoche, tauschte sie sich doch mit vielen heute noch berühmten oder einst wohlbekannten, aber mittlerweile in Vergessenheit geratenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus. Die Liste der in diesem Band vertretenen Korrespondenzpartner ist ein wahres Who is Who der Literaturgeschichte zwischen 1900 und 1970. Annette Kolb schrieb an Elazar Benyoëtz, Franz Blei, Carl Jacob Burckhardt, Gerhart Hauptmann, Wilhelm Hausenstein, Hermann Hesse, Alfred Walther Heymel, Hermann Kasack, Erich Kästner, Hermann Kesten, Erika, Klaus und Thomas Mann, Werner Richter, Rainer Maria Rilke, Romain Rolland, Max Rychner, Thea Sternheim, Dorothy Thompson, Kurt Tucholsky, Theodora Von der Mühll, Werner Vordtriede, Julius Zeitler, Berta Zuckerkandl und Carl Zuckmayer. Liest man die Briefe Annette Kolbs, nimmt man Teil am privaten und öffentlichen, kulturellen und politischen Alltag mehrerer Autorengenerationen. So entsteht ein einzigartiges Bild der literarischen Welt des 20. Jahrhunderts, gesehen mit den Augen einer Frau, die ein Teil von ihr war, jedoch trotz aller Liebe zu dieser Welt stets unabhängig und kritisch blieb. So steht Spott neben Begeisterung und analytischer Verstand neben Leidenschaft. Annette Kolb war eine Femme de lettres durch und durch. Die Lektüre ihrer Briefe ist nicht nur instruktiv, sondern ein ausgesprochenes Vergnügen.

La Belle Epoque – 1914

2. Annette Kolb und Franz Blei

Die drei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg werden gemeinhin als die Belle Epoque, die schöne Zeit, bezeichnet, und im Rückblick auf die untergegangene Welt von Gestern,[1] wie Stefan Zweig sie nannte, mag es vielen so vorgekommen sein, als wäre sie tatsächlich schöner und besser als die der Gegenwart gewesen. Annette Kolb war und blieb in vielerlei Hinsicht ein Kind der Belle Epoque, obschon sie diese durchaus kritisch sah und keineswegs verklärte. So verschloss sie weder die Augen vor dem grassierenden sozialen Elend noch verkannte sie die Gefahr, die von den unheilvollen politischen Veränderungen in Europa und weltweit ausging. Sie wusste um die Drohung eines kommenden Krieges, den sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern wollte. Sie war überzeugt davon, die richtige Gesinnung zu haben, und wollte sich Gehör verschaffen, in der Hoffnung, Gleichgesinnte zur Tat und Andersdenkende zum Umdenken zu bewegen. Enttäuscht musste sie feststellen, dass nur wenige ihre pazifistischen Ansichten teilten oder zumindest nachvollziehen konnten. Umso wichtiger wurden für sie die Menschen, mit denen sie sich geistig und seelisch verbunden wusste. Diese wenigen unterstützten sie bei ihrer Arbeit, ihrem Bemühen, die Katastrophe abwenden zu helfen, doch sie standen ebenso auf verlorenem Posten wie Annette Kolb.

Annette Kolbs erste Veröffentlichung 1888 war ein Artikel in einer Münchner Tageszeitung. Thema des Artikels war die erbärmliche Lage eines Steinadlers in einem privaten Zoo, den sie besucht hatte. Der Steinadler fristete ein elendes Dasein in einem zu engen Käfig und geriet Annette Kolb zum Sinnbild unterdrückter Freiheit und Lebensfreude. Der Artikel hatte den gewünschten Effekt, denn die Zoobesitzer beeilten sich, die Lage des gequälten Tieres zu verbessern, um sich nicht dem geschäftsschädigenden Zorn des Publikums ausgesetzt zu sehen. Die erst achtzehnjährige Annette Kolb war von da an überzeugt, dass Schreiben etwas bewirken, etwas verändern kann, dass Schreiben Handeln bedeutet.

Annette Kolbs Schreiben bewirkte nach ihrem ersten journalistischen Erfolg erst einmal gar nichts. Im Gegenteil, kein Mensch interessierte sich für ihre Texte, und selbst gute Freunde rieten ihr, das Schreiben zu lassen.[2] Sie ließ es nicht. Tag für Tag ging sie ins Café Fahrig am Karlstor und schrieb.[3] So entstand mit der Zeit eine Vielzahl von Texten, von denen sie 1899 unter dem Titel Kurze Aufsätze eine Auswahl im Eigenverlag herausgab. Das Sammelsurium war ein einziger Flop und brachte ihr statt Ruhm vor allem Spott ein. Niemand hatte auf dieses Buch gewartet, keiner kaufte es, noch schlimmer, kaum jemand las es. Doch Annette Kolb blieb überzeugt: »Ich habe etwas zu sagen. Was ich zu sagen habe ist wichtig.«[4] Sie hatte gelernt, dass es viel Geduld braucht, sich Gehör zu verschaffen. Deshalb schrieb sie weiter kleine Artikel für diverse Feuilletons und schaffte es schließlich sogar, 1905 in der vom S. Fischer Verlag herausgegebenen renommierten Zeitschrift Die Neue Rundschau ihre autobiographische Erzählung Torso unterzubringen.

Eine zusätzliche Möglichkeit, am literarischen Leben teilzunehmen, bot sich ihr als Übersetzerin. Schon als junges Mädchen beherrschte Annette Kolb fünf Sprachen: Bayrisch, Französisch, Hochdeutsch, Englisch und Italienisch. Dies kam ihr nun zupass. Für den Leipziger Verleger Julius Zeitler übertrug sie die Briefe der heiligen Catarina von Siena aus dem Italienischen ins Deutsche. Sie besorgte nicht nur die Übersetzung, sondern auch die Auswahl, und schrieb überdies das Vorwort zu dem Band. Die friedliebende Heilige war ihr ein Vorbild. Wie sie wollte Annette Kolb vermittelnd wirken zwischen Individuen, Völkern und Kulturen. 1906, im selben Jahr, als Die Briefe der heiligen Catarina von Siena herauskamen, veröffentlichte sie bei Heinrich Jaffe in München L’âme aux deux patries. Sieben Studien. Stolz vermerkte die Verfasserin auf der Rückseite des Titelblattes: »Von den folgenden Studien sind drei in der ›Neuen Rundschau‹, beziehungsweise in der Wiener Wochenschrift ›Die Zeit‹ erschienen.«[5] Langsam trug ihre Geduld Früchte, und sie erregte als Autorin mehr und mehr Aufmerksamkeit.

Mit ihrem Buch L’âme aux deux patries schlug Annette Kolb einen Ton an, der ihr ganzes Werk durchziehen sollte, die deutsch-französische Verständigung. Da war es nur konsequent, dass sie sich besonders als Übersetzerin aus dem Französischen hervortat. Ihr Freund und Förderer Franz Blei verhalf ihr zu weiteren Übersetzungsaufträgen. Er war es auch, der 1909 in der Zeitschrift Hyperion ihren Dialog Schatten veröffentlichte. Zwischen 1909 und 1911 konnte sie Jean-Marie Comte de Villiers de l’Isle-Adams Roman Edisons Weib der Zukunft, die Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth sowie André Chevrillons Reisebericht In Indien ins Deutsche übertragen. Spätestens mit ihren Übersetzungen etablierte sich Annette Kolb im literarischen Betrieb. Mit ihrem ersten Roman, einer zarten und psychologisch feinen Liebesgeschichte, gelang ihr dann der endgültige Durchbruch als Schriftstellerin. Das Exemplar erschien wie Thomas Manns Tod in Venedig1912 in Fortsetzungen in S. Fischers Neuer Rundschau, die damals von vielen gelesen wurde, unter anderen von Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal, die beide Annette Kolbs Erstling begeistert aufnahmen. 1913 kam Das Exemplar als Buch heraus und Annette Kolb erhielt dank Franz Blei für den Roman den Fontane-Preis verliehen. Da war sie dreiundvierzig, und fast die Hälfte ihres Lebens lag bereits hinter ihr, doch ihre literarische Laufbahn sollte erst jetzt richtig beginnen.

An Julius Zeitler

 

19.11.06

 

Sehr geehrter Herr Doctor

 

Vielen Dank für Brief und Sendung. Ich finde die Ausführung äusserst geschmackvoll und das gebundene Exemplar wunderhübsch. Die Lilienarabeske hebt sich so stilvoll-mittelalterlich ab! Freilich habe auch ich mir das Sodoma Bild »verfänglicher« gedacht! Was nun die Kritiker angeht, so kenne ich zwar keinen persönlich, aber ein gewisser Georg Jacob Wolf, der Recensent in den Münchner Neuesten Nachrichten, hat mein erstes Buch so überraschend vorteilhaft besprochen, dass mir sehr daran läge, ihn mit einem Exemplar der Catarinabriefe[6] bedacht zu wissen. Dann ist Rich. Schaukal[7] in Wien, den ich zwar auch nicht kenne, aber Oukhama Knoop[8] forderte ihn auf seine Gnadensonne mir zu zuwenden. Er schickte mir gestern einen ganzen Stoss Bücher. Ihm sollte ich wohl selbst ein Exemplar schicken? – Für mich selbst möchte ich nicht unbescheiden sein, ich kenne die Usanzen so garnicht. Blei ist nicht hier, so kann ich ihn nicht fragen. An Msgr. Duschéne[9] in Rom und noch einigen anderen auswärtigen, sowie an Alfr. Walther Heymel, der immer Propaganda für mich macht, und an Oukh. Knoop sollte ich halt schon ein Exemplar schicken! event. auch an Thomas Mann? doch überlasse ich Ihnen was Sie mir geben wollen und können. Um eines der Luxus Exemplare hätte ich noch für die Prinzessin Rupprecht[10] gebeten. (Das Centrum[11] soll bereits auf mich geladen sein!! im voraus schon!) Hochachtungsvolle Grüsse. Die schöne Ausstattung hat mich sehr erfreut. Auf den Katalog bin ich sehr gespannt. Mit wiederholtem Dank

Annette Kolb

*

An Alfred Walter Heymel

 

16. Okt.1908

 

Lieber Alfred,

 

Der Bogen ist gross – aber keine Gefahr nicht. Der Brief ist nicht unangenehm – zwar hoffe ich dass auch E. Hw.[12] geboren nicht erbost sein zu müssen zu geruhen glauben, denn warum? – Ich bin unschuldig! – Ist meine Art zeitweilig désagreable [unangenehm] so ist doch mein Herze, ist vor Allem meine Absicht gut. Weiter: Deo grazias, mein Buch ist fertig. Die nassen Schleier der Correcturbögen liegen schon darüber, und um die Enthüllung des Monumentes brauche ich mich nicht zu kümmern, Weber[13] besorgt das. Allas, und ich fahre auf ein paar Tage in Urlaub nach Tegernsee und lasse mir’s bei einigen fröhlichen Herrschaften[14] nach den überstandenen Strapazen wohl sein denn die waren schrecklich. Wenn Sie das Buch lesen, werden Sie es sehr begreifen können!

Die Haindlkinder[15] hab i net kriegt, krieg i’s net? Versprochen san’s!

Weiter: Alfred, ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich ganz im Stillen freue, daß Sie in den Hyperion einzutreten denken! (Haben Sie übrigens Gebsattel’s[16] Briefe drin gelesen? Sie kommen diese Tage heraus!) Denn 1. ist das eine wirklich vornehme Revue, Ihres Interesses viel würdiger als …ur, ich bin schon wieder ruhig; ich will nichts gesagt haben; eine Revue, die sich in keiner Weise noch compromittirte, sondern wirklich den Rahm abschöpft; sowohl in der Art wie sie sich präsentiert als wie in ihrem Niveau. Ich will den jungen Germain[17] dafür interessieren; er ist gerade da. Dann halte ich Weber für einen sehr anständigen Menschen der rasend viel Geschmack hat. Und was Blei[18] betrifft, sehen Sie, Alfred, ich habe auch schon meine Härten, aber der Mann scheint mir immer wert, daß man ihn fördern, aus mehrfachen Gründen: seines selten formlosen und gütigen Naturells halber, seiner unleugbaren Generosität, abgesehen davon daß er ein feiner Kritiker und ein witziger Kopf ist. Vielleicht lebt keine Frau, die seiner Richtung entfernter steht als ich, ja, wenn mich etwas in meinen selbsteigenen Anschauungen und Prinzipien bestärken konnte, so war sie es. Stünde ich ihr nicht so unendlich ferne, ich könnte nicht so lebhaft für ihn eintreten, wie ich es immer tue. Aber – (ich will mich nicht auf die hl. Catarina steifen!) – allein der Mann scheint mir immer wert, daß man zu ihm steht; denn ich habe die Überzeugung, daß ihm mit seiner Richtung garnicht ernst sein kann, er gehört ihr garnicht an, die Umstände und die Umgebung müssen ihn dazu gedrängt haben. Keiner ist ja so harmlos wie er. Bereits ist diese Richtung schon sehr abschattirt einen Ruck noch und er stünde in einem anderen Lager. Darum begrüsse ich Ihren Plan den Kunstabteil dieses Blattes zu übernehmen sehr, und habe, seitdem Sie ihn mir verrieten, viel darüber nachgedacht. Es würde hier Ihrer Tätigkeit ein so würdiges, ja rühmliches Feld eröffnet. Ganz unter uns zwei – muß man doch sagen, daß Blei punkto Zeichnungen das Auge für die gesellschaftlichen Notionen nicht besitzt, oder wenigstens, daß es unsicher ist, ob er es zeigen wird, während Ihr Name allein für die Öffentlichkeit wie eine Garantin steht. Wenn es sie daher reizen müsste, einer Revue beizutreten, die intellectuell u.s.w. auf einem derartig hohen Niveau steht, so wäre Ihr Name zugleich wie ein Adelspatent; (Sie sehen ich kann auch nett sein!!) mich aber würde es schrecklich freuen, die Blüte eines so verheissungsvollen Organs (es kommt halt wieder die Münchnerin zum Vorschein?) in München gezeitigt zu sehen. Schreiben Sie mir doch wieder einmal einen schönen Brief! Von Sonntag ab (übermorgen) bis 24. Okt. ist meine Adresse Tegernsee Villa Drechsel, dann wieder hier!

Tausend Grüße

Annette

 

Kommen Sie nicht mehr vor America?? Muß man Ihnen schon gute Reise und frohe Heimkehr wünschen? –

*

An Gerhart Hauptmann

 

München, Sophienstr. 7/I

12.11.09

 

Hochverehrter Meister,

 

Wenn ich mir gestatte, Ihnen beiliegenden von den Süd. Monatsheften zurückgewiesenen, von den Münchner Neuesten leider mutilirten [verstümmelten] Artikel, einzusenden, so geschieht es nur zum Beweis, dass München doch nicht insgesammt für dessen leidige Tradition, die besten Männer der Zeit zu verunglimpfen verantwortlich gemacht werden darf. Aus demselben Grunde erlaube ich mir, Ihnen die letzte Hyperion Nummer mit einer für Sie angemerkten Seite einzusenden. Fassen Sie es nicht als Dreistigkeit auf, ich bitte Sie, wenn ich Sie frage, ob Sie Ihr Weg etwa Sonntag 5 Uhr bei mir vorbeiführte. Ich würde es in diesem Falle auch Mottl[19] sagen. Sie träfen ausserdem nur ganz wenig Menschen bei mir an. gern hätte ich sie gefragt, ob ich Sie etwa nach der Vorlesung begrüssen dürfte, doch fürchte ich, dass ich zu schüchtern wäre, mich Ihnen da – unbekannter Weise – zu nähern. Ausserdem werden Sie auch zu umringt sein.

Mit verehrungsvollstem Grusse

Annette Kolb

*

An Alfred Walter Heymel

 

[1909/1910]

 

Lieber Alfred,

 

Ich schrieb Ihnen eben einen so saudummen Brief, dass es nicht zum aushalten war, und ich ihn wieder zerriß. Vielen Dank für Ihre liebe Epistel. Es ist mir ungemein tröstlich dass Ihnen der Dialog[20] gefiel, denn wenn man volle 2 Jahre (oder mehr) an eine derartig jämmerlich kurze Sache laborierte, so verliert man alle Fühlung zu ihr – ist aber umso abhängiger vom Urteil der anderen! Knoop schrieb mir, es hätte die scheinbare Regellosigkeit eines Naturprodukts, darin läge der formelle Reiz. Ich verstehe nicht recht was er damit meinte. Aber genug von mir. Simolin[21] kam heute mich holen, weil er mir bei Brakl[22]2 Habermanns[23] zu zeigen wünschte, von denen er eines kaufen wollte. Ich habe ihm die ihn betreffenden, nur die dankenswerten, natürlich!! Stellen aus Ihrem Brief vorgelesen; ihm auch gesagt, wie durchaus loyal und unvoreingenommen Sie in seinen letzten Missgeschicken sich stets äusserten; es freute ihn sichtlich. Dass er misstrauisch und bis zu einem gewissen Grade auch schwierig ist, läugne ich nicht, aber seine letzten Erfahrungen (aus denen sich eine recht blutige Satire auf die Münchner Haute Volée machen liesse sind recht angetan ihn noch misstrauischer zu machen, als er es von Natur schon ist. Für mich sprechen für Simolin 2 Momente: erstens sein grässliches Gebrechen, also Mitleid, 2. dass er ein feinsinniger Mensch ist; also Sympathie. Das ist aber so selten, dass man schon ein Auge zudrücken darf, findest du nicht? Denn grobsinnig finde ich fast Alle, und das gibt immer einen so quälenden Contakt! ich leide so sehr darunter! Wenn nur einer durch seine Grobkörnigkeit mich nicht verletzt! und verletzbar bin ich leider bis zur Stupidität. Was ich dir noch sagen wollte, ja also Kippenberg[24] hat mir geschrieben, es ist alles in Ordnung, die Honorarfrage lässt er wie ich auch noch etwas in der Schwebe, nur will er das Buch jetzt erst im Herbst1910 herausgeben, erst setzte er es für das Frühjahr an. Nun es lässt mir Zeit auch nebenbei ein bischen was zu schaffen obwohl wenn ich nicht ein bischen wieder Umschau halte in der Welt so ist es fertig mit meiner Schreib-Ader!! Wenn meiner Mutter besser sein wird muss ich fort auf eine kleine Weile, oder ich ersticke hier ganz. Aber genug, sobald ich wieder von mir rede, regt es mich nur auf; a propos, aber Thomas Mann sagte mir gestern, mein griechischer Frühling (er ist jetzt in den N.N.[25] erschienen) sei ihm aus der Seele geschrieben; er fand viel Beifall bei den »Zünftigen« doch wird es wohl das letzte sein, was ich in dem Blatt schreibe, ich sagte es auch zu Knorr,[26] denn in der Redaktion habe ich zu viele Hasser (was ein echter »Redakter« ist, hasst mich im vorn herein!) denn ich selbst finde es nur verlockend an ein mächtig grosses Lesepublikum sich zu wenden, wenn schon, dann auch. Was habe ich von 400 Lesern? wenn ich meine Meinung sagen will. Neulich war ich bei Hildebrand[27] oben. Sein Bismarck[28] ist geradezu unbeschreiblich. Wir gingen nach dem Essen ins Atelier und blieben lange davor stehen.

Hofmiller’s Versuche[29] finde ich sehr inhaltsreich, besonders Galiani;[30] etwas gekrunken bin ich über seine Catarina v. Siena. Da wäre es füglicher mich zu erwähnen, denn was ich über diese Frau sagte ist wahrlich nicht von Pappe, und zwar Gedanken, die ich da bringe sind origineller und schwerwiegender als das seine; ’s tut mer leid, aber ’s isch e so. Fragen’s nur den Hildebrand, wie der meine Einleitung fand. Aber jetzt bin ich schon wieder giftig, ruhe o mein Herz! Aber halte mir meine manchmalige Giftigkeit zu Gute, lieber Alfred. Es ist nicht der Grund meines Wesens. Aber mein Leben…doch genug, genug! Du siehst, ich sollte gar keine Briefe nicht schreiben. Adieu. Auf Wiedersehen. Bewahren Sie mir Ihre Freundschaft lieber Alfred. Wann kommen Sie? Herzlichst

Annette

*

An Julius Zeitler

 

München Sophienstr. 7

26.2.11

 

Lieber Herr Doctor

 

Sie könnten die Übersetzung jedenfalls haben. dass das Buch im Herbst erschiene, im Laufe des Sommers also fertig würde.[31] Aber liebster Doctor 400 M. sind mir offen gesagt wirklich nicht genügend. Es ist das Honorar das ich jetzt für Übersetzungen Anfängern zutreibe. Legen Sie mir diese Worte nicht als Anmassung aus; wir haben immer irgendwie auf der Basis gegenseitigen Vertrauens zu einander gesprochen, obwohl wir uns garnicht kennen. Es wäre mir so leid wenn sich die Sache zerschlüge. Ich werde Ihnen gewiss nicht das Honorar sagen, das ich für die »Markgräfin v. Bayreuth« erhielt, denn durch das schwierige Nachwort wurde ja die Arbeit sehr compendiös, aber über die Summe die Sie mir nannten bin ich doch sehr erschrocken. so weit zurückgreifen könnte ich wirklich nicht, und es wäre gar zu deprimierend! Ich hatte offen gesagt so etwas wie mindestens 700 gedacht. Eine gute Übersetzung verlangt Zeit, und als Halbfranzösin kann ich sie versichern dass sich ein englisches Buch (selbst für mich) viel schneller verdeutscht wie ein französisches. Desshalb werden auch die französischen Bücher gewöhnlich am schlechtesten übersetzt, weil man die Schwierigkeit garnicht wahrnimmt. Darf ich Sie bitten zu meiner Auffassung freundlich Stellung zu nehmen, und mir eine freundliche Rückäusserung geben zu wollen. Mit vielen Grüssen lieber Herr Doctor

Ihre Annette Kolb

*

An Rainer Maria Rilke

 

München Sophienstr. 7/1

24.12.11

 

Lieber Herr Rilke,

 

Ich danke Ihnen von Herzen für den prachtvollen Centaur. Eine Sprache wie die Ihrige scheint alles in sich zu vereinigen et tenir du miracle [und behält das Geheimnis]. Sie ist von einer berauschenden Schönheit wie ein Wald, und scheint sich an Stelle der Natur zu setzen! Ich bin noch ganz unter dem beglückenden Eindruck indem ich es Ihnen sage. Werden wir Sie wieder einmal in München begrüssen dürfen? Die Wünsche die ich Ihnen für das kommende Jahr entgegen bringe brauche ich Ihnen nicht zu nennen. Viele dankbare Grüsse

Annette Kolb

*

An Hugo von Hofmannsthal

 

6.2.[1913]

München

 

Lieber Herr von Hofmannsthal

 

Ich bin so entzückt von Ariadne[32] dass ich es Ihnen sagen muss (noch einmal.) Car c’est bien vous, qui par ce texte si inspiré avez mis Strauss à ce souffle parfois vraiment génial. Mais il y a dans votre Ariadne l’atmosphère créatrice où ces accents soudains ont été puisés [Denn Sie sind es, der durch diesen so inspirierten Text Strauss den manchmal wirklich genialen Atem gegeben hat. Aber es gibt in Ihrer Ariadne die schöpferische Atmosphäre, aus der diese plötzlichen Akzente geschöpft worden sind]. Ohne mechtildische[33] Arroganz glaube ich dass man eine gewisse »Nase« haben muss um das Füllhorn zu entdecken das sich hinter so viel Grazie so bescheiden – fast spielerisch – versteckt! Nichts rührender wie die Tiefe unter diesem Geplänkel. Aber ich kann Ihnen nicht ordentlich schreiben lieber Herr von Hofmannsthal, meines Speicher’s[34] Ofen ist gerade defect, und unten han i kein Ruh net.

Kommen Sie bald wieder einmal nach München?

Alles Liebe Ihnen Beiden und die aufrichtige Bewunderung Ihrer

Annette Kolb

*

An Hugo von Hofmannsthal

 

[München,]

7.2.[1913]

 

Lieber Herr von Hofmannsthal

 

In der gestrigen Ruhelosigkeit konnte ich Ihnen nicht mehr sagen, was ich Alles auf dem Herzen hatte bezüglich der Ariadne. es war nur so ein cri de cœur [Herzensruf] – und jetzt schnell einen Anhang an dazu von meinem Speicher aus. Sie werden bestimmt Freude an der hiesigen Aufführung haben. Zwar gab ich soeben mein Billet für die heutige performance [Aufführung] zurück – weil die Fladung[35] statt der wirklich fabulösen Bosetti[36] singt, und die Fladung ist unter der Mediocrität. Die Craft[37] wäre eine viel bessere Doublure [Zweitbesetzung] gewesen aber die Bosetti ist einzig, und Walter[38] – Sie wissen wie wenig ich hier Fanatikerin bin – dirigirt die Ariadne über alles Lob – ja seine Führung ist hier von höchstem Interesse. Miserabel wird der Bourgeois[39] gegeben ein Stück, das so amüsant sein könnte. Wohlmut[40] insupportable [nicht zum Aushalten] – die Schwarz[41] von unerhörter Gemeinheit wenn man doch eine Ramlo[42] hätte. Graumann[43] ist ein vorzüglicher Schauspieler, kriegt auch nie was gescheites zu tun. Die Fay[44] sieht gut aus, und singt schön, wenn man auch auf die Dauer von der amerikanischen Mundart ihrer seelenlosen Gesten sehr gestört wird. Die Omelette ist natürlich mit einer fürchterlichen Enttäuschung gefüllt, aber trotz dieser Mängel ist die Ariadne eine Glanzleistung, und Walter und Bosetti absolut Sterne zu nennen. Ne craignez pas de venir la voir, mais ne venez pas avant le retour de Bosetti. Elle restera absente jusqu’au 2 mars, à ce que j’entends [Fürchten Sie sich nicht davor, sie sich anschauen zu kommen, aber kommen Sie nicht vor der Rückkehr der Bosetti. Sie wird, wie ich höre, bis zum 2. März abwesend sein]. Herzliche Grüße Ihre

Annette Kolb

*

An Hugo von Hofmannsthal

 

München, Sophienstrasse 7

17.8.13

 

Lieber Herr von Hofmannsthal

 

Es ist zum Glück mein Brief verloren gegangen und nicht der Ihre[45], der mir so wertvoll ist, der mich so freute, und für den ich Ihnen alsbald noch hart vor meiner Abreise nach England dankte. Ottonie,[46] die ich gestern auf der Strasse traf, sagte mir, dass Sie keine Antwort von mir erhalten hätten, darum will ich Ihnen gleich nochmal sagen, was für ein Stein von meinem Herzen fiel als ich Ihre schönen und gütigen Worte las, denn dass ich gerade auf Ihr Urteil bebte, war natürlich. Lob und Tadel der meisten Anderen, ach mein Gott, will man lieber garnicht wissen. Es ist immer gar so wunderschön nebenhinaus. Worauf es ankommt entgeht ihnen mit so erstaunlicher Sicherheit. (Das Wort »mondän« hab i aa scho so gern!!) Ach kommen Sie doch wieder einmal. Ich glaube die Ariadne[47] würde Ihnen hier wirklich Freude machen. Und bei der Gelegenheit käme ich vielleicht auch auf einen Speicherbesuch Ihrerseits, nach dem ich mich sehr sehne. Ihr Freund Frankenstein[48] scheint entschieden das Richtige zu haben. Er imponirt und gefällt in Folge dessen Allen, die mit ihm zu tun haben. Jedermann schätzt ihn. In London habe ich Mechtild L.[49] oft gesehen. Quelqu’un devrait la guider [jemand müsste sie führen]. Es ist wirklich schad um sie. Elle aurait de l’étoffe mais hélas [sie hätte Stoff aber leider]! mit Flattusen wird das Gewand nur verschnitten. Winter fuhr strahlend nach England ab, verlobte sich vor eitel Freude auch noch dazu. Denken Sie den »Tod von Venedig«[50] nahm ich neulich wieder vor und erschrack wie schnell dieser Tote schon davongeritten ist. Ein grosser Bluff. voilà! eine erschreckende Ungedanklichkeit wie schnell sind da die Sachen zerschlissen! (Ist nicht die Gedanklichkeit das, was die Lagerlöf[51] am Leben erhalten wird?)

Obwohl noch nicht Privatière [Alleinwohnende] habe ich jetzt doch schon ein Telefon

51280

nicht wahr Sie rufen mich an wenn Sie kommen, dann bin ich sicher dass ich Sie nicht molestire [belästige] Meine Mutter grüsst Sie vielmals. Und ich liebe Sie sehr.

Annette Kolb

 

Alles Herzliche der Gattin. Sie soll mich nicht vergessen.

*

An Alfred Walter Heymel

 

61 Grosvenor Street, London W. bis spätestens 20. März

An Bord des »Imperator«

Hamburg Amerika Linie

Mittags, den 11.03.1914

 

Liebster Alfred,

 

Bevor das Schiff noch läuft Alfred möchte ich dir sagen wie stark mich der Gedanke an unser Zusammensein bewegt hat! Lass es dich nicht gereuen, dass es gerade an seinem Höhepunkt eine Unterbrechung erleiden musste. Ich konnte nicht anders handeln, so leid es mir war ich kann dir die Gründe nicht sagen aber glaube mir! vielleicht war eine Begegnung zwischen uns, nein gewiss ist nie eine so harmonisch gewesen und so in sich selbst erfüllt wie unsere gestrige. Siehst du ich bin längst zu dem Schluss gekommen, dass es das Loos der Freunde ist, nur höchst selten einander das sein zu dürfen was sie sich im Herzen bedeuten – dass ein eisernes Gesetz es ihnen verwehrt sich gegenseitig die Einsamkeit zu benehmen. Denn dazu scheint das Leben wohl da zu sein, dass wir immer wieder auf uns selbst mit empfindlichsten Stössen zurückgeworfen werden. als du mir gestern dein schönes Gedicht vorlast weisst du, da war ein Moment, wo ich dich wirklich vollkommen durchschaute und durchfühlte, es fiel aller Schein und alle Zutat von dir, das wesenhafte allein was das Leben so wenig an uns erschöpfen kann schälte sich da von dir los ohne Irrtum, ohne Schicksal, rein wie ein Klang, den nichts mehr aufhält, den die eigene Schwingung weiter trägt. Was Helene[52] und ich deine schöne Geste nennen und so sehr an dir lieben. nichts was echt noch was kostbar an einem Menschen ist kann verloren gehen. und das Seltene und Schöne an dir: der wundervolle Impuls, der »Schuss« den hast du vor den meisten, fast vor Allen voraus. Denk an die 2 Stunden nicht an die welche gestört wurde. Wo hat man oft solche Stunden? man muss ihre Erinnerung ungetrübt zurückbehalten: ihr Licht und ihre innere Beleuchtung. Lieber reicher armer Alfred, für dich gibt es letzten Endes nur eine aufwärts stürtzende und eine Sonnenbahn. Fühle aus diesen hingeworfenen und incoherenten Zeilen nur meine Anhänglichkeit heraus: Tust du das? mein sehr starkes Gefühl für den Kern deines Wesens. Ich bitte dich schreibe mir sofort 61 Grosvenor Street London W. ℅ Mrs Heneage,[53] deine genauen Abreise Pläne wie lange du noch in Berlin bist. Ich hoffe dich noch zu sehen; ich bleibe eine Woche in London vielleicht treffe ich mich auf 1 bis 2 Tage mit Helene in Holland auf meinem Rückweg. Kämst du eventuell gar auch? Jedenfalls bitte deine Reisepläne und Daten.

Deine Annette

Zwischen den Fronten 1914–1923

3. Annette Kolb am Teetisch

1914 veröffentlichte Annette Kolb im Verlag der weißen Bücher den Essayband Wege und Umwege. Er enthielt Aufsätze zu aktuellen Themen sowie Porträts von Zeitgenossen und hätte den Nerv der Zeit getroffen, wäre er nicht ausgerechnet Anfang August erschienen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließ alle literarischen Bemühungen um Frieden zwischen den Völkern lächerlich erscheinen. Wer wollte schon Besuch bei Duchesne, einen Essay über einen französischen Kirchenhistoriker, lesen, wenn Deutschland Frankreich gerade den Krieg erklärt hatte? Was scherte einen Annette Kolbs Ballonfahrt, wenn tollkühne Flieger aus der Luft den Feind beobachteten und Bomben auf ihn warfen? Wege und Umwege war zu spät herausgekommen.

Für Annette Kolb bedeutete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur eine politische, sondern eine persönliche Katastrophe. Hatte sie als junges Mädchen in ihrer allerersten Veröffentlichung noch gegen die Käfighaltung eines Steinadlers protestiert, wurde die erwachsene Schriftstellerin nun gewahr, dass sich Deutschland durch den Krieg »en une cage gigantesque« [in einen riesigen Käfig][54] verwandelte, dem zu entkommen schier unmöglich schien. Dennoch gab sie nicht einfach auf, sondern bewies taktisches Geschick, das sie aber nicht davor bewahren sollte, angefeindet und mit Hass verfolgt zu werden. Auch ihr war klar, dass es im aufgeheizten politischen Klima des Winters 1914/15, als Deutschland bereits herbe Verluste erlitten hatte und die Front im Westen zum Stillstand gekommen war, nicht möglich sein würde, sich ungehindert gegen den Krieg und die Zwietracht zwischen den Nationen zu äußern. Aber sie wagte einen Versuch.

Am 25. Januar 1915 hielt Annette Kolb in Dresden einen Vortrag zum Thema Die Internationale Rundschau und der Krieg. Sie erzählte ihrem Publikum von dem Projekt einer neutralen, pazifistisch ausgerichteten Zeitschrift, für die Schreibende aus allen Ländern Beiträge verfassen würden, damit die Stimme der Vernunft vernommen werden würde. Sie kritisierte die Presse dafür, ein Sprachrohr des Hasses statt der Versöhnung zu sein, und hob als besonders übles Beispiel die französische Zeitung Le Matin, ein notorisches Hetzblatt, hervor. Das nützte ihr aber gar nichts, denn sie wurde von den wegen der vermeintlichen Verunglimpfung der deutschen Presse aufgebrachten Zuhörern niedergeschrien, konnte ihren Vortrag nicht zu Ende halten und musste noch am selben Abend mit dem Zug nach Berlin fliehen. Von da an war sie in Deutschland eine persona non grata. Wieder waren es ihre Freunde, die alten wie Franz Blei und neue wie René Schickele, die ihr den Rücken stärkten. Der Elsässer Schriftsteller René Schickele, der sich einmal selbst als zweisprachigen Grenzvogel bezeichnet hat, besuchte die als Landesverräterin beschimpfte Autorin in München und versicherte sie seiner Solidarität. Annette Kolb hatte moralischen Beistand bitter nötig. Zu allem Unglück starben 1915 zuerst ihre Mutter und wenige Monate danach ihr Vater. Ohne ihre Eltern war die Tochter zweier Länder plötzlich heimatlos. Sie konnte zwar noch publizieren, doch es waren bezeichnenderweise Briefe an einen Toten. Und sie wusste auch nicht, wie lange sie, die den Boden unter den Füssen verloren hatte, noch frei sein würde.

Die politische Verfolgung, der Annette Kolb in Deutschland ausgesetzt war, war real. Am 9. Mai 1916 fiel die Tür zu ihrem Käfig ins Schloss. Das Bayerische Kriegsministerium erließ eine Verordnung, die der Schriftstellerin die Möglichkeit nahm, öffentlich aufzutreten, sie mit einem Publikationsverbot belegte, ihre Korrespondenz stark einschränkte und ihr Reisen ins Ausland untersagte. Annette Kolb saß in München fest und konnte nichts tun. Einzig der Uneinigkeit der Behörden hatte sie es zu verdanken, dass sie im August 1916 für ein paar Wochen in die Schweiz reisen und Freunde, darunter Romain Rolland, dessen Bekanntschaft sie im Jahr zuvor gemacht hatte, treffen konnte. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Harry Graf Kessler kennen. Er und Walter Rathenau sorgten dafür, dass sie schließlich wieder einen regulären Pass bekam. Im Februar 1917 fuhr Annette Kolb wiederum in die Schweiz, diesmal auf Jahre. Deutschland sah sie erst nach dem Krieg wieder.

Obschon sie sich im Exil befand, bedeuteten die Jahre in der Schweiz für Annette Kolb eine Befreiung. Zwar war sie unbehaust und reiste von Ort zu Ort, nirgends konnte und wollte sie sich länger niederlassen, doch durfte sie nun endlich wieder sagen und schreiben, was sie dachte. Dem Käfig entronnen, breitete sie ihre Flügel aus. Kaum in der Schweiz, veröffentlichte sie im Journal de Genève unter dem Titel Lettre d’une Allemande [Brief einer Deutschen] einen Artikel, in dem sie das in Dresden Gesagte nochmals aufgriff. Der Titel war eine Anspielung auf ihr 1916 bei Kurt Reiss erschienenes Buch Briefe einer Deutsch-Französin. Diese Briefe waren bereits früher in der von René Schickele redigierten Zeitschrift Die weißen Blätter erschienen. Schickele lebte mittlerweile auch in der Schweiz und stand in regem Kontakt mit Annette Kolb.

Im Exil nahm sie ihre privatdiplomatischen Bemühungen wieder auf, musste aber einsehen, dass trotz der freundschaftlichen Beziehungen, die sie zu Entscheidungsträgern wie Harry Graf Kessler hatte, ihr Einfluss auf die Zeitläufte gegen Null tendierte. Weder die klandestinen Treffen in ihrer Wohnung zwischen Pazifisten, Diplomaten und Schriftstellern aller Länder noch all die Briefe und Artikel, die sie schrieb, bewirkten auch nur das Geringste. Allerdings hatten ihre vergeblichen Aktivitäten einen nicht beabsichtigten, aber umso schöneren Nebeneffekt: In der Schweiz gewann Annette Kolb unter den Exilierten wahre Freunde. Romain Rolland und Hermann Hesse wurden von Kollegen zu Freunden, und die österreichische Schriftstellerin Berta Zuckerkandl lernte sie in der Schweiz überhaupt erst kennen. Besonders aber mit René Schickele verband sie von den Schweizer Jahren an eine Freundschaft, die ihr weiteres Leben bestimmen sollte.

An Alfred Walter Heymel

 

21.09.[1914]

 

Lieber Alfred

 

bitte lies diese Zeilen mit Bedacht! Zuerst vielen Dank für den Schein für Rosa.[55] Es ist rührend, wie hilfsbereit du immer bist.

Über die deutsche Diplomatie ein Wort. Man scheint mir hier ebenso kopflos vor – wie nachher; siehst du denn nicht, wer die Hauptschuld trägt!! Die, welche ausgerechnet die grössten Esel von Deutschland an die ausgerechnet verantwortungsvollsten Posten sandten, also das auswärtige Amt, das eine ebensolche Blütenlese mit ins Hauptquartier S.M.’s[56] nahm und in den Friedensverhandlungen egal alles verpatzen wird. Ich kann noch nicht alles sagen was ich seit 15 Jahren weiss, aber es wird zu Tage kommen, hoffentlich bald. Deutschland erweckte den Eindruck durch seine Botschafter als sei es inferior, die guten Köpfe drangen nie durch. Barrère[57] war mit 28 Jahren Gesandter. Wir haben einen gescheiten Gesandten in Copenhagen,[58] sonst wäre dort wohl längst der Bruch entstanden – aber vielleicht ist er 9 Monate zu jung um ein Botschafter zu sein. Der grösste Diplomat der Welt war ein Deutscher. Es bedurfte besonderer Umstände dass er durchdrang – du weisst welche – und doch welche Kämpfe bis es ihm gelang. Unsere guten Leute werden ausgenützt, untergehalten u. diszipliniert, bis ihnen der Atem ausgegangen ist. Die Schlüsse welche die Gedankenlosen ziehen, ist, dass wir sie nicht haben. – Wie wünschte Rich.[59] immer Solf[60] möchte Botschafter werden. Wird man endlich darauf kommen. Nein Alfred, gute Köpfe in Deutschland sind immer Duldner u. vielleicht sind es deshalb vielleicht stets noch die besten Köpfe geworden. Hast du den Aufsatz von Mons,[61] dem ehemaligen Botschafter (den Fürst Bülow[62] natürlich cassieren liess weil er was taugte!) im Berliner Tagblatt 25. August Abendbl. gelesen? Da kannst du die Wahrheit über unser ausw. Amt zwischen den Zeilen lesen und unverblümt.

Lichn.[63] war der wenigst dumme von den Dreien oder Vieren. Schön[64] u. Pourt.[65] haben den Record. In England sind 90 pr.C. gegen den Krieg wie Mons hervorhebt, vor 8 Jahren wären sie alle dafür gewesen dort; es ist so gedankenlos die gebahnte Annäherung jetzt zu läugnen, weil sie durch Sarajewo vor dem Abschluss in die Brüche ging; tue du das wenigstens nicht. Mir tun alle die gedacht haben (und ich rechne mich darunter) heute bitter leid. Da hast du meine Meinung. Und darum halte ich jetzt, wie nie vorher zu Kühlm.[66] und weiss warum. Denke dir, ihn liess man in Ohlstadt[67] bis zur allerletzten Minute und rief ihn erst zurück, dass er gerade recht kam um seine Pässe zu kriegen. L.[68] wollte Alles selbst prima gedeichselt haben, aber selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte die Kriegspartei, obwohl das Cabinet gespalten war, wohl die Oberhand gekriegt; denn die Dinge waren eben noch nicht so weit, u. dafür ist auch an erste Stelle die Verantwortung aufzuladen. Es ist mir verboten worden, sonst wüsste man längst Dinge, die Niemand auch nur ahnt, u. die schon weit zurückliegen – ich koche wenn ich nur daran denke. Aber wenn ich dich auch ohne Grossmut reden höre bevor du die Einsicht haben kannst, dann bin ich tief deprimirt. Gita[69] nimmt die Dinge vernünftig und tut was sie kann. Im übrigen bleiben die Menschen die gleichen finde ich. Sofie Kaulbach[70] war lange krank in Folge eines Sturtzes. Jetzt geht es ihr wieder gut. Mein liebes Alfrederl es ist so schwer keine wilden Briefe zu schreiben wenn man innerlich so durchwühlt von Wildheit ist, ach Gott gebe uns den Sieg. Tausendmal lieber wäre ich tot als diesen vermeidlichen Krieg erleben zu müssen. Es ist die grösste Strafe meines Lebens. Die Deutschen benahmen sich unbeschreiblich gross. Ich bin deutsch Alfred aber mit einem zerrissenen Herzen, darum sei nachsichtig

mit deiner alten getreuen

Annette

und pflege dich.

*

An Romain Rolland

 

Sophienstrasse 7

Telefon 51280

ce 8mars [1915]

 

Monsieur,

 

Le rédacteur des Weisse Blätter, Monsieur René Schickele m’écrit pour m’engager à vous envoyer le No 3 de sa revue, qui contient un discours, que j’ai prononcé à Dresde le 25 janvier. J’y joins un numéro du Zeitecho. Il faudra probablement que je me rende en Suisse vers le 1er avril pour quelques jours à cause de la »Revue Internationale«. Veuillez me dire monsieur si, en poussant jusqu’à Genève, je pourrais vous y rencontrer?

Je crois que nous avons des amis communs à Rome n’est-ce pas?

Recevez je vous prie Monsieur l’expression de mas plus haute considération.

Annette Kolb

 

La rédaction du Zeit-Echo a permis que les »Briefe an einen Toten« soient reproduites dans la Revue Internationale. Monsieur Rainer Maria Rilke qui est ici, me donne votre adresse

 

[Monsieur,

Der Redakteur der Weissen Blätter,[71] Herr René Schickele schreibt mir, um mich zu veranlassen, Ihnen die Nr 3 seiner Zeitschrift zu schicken, die eine Rede enthält, welche ich am 25. Januar in Dresden gehalten habe.[72] Ich lege eine Nummer des Zeitecho[73] hinzu. Ich werde mich vermutlich gegen den 1. April wegen der »Revue Internationale«[74] in die Schweiz begeben müssen. Würden Sie mir bitte sagen, Monsieur, ob ich, wenn ich bis nach Genf vorstosse, Sie dort treffen könnte?

Ich glaube, wir haben gemeinsame Freunde in Rom,[75] oder nicht?

Seien Sie, Monsieur, meiner vorzüglichsten Hochachtung versichert.

Annette Kolb

 

Die Redaktion des Zeit-Echo hat erlaubt, dass die »Briefe an einen Toten« in der Revue Internationale abgedruckt werden. Herr Rainer Maria Rilke, der hier ist, gibt mir Ihre Adresse]

*

An Hermann Hesse

 

Zürich, Hotel Eden au Lac

Zürich, den 7.4.1915

 

Lieber Herr Hermann Hesse.

 

Es ist mir eine sehr grosse Freude gewesen, Sie kennen zu lernen und haben Sie herzlichen Dank, dass Sie meinen Überfall so freundlich aufgenommen haben. Es ist ebenso wahr dass ich Sie gleich erkannte, wie dass ich vollkommen unvorbereitet auf Sie war; bei den Künstlern wie bei den reichen Leuten kommt es wohl am meisten nicht auf das an was sie ausgegeben haben, sondern was sie dabei zurückbehielten, und das kann der Andere nie vorher wissen. Ich hoffe Sie erinnern sich meiner wenn Sie nach München kommen und dass ich Sophienstrasse 7 wohne. Von den wenigen, welche der heutigen Strömung widerstanden haben, erwartet man sich noch so viel. Gruss der Nichte und den Kindern.

Ihre Annette Kolb

*

An Romain Rolland

 

Ce 8avril [1915].

Zurich. Edenhotel

 

Cher Romain Rolland,

 

Je voudrais avant de passer la frontière saisir la dernière occasion de vous écrire librement, mais surtout vous remercier encore une fois. Ne croyez pas, que tant de bonté et de délicatesse aient pu m’échapper, et cette intention de consoler quand vous souffrez tant vous même. Je ne vous en ai rien dit! J’ai toujours la langue si obtuse sur le moment même, mais je sens bien les choses.

J’ai revu l’exprésident à Berne; ses vues ne se concordent hélas! que trop exactement avec les vôtres, et comme vous, il pense que pour l’instant, il n’y a rien à faire. Ne croyez-vous pas qu’au lieu de presser, il vaudrait mieux retarder maintenant le 1° Numéro de la Revue des Nations. Ici j’ai passé à la rédaction de la Zürcher Zeitung à la demande de ces messieurs; ils sont froissés que Häberlin et Reynol ne les aient pas initiés aux intentions de leur Revue. J’ai écrit une longue lettre à M. Häberlin à ce sujet. mais les journalistes sont des êtres étranges! si avides d’être pris pour des gens de bonne foi et pourtant en causant avec eux on est gagné par une telle incertitude qu’on finit par être aussi faux qu’eux. Ils étaient sincères pourtant en louant le Forum et les Weissen Blätter et la Schaubühne (que je vous enverrai dès mon retour.) Quant au Süddeutsche Monatshefte, je ne vous les enverrai certainement pas! C’est exactement le même niveau que le Matin, le même ton, je dirai la même g…le! J’y suis sommée du reste de signaler si je le puis, une seule de nos feuilles qui puisse être comparé au Matin. Je vais me faire un plaisir de signaler les Süddeutschen Monatshefte eux-mêmes. Quant au Mistral, vous voyez s’il est loin encore d’avoir du souffle! – Je vous remercie de m’avoir signalé Hermann Hesse à Berne! Pas vestige de »Literatendummheit« chez lui, au contraire une si belle intelligence, beaucoup de mécontentement … vous l’aimerez. Malgré les Chinois, qui sont sa prédilection, il a fait un retour bien européen dans sa mélancolie et nous sommes tombés d’accord qu’il faudrait être des jeunes aujourd’hui. Nous autres, comment voulez-vous que nous secouions jamais les impressions d’aujourd’hui. Il n’y a que les enfants qui ne soient pas marqués. Je les regarde tous avec envie. Nous garderons les os transis de ce qui s’est passé. Comment voulez-vous que nous jouissions encore du printemps, je crois que nous paierons par des dépressions atroces nos dettes à tous ces morts. Mais ce sont là des considérations mêlées d’égoisme je veux bien! Allons, je m’en retourne dans le trou noir qu’est aujourd’hui tout pays belligérant. adieu. J’ai dit à Hesse quel grand musicien vous êtes. Depuis Mottl je n’ai plus entendu jouer comme vous jouez. Vous jouez en grand chef d’orchestre. Ah! l’air de Timande! und jour, vous me le donnerez. N’y a-t-il pas dans les dernières mesures comme un fléchissement, comme dans les dernières mesures de Don Juan? est-ce que je me trompe?

Il y a encore une chose qu’il faut que je vous dise, parce qu’elle me pèse sur la conscience. Depuis la guerre, mes sympathies pour la France sont parfois si fortes, qu’ensuite j’ai des remords. Et je me reprends quand je songe avec quelle dureté de cœur le monde entier envisage la défense que l’Allemagne est en train de soutenir comme une chose naturelle. Elle a détruit, mais on a voulu et l’on voudrait la détruire. En tous cas l’histoire marquera à nos nations guerroyantes qui portent la peine de leurs engagements une autre place qu’au valore italiano! – Mon Dieu je vous avouerai que jusqu’à Louvain, ce n’est pas du tout la violation du sol belge (étant donné l’effroyable situation de l’Allemagne) mais c’est l’ultimatum à la Serbie qui m’a révolutionnée, puisqu’il devait déchaîner la tempête. Tout ce qui a suivi à ce passe-droit là ne me paraissait plus que la conséquence inévitable de l’idiotie première. Et je ne puis m’empêcher de croire que c’est pour lui que l’Histoire sera plus sévère que pour n’importe quoi