Ich heiratete meinen Ex-Mann - Monica Masi - E-Book

Ich heiratete meinen Ex-Mann E-Book

Monica Masi

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Beschreibung

Nirgends sind wir empfänglicher als in der Ehe. Und nirgends sind wir verletzlicher als in der Ehe. Das ist wahr. Dies ist die Geschichte von zwei völlig unterschiedlichen Charakteren, die erst geschieden werden mussten, um wieder miteinander reden zu können. Er, der ruhige, introvertierte Schweizer, sie, die italienstämmige Flugbegleiterin. Erst kommt es zum Crash, dann wieder zur Versöhnung und Wiederheirat. Ein Lehrstück in Sachen Kommunikation in der Ehe.

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Monica Masi Ich heiratete meinen Ex-Mann

In liebevollem Gedenken an meinen Bruder Giuseppe widme ich dieses Buch seiner Familie.

«Nirgends sind wir empfänglicher als in der Ehe. Und nirgends sind wir verletzlicher als in der Ehe. Das ist wahr.» «Dieses Buch ist ein Crashtest. Man muss ihn nicht gemacht haben.

Monica Masi

Ich heiratete meinen Ex-Mann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos Umschlag: Monica Masi & Stefan Imoberdorf Fotos im Innenteil: Monica Masi & Stefan Imoberdorf E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-606-0

Inhalt

1. Der Tag, der alles veränderte

2. Eine Scheidung, die noch weh tut

3. Jugend zwischen Schweiz und Italien

4. Traumberuf Flight Attendant

5. Mr. Right

6. Auf die Ehe folgt die Krise

7. Seitensprünge und das Aus

8. Bedingungslose Liebe

9. Keine Zukunft auf der Trauminsel

10. Ihr macht Witze, oder?

11. In guten wie in schlechten Zeiten…

Nachwort von Monicas Mann Stefan Imoberdorf

Danksagungen

Bildteil

1 Der Tag, der alles veränderte

Es war der 18. August 2003, ein heißer Tag. Ich verließ mein Büro in Zürich bereits um 16.00 Uhr, da bei mir zu Hause, auf meinem schönen, von roten Rosen umgebenen Balkon im Hochparterre, ein Grillabend mit meinen Freunden Tony und Sarah stattfinden sollte und ich noch letzte Vorbereitungen treffen musste.

Tony und Sarah waren nicht nur meine Freunde, sie waren auch meine Arbeitskollegen. Zwei Jahre zuvor hatte ich in der Finanzabteilung eines großen Reiseunternehmens ein Team von fünf Mitarbeitern übernommen, und mit zweien von ihnen war auch außerhalb des Geschäfts eine schöne Freundschaft entstanden.

Oft frage ich mich, wie die beiden mich in der Zeit von Anfang 2002 bis zu diesem Tag überhaupt aushalten konnten: Obwohl ich meine Arbeit gut und pflichtbewusst erledigte und ich von meinem Team als Vorgesetzte sehr geschätzt wurde, war mein heftig durchwühltes Privatleben in dieses Großraumbüro eingedrungen. Ich war sozusagen auf einer Achterbahn der Gefühle gewesen – von tiefen «Downs» mit vielen Tränen über meine kaputte Ehe zu übertriebenen «Ups», wenn es um meine neue Liebe ging. Das war nicht professionell von mir, und ich versuchte mich stets zu beherrschen. Doch in dieser Zeit hat das leider nicht immer geklappt.

An diesem Abend wollte ich ihnen also eine wichtige Entscheidung mitteilen. Eine Entscheidung, die sie wahrscheinlich nicht nur schade gefunden hätten, sondern gleichzeitig auch hätte aufatmen lassen. Ich hatte mich nämlich entschlossen, meinen Job zu kündigen und auszuwandern. Ich wollte weg von dem Ort, wo auch Stefan, mein Ex-Mann, lebte.

Gewollt oder ungewollt traf ich ihn ab und zu, und das war nicht leicht für mich. Wir hatten uns noch gern, und ich dachte, dass wir nach der Scheidung ein wenig distanzierter über unsere kurze Ehe hätten reden können, aber dies war leider unmöglich. Die Wunden schienen bei uns beiden nicht zu heilen, und ich zerbrach mir richtiggehend den Kopf, wenn ich mir die Frage stellte, wieso wir uns überhaupt so hatten verletzen können. Ich war mir vor unserer Hochzeit wirklich sicher gewesen, dass er die große Liebe meines Lebens war. Wir waren sehr verliebt, und ich fühlte mich bei ihm immer geborgen.

Im Zug unterwegs nach Aarau, meinem wunderschönen Wohn-, Geburts- und Heimatort, erhielt ich einen Anruf von meiner Mama.

«Wir kommen dich am Bahnhof abholen.»

«Okay, danke», antwortete ich. Da ich seit der Trennung im selben Mehrfamilienhaus wie meine Eltern wohnte, dachte ich nur an einen netten Abholdienst und nichts weiter. Sie waren immer sehr fürsorglich zu mir, obwohl ich schon 28 war. Dies galt übrigens auch für meine zwei älteren Brüder, die längst verheiratet und selber Papis waren.

Meine Eltern sind ausgewanderte Sizilianer und wohnen nun seit mehr als fünfzig Jahren in der Schweiz. Demzufolge habe ich auch einen italienischen Pass, und das können die Leute nicht nur an meinem Vornamen erkennen, «Monica mit c», sondern auch an meinem Aussehen. Ich habe die charakteristischen Merkmale einer Südländerin: dunkelbraune Haare, dunkelbraune, große Augen und eine mediterrane Hautfarbe, die bei der ersten Sonne schön braun wird.

Auch in meinem Wesen und meinem Benehmen liegt viel von «Bella Italia»: Ich muss immer gepflegt, geschminkt und top angezogen sein, auch wenn nur der Postbote vor der Haustüre steht. Ich lache sehr gerne, habe eine ausgeprägte Selbstironie, zeige sehr viel Mitgefühl, bin hochsensibel und harmoniebedürftig. Im Gegenzug habe ich aber auch mal einen sturen Kopf, bin meist ungeduldig, und mein Temperament ist nicht immer einfach auszuhalten. Ich liebe gutes Essen, Menschen, Ferien, interessante Bücher, schöne Städte, Musik, das Meer, die Sonne und hohe Temperaturen.

Die Hitze im schwarzen Auto meiner Eltern und die fehlende Klimaanlage machten mir an diesem Nachmittag also nicht zu schaffen. Ich freute mich, dass meine Mama und mein Papa so hilfsbereit waren, und erzählte ihnen während der kurzen Fahrt, dass ich Gäste zum Abendessen eingeladen hatte und alles schön vorbereiten wollte. Seltsamerweise waren sie sehr ruhig und wirkten nachdenklich.

Als mein Vater vor unserer Haustüre parkte und ich aussteigen wollte, traf mich sein Satz wie ein heftiger Schlag:

«Dein Bruder Giuseppe ist im Spital, er hat Leukämie.»

Wie erstarrt blieb ich sitzen und hoffte, gleich aus einem Traum zu erwachen, aber dies geschah leider nicht. Ich beugte mich nach vorne, schaute meine Eltern an und sah den Schmerz in ihren Gesichtern und in ihren verweinten Augen. Dies hatte ich vom Rücksitz und vor lauter Aufregung über den bevorstehenden Abend gar nicht bemerkt. In diesem Moment fühlte ich, dass nichts mehr so war wie vor einer anscheinend noch sorglosen Minute.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich brachte vor Schock keinen Ton mehr heraus.

Mein Vater unterbrach schließlich die Stille und sagte: «Es ist wohl besser, du sagst deinen Gästen ab und gehst deinen Bruder besuchen.»

Er erzählte mir noch, wie mein Bruder am Vormittag kraftlos und mit Schmerzen zum Arzt gegangen sei. Er war einer, der – wie so manche Männer – erst dann zum Arzt aufbrach, wenn's eben gar nicht mehr anders ging, und das war an diesem Morgen der Fall gewesen. Nach einem schnellen Bluttest schickte ihn sein Hausarzt sofort für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus. Am Nachmittag kam dann die endgültige Diagnose: ALL, akute lymphatische Leukämie.

Ich konnte es immer noch nicht fassen und stieg wie gelähmt aus dem Auto, ohne etwas zu sagen. Nicht einmal umarmen konnte ich meine Eltern.

In meiner Wohnung versuchte ich, mich irgendwie von dieser Hiobsbotschaft zu erholen und ins Handeln zu kommen: Ich musste meinen Termin absagen und mich mental auf diesen nicht leichten Krankenhausbesuch vorbereiten.

Das erste befreiende Schluchzen kam am Telefon, als ich mit Tony sprach. Er kannte mich und meine Familie gut; auch Tony reagierte schockiert und war voller Mitgefühl. Wie dankbar war ich um seine Freundschaft und auch um die von Sarah. Wieder einmal waren sie stark gefordert, und wieder mal war ich mit meinen Problemen der Grund dafür.

Aber dies überstieg alle meine bisherigen Katastrophen – das ganze Leid, das ich selbst die letzten Monate erlitten hatte, schien nichts dagegen zu sein. Jetzt hatte ich immer wieder meinen lieben Bruder mit seiner wunderbaren Familie vor Augen. Wie sollte nun das Leben für seine Ehefrau und seine vier süßen Kinder im Alter zwischen acht Monaten und elf Jahren weitergehen?

Und Gott, wieso trifft es gerade ihn, wieso muss seine Familie jetzt so leiden? Sie, die perfekte Familie, die jeden Sonntag in die Kirche geht und Dich so liebt! Ich verstand Gott nicht mehr. Überhaupt schien er mir in der letzten Zeit ganz weit weg zu sein und nie einzugreifen, wenn es um mich ging, nicht einmal, wenn ich ihn verzweifelt darum bat. So viele Male hatte ich ihn angefleht, etwas an Stefan und unserer Situation zu verändern, aber es war alles nur noch schlimmer geworden. Und jetzt hatte er diese furchtbare Krankheit bei meinem Bruder, einem 36 Jahre jungen, tief gläubigen Mann, zugelassen.

Giusi, wie die meisten ihn nannten, war der Älteste von uns drei Kindern. Zwei Jahre nach ihm kam Claudio und dann, erst acht Jahre später, ich. Für meine Brüder war ich immer das zu behütende Schwesterchen. Als Kind durfte ich aber nicht viel mit ihnen spielen. Die beiden waren ein echtes Team, dachten sich den ganzen Tag jede Menge Streiche aus und spielten am liebsten Cowboy und Indianer in der freien Natur.

Wie stolz war ich, wenn ich mal, nach langem Insistieren, auch mitspielen durfte! Sie gaben mir immer die Rolle der Gefangenen, fesselten mich dann an einen Baum und vergaßen mich meistens dort, bis unsere Nonna, also die Oma, nach mir fragte. Unsere Großeltern lebten auf einem Bauernhof in Suhr, und wir liebten es, die Zeit bei ihnen zu verbringen. Meine Brüder und ich durften wirklich eine schöne und unbeschwerte Kindheit erleben. Wir waren eine typische süditalienische Familie; oft laut, aber voller Liebe, Hingabe und mit guten Werten.

Meine Beziehung zu meinem Bruder Giusi war aber nicht immer leicht gewesen. Mit 23 war er durch seine Freundin, die ein Jahr später seine Ehefrau wurde, Christ geworden. Er war, wie wir alle, katholisch erzogen worden, und meine Eltern verstanden nicht, wieso er plötzlich den Glauben so ernsthaft zu leben begann. Er fing an, intensiv, fast auf fanatische Weise, von Jesus zu reden. Die ganze Familie befürchtete, dass die christliche Gemeinschaft, die er jetzt jeden Sonntag besuchte, eine Sekte war.

Jesus war das Zentrum seines Lebens geworden, alles andere kam nach ihm. Auch seine große Leidenschaft, nebenberuflich als DJ zu arbeiten, gab er auf, und er ersetzte seine ganze Schallplattenkollektion durch ein einziges Buch: die Bibel. Diese nahm er überallhin mit, sogar am Strand auf dem Liegestuhl las er darin freudig und voller Interesse.

Ich fand das merkwürdig, doch zugleich faszinierte mich sein neu angeeignetes Wissen über Gott und diese Welt sehr. Manchmal war es für mich richtig spannend, ihm zuzuhören. Doch ich war noch ein Teenager und hatte keine Lust, wie er jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Zudem dachte ich, dass ich auf alle Freuden im Leben verzichten müsste, sollte ich auch so glauben wie er.

Unsere Eltern hatten uns sehr streng erzogen, und ich konnte es kaum erwarten, endlich frei zu sein und die Welt zu bereisen. Genau deshalb entschied ich mich nach der Matura, dem Abitur, als Flight Attendant bzw. als Stewardess zu arbeiten. Endlich hatte ich einen Grund, eine eigene Wohnung in der Nähe des Flughafens zu beziehen, ohne dass meine Eltern etwas dagegen haben konnten.

Meine erste Beziehung hatte ich mit achtzehn, was meiner Mutter große Sorgen bereitete. Sie, die mir immer eingetrichtert hatte, dass man mit Sex bis zur Ehe warten muss. Für mich waren meine Eltern in Sachen Mentalität im alten Sizilien stecken geblieben, deshalb nahm ich ihre Gebote oder Verbote nicht mehr ernst. Ich hatte eine Jugend wie viele andere Katholiken auch, die Sex vor der Ehe hatten und sich deswegen keine großen Sorgen machten. Ich war der Überzeugung, dass meine Taufe als Baby und die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche sowieso ein Freipass für den Himmel waren und dass Gott diese Sünde nicht mehr so ernst nahm, da wir ja längst in einer fortschrittlichen, aufgeklärten Welt lebten.

Aber Angst vor dem Tod hatte ich dennoch ständig, da mein Gewissen sich trotzdem meldete und ich instinktiv wusste, dass ich mit unbereinigten Sünden nicht vor Gott würde bestehen können. Ich erinnere mich, dass ich in der ganzen Zeit als Stewardess bei jedem Start und bei jeder Landung auf dem Jumpseat, meinem Klappsitz im Flugzeug für Start und Landung, meine «Unterredung» mit Jesus hatte. Ich bat ihn um Vergebung für alle meine Sünden, falls etwas schiefgehen und ich sterben sollte. Immer wenn ich dann aber sicher den Zielort erreicht hatte, vergaß ich meine Frömmigkeit bis zu meinem Gutenachtgebet, falls ich nicht auch dafür zu müde war.

Mein Bruder, den ich nun als «extremen 24-Stunden-Gläubigen» bezeichnete, ließ häufig negative Bemerkungen zu meinem – für ihn zu freien – Leben fallen. Das ärgerte mich sehr, denn ich fühlte mich von ihm verurteilt. So diskutierte ich oft heftig mit ihm und griff dabei immer sein für mich viel zu radikales Christsein an. In Wahrheit wollte ich ja auch nichts sehnlicher, als die große Liebe in meinem Leben zu finden: Seit meiner Kindheit träumte ich von einer schönen Ehe und einer glücklichen Familie. Genauso, wie er es hatte.

Als ein paar Jahre später endlich mein traumhafter Hochzeitstag kam, war Giusi so glücklich, als würde er selber noch einmal heiraten. Er sah in Stefan einen seriösen, einfachen Mann, der mich sehr liebte – und Giusi freute sich riesig mit uns. Dass nur wenige Tage nach unserem überzeugten und emotionalen «Ja, ich will!» in einer wunderschönen kleinen Kirche Venedigs für mich die Hölle auf Erden beginnen würde, konnte niemand erahnen.

Ein Jahr und fünf Monate später war unsere katastrophale Ehe bereits wieder geschieden, und jetzt, wenige Monate danach, nachdem ich mich gerade auf der Suche nach mehr Frieden für einen neuen Start im Ausland entschieden hatte, schlug dieses neue grausame Schicksal zu. Wenn Gott schon jemanden strafen musste, wieso dann nicht eine Sünderin wie mich – ohne Familie?

Trotz aller Fehler, die ich in meiner Ehe gemacht hatte und für die ganz viele Finger auf mich zeigten, war mir mein Bruder die ganze Zeit nahe gewesen. Er fand es auch nicht cool und litt sehr unter unserer Ehekrise, hat mich aber niemals verurteilt. Er versuchte, mein inneres Leid zu verstehen, und stand mir mit seiner christlichen und brüderlichen Liebe bei. Auch suchte er immer wieder das Gespräch mit Stefan und bemühte sich sehr, uns zu helfen, denn er hoffte, dass es nicht zur Scheidung käme, und war überzeugt, dass Gott noch einen guten Plan mit unserer Ehe hätte. Er und seine ganze Familie beteten für uns, doch ich musste sie alle enttäuschen.

An diesem fürchterlichen 18. August war es für mich also schnell klar, dass ich nun auch in seiner Not für ihn da sein sollte. So rückten meine Pläne in den Hintergrund, denn ich wollte in dieser schlimmen Zeit für ihn und seine Familie in der Schweiz bleiben. Auch meine lieben Eltern brauchten jetzt unbedingt meine Nähe.

2 Eine Scheidung, die noch weh tut

Bevor ich mich auf den Weg ins Krankenhaus machte, wollte ich auch meinen Ex-Mann über das informieren, was geschehen war. Er war bis vor kurzem ein Teil meiner Familie gewesen, und er hatte meinen Bruder sehr gern. Außerdem war ich sicher, dass er mir in dieser kommenden schwierigen Phase noch als Freund beistehen würde.

Drei Monate zuvor war ich auch die Erste gewesen, die er aufsuchte, nachdem sein jüngerer Bruder einen schweren Verkehrsunfall gehabt hatte und dessen Leben nur noch an einem seidenen Faden hing. Noch nie hatte ich Stefan so verzweifelt gesehen. In dieser Zeit konnten wir sogar ein paar Mal gemeinsam für seinen Bruder beten. Es freute mich sehr, dass er mittlerweile wieder auf dem Weg der Besserung war.

So rief ich Stefan an und erzählte ihm, was passiert war. Er reagierte sehr bestürzt und fragte mich gleich: «Soll ich mit dir ins Spital kommen?»

«Nein», antwortete ich, «ich will zuerst alleine zu ihm. Giusi freut sich aber bestimmt, wenn du ihn auch mal besuchen kommst.»

«Das werde ich sicher machen. Ich bin auch jederzeit für dich da, wenn du mich brauchst. Es tut mir so leid!», antwortete er. Seine Anteilnahme an meinem Leid und seine Hilfsbereitschaft trösteten mich sehr – es war wie selbstverständlich, dass wir in solchen Situationen noch füreinander da waren. Und so kannte ich Stefan auch: als hilfsbereiten Herzensmenschen.

Wenn ich aber mit meinem Ex-Mann gut auskommen wollte, durfte ich nichts mehr von unserer Vergangenheit als Ehepaar erwähnen. Mit dem Thema «wir» wollte er sich endgültig nicht mehr auseinandersetzen. Das war etwas, das mir sehr viel Mühe bereitete, denn es standen durchaus noch einige unbereinigte Dinge zwischen uns. Zudem gab mir das Scheitern unserer Ehe, obwohl ich den größten Mist gebaut hatte, immer noch Rätsel auf. Und ich wusste, spätestens seit dem Tag unserer Scheidung, dass es für ihn nicht anders war.

Im großen Gerichtssaal waren wir nur vier Personen: die Richterin, die Gerichtsschreiberin, Stefan und ich. Wir hatten keine Anwälte dabei, weil wir kinderlos waren und gegenseitig keine Ansprüche stellten. Es war mir zum Weinen zumute, doch ich hatte mir fest vorgenommen, an diesem Morgen stark zu sein.

Stefan sah ebenfalls sehr traurig aus. Ich denke, dass er erst an diesem Tag wirklich realisierte, dass es mit uns endgültig zu Ende sein sollte. Als die Richterin uns begrüßte und die Verhandlung eröffnete, bemerkte ich, dass mein Noch-Ehemann Tränen in den Augen hatte. Als ich das sah, begann auch ich zu schluchzen.

Was hatte das alles für einen Sinn?, fragte ich mich. Es war offensichtlich, dass wir noch Gefühle füreinander hatten, doch wieso konnten wir bereits nach unserer Hochzeit nichts mehr auf die Reihe kriegen? Und warum war jeder Versuch, diese Ehe zu retten, gescheitert? Nur Gott weiß, dass wir mit den besten Absichten geheiratet hatten, doch wir haben genau das Gegenteil gemacht von dem, was wir uns vor ihm versprochen hatten: «Willst du, Monica, Stefan in guten und in schlechten Zeiten lieben, achten, respektieren und ihm treu sein, bis dass der Tod euch scheidet?»

Ich hatte mit Freudentränen mit einem überzeugten «Ja» geantwortet, und Stefan tat auf die gleiche Frage hin genau dasselbe. Doch wenige Monate später hatten wir uns bereits sehr verletzt, beleidigt, gedemütigt und betrogen. Unser Ego, unser Stolz und unsere Sturheit waren stärker gewesen als unsere Liebe. Als Eheleute hatten wir beide versagt, und als Katholiken sahen wir diese Scheidung als große Niederlage an. So heißt es doch: «Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen.»

Die beiden Frauen schauten uns mitleidig an, und die Richterin fragte uns, ob wir wirklich sicher seien, dass diese Ehe geschieden werden solle. Wir antworteten beide mit einem klaren Ja. Wir hatten schon alles versucht und wussten, dass wir uns gegenseitig nur noch mehr kaputt machen würden. Wir hatten genug gelitten, und unsere Kräfte waren am Ende.

Als wir draußen waren, fragte mich Stefan, ob ich nicht noch mit ihm am Hallwilersee etwas essen möchte. Ich war einverstanden, denn ich spürte, dass er sich nach diesem schweren Termin genauso schlecht von mir würde trennen können wie ich mich von ihm. Wir wussten jedoch beide, dass diese Gegend genau an diesem Tag ein Tränenbad auslösen würde, aber irgendwie wollten wir uns das dennoch antun. Dieser See war eine der vielen wunderbaren Kulissen unserer schönen Liebe gewesen, und es war so, als wenn wir dort den Schmerz über das Ende unserer gemeinsamen Zeit noch rausheulen wollten.

Die zwanzig Minuten bis zum See fuhren wir schweigend nebeneinander sitzend. Ab und zu nahm Stefan meine Hand zärtlich in die seine. Das waren wieder die Momente der totalen Ohnmacht. Unsere große Liebe, dank der wir glaubten, den Sinn unseres Lebens gefunden zu haben, war zerstückelt. Die Teile waren noch da, doch wir konnten sie unmöglich wieder zusammenbringen. Und selbst wenn wir es irgendwann einmal geschafft hätten, hätte es immer noch Stücke gegeben, die an die großen Enttäuschungen und Verletzungen erinnert hätten. Es wäre nie mehr dasselbe gewesen.

Als wir ankamen, gingen wir zuerst am Seeufer spazieren. Es war ein kalter Märztag, die Sonne kam und ging, und es wehte ein starker Wind. Trotz meiner warmen Jacke zitterte ich vor Kälte und innerer Traurigkeit. So nahm mich Stefan fest in seine Arme und streichelte mir zärtlich über die Haare. In diesem Moment schien die Welt für mich wieder völlig in Ordnung zu sein. Ich fühlte mich so wunderbar geborgen in seinen Armen, doch die Realität unseres Alltags sah ganz anders aus, und dies sollte nun unser Abschied sein. Wir begannen wieder zu weinen, denn der Schmerz war unbeschreiblich groß. Ich hätte niemals gedacht, dass eine Scheidung, selbst ohne Kinder, so weh tun könnte. So stark hatte ich noch nie gelitten.

Ich schaute Stefan in die Augen und dachte, dass diese freundlichen Minuten zwischen uns genau die richtigen wären, um schlussendlich zu verstehen, was in meinem Mann – oder schon Ex-Mann – wirklich abging. So bat ich ihn in diesem Moment, mir seine Gefühle ehrlich mitzuteilen. Sicher, es war ein später Zeitpunkt, um Stefans Empfindungen begreifen zu wollen, aber die meiste Zeit in unserer Ehe wusste ich gar nicht, was Stefan wirklich fühlte. Er hatte mir gegenüber all die Zeit eine defensive Kampfhaltung eingenommen.

In Wirklichkeit erhoffte ich mir, dass er auch endlich sein falsches Verhalten einsah, dies bereute und sich dafür entschuldigte. Von mir hatte er abermals mein flehendes «Vergib mir» und mein reuevolles «Es tut mir leid» gehört.

Er sagte zu mir: «Ich verstehe selber auch nicht, warum es so weit kommen musste, und es tut mir leid, dass ich für dich kein guter Ehemann sein konnte. Wir sind wirklich zu verschieden, und ich hätte dir niemals das geben können, was du dir wünschst. Du wirst glücklicher sein mit einem Mann, der besser zu dir passt. Aber ich werde dich immer in meinem Herzen tragen.»

Ich spürte, dass er seine Worte ehrlich meinte, doch seine allgemeine Entschuldigung tröstete mich nur zu einem Teil, denn seine Sätze hatten den Unterton eines Opfers, und das gefiel mir gar nicht. Immer wieder spielte ich von neuem den ganzen Film unserer Ehe im Kopf durch, und immer wieder sah ich seine unerklärlichen Reaktionen vor mir.

Gleich nach unserer Hochzeit fing es an, dass ich Stefan immer weniger verstehen konnte. Ich stand seiner Passivität und seinen Ablehnungen die ganze Zeit machtlos gegenüber.

Immer wieder hatte ich gehofft, er würde mir einmal eine Erklärung dafür geben können, doch er hatte sie offenbar selber nicht. Und eine dafür zu suchen, hätte für ihn bedeutet, dass er sich zuerst einmal mit seinem eigenen inneren Ich hätte auseinandersetzen müssen, aber das wollte oder konnte er nicht.

Ich war mir sicher, dass das Problem für sein beziehungsunfähiges Verhalten in seiner nicht einfachen Kindheit lag. Für mich hätte er dies schon längst mit Hilfe eines Fachmanns verarbeiten sollen, doch er wurde wütend, wenn ich nur schon das Wort «Psychologe» erwähnte. Er tat mir leid, wie so viele andere Male auch, aber er ließ sich nicht helfen, und ich konnte es auch nicht. Meine Nerven lagen nach eineinhalb Jahren blank.

Dass Stefan und ich verschieden waren, wussten wir eigentlich schon, bevor wir heirateten, doch wir waren der Überzeugung, dass unsere Liebe, die auf gegenseitiger Annahme und Treue gründete, stärker sein würde als unsere Unterschiede.

Doch wir täuschten uns. Wir waren totale Gegensätze, die sich anfangs mit einer riesigen Faszination anzogen, sich irgendwann mal nach den ersten Schmetterlingen im Bauch in Liebe annahmen und sich aber gleich nach dem ersten Ehekonflikt unheimlich auf den Wecker gingen.

In unserer dreieinhalbjährigen Freundschafts- und Verlobungszeit hatten wir uns nie gestritten. Wir waren trotz unserer Verschiedenheit sozusagen ein Herz und eine Seele gewesen. Ich bedauerte oft, dass es in der Zeit vor unserer Hochzeit nie zu einem heftigen Streit gekommen war. Die Alarmglocken hätten bei mir so sicher schon vorher geläutet.

Unsere ersten Auseinandersetzungen waren für mich noch absolute Kleinigkeiten, die in jeder Ehe mal vorkommen und die man einfach hätte lösen können. Vor allem war ich immer der Meinung, dass man mit der Liebe alles wiedergutmachen könne, aber auch das lief mit meinem Mann ganz anders. Er stieß mich oft zurück, was für mich unerträglich war, denn dieses Verhalten verletzte mich zutiefst. Ständig suchte ich die Fehler bei mir. War ich eine so unmögliche Frau? Fand er mich nicht hübsch genug? Hatte ich wirklich keine Geduld mit ihm? Was könnte ich besser machen?

Und stimmte es, dass er mich nie glücklich hätte machen können? Nachdem sich die Situation in den ersten Monaten unserer Ehe so dramatisch verändert hatte, war es wirklich so: Ich konnte mich mit seiner Andersartigkeit einfach nicht mehr zurechtfinden und wurde sehr unzufrieden. Aber diese jüngste Aussage nervte mich trotzdem sehr, denn ich hatte diesem Mann nie etwas Unmögliches abverlangt.

Mich interessierten Geschenke nicht: Ich trug außer unserem Ehering keinen Schmuck. Ich hatte ihn, einen ganz einfachen und auch keineswegs wohlhabenden Mann, geheiratet, weil mir eben wahre Liebe und Treue wichtiger waren als alles andere, und er behauptete jetzt, dass er mir nie das hätte geben können, was ich mir wünschte? Ich wollte doch gar nichts anderes als nur ihn und seine Liebe, aber er verstand mich nicht. Seit meiner ersten Kritik an ihm verhielt er sich mir gegenüber, als ob ich seine größte Feindin wäre. Mit seiner Ablehnung konnte ich so wenig klarkommen wie er mit meiner Kritik.

Nach diesen stillen Gedankengängen fühlte ich, wie in mir langsam wieder die Wut aufstieg, und so sagte ich zu ihm:

«Mein einziger Wunsch war nur der, mit dir glücklich zu sein! Wieso hast du mich die ganze Zeit so weggestoßen? Ich war deine Ehefrau, und du hast mich einfach gehen lassen! War ich dir nichts wert? Ich hätte nie, nie diesen Fehler gemacht, wenn du mir deine Liebe gegeben und mich beschützt hättest! Du hast deine Verantwortung als Ehemann doch nie richtig wahrgenommen.»

Stefan blieb kurz still, aber ich erkannte in seinem Gesicht, dass ich wieder die falsche Taste gedrückt hatte. Er ließ mich los und sagte in einem distanzierten Ton: «Es tut uns beiden nicht gut, noch weiter darüber zu reden. Wir müssen damit aufhören und es jetzt einfach so annehmen. Ich will definitiv nicht mehr über uns reden. Du hast mich in unserer Ehe nie wirklich verstanden, und meine Reaktionen waren nur logische Konsequenzen auf deine Fehler. Du hast keine Geduld gehabt und warst ständig nur am Motzen. Und schlussendlich hast du mich betrogen. Ich habe dich jedenfalls nicht dazu bewogen.»

Das war wieder eines der vielen Schwerter in meinem Herzen, und wütend und verletzt erwiderte ich: «Du hast mir nie zugehört und hast meine Bedürfnisse doch gänzlich ignoriert. Ich habe dich vor der Gefahr eines anderen Liebhabers gewarnt, und du hast nichts, aber auch wirklich gar nichts dagegen unternommen!»

Da waren sie beide wieder – seine kühle Distanz und mein temperamentvoller Ärger. Es hatte keinen Sinn mehr, mit ihm zu diskutieren, und ich musste einfach beginnen, zu akzeptieren, dass ich auf meine Fragen nie eine Antwort bekommen würde.

Ich bat Stefan, mich nach Hause zu fahren. Wir konnten unmöglich mit diesen Gefühlen im Bauch noch zusammen zu Mittag essen. Im Auto war die Stimmung still, distanziert, verärgert und traurig. Beim Aussteigen verabschiedeten wir uns wie zwei gute Freunde, mit drei Küsschen auf die Wangen.

Wie hätten wir jemals aus unserem Teufelskreis herauskommen können? Indem jeder für sein eigenes falsches Verhalten die Schuld beim anderen sah und immer an seiner eigenen Haltung festhielt? Nein, so eben gar nicht. Ich sah meine Fehler ein, gab aber immer seinem für mich unverständlichen Verhalten die Schuld dafür. Er sah seine Fehler dagegen nie ein und gab mir immer die Schuld für alles. Unser erster Konflikt nach der Hochzeit war wie ein kleiner Schneeball, der begann, ganz unspektakulär vom Gipfel herunterzurollen, und der irgendwann in der Mitte des Berges so groß wurde, dass er eine Lawine auslöste, die uns beide begrub.

Die Lawine war mein Ehebruch. Die schweren Konsequenzen trugen wir nun beide. Wie hätte mir mein Ehemann, der schon mit der kleinsten Kritik von mir nicht klarkam, mein Fremdgehen vergeben können? Ich konnte mir diese Tat selber nicht vergeben, und auch ich litt unglaublich darunter. Die Schuldgefühle waren für mich unerträglich, und gleichzeitig war ich wütend auf Stefan. Für mich trug er ganz klar eine Mitschuld, und solange er dies nicht einsah, konnte ich ihm auch nicht vergeben. Gehasst habe ich ihn aber nie.

Das Ende unserer Ehe schmerzte in meinem Herzen wie ein unerklärlicher Tod, über den man sich Tausende Gedanken macht, ob und wie er hätte verhindert werden können. Aber es war nun mal passiert. Es war zum Desaster gekommen, und jetzt gab es kein Zurück mehr.

Welche Gefühle ich im Moment wirklich noch für meinen Ex-Mann empfand, wusste ich nicht genau. War es Liebe, Mitleid oder Verantwortung? Oder waren es mein verletzter Stolz und mein schlechtes Gewissen, die mir so viel Kummer machten? Ich glaube, letztlich war es eine Mischung aus alledem.

Während Stefan mich locker einem anderen Mann überlassen konnte, war ich aber immer noch sehr eifersüchtig auf jede seiner potenziellen neuen Bekanntschaften. Schon allein der Gedanke daran machte mich wahnsinnig. Ich hätte es nicht ertragen können, dass er seine Liebe, die ich so dringend in unserer Ehe nötig gehabt hätte, einer anderen Frau geben würde. Daher war ich froh, bald weit wegziehen zu können, um ihn nie mit einer neuen Partnerin sehen zu müssen.

Als ich einmal einem sehr guten Freund meine Eifersucht beichtete, sagte dieser zu mir: «Was willst du eigentlich? Du betrügst deinen Mann, du lässt dich scheiden, dein Liebhaber ist jetzt dein offizieller neuer Partner, du hast Zukunftspläne mit ihm auf der anderen Seite der Welt, und Stefan darf keine Neue haben? Dein Stolz ist verletzt, das ist alles, aber das hat nichts mit Liebe zu tun! Es ist einfach zu viel schiefgelaufen, und ihr seid nun geschieden. Basta. Denke nicht mehr daran, und nimm die Sache so an, wie sie ist.»

Wenn das die ehrliche Sicht eines Freundes war, wollte ich gar nicht mehr wissen, was völlig Außenstehende über mich dachten. Von außen schienen die meisten meiner Gespräche und viele meiner Taten sehr paradox zu sein, denn in mein Herz und in meine Seele sah schlussendlich niemand hinein. Ich fühlte mich von vielen verurteilt, und es tat mir extrem weh. Zudem wurde ich sehr unsicher und begann sogar zu stottern. Das war in meinem Job, zu dem immer wieder Geschäftsmeetings gehörten, äußerst ungünstig.

Manchmal dachte ich, dass es vielleicht die Strafe dafür war, dass ich früher selbst andere untreue Eheleute verurteilt hatte. Menschen können nicht wissen, was andere in jedem Moment ihres Lebens in ihren eigenen vier Wänden durchmachen, wie sie fühlen, welche Verletzungen sie bereits mit sich tragen, welche familiären Hintergründe sie haben, welchen Lügen sie glauben … Wären wir in genau derselben Situation wie diese anderen sogenannten «schlechten» Leute, wären wir doch alle imstande, auch genau dieselben Dinge zu tun wie sie. Das hatte ich nun selber am eigenen Leib erfahren müssen.

Ich denke nicht, dass meine besten Freunde die Absicht hatten, mich zu verurteilen, aber sie waren mit meiner Situation einfach überfordert. Sie versuchten, mich zu verstehen, und spürten meine Not, doch viele meiner Handlungen waren für sie schwierig nachzuvollziehen. Sie kannten mich eigentlich anders und wussten, dass mir die Ehe heilig und die Treue oberstes Gebot war. Ich konnte nicht erwarten, dass die anderen mich verstanden, denn ich war sehr konfus und verstand mich häufig selbst nicht mehr.

Mein äußeres Leben war wieder einmal im ständigen Konfliktkampf mit dem inneren. Ich hatte alle meine Werte zertreten, nur um mein lebensnotwendiges Bedürfnis nach Liebe stillen zu können und mich als Frau wertvoll zu fühlen. Dies war für mich der einzige Grund für meine unglaublichen Aktionen, doch gab es auch Leute in meinem Umfeld, die der Meinung waren, ein normales und zu sesshaftes Leben würde sowieso nicht meiner Natur entsprechen und ein Ausbruch meinerseits wäre so oder so mal gekommen.

An dieser Stelle muss ich etwas mehr von mir erzählen …

3 Jugend zwischen Schweiz und Italien

«Du bist zwar hübsch und intelligent, aber du bist für mich einfach zu naiv und zu unerfahren! Es wird Zeit, dass du weltoffener wirst und dich endlich von deinen Eltern löst! Ansonsten wirst du nie eine selbstbewusste und eigenständige Frau werden. Ich will diese Geschichte jetzt beenden, ich habe nämlich keine Zeit für kleine Mädchen.»

Mit diesen Worten und nach einem Jahr Beziehung verließ mich mein erster richtiger Freund, für den ich meine Eltern mit allen möglichen Lügen wahnsinnig gemacht hatte. Ich war achtzehn, wohnte zu Hause und musste mich ihrem Reglement unterordnen. Mein Freund, der meine Eltern nie persönlich kennen gelernt hatte, belächelte sie und behauptete immer, dass sie «hinter dem Mond» leben würden.

Obwohl ich volljährig war und mir meine Eltern theoretisch nichts mehr zu sagen hatten, zahlten sie meinen ganzen Unterhalt und meine Privatschule, ein italienisches neusprachliches Gymnasium in Zürich. Ich konnte mich unmöglich einfach so von ihnen lösen, auch weil ich sie, trotz meiner Rebellion und all der Probleme, sehr liebte.

Außerdem war ihre Sorge ja nicht ganz unberechtigt, denn sie ahnten, dass ich mich in jemanden verliebt hatte, der nicht zu mir und meinem Elternhaus passte. Ich hatte ihn ein Jahr zuvor in Zürich kennen gelernt, als ich am Abend ausging.

Er war elf Jahre älter als ich, wohnte in Mailand und bewegte sich in der italienischen Musikszene. Das war alles andere als eine heile Welt, und ich war als junges, überbehütetes Landei teilweise richtig entsetzt über die Unmoral, die in seinen Kreisen vorherrschte.

Ich selber war schüchtern und konnte mich in seinem Umfeld schlecht zurechtfinden. Aber ich war in ihn verliebt und träumte immer noch von der großen, treuen Liebe.

Seine Freunde jedoch machten sich, wie auch er selbst, über meine Naivität lustig. Dabei war ich in meinem normalen Umfeld, unter meinen gleichaltrigen Freundinnen von damals, nicht die Einzige mit strengen Eltern und mit dieser typischen romantischen Einstellung. Es war das Jahr 1993.

Nach dieser Geschichte war es nicht so einfach, mit meinen Eltern wieder gut auszukommen, und dies tat mir zu allem Liebeskummer zusätzlich weh. Ich war am Boden zerstört, denn ich hatte diesem Mann, um ihn nicht zu verlieren, meine Unschuld geschenkt. Jetzt fühlte ich mich leer, verletzt, gedemütigt und dumm, sprach aber mit niemandem darüber, schon gar nicht mit meinen Eltern.

Ich weiß, dass mein Dad mich immer sehr geliebt hat, nur fühlte ich seine Liebe in dieser Zeit nicht mehr wirklich. Sein Ton mir gegenüber war meistens hart, und dies ertrug ich nur sehr schlecht. Als ich ein Kind war, bekam ich all seine Zuwendung und Zärtlichkeiten, aber als ich dann langsam ein Teenie wurde, begann er sich zu distanzieren und überließ alle heiklen Themen meiner Mutter. Mein Vater machte zwar auch weiterhin noch alles für mich, aber mir fehlten seine spontanen Umarmungen, seine Komplimente und sein Lob. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm immer etwas beweisen musste, um in seinem Gesicht ein wenig Zufriedenheit sehen zu können.

Nur von anderen erfuhr ich immer wieder, dass er mich rühmte und stolz auf mich war, weil ich in der Schule stets gute Noten hatte. Nach der Enttäuschung mit meinem ersten Freund war ich aber nun wirklich nicht mehr das brave Mädchen, wie er sich das gewünscht hätte.

Die Beziehung zu meiner Mutter war besser und liebevoller, doch Mamma hielt letztendlich immer zu meinem Vater.

Als ein paar Monate später meine Tante Lina, die ledige Schwester meiner Mutter, in Jesolo bei Venedig eine Lehrerinnenstelle bekam, sah ich meine Fluchtchance gekommen. Meine Tante hatte ich bis dahin jeden Tag meines Lebens gesehen, und so war sie für mich wie eine zweite Mutter. Und auch zu Jesolo hatte ich bereits einen guten Bezug.

Sie hatte sich fünfzehn Jahre zuvor ein großes Haus auf einem ebenso großen Grundstück gekauft, das nur fünf Minuten vom Meer entfernt lag, und ich durfte fast alle Schulferien mit ihr dort verbringen. So wollte ich nach Jesolo, um der schlechten Stimmung bei mir zu Hause entfliehen zu können und noch die letzten zwei Jahre Gymnasium in Italien fertigzumachen. Anschließend hatte ich vor, die Universität in Venedig zu besuchen. Meine Tante war einverstanden und nahm mich mit. Gleichzeitig zogen auch meine Großeltern mit uns nach Italien zurück. Zu ihnen allen hatte ich eine wunderbare Beziehung.

«Lido di Jesolo», das Herzstück von Jesolo und der Stadtteil, in dem ich wohnte, mit seinem wunderschönen, fünfzehn Kilometer langen goldgelben, feinen Sandstrand, war im Sommer ein sehr belebter Ort. Tagsüber gab es fast keine freien Strandplätze mehr, und am Abend war die berühmte, sehr lange Via Bafile mit ihren vielen Shops, Cafés, Restaurants und Clubs mit Tausenden von Touristen überfüllt.

Doch das stresste mich überhaupt nicht, im Gegenteil, ich liebte dieses pulsierende Leben und freute mich nun riesig, dass dies mein neuer Wohnort sein würde. Sobald aber die Touristen ausblieben, die unzähligen Hotels ihre Saison beendeten und die Lokale ihre großen Fensterrollläden schlossen, wurde der Lido trostlos. An kalten, grauen Tagen hätte man nackt durch die Via Bafile gehen können, wahrscheinlich hätte dies niemand bemerkt.

Meine Freundinnen, die ich dort im Sommer traf, waren ebenfalls Feriengäste und kamen aus verschiedenen Regionen Italiens. In Jesolo selber hatte ich keine Freundin, und der Neustart mit meinem noch frischen Seelenkummer war dort nicht leicht.

Wenigstens lernte ich Giulia bald besser kennen. Sie war eine Klassenkameradin von mir, mit der ich jeden Tag zweimal eine vierzigminütige Busfahrt von Jesolo nach Mestre unternahm, wo sich unser Gymnasium befand. Sie war immer fröhlich und guter Dinge und hat mich dort mit vielen Einheimischen in Kontakt gebracht. Meine Tante, die sich für mich verantwortlich fühlte, war auch streng, doch ließ sie mich am Samstagabend mit Giulia ausgehen; Giulia und ich nannten sie, unter uns, deshalb liebevoll «Frau Rottenmeier».

Unser Abend begann oft in einem Karaoke-Pub. Dort sangen wir uns jeweils die Kehle aus dem Leib und amüsierten uns prächtig. Danach ging es meistens in eine Latino-Disco, wo wir für unser Leben gern die halbe Nacht lang durchtanzten.