ICH ist manchmal ein anderer - Cordt Winkler - E-Book

ICH ist manchmal ein anderer E-Book

Cordt Winkler

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Beschreibung

Cordt Winkler war Anfang zwanzig, als die Diagnose sein Leben auf den Kopf stellte: paranoide Schizophrenie. Symptome, die er in frühen Kindertagen schon bei seinem Vater beobachtet hatte, entdeckte er nun plötzlich auch an sich selbst: Das unkontrollierbare Abgleiten von Denken und Wahrnehmung, Panikanfälle, Verfolgungswahn, Ohnmacht, freier Fall. Klinikaufenthalte. Ehrlich und mitreißend lakonisch schildert er die Dynamik der psychotischen Krise und führt den Leser tief hinein in seine, von außen betrachtet, phasenweise verrückte Innenwelt. Ein Martyrium für die Betroffenen, ein Rätsel für Angehörige und Freunde und immer noch ein gesellschaftliches Tabu. Cordt Winkler zeigt, dass es möglich ist, mit der Krankheit zu leben. Gut sogar.

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Seitenzahl: 227

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Buch

Cordt Winkler war Anfang zwanzig, als die Diagnose sein Leben auf den Kopf stellte: paranoide Schizophrenie. Symptome, die er in frühen Kindertagen schon bei seinem Vater beobachtet hatte, entdeckte er nun plötzlich auch an sich selbst: Das unkontrollierbare Abgleiten von Denken und Wahrnehmung, Panikanfälle, Verfolgungswahn, Ohnmacht, freier Fall. Klinikaufenthalte. Ehrlich und mitreißend lakonisch schildert er die Dynamik der psychotischen Krise und führt den Leser tief hinein in seine, von außen betrachtet, phasenweise verrückte Innenwelt. Ein Martyrium für die Betroffenen, ein Rätsel für Angehörige und Freunde und immer noch ein gesellschaftliches Tabu. Cordt Winkler zeigt, dass es möglich ist, mit der Krankheit zu leben. Gut sogar.

Autor

Cordt Winkler, 1980 unweit der holländischen Grenze geboren, studierte Medienwissenschaften und arbeitet in einer Trendforschungsagentur. Er lebt in Berlin.

Cordt Winkler

ICH ist manchmal

ein anderer

Mein Leben mit Schizophrenie

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1. Auflage

Originalausgabe März 2019

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2019 Originalausgabe by

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Redaktion: Antje Steinhäuser

KF · Herstellung: kw

ISBN: 978-3-641-23016-6V001

www.goldmann-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

1.Der Wohnungsbesetzer

2.Das Anschleichen

3.Der Ausbruch

4.Willkommen in der Anstalt

5.London Calling

6.Merkel-Muffins

7.Die Irrfahrt

8.Rückkehr

9.Kuchen fürs Volk

10.Die letzte Episode

11.Weitermachen

12.Am Horizont

Literaturempfehlungen

1. Der Wohnungsbesetzer

1.1. Die Flucht

Ich lehnte mich auf dem durchgesessenen Fahrersitz des Umzugswagens, mit dem ich am Morgen aus meiner Heimatstadt hergekommen war, zurück, schaltete den dröhnenden Motor aus und atmete tief durch, denn nach längerer Suche hatte ich endlich einen Parkplatz vor dem zehnstöckigen Hochhaus gefunden, in dem sich meine neue Wohnung befand. Ein paar Blätter segelten langsam zu Boden. Es war bereits Herbst geworden, und in wenigen Monaten stand der Jahrtausendwechsel bevor. Die Wohnung war nicht gerade groß. Genau genommen bestand sie aus einem Raum und einem winzigen Badezimmer. Der schmale Flur war mit einer Kochzeile ausgestattet.

Mir fiel wieder ein, wie euphorisch ich vor zwei Wochen den Vertrag für das kleine Apartment unterschrieben hatte. Ich betrachtete das Haus genauer und musste mir eingestehen, dass es recht hässlich war. Ein Baum stand im Weg, sodass ich meinen Kopf weit nach links strecken musste. Mein Blick wanderte zum Fenster der Wohnung im siebten Stock. Es war hell erleuchtet. Ich hatte mir vor der Fahrt in die Großstadt, die mein neues Zuhause werden sollte, bereits bis ins Detail ausgemalt, wie es wäre, in meiner neuen Wohnung zu übernachten. Es würde nach frischem Minztee riechen, ich würde Musik von meinen Lieblingsbands hören, auf meinem kleinen blauen Sofa liegen und lesen. Daraus würde heute wohl nichts mehr werden, denn die Wohnung war besetzt worden. Von meinem Vater, der mir beim Umzug geholfen und sich dann dort einquartiert hatte.

Er weigerte sich, das Apartment wieder zu verlassen. Eigentlich hätte er bereits am Nachmittag zurück in unsere Heimatstadt fahren sollen, doch es kam anders. Ich sah auf die Uhr und war überrascht, denn es war bereits nach neun Uhr am Abend. Ich hatte Tränen in den Augen, war verwirrt und wusste schlicht nicht, was ich tun sollte. Ich rechnete aus, dass in etwa zehn Stunden der erste Tag meines Zivildienstes beginnen würde. Ich wollte natürlich einen guten Eindruck machen, doch hatte ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Idee, wo ich mir vorher die Zähne putzen sollte. Vom Duschen mal ganz zu schweigen. Ich schnupperte an meinem Pullover und war vom Geruch wenig angetan. Vielleicht konnte ich mir am frühen Morgen ein starkes Deo besorgen und würde in einigen Stunden auch keinen ganz so verheulten Eindruck mehr machen, hoffte ich. Ich sah erneut auf die Uhr, und mir kam der Gedanke, dass ich morgen früh in ein Schwimmbad gehen könnte, um dort zu duschen. Doch die Zeit würde wohl nicht ausreichen, um pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Ich rutschte auf dem Sitz hin und her, tat einen tiefen Atemzug und schloss die Augen.

1.2. Der Umzug

Das Bild meiner Mutter beim Abschied heute Morgen kam mir in den Sinn. Sie hatte sehr unglücklich ausgesehen, als sie mir half, meine königsblauen Kommoden in den Wagen zu verfrachten. Zusammen hatten wir sie wenige Tage zuvor gestrichen und vorab gemeinsam die Farbe ausgesucht. Ich war dennoch gut gelaunt gewesen, da ich mich freute, nach dem bestandenen Abi endlich aus dem Kleinstadtmief ausbrechen zu können. Da mein Hab und Gut nicht gerade leicht war, hatte sich mein Vater bereit erklärt, mich auf der Fahrt in die Großstadt zu begleiten. Meine Eltern lebten zwar getrennt, und meine Mutter hatte einen neuen Partner gefunden, trotzdem hatte sie meinen Vater angerufen und gebeten, mir beim Umzug zu helfen. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Anzeichen dafür, dass daraus ein Problem werden könnte. Ich war jedenfalls froh, dass ich den klapprigen Umzugswagen nicht selbst fahren musste.

Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, während mein Vater auf dem Fahrersitz wartete. Minuten später fuhren wir Richtung Autobahn. Ich erzählte meinem Vater von dem Plan, zunächst noch bei einer nahe gelegenen Ikea-Filiale zu halten, bevor wir zu meiner neuen Wohnung fuhren. Begeistert berichtete ich ihm von meiner Idee, dort in einem Hochbett zu schlafen. Mein Vater jedoch zog seine buschigen Augenbrauen nach oben und wackelte mit dem Kopf hin und her, als hätte er bereits den gesamten Tag hinter dem Steuer verbracht und bräuchte nun Erholung.

Ich hantierte mit der zerknitterten Straßenkarte und versuchte, ihm zu erklären, welche Autobahnausfahrt wir in wie vielen Kilometern nehmen mussten, da der Wagen nicht über so etwas Fortschrittliches wie ein Navi verfügte und Smartphones auch noch nicht erfunden waren. An diesem Punkt beschwerte sich mein Vater lautstark über die Fahrt zum Möbelhaus. Als wir dann die richtige Ausfahrt verpassten, sah er mich mit aufgerissenen Augen an und machte mir Vorwürfe, dass ich die Karte nicht richtig gelesen hätte. Darüber hinaus sprachen wir nicht viel miteinander. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir den Rundgang in der Filiale hinter uns gebracht hatten, alle Einzelteile des Bettes und ein paar zusätzliche Kleinigkeiten auf den Einkaufstrolley geladen hatten und in der Schlange standen, um endlich zu bezahlen.

Am frühen Nachmittag kamen wir an meiner neuen Wohnung an und luden die Möbel aus. Die gesamte Fahrt hatte circa drei Stunden gedauert. Ich verkündete, dass wir das Bett nun noch aufbauen müssten, bevor mein Vater zurückfahren würde. Er sah mich überrascht an. Eine weitere Stunde später hatten wir fast alle Teile zusammengeschraubt, während er ständig laut fluchte. Ich stellte fest, dass die Holzbeine falsch herum angebracht waren und es somit unmöglich war, die letzten fehlenden Schrauben anzubringen. Nun verlor er vollständig die Fassung, beugte seinen Oberkörper nach vorn und richtete seinen Zeigefinger auf mich, während er mich anschrie.

Schließlich überraschte er mich damit, dass er zur Wohnungstür ging, diese verschloss und die Schlüssel an sich nahm. Als ich ihn aufforderte, mir die Schlüssel wiederzugeben, legte er sich auf die Matratze, redete zunehmend wirr vor sich hin und behauptete, dass dies seine Wohnung sei. Ich verstand nicht, was er damit meinte. An dieser Stelle war es mir egal, dass das Bett nicht aufgebaut werden würde. Ich wurde nun ebenfalls laut und versuchte vergeblich, ihn zum Gehen zu bewegen. Schließlich gelang es mir, ihm die Schlüssel abzunehmen und die Wohnung zu verlassen, während er weiterhin unverständliche Dinge brabbelte.

Ich schluchzte vor mich hin, als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog, und war froh, dass niemand zu mir in den Aufzug stieg, als ich nach unten fuhr. Mir fiel ein, dass ich beim Unterschreiben des Mietvertrages einen Nachbarn getroffen hatte, der ausgesprochen freundlich gewesen war. Ich hoffte, dass die Wände der Wohnung dick genug waren, sodass der neue Nachbar das Geschrei nicht mitbekommen hatte. Mit verheulten Augen flüchtete ich schließlich zurück in den Umzugswagen.

1.3. Die Klapsmühle

Niemand kannte mich hier. Genau das war meine Chance, neu anzufangen. Mein ganzes Leben lang war ich der gewesen, über den alle sprachen, weil er diesen sonderbaren Vater hatte. Zumindest hatte ich mir das eingebildet. Auch aus diesem Grund hatte ich mich für den Umzug in die Großstadt entschieden. Bei der Wohnungssuche war ich durch die neue Stadt spaziert und hatte mir ausgemalt, in welchen Cafés ich in Zukunft sitzen würde. Stattdessen hockte ich nun mit feuchten Augen in einem schäbigen Umzugswagen und wollte mich nur noch verkriechen. Immerhin hatte ich hier im Auto fürs Erste ein sicheres Refugium gefunden. Doch was sollte ich jetzt tun?

Kurz entschlossen startete ich den Motor und fuhr los. Ohne Adresse, ohne Ziel. Nach einiger Zeit wurde mir bewusst, dass ich im Kreis fuhr und an denselben Stellen bereits ein zweites und drittes Mal vorbeigekommen war. Es wurde langsam dunkel, und ich sah ein rotes Licht unter der Geschwindigkeitsanzeige leuchten. Der Tank war fast leer, und ich hatte nach wie vor keine Idee, wohin ich fahren sollte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, den Wagen zu verlassen, um aufzutanken. Denn dies war mein geschützter Raum. Am Ende war ich wieder vor meiner besetzten, hell erleuchteten Wohnung gelandet.

Mir fiel ein, dass der Pullover und die Hose, die ich an meinem ersten Arbeitstag im Zivildienst tragen wollte, oben im Apartment lagen. Ich dachte darüber nach, zurück in meine Wohnung zu gehen, doch dann wäre das peinliche Geschrei nur von Neuem losgegangen. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter in meinem kleinen Refugium auszuharren. Es war nun komplett dunkel, und ich fühlte mich mehr und mehr wie damals, als ich klein war. Immer wenn meine Eltern stritten, hatte ich mir ein imaginäres Zimmer vorgestellt. Es war ein kleiner Raum zwischen den Mauern hinter der bunten Tapete, in den ich mich verkriechen konnte.

Ich schaltete das Autoradio an und erschrak vor der gut gelaunten Stimme des Moderators. Der nächste Sender spielte klassische Musik, die ebenfalls nicht zu meiner Stimmung passte. Schließlich schaltete ich das Radio wieder aus. Ich wollte nichts mehr sehen oder hören. Ich kletterte nach hinten und versuchte, die Augen zu schließen. Doch die alten Bilder ließen mich nicht los. Ich musste daran denken, wie ich früher als Kind auf der Rückbank gesessen hatte. Meist spielte meine Mutter mit mir ein paar Spiele, um mich während der langweiligen Fahrt abzulenken. Zum Beispiel ging es darum, VW-Käfer auf der Straße zu zählen, von denen es in den Achtzigern etliche gab. Während einer Fahrt, konnte ich mich erinnern, hatte meine Mutter jedoch keine Lust auf diese Spiele. Sie fokussierte ihren Blick auf die Bundesstraße und versuchte, mir zu erklären, wohin wir fuhren.

»Wir besuchen Papa«, sagte sie.

Warum er nicht zu Hause sei, wollte ich wissen.

»Er ist gerade in der Psychiatrie«, fuhr sie fort.

»Ist das so etwas wie eine Klapsmühle?«, wollte ich wissen. Das Wort musste ich irgendwo aufgeschnappt haben. Psychiatrie hingegen klang komisch.

Meine Mutter sah mich an und stutzte. »Ja, das ist so etwas. Aber man sagt Psychiatrie«, antwortete sie.

In meinem Kopf blieb ich bei dem Wort Klapsmühle. Ich konnte mich noch an das komische Verhalten meines Vaters vor einigen Wochen zu Hause erinnern. Wenn man sich merkwürdig benahm, kam man also in eine Klapsmühle.

Irgendwann fuhren wir an einer endlos langen Mauer entlang, die mit bunten Mustern verziert war. An ihrem Ende befand sich der Eingang zur Klinik. Ich musste unten an der Anmeldung warten, während meine Mutter sich auf den Weg zu der geschlossenen Station machte. Ich war weit und breit das einzige Kind, doch niemand beachtete mich. Ich setzte mich auf einen Plastikstuhl und sah dem Empfangsmitarbeiter beim Telefonieren zu. Als meine Mutter schließlich zusammen mit der Person zurückkam, die mein Vater sein sollte, erschrak ich. Er trug eine Jogginghose, hatte zerzauste Haare und bewegte sich anders als sonst. Die Arme hingen schlapp an ihm herunter, und sein Gang war seltsam. Er sah mich mit glasigen Augen an und sagte etwas von einem Spaziergang zu einem nahe gelegenen Spielplatz. Ich war froh, das merkwürdige Gebäude schnell wieder verlassen zu können.

Wir liefen durch einen kleinen Park, der zum Klinikgelände gehörte, und ich rannte zu der Schaukel, die ich schon von Weitem sah. Mein Vater kam herüber und schubste mich an. Während ich schaukelte, hörte ich hinter mir seine Stimme. »Wie geht es dir denn?«, wollte er wissen.

»Gut«, antwortete ich knapp.

»Und was machst du so im Kindergarten?«, fragte er weiter.

Ich hielt die Schaukel an, druckste herum und sah verlegen auf den Boden. Er schien sich zu freuen, mich zu sehen, aber mich verwirrte sein sediertes Auftreten. Er wirkte irgendwie gedämpft und weit weg. Ich hatte noch sein wirres, aufgebrachtes Verhalten vor einigen Wochen im Kopf. Er hatte sich seltsam aufgeführt, war den ganzen Tag auf und ab gegangen, hatte viel geschrien und war für mich nicht ansprechbar gewesen. Daraufhin hatte ich versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Jetzt schien er sich wieder in eine andere Person verwandelt zu haben und würde bald zurück zu uns nach Hause kommen. Ich sprang von der Schaukel, ohne eine Antwort zu geben. Meine Mutter nahm mich an die Hand.

Nach kurzer Zeit war die Besuchszeit vorüber, und wir begleiteten ihn zurück zu dem tristen Betonklotz, in dem sich die Klapsmühle befand. Diesmal durfte ich mit nach oben kommen und sah zu, wie mein Vater hinter einer Milchglastür verschwand. Ein Pfleger stand neben ihm mit einem Schlüsselbund in der Hand. Meine Mutter und ich winkten noch kurz, als die Tür auch schon knallend zufiel. Wir hörten noch das Geräusch klappernder Schlüssel. Schnell verließen wir wortlos das merkwürdige Gebäude.

1.4. Die Zwangsjacke

Doch mein Vater konnte auch völlig normal sein. Ich erinnere mich, wie meine Schwester einmal aufgeregt ins Zimmer kam, um zu berichten, dass unser grüner Wellensittich weggeflogen sei. Er hörte auf den schönen Namen Ossi und konnte sprechen. Meist plapperte er ein unverständliches Kauderwelsch vor sich hin, wenn das Radio lief. Klar zu verstehen war er jedoch, wenn er uns Glück im Lotto wünschte oder sich selbst lobte mit den Worten »Ossi ist lieb«. Er lebte mit uns, schon so lange ich denken konnte, und hatte diesen etwas ungewöhnlichen Namen lange vor dem Fall der Mauer bekommen, ganz einfach weil meine Mutter ihn schön fand und irgendwann mal auf der Straße aufgeschnappt hatte.

Sofort gingen wir alle in den Garten, wo Ossi auf dem Gartenzaun saß. Ich sollte nicht zu nahe rangehen, damit er nicht unruhig würde und wegflöge, erklärte mir mein Vater. Langsam ging er selbst in Richtung Zaun und blieb geduldig vor Ossi stehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er seine geöffnete Hand und hielt sie dem kleinen Tier hin. Wenn Ossi sonst auf seinem Käfig saß, tat mein Vater häufig das Gleiche, und Ossi hüpfte dann auf seine Hand. Ich hatte für gewöhnlich bei diesen Versuchen weniger Erfolg, und Ossi hackte oft mit seinem Schnabel nach mir. Hier draußen schien der Trick nicht zu funktionieren. Ossi jedenfalls blieb auf dem Zaun sitzen. Mein Vater hielt seine Hand weiterhin ganz ruhig und bewegte sich in der ganzen Zeit kein bisschen. Schließlich geschah das Wunder, und Ossi saß plötzlich auf seiner Hand. Während mein Vater beruhigend auf das Tier einredete, ging er zurück ins Haus.

Es wollte mir einfach nicht gelingen einzuschlafen. Wieder und wieder sah ich zum erleuchteten Fenster meiner Wohnung. Jemand kam aus der Haustür und lief den Bürgersteig entlang. Er blickte in meine Richtung. Es war mir unangenehm, gesehen zu werden, wie ich hier in dem dunklen Wagen hockte. Am liebsten hätte ich mich verkrochen.

Ich erinnerte mich nun an eine Situation, in der ich mich ebenfalls verstecken wollte. Ich stand hinter der Gardine im Wohnzimmer und lugte nach draußen. Vor dem Gartenzaun hatte sich ein Haufen Schaulustiger aus der Nachbarschaft versammelt. Daneben sah ich den großen Wagen vom Ordnungsamt stehen. Während ich die Gardine vor mein Gesicht hielt, konnte ich sehen, wie die Männer vom Ordnungsamt meinen Vater zum Wagen führten. Er trug eine weiße Zwangsjacke, genau wie in Einer flog über das Kuckucksnest, und wehrte sich heftig dagegen, mitgenommen zu werden. Seine Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Ich musterte die Schaulustigen so lange, bis ich erleichtert feststellte, dass niemand von meinen Klassenkameraden unter ihnen war. Ich schämte mich. Die ganze Szene war mir unglaublich peinlich.

Ich ging zurück in mein Kinderzimmer, wo auf dem Boden die geblümte Matratze lag. Die Nächte zuvor hatte meine Mutter hier auf dem Boden meines Kinderzimmers verbracht. Sie war aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geflohen. Ich setzte mich aufs Bett und sah auf die Sesamstraßen-Tapete. Ich bildete mir ein, dass sich dahinter mein imaginärer Raum, die kleine Kammer befand, in die ich mich zurückziehen konnte. Genau das tat ich dann.

Irgendwann kam mein Vater nach einem längeren Klinikaufenthalt wieder nach Hause zurück. Er war sediert und von der Einnahme der Psychopharmaka stark verändert und kaum ansprechbar. Auf eine solche Phase folgte meist das erneute Absetzen der Medikamente. Daraufhin normalisierte sich sein Zustand für eine gewisse Zeit. Bald aber begann der ganze Kreislauf von vorn, sodass ich mich wieder in meinen imaginären Raum verkroch.

In dem Raum verharrte ich auch ein anderes Mal, als mein Vater mehrere Tage und Nächte nicht nach Hause gekommen war. Schließlich hatte es an der Tür geklingelt, und der freundliche Arbeitskollege meines Vaters trat ein. Ich sah meine Mutter an, die mich auf mein Zimmer schickte. Mit Blick auf die Tapete hörte ich, wie der Arbeitskollege davon sprach, dass sie jetzt stark sein müsse, etwas passiert sei, und dass es einen Unfall gegeben habe. Mein Vater sei mit seinem Dienstwagen gegen einen Baum gefahren. Ich war eine Stunde lang überzeugt, dass mein Vater gestorben sei, bis ich mich schließlich in die Küche traute und erfuhr, dass er schwer verletzt überlebt hatte.

Ich war überrascht, dass mein Vater zur Abwechslung mal in einem richtigen Krankenhaus und keiner Klapsmühle lag. Ich sah auf all die Schläuche, an die er angeschlossen war. Er lächelte mich an. Meine Mutter holte einen Zeitungsausschnitt aus ihrer Handtasche, der das Bild eines komplett ramponierten VWs zeigte. Es war der blaue Dienstwagen meines Vaters.

Während ich mich auf dem Rücksitz ausstreckte, schreckte ich vom Geräusch einer Polizeisirene auf und sah aus dem Fenster. Einen Moment lang hatte ich die Befürchtung, dass etwas in meiner neuen Wohnung passiert sein könnte. Ein Streifenwagen mit Blaulicht fuhr an mir vorüber. Die Sirene wurde langsam leiser und verstummte schließlich. Es hatte doch nichts mit meinem Vater zu tun. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es nur eine Frage der Zeit sein musste, bis mein neuer Lebensabschnitt beginnen konnte. Ich malte mir erneut aus, wie ich, bei guter Musik, lesend und Tee trinkend auf meinem blauen Sofa sitzen würde. Ich schaute wieder nach oben und sah, dass das Licht in meiner Wohnung ausgegangen war. Endlich schlief ich ein.

2. Das Anschleichen

2.1. Familie

Es war nun über drei Jahre her, dass ich von zu Hause ausgezogen war und meine kleine Heimatstadt verlassen hatte. Ich hatte den Zivildienst längst hinter mir und studierte. Womöglich hing es mit der Distanz zusammen, dass mir nun Erlebnisse aus meiner Kindheit vermehrt in den Kopf kamen. Die Strategie meiner Familie war es für gewöhnlich, nicht darüber zu reden, was früher passiert war. Als ich meine Mutter und Schwester besuchte, sprach ich sie zum ersten Mal darauf an, dass meine Erinnerungen mich noch belasteten und begann zu weinen. Meine Schwester meinte, ich solle nach vorne schauen, meine Mutter sagte gar nichts.

Zurück in meiner WG, in der ich inzwischen lebte, schloss ich die Tür zu meinem Zimmer und fing an zu lesen. Aus der Unibibliothek hatte ich mir einen Haufen Literatur zum Thema Psychosen und Schizophrenie ausgeliehen. Eines der Bücher thematisierte die Rolle der Angehörigen von Menschen, die an einer Psychose erkrankt waren. Ertappt fühlte ich mich durch die These, dass gerade in westlichen Ländern der Glaube groß sei, Betroffene hätten persönliche Verantwortung und könnten durch bloße Willenskraft gesund werden. Sowohl meine Mutter und Schwester als auch ich hatten es uns an dieser Stelle etwas leicht gemacht. Dieses Denken könne zu großem emotionalem Stress beim Erkrankten führen, der wiederum zu einer höheren Rückfallwahrscheinlichkeit beitragen würde.

Hinzu kam, dass nicht nur Kritik oder Feindseligkeit, sondern vor allem sogenanntes emotionales Überengagement, sprich Selbstaufopferung oder Überbehütung, derartigen Stress bei einem Betroffenen auslösen könne. Das traf sicher auf meine Mutter zu. Allerdings war sie damals, durch die Ereignisse selbst traumatisiert, verständlicherweise nicht in der Lage gewesen, sich auf einer analytischen Ebene mit der Krankheit auseinanderzusetzen und ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Aufklärung über die Krankheit sei aber nicht nur für Betroffene, sondern auch für Angehörige wichtig, um zu einem hilfreichen Umgang zu gelangen und das Risiko eines Rückfalls zu vermindern. Das klang in der Theorie alles sehr logisch, aber meine Erfahrungen in der Praxis waren etwas komplizierter.

Während der Erkrankte im Fokus der Aufmerksamkeit stand, wurden die Belastungen der Angehörigen lange Zeit nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, las ich weiter. An dieser Stelle konnte ich nur nicken. Viele von ihnen litten unter Enttäuschung und Trauer, machten sich Sorgen über die Zukunft und liefen Gefahr, selbst krank zu werden, wenn ein Familienmitglied psychotisch wurde. So konnte es etwa zu Depressionen kommen. Meine Mutter hatte sich all die Jahre wenig anmerken lassen und war immer für meine Schwester und mich dagewesen. Es war schwierig zu erahnen, was wohl in ihr vorgegangen war.

Auch ich hatte erfahren, dass Angehörige in der Gesundheitsversorgung lange keine große Rolle spielten, obwohl sie die Auswirkungen der Psychose, häufig über einen langen Zeitraum, selbst miterleben mussten. Schlimmstenfalls galten sie gar als Mitverursacher der Krankheit. Womöglich war das ein Grund gewesen, warum meine Mutter einer Einbeziehung in die Gespräche mit Ärzten eher skeptisch gegenübergestanden hatte.

Um der Gefahr entgegenzuwirken, sich selbst zu überfordern, seien Selbsthilfegruppen eine gute Möglichkeit, um mit anderen Angehörigen von psychotisch Erkrankten in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen. Auf theoretischer Ebene klang auch das alles sehr gut, aber die Sprachlosigkeit, die in unserer Familie herrschte, hatte es schwierig gemacht, diese gut gemeinten Hinweise in die Realität umzusetzen. Hier klafften Theorie und Praxis deutlich auseinander.

Schritt für Schritt wuchs hoffentlich das Bewusstsein, dass besonders Kinder psychisch kranker Eltern mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten, um das Erlebte verarbeiten zu können. Ich stutzte. Meine Strategie der Verarbeitung war wahrscheinlich nicht grundlos Verdrängung gewesen. Nun, viele Jahre später, da ich in halbwegs sicherer Entfernung lebte und erwachsen war, konnte ich anfangen, mich mit dem Thema auch auf theoretischer Ebene zu beschäftigen.

2.2. Das Theater der Grausamkeit

Ich studierte seinerzeit Theaterwissenschaft und war dabei auf die Erzählung Lenz von Georg Büchner gestoßen. Darin wurde die seltsame Verfassung eines jungen Dichters geschildert, dessen Geisteszustand sich zunehmend verschlechterte. Büchner gelang es, verschiedene Symptome einer psychotischen Erkrankung, vom Hören von Stimmen bis zu depressiven Zuständen, ansprechend zu schildern und einen Einblick in das verwirrte Seelenleben eines psychisch kranken Menschen zu geben. Außerdem befasste ich mich in einer Hausarbeit mit dem Werk des Surrealisten Antonin Artaud, dessen nur schwer verständliche und kaum umsetzbare Theorie vom sogenannten »Theater der Grausamkeit« die Bühnen reformieren sollte. Es handelte sich um einen Versuch, zu einem metaphysischen Theater zu finden, bei dem Texte und Sprache generell eine nur untergeordnete Rolle spielen sollten. Erreicht werden sollte eine Art Trancezustand durch Ansprechen aller Sinne des Zuschauers. Artaud selbst litt, laut Diagnose, an Schizophrenie und verbrachte einen großen Teil seines Lebens in psychiatrischen Anstalten. Er hatte nicht unerheblichen Einfluss auf das Werk der Dramatikerin Sarah Kane, die unter anderem für das Stück 4.48 Psychose bekannt wurde.

2.3. Kostenfaktor

Je mehr ich las, desto mehr fragte ich mich, was das alles genau mit mir zu tun hatte. Natürlich, offenkundig war mein Vater der Grund. Meine Beschäftigung mit dem Thema konnte man als Aufarbeitung oder Distanzierungsversuch begreifen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass das nicht alles war. Es war nicht einfach zu beschreiben, aber etwas an mir war anders als sonst. Ich war ungewöhnlich stark auf mich selbst fokussiert.

Ich wollte mir einen Kaffee machen, schaltete die Herdplatte an und schüttete das Pulver in den Espressokocher. In der Zwischenzeit ging ich ins Bad und musterte mich selbst kritisch im Spiegel. Etwas stimmte nicht. Ich ging schließlich zurück in die Küche. Normalerweise blubberte der fertige Kaffee nun hervor, doch ich hatte anscheinend das Wasser vergessen. Außerdem hätte ich den Kocher nicht auf die große Platte stellen dürfen; nun war der Henkel bereits ein wenig angeschmolzen. Es roch nach Plastik. Während ich mich bestätigt fühlte, dass etwas nicht in Ordnung war, beschloss ich, stattdessen Teewasser aufzusetzen. Ich stand vor dem Regal mit den Teebeuteln und wollte gerade hineingreifen, als mir einfiel, dass ich zunächst Wasser kochen wollte. Hinzu kam, dass ich mich nicht für eine Teesorte entscheiden konnte. Genervt verließ ich die Küche erneut und las weiter.

Schizophrenie verursachte allein in Deutschland jährlich volkswirtschaftliche Kosten von geschätzt vier bis neun Milliarden Euro. Es handelte sich damit um die teuerste psychische Erkrankung, und sie verursachte höhere Kosten als die weit häufiger vorkommenden Leiden Depression, Demenz und Suchtkrankheiten. Somit war Schizophrenie finanziell vergleichbar mit Volkskrankheiten wie Herzerkrankungen und Diabetes. Mein Vater war also ein erheblicher Kostenfaktor.

Normalerweise war das Ersterkrankungsalter bei Männern recht niedrig. Dies war ein Grund für die hohen Kosten. Er hatte in diesem Punkt Glück gehabt, denn er hatte bereits eine abgeschlossene Ausbildung und eine sichere Festanstellung in einem großen Betrieb, als die Krankheit über ihn hereinbrach. Die hohe Rehospitalisierungsrate war eine zweite Ursache für die hohen Kosten. Die war bei meinem Vater in jedem Fall gegeben, denn er hatte in der Vergangenheit häufig eigenmächtig die Medikamente abgesetzt und landete wieder und wieder in einer Klinik. Beim dritten Aspekt ging es um Frühberentungen, und der betraf meinen Vater ebenfalls. Er bekam eine Betriebsrente, von der er leben konnte. In den meisten Fällen sah es jedoch anders aus, denn bei vielen Erkrankten fehlten die Voraussetzungen für eine Frühverrentung, sodass die meisten Menschen mit dieser Krankheit auf Sozialhilfe angewiesen waren.

Diese Faktoren sowie auch eine vorzeitige Mortalität waren ausschlaggebend für die enorme Höhe der Gesamtkosten. Im Vergleich dazu waren die nicht gerade günstigen Neuroleptika, die mein Vater schon über einen so langen Zeitraum schluckte, noch vergleichsweise preiswert. Längerfristig wurde durch diese Medikamente Rückfällen vorgebeugt. Auch psychotherapeutische Maßnahmen, die mein Vater allerdings nicht wahrnahm, konnten sich langfristig auszahlen. Je früher die Krankheit erkannt wurde, desto besser ließ sie sich behandeln. Dementsprechend rückte die Früherkennung mehr und mehr in den Fokus. Bei diesem Thema musste ich nun schlucken.

2.4. Plemplem

Ich brauchte Ablenkung. Etwas Bewegung sollte mir guttun. Zwar hatte ich mit meinem WG