Ich lebe - Du auch! - Anja Bayer - E-Book

Ich lebe - Du auch! E-Book

Anja Bayer

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Beschreibung

Selbstfürsorge und Selbstliebe stärken unsere Heilungskräfte: Mit nur Anfang 40 wurde die Autorin mit der schwerwiegenden Diagnose eines bereits weit fortgeschrittenen Bauchspeicheldrüsentumors konfrontiert. Heute gilt sie als geheilt. Das Buch vereint ihr gesamtes Erfahrungswissen als Therapeutin, Resilienztrainerin und Patientin. Entschieden persönlich und voller Zuwendung holt es die Menschen dort ab, wo sie mit der Diagnose zurechtkommen müssen - am Krankenbett ebenso wie in der fordernden Phase der Genesung oder in einem langen Leben mit Krebs. Auf Basis der werteorientierten Logotherapie Viktor Frankls, der Traumatherapie, Resilienzforschung und Meditationspraxis bietet das Buch zahlreiche konkrete Anregungen, um die Selbstheilungskräfte zu stärken und trotz Krankheit Sinn zu erleben. Dennoch ist es kein Arbeitsbuch, sondern ein Buch der Liebe: "Ich lebe - Du auch!" führt Satz für Satz in die Selbstliebe, die einer unserer größten Resilienzschutzfaktoren ist. "Dieses Buch berührt die Leser, öffnet ihr Herz und macht ihnen Mut, in ihre Lebendigkeit zurückzufinden, ohne ihnen etwas zu versprechen. Genau so ein Buch hatte ich mir als Nachfolge meines 'Lieblosigkeit macht krank'-Buches gewünscht. Aber schreiben kann so etwas nur jemand, der da selbst durchgegangen ist." Gerald Hüther, SPIEGEL-Bestsellerautor, Neurobiologe und Hirnforscher "Ich lebe - Du auch!" begleitet andere Betroffene auf unterschiedlichen Wegen zu einem sanften Umgang mit Krebs. Es lädt zu Akzeptanz, Selbstbestimmtheit und Sinnverwirklichung ein und zeigt, wie lebenswert das Leben auch angesichts von schwerer Krankheit bleibt. Die Autorin wendet sich auf mehreren Ebenen an ihre Leser*innen: Zugewandte Wissensvermittlung wechselt mit gut nachvollziehbaren Anleitungen zur Selbsthilfe ab, das Sprechen über persönliche Erfahrungen öffnet sich stets wieder zum Du hin und gibt durch anregende Fragen Raum zur Reflexion. Die optisch leicht hervorgehobenen Übungsanleitungen sind in der therapeutischen Arbeit vielfach erprobt und entsprechend praxisnah.

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Ich bin mit jedem Du verwandt

Rose Ausländer

für Emil für Jutta

für dich für mich für uns

Inhaltsverzeichnis

Willkommen

Was erwartet dich in diesem Buch?

Teil I Annehmen was ist

1 Es darf so sein, wie es im Moment ist – Zur Unterscheidung zwischen natürlichem und selbstverstärktem Leid

Leidvolle Erfahrungen gehören zum Leben – und zum Lebendigsein

Wie Widerstand gegen Schmerz den Schmerz verstärkt

Und wie ist das bei dir? Beispiele zum Erspüren von inneren Widerständen

Belastende Gedanken als Hinweise auf selbstverstärktes Leid

Wie wir mit Schmerz gut umgehen können

Willkommen – mit allem, was ist, mit allem, was du bist

2 Alles, was da sein darf, kann sich verwandeln Statt unschlüssiger Resignation entschlossene Akzeptanz

Eine Erzählung vom Wetter oder die Macht der Bewertung

Vermittler zwischen mir und mir – ein Tumor als Bote?

Auch kleine Entscheidungen für das Leben beruhen auf Akzeptanz

„Ich akzeptiere, dass ich noch nicht akzeptieren kann, dass …“

Etwas bejahen heißt nicht, es gut finden zu müssen

Was veränderbar ist, wird verändert – was unveränderbar ist, verändert mich

3 In die Selbstliebe finden Uns als ganzen Menschen annehmen

Es gibt gefrorene Liebe – beginnen wir mit der Schmelze

Von der sehenden, der mitfühlenden und der tätigen Liebe

Uns mit uns selbst aussöhnen – versöhnlich leben

Den eigenen Schatten begrüßen

4 Vom Segen des Segnens – Oder: Wie unsere innere Haltung unsere Resilienz fördern kann

Widerspenstige Tage segnen

Uns selbst segnen

Die Krankheit segnen

Andere segnen

Teil II Die Selbstheilungskräfte stärken

5 Ich stelle mich frei Die Erlaubnis, Pflichten abzuwerfen

„Sinnvoll ist, was für alle Beteiligten sinnvoll ist“

Freiräume können gute Entscheidungen hervorbringen

Was bei (Dauer-)Stress in unserem Körper passiert

Schlafen wie eine Katze – Entspannung heilt

Lass es uns gemeinsam tun – Unterstützung im Außen suchen

6 Mit dem Körper befreundet sein Unsere Sinne sind die Tür zur Gegenwart

Präsentsein tut wohl – wahrnehmen heißt verbunden sein

Atmen, Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen: es sich gut gehen lassen

Heilsame Schildkröte: Balsam für den Körper, Balsam für die Seele

Singen fördert die Gesundheit – und bringt uns in Schwingung

7 Unser Liebewesensein – Zärtlichkeit uns selbst gegenüber

Große Umarmung – an Leib und Seele geborgen

Den Körper erkunden und berühren

Noch mehr wagen, noch mehr leben – sich auch der Sexualität hingeben

Wie meine Narbe zu meiner Narbe wurde – Versehrungen liebend annehmen

Und du?

Die Beziehung zu uns selbst ist immer auch körperlich

8 Die Sprache der Liebe entdecken Alle Zellen hören den Klang meiner Rede

Beruhigen, wiegen, trösten, ermutigen – mit uns selbst sprechen

Lauschen, wahrnehmen, anerkennen, danken – mit dem Körper sprechen

Die Kriegs-, Kampf- und Feindessprache rund um Krebs hinter uns lassen

Friedensarbeit leisten: Visualisierungen zur Stärkung des Immunsystems

9 Was wir immer für uns tun können – ohne etwas dabei zu tun Drei sanfte Hand-Werkzeuge

In die Handherzen lauschen – den inneren Körper spüren

Japanisches Heilströmen nach Mary Burmeister

Die Praxis der Open Hands Schule nach Anne Höfler

Teil III Auch die Dunkelheiten ausleuchten

10 Angst zu sterben? Ja, natürlich!

Nicht die Angst ist entscheidend, sondern wir können entscheiden

Liebevolles Anschauen

Und wenn der Tod wirklich nah ist?

Und du?

11 Des Lebens müde Wenn Verzweiflung uns lähmt

Krebs und Depressionen

Nicht mehr leben wollen heißt immer:

So

nicht mehr leben wollen

Das kleinste Licht durchdringt die Nacht

Wie Verzweiflung in der Zukunft (fest)hängt – und wie wir zurückfinden können in die Gegenwart

Die Erde trägt uns – eine Gehmeditation

12 Auf der Anklagebank meiner selbst Wenn Schuldgefühle uns quälen

Wie (unbegründete) Schuldgefühle entstehen und wozu sie dienen

Schuldgefühle und Krebs

Und du?

Warum es sich lohnt, Selbstvorwürfen bewusst zu begegnen

Die Empfindungen im Körper wahrnehmen und da sein lassen

Dem Kind in dir zeigen, dass es keinerlei Schuld trifft

Dich aus den Schuldgefühlen herausklopfen: Eine Selbstverzeih-Übung nach Michael Bohne

Ohnmachtsgefühle und Flashbacks 13 Für einen hilfreichen Umgang mit Traumatisierungen durch Operationen und Behandlungen

Ermutigungen zur Selbsthilfe nach Peter Levine

Erste-Hilfe-Maßnahme eins: Auf die Belastungsskala schauen

Erste-Hilfe-Maßnahme zwei: Dich erden und ins Hier und Jetzt holen

Die Entlastungsübung zur Stress-Ausleitung

Stärkender Ausklang: Dich mit einer tragenden Kraft verbinden

Und du?

Teil IV Verantwortungsfreudig leben

14 „Du bist die wichtigste Expertin deines Körpers“ Die Opferrolle verlassen und den inneren Arzt zu Rate ziehen

Hätte, wäre, würde, wenn, wenn nicht –

woran die Opferrolle zu erkennen ist

Warum es unsere Resilienz stärkt, wenn wir die Opferrolle verlassen Vom inneren Ja und der Kraft der Entscheidungskraft

Bestrahlung, Antikörper-, Chemotherapie? Befragen wir – auch – unsere innere Ärztin

Drei Visualisierungsübungen zur Stärkung der Intuition

Und wie ist das alles bei dir?

„Don’t let yourself think that way” oder „There I am”

15 Mein Leben ist in meinen Händen am besten aufgehoben Persönliche Erfahrungen als Patientin

Im CT – ein kostbarer Moment geteilter Verantwortung

Flashback und Selbstverantwortung – eine Erfahrung beim Schreiben

Eine zweite Krebsdiagnose – und eine entscheidende Entscheidung

Homo patiens:

Vom Erdulden als heilige Aktivität

Rehabilitation oder „Streng dich nicht so an“ Christus im Schulterschluss mit meiner inneren Ärztin

Meine Reise nach Brasilien – Heilung ohne Heiler?

Über Wunden, überwunden … oder Wunder über Wunder?

16 Ernährung und Bewegung Zwei Tore zu selbstbestimmter Nachsorge und Prävention

Sich nicht verrückt machen lassen und Übereinstimmungen suchen „Liebe geht durch den Magen“ – Selbstliebe auch!

Nur eine von vielen Möglichkeiten: Intervallfasten und (Roh)Köstlichkeiten – Zellreinigung und Zellsättigung

Leichtes Ausdauertraining oder lieber Unkrautjäten?

Vielfalt statt Einseitigkeit Wie Ernährung und Bewegung zusammenhängen

Ich entscheide mich für … –

ein Mantra zum Leichtfüßig-Werden

17

Warum habe ich Krebs?

Wofür

habe oder hatte ich Krebs? In und mit der Krankheit Sinn entdecken

Viktor Frankl oder: Unter allen Umständen hat Leben Sinn Ein kleines Einmaleins der Logotherapie

Gegenwärtig leben – vorwärts gerichtet denken

Kleine Sachen um der Freude willen machen

Sieben gute Gründe für das Leben finden

Herzensentscheidungen treffen

Gute Erfahrungen sammeln, die wir dank der Krankheit gemacht haben …

...

und sie zu den Schätzen unseres Lebens zählen Frankls Scheunengleichnis

Über sich hinausgehen – mitten im Sinn landen

An alten Werten anknüpfen

Veränderungen wagen

Und du? Wofür könntest du Krebs haben oder gehabt haben?

Teil V

Ich bin –

getragen vom Sein

18 Die Spiritualität in uns (be)leben

Spiritualität – was ist das eigentlich?

Uns berühren lassen

Momente des Staunens sammeln

Und du? Welche Gestalten haben die Wunder deines Lebens?

Zu beten wagen

19 Es darf leicht gehen Inneres Lächeln, Atempunkt und Vertrauen

Sich ein Lächeln schenken – es immer häufiger tun

Sich dem Atempunkt überlassen

Vertrauen entsteht durch die Absicht zu vertrauen

20 Da sein genügt Eine Einladung zur Meditation

Da sein genügt

Gedankenstille und Gedankenstürme

In der Stille sitzen: Stille sein

Sich fließen lassen: Meditieren in Bewegung

Anfängerin sein und bleiben dürfen

Mit dem Herzen beten – Das Herzensgebet

21 Machen wir den Raum unseres Zeltes weit Eine praktische Einführung und drei geführte Meditationen

Warum meditieren nicht nur wohltut, sondern auch gesund ist

Wie wir uns aufs Meditieren vorbereiten können

Meditative Einführung in die äußere und innere Haltung

Seerose, Ruhemantel und Energiedreieck – geführte Meditationen

22 Dein Sein hat keinen Krebs Die Identifizierung mit der Krankheit loslassen – alle Geschenke behalten

Die Geschichte von der Ritterrüstung

Wissen, was wir nicht mehr missen wollen

Gehen lassen, was uns sonst stehen bleiben lässt

Dem Leben geliehen

Danke sagen – Danksagung

Adressen und Buchempfehlungen

Kontakt

Willkommen

Liebe Leserin, lieber Leser, lieber Mensch mit diesem Buch in der Hand, dort bei dir, ich begrüße dich, ich heiße dich willkommen.

Da bist du also. Und da bin ich.

Gehen wir ein Stück des Wegs gemeinsam.

Ich sage dir du, weil das Du die Anrede der Verbundenheit und der Selbstbegegnung ist. Vielleicht gefällt es dir, dieses Du. Wenn nicht, bitte ich dich um ein kleines Vorschussvertrauen.

Ich begrüße dich, als der Mensch, der du mit deiner Krankheit, aber auch jenseits deiner Krankheit bist.

Wahrscheinlich hast du Krebs. Oder du hattest Krebs und bist noch mit den Nachwirkungen beschäftigt. So wie ich. Und natürlich anders als ich. Jeder Mensch ist anders, jeder Krebs ist anders. Trotzdem gibt es vieles, das wir teilen werden: Den Schreck oder Schock der Diagnose. Ängste. Die Notwendigkeit, sich umfassend zu informieren und weitreichende Entscheidungen zu treffen. Die Überforderung, die damit einhergehen kann. Schmerzen durch Operationen und Behandlungen. Folgen von Operationen oder Behandlungen. Flashbacks und Zukunftssorgen. Momente oder Phasen von Einsamkeit, wenn wir merken, dass das Mitgefühl der anderen nicht bis dahin reicht, wo wir selbst gerade sind. Ungewollte Lebensveränderungen – vielleicht aber auch schon die eine oder andere gewollte, selbst entschiedene Veränderung. Schwäche und das Gefühl der Hilflosigkeit – gleichzeitig Lebenswille, Hoffnung, Mut … Ich begrüße dich und uns mit all dem. Mit allem, was uns gerade bedrängt und beschäftigt, und mit allem, was uns je ganz persönlich auch trägt.

Wenn du Angehörige*r bist, Freund oder Freundin eines betroffenen Menschen, Partnerin oder Partner, Bruder, Schwester, Kind oder Elternteil, dann freue ich mich ganz besonders auch über deine Aufmerksamkeit für das Thema Krebs und Selbstfürsorge. Ich glaube sagen zu dürfen, dass du dann beim Lesen viel darüber erfahren kannst, was den Menschen an deiner Seite oder in deiner Nähe jetzt wohlmöglich bewegt und was ihm oder ihr helfen kann.

Vor allem aber will ich dich in diesem Fall gern dazu ermutigen, einige der Handreichungen auch für dich anzunehmen. Nur wenn du trotz allem auch gut für dich sorgst und dir zwischendurch Entspannung gönnst, kannst du in deiner Kraft bleiben. Nur wenn du deine eigenen Grenzen spürst und ernst nimmst, kannst du langfristig für den geliebten Menschen da sein, der dich jetzt so sehr braucht. Das eigentliche, das ganz persönliche Du, für das ich schreibe, sind die Menschen, die unmittelbar von Krebs betroffen sind. Aber etliches von dem, was in einer Erkrankung hilft, kann uns auch in anderen Formen von Höchstbelastung unterstützen, wie sie die Begleitung eines erkrankten Menschen, wenigstens in der Akutphase, zweifellos darstellt. Und vieles, das fürs Gesundwerden gilt, gilt auch fürs Gesundbleiben. Nimm es an dich, es möge dir guttun.

Liebe Leserin, lieber Leser, lange bevor du dieses Buch aufgeschlagen hast, hast du mir geholfen.

Zu wissen, dass es dich gibt, dass es andere Menschen gibt, die auch mit einer Krebsdiagnose umgehen müssen, hat mich ermutigt, das zu teilen, was ich selbst als hilfreich erfahren habe. Ich glaube, dass Menschen, die ein ähnliches Schicksal teilen, für einander zum Segen werden können. Nicht, indem sie sich gegenseitig immer wieder das Schwere erzählen und es beklagen. Sondern indem sie gemeinsam das Leben neu anschauen, weil es mit diesem Schicksal ja ein neues, ein anderes Leben ist, das als solches auch anerkannt werden darf und möchte.

Unabhängig davon, wie unsere derzeitige individuelle Prognose lautet, wie gut oder wie bedenklich – die Diagnose Krebs fordert uns dazu auf, das Leben neu anzunehmen. Davon bin ich nach jahrelanger persönlicher Auseinandersetzung mit der Erkrankung und nach unzähligen Gesprächen mit anderen Betroffenen, Hilfesuchenden, Kursteilnehmerinnen und Klienten meiner Therapiepraxis inzwischen überzeugt. Diese Aufforderung zur Annahme des Lebens ist in meinen Augen eine dreifache. Ich denke zuerst an unsere Lebendigkeit, die neu angenommen werden möchte: unsere körperliche und energetische Lebendigkeit, samt Krankheit und Gesundheit – denn unser Gesundsein gibt es neben der Erkrankung ja auch, und es ist gut, uns dessen bewusst zu sein. Dann denke ich an das Leben als großes Ganzes, das von uns neu angenommen werden will: die unüberschaubar vielfältige Gesamtheit des Lebens, von der wir ein winziger Teil sind – das Geheimnis des Lebens selbst. Und nicht zuletzt kann die Diagnose Krebs zu einer neuen Weise der Selbstliebe führen: dazu, dass wir unser persönliches Leben und uns als ganzen Menschen neu wahrnehmen und wertschätzen – unser ureigenes Dasein mit allem, was uns ausmacht, was wir erleiden, erleben, entscheiden und gestalten.

Um uns und das Leben in allen Dimensionen annehmen zu können, brauchen wir gute Erfahrungen. Erfahrungen von innerer Wachheit, Orientierung, Selbstbestimmtheit und Entschlossenheit. Erfahrungen von Schönheit, von Verbundenheit, Liebe und Geborgenheit, von Dankbarkeit und Freude. Solche Erfahrungen haben wir alle schon gemacht. Und wir können sie jederzeit wieder machen. Auch angesichts einer schweren, vielleicht unheilbaren Krankheit, auch angesichts von Schmerzen, sogar angesichts eines möglicherweise nahen Sterbens können wir Erfahrungen machen, die uns das Leben neu bejahen lassen. Dieses Buch möchte einige Türen dazu öffnen. Vielleicht wirst du dich bei manchen nur in den Türrahmen lehnen und einen Blick in den dahinter liegenden Raum werfen. Andere Türen wirst du nutzen und hindurchgehen – um dann deine ganz eigenen Entdeckungen zu machen, von denen ich nicht die leiseste Ahnung habe, weil du du bist: einzigartig und lebendig und da …

Lieber lesender Mensch, wie geht es dir in diesem Augenblick? Möchtest du eine Pause machen? Vielleicht nicht, vielleicht bist du hellwach und willst weiterlesen, dann tu das. Vielleicht merkst du aber gerade jetzt Müdigkeit oder Erschöpfung. Dann lass das Buch in den Schoß sinken, gib nach, schließ die Augen, lass dich schwer werden und lausche ein wenig nach innen oder höre einfach deinem Atem zu.

Solche Pausen kannst du beim Lesen jederzeit machen, wann immer dir danach ist. Achte gerne darauf. Dieses Buch ist keines, das du durcharbeiten musst, um daraus irgendein „Richtiges-Verhalten-bei-Krebs“ abzuleiten. Du musst dieses Buch auch nicht von vorne nach hinten lesen. Kapitel 5, Ich stelle mich frei, eignet sich zum Beispiel gut als Auftakt, obwohl es nicht am Anfang steht. Lass dich einfach von den Themen anziehen, die dich gerade beschäftigen und spring mitten hinein. Du kannst hier nichts falsch machen und du musst hier nichts leisten. Mit den Worten von Rumi, einem persischen Dichter und Mystiker des 13. Jahrhunderts, möchte ich es dir so sagen: Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch. Dort treffen wir uns. Dieser Ort liegt in uns. Dorthin sind wir eingeladen. Jetzt und immer.

Der Krebs ist im Moment Teil unserer Realität. Es kann sein, dass er das bis ans Lebensende bleibt. Es kann auch sein, dass wir ihn überwinden und hinter uns lassen. Wir wissen es nicht. In beiden Fällen ist es möglich, dass er zum Beginn einer tieferen Heilung wird. Phasenweise mag eine Krebserkrankung uns dazu zwingen, uns einer Verwandlung zu widmen. Es ist eine Verwandlung, die eigentlich jeder Mensch durchlaufen muss, der das Leben ganz spüren will, bevor er es verlässt: Wie das hohe Alter und wie jede ernste Krankheit, die uns mitten im Leben trifft, kann der Krebs unser gewohntes Denken (und Leistungsdenken) aushebeln. Wenn wir es wollen und Freude daran finden, entwickeln wir stattdessen mit etwas Mut ein Liebesdenken – und ein Liebeshandeln. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

Ich habe dafür nichts neu erfunden. Alles ist immer schon da. Alles, was der Liebe dient, fließt aus der gleichen Quelle. Ich berufe mich daher nur an wenigen Stellen explizit auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Man findet aktuelle Studienergebnisse über die Wirksamkeit der Selbstfürsorge bei Krebs in vielen guten Fachpublikationen oder, zur ersten Orientierung, auch im Internet. Zu ihrer Darstellung und Verbreitung sind andere berufen, denen ich für ihre Arbeit dankbar bin.

Ich schöpfe aus dem, was mich seit langem intensiv begleitet: die Praxis der Meditation und der Glaube, die sinnorientierte Logotherapie von Viktor Frankl und Elisabeth Lukas, Traumatherapie und embodimentfokussierte Formen der Selbsthilfe, die Resilienz-forschung, das große Feld der Bewusstseinsarbeit, meine eigene Arbeit als Therapeutin, allem voran meine Erfahrungen als Patientin, mein Menschsein.

Mein Anliegen ist es, uns alle, die wir zurzeit mit Krebs leben oder Krebs hatten, zu einem behutsamen, wohlwollenden und bewussten Umgang mit uns selbst anzuregen. Selbstfürsorge und Selbstliebe, Sinnerleben, Mut und Vertrauen gehören zu den großen Heilfaktoren für Körper, Geist und Seele. Suchen wir sie, gehen wir darauf zu, stärken wir uns.

Was erwartet dich in diesem Buch?

Dieses Buch ist eine Einladung in die Liebe.

Und Liebe ist zum Glück nichts Abstraktes, sondern etwas ganz Praktisches und Konkretes.

Für uns, jetzt und hier: Mut und Selbstfürsorge bei Krebs.

Einem Leid mit Liebe zu begegnen, heißt: hinschauen, mich davon bewegen lassen und dann etwas tun, wenn ich etwas tun kann — oder einfach liebevoll da sein, wenn ich gerade nichts tun kann.

„Von der sehenden, der mitfühlenden und der tätigen Liebe“ handelt deshalb nicht nur ein kleiner Abschnitt in Kapitel 3, sondern eigentlich fast das ganze Buch ...

I Unter der großen Überschrift Annehmen was ist widmet sich der erste Teil der Kraft der Akzeptanz, die wir bei einer schweren Erkrankung in besonderer Weise brauchen. Dabei spielt unsere sehende Liebe eine wichtige Rolle: Um das, was da ist, anzunehmen, müssen wir es anschauen. Je offener und freundlicher wir das tun, desto eher kann es sich verändern.

II Die Selbstheilungskräfte stärken versammelt lauter Aspekte der tätigen Liebe. Ich teile dafür alles mit dir, was mir selbst geholfen hat – und so ist das meiste davon als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht: Alle Kapitel in diesem Teil enthalten Übungen und Anleitungen, denen du nachgehen und die du für dich erproben kannst. Hier kannst du also tatsächlich viel für dich tun.

III Unsere mitfühlende Liebe brauchen wir wohl am stärksten, wenn wir Auch die Dunkelheiten ausleuchten wollen: Wo das Leben uns beutelt und wir große Herausforderungen zu bewältigen haben, ist es gut, wenn wir ein gesundes Mitgefühl mit uns entwickeln und lernen, selbstbestimmt mit belastenden Gefühlen umzugehen. Dazu gibt der dritte Teil ausführliche Anregungen und Hilfestellungen.

IV Mit einer schwierigen Situation eigenverantwortlich umzugehen und darin Sinn zu entdecken, stiftet kostbare Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Verantwortungsfreudig leben heißt deshalb der vierte Teil des Buches. Wo wir uns selbst mehr und mehr vertrauen und auch zutrauen, da wirken unsere sehende, unsere mitfühlende und unsere tätige Liebe Hand in Hand.

V In einer größeren Dimension, die uns in schweren Zeiten tragen kann, braucht es diese Unterscheidungen nicht. Ihr gilt der fünfte und letzte Teil des Buches. Es ist schwer, von ihr überhaupt zu sprechen. Ich bin – getragen vom Sein versucht dennoch ein paar Pfade dorthin einzuschlagen und etwas von der Ebene des Daseins ins Wort zu bringen, auf der wir uns ganz einer größeren Kraft überlassen können. Dort dürfen wir uns vollständig angenommen wissen. Dort dürfen wir uns – trotz und mit Krankheit – auch als vollständig gesund betrachten. Im Licht der Liebe dürfen wir sein.

Teil I Annehmen was ist

2

Alles, was da sein darf, kann sich verwandeln

Statt unschlüssiger Resignation entschlossene Akzeptanz

Ich glaube, dass die Menschen, die am meisten Widerstandskraft haben und in ihrem Leben den größten Frieden finden, gelernt haben, extreme Empfindungen anzunehmen.Peter Levine Traumaforscher und -therapeut

Alles, was da sein darf, kann sich verwandeln. Alles, was ich ans Herz hebe, kann gesunden. Das ist meine tiefe Überzeugung. Ich mute dir deshalb hier, relativ am Anfang dieses Buches, etwas Wichtiges zu: Ich glaube tatsächlich, dass es darum geht, den Krebs vollständig anzunehmen. Er ist da. Er ist ein Teil der Wirklichkeit. Deiner wie meiner. Überall, wo wir gegen die Wirklichkeit ankämpfen, verlieren wir Kraft. Im Kampf gegen etwas binden wir uns energetisch an das, was wir bekämpfen. Etwas nicht haben zu wollen – denke an den Widerstand, um den es im vorigen Kapitel ging – erzeugt Leid. Etwas Leidvolles nicht haben zu wollen, erzeugt in jedem Fall noch mehr vom Leidvollen.

Den Krebs anzunehmen, heißt natürlich nicht, dich ihm zu überlassen oder ihm dein Leben zu lassen. Nichts zu tun, würde bedeuten, so zu tun, als wäre er nicht da. Und Ignoranz ist ja, ähnlich wie aggressives Ankämpfen, fast das Gegenteil von liebender Annahme. Du kannst den Krebs vollständig annehmen und dich selbstverständlich trotzdem behandeln lassen. Du kannst sein Vorhandensein in der Tiefe akzeptieren und trotzdem jede schul- und alternativmedizinische Maßnahme ergreifen, die du nach bestem Ratschluss jetzt oder in einer kommenden Situation für dich als sinnvoll und richtig erkennst. Den Krebs aus deinem Körper entfernen zu lassen oder sein Wachstum zu minimieren, muss nicht bedeuten, ihm blindwütig und vernichtend zu begegnen. Es ist eine Frage der inneren Haltung, eine Frage der Einstellung. Ein Tumor, den der Krebs ausgebildet hat, ist nicht der Krebs selbst, er ist nur das sichtbare Warnsignal, dass irgendetwas massiv aus der Balance geraten ist. Du kannst voll verantwortlich für dich sorgen und jeden Tumor, der deine Gesundheit bedroht, entfernen lassen – und kannst dennoch, die Tatsache, dass du Krebs hast oder hattest oder wieder bekommen könntest, bejahen.

Etwas bejahen bedeutet nicht, es toll oder angenehm finden zu müssen, es bedeutet nicht, damit gute Gefühle zu verbinden. Es bedeutet zunächst, es wahrzunehmen. Es als wahr anzunehmen. Erst, wenn wir etwas als Teil unserer momentan gegebenen Realität annehmen, können wir beginnen, damit selbstbestimmt umzugehen.

Eine Erzählung vom Wetter oder die Macht der Bewertung

Stell dir vor, du bist auf einer Wanderung unterwegs, schon etwas nassgeschwitzt, und genießt die herrliche Aussicht. Plötzlich kommt ein eisiger Wind auf und die Temperatur fällt um ein paar Grade, in den Bergen geht so etwas schnell. Wenn du den Wetterumbruch nicht akzeptierst und frierend weitergehst, wirst du dich erkälten. Wenn du – was in diesem Beispiel das absolut Naheliegende und Normale ist, so normal, dass wir in der Regel nicht einmal darüber nachdenken – die aufkommende Kälte akzeptierst und dir eine Jacke aus dem Rucksack holst, kannst du getrost deinen Weg fortsetzen. Wird das Wetter schlimmer, musst du vielleicht den geplanten Gipfel auslassen und eine Schutzhütte aufsuchen. Na und? Nichts beweist, dass ein strahlend blauer Himmel am Gipfelkreuz wertvoller, kostbarer oder auch nur erstrebenswerter ist als ein Gewitterhimmel über der niedrig gelegenen Alm. Dennoch ärgern wir uns manchmal, wenn das Wetter an einem unserer wenigen Wochenenden draußen in der Natur unsere Vorstellungen durchkreuzt und uns eine andere Wirklichkeit zeigt als diejenige, die wir uns zuvor ausgemalt hatten. Wie wir etwas Unvorhergesehenes empfinden, ob als Enttäuschung oder als etwas Erlebenswertes, hängt zum allergrößten Teil von unserer Einstellung ab. Es hängt davon ab, wie wir es bewerten.

Muss mein Leben einem bestimmten (Erfolgs-)Konzept folgen? Dann werde ich tendenziell alles als negativ bewerten, was von diesem Konzept abweicht, und es wird Stress in mir erzeugen. Oder bin ich offen für das, was das Leben an mich heranträgt, mir in den Weg stellt oder an Wegen aufzeigt? Dann wird meine Tendenz sein, Ungeplantes zumindest nicht als katastrophal zu bewerten, ich werde etwas ruhiger dabei bleiben – und vielleicht sogar irgendwann in der Lage sein, es wertzuschätzen …

Warum habe ich nun aber dieses scheinbar viel zu harmlose Wetter- und Wochenendbeispiel als Parallele für eine schwere Erkrankung gewählt? Weil du mir sicher zustimmen wirst, dass es zwecklos ist, mit dem Wetter zu hadern, und noch absurder, dagegen ankämpfen zu wollen. Das Wetter ist eine Erscheinungsform der Wirklichkeit. Krebs ist auch eine Erscheinungsform der Wirklichkeit. Wetterlagen können in bestimmten Situationen lebensbedrohlich für uns werden, der Krebs kann es auch sein. Mit beidem gilt es, klug und besonnen umzugehen. Voraussetzung für jeden guten Umgang mit einer Schwierigkeit, vor die das Leben uns stellt, ist es, dass wir ihr Vorhandensein akzeptieren.

Im Falle des Wetters können wir sagen: „Das Wetter hat mit mir nichts zu tun, es reicht, wenn ich sinnvoll darauf reagiere.“ Bei einer Erkrankung ist es anders. Jede Erkrankung, die ich bekomme, hat etwas mit der Situation zu tun, in der mein Körper sich befindet. Und mein Körper ist an jeder Stelle beseelt und von Leben durchdrungen, er ist pure Lebendigkeit. Was auch immer mit meinem Körper geschieht, oder was er zum Ausdruck bringt, hat mit mir zu tun. Wenn ich irgendetwas davon ablehne, lehne ich etwas meiner selbst damit ab. Wenn ich gegen etwas kämpfe, das mit meinem Körper zu tun hat, kämpfe ich gegen mich selbst.

Umgekehrt begegne ich mir selbst mit Liebe, wenn ich das liebend anschaue, was mein Köper ausprägt, was er verkörpert. Sei es seine Schönheit, seine Beweglichkeit und alle verbliebenen physischen Fähigkeiten, sei es mein zunehmendes Alter, eine Erschöpfung, ein Schmerz oder eine Krankheit. Sei es der Krebs. Er ist ein Teil von uns. Wenn wir ihn annehmen, wenn wir ihm sagen Du darfst da sein, kann er sich wandeln. Dann kann er zum Beispiel nach und nach die Botschaften offenbaren, die er uns übermitteln möchte. Dann wollen wir uns von ihm vielleicht nach und nach zeigen lassen, wie wir unser Leben so ausrichten können, dass das, was uns wirklich wichtig ist, darin zum Tragen kommt.

Vermittler zwischen mir und mir – ein Tumor als Bote?

Es war in einem kleinen Münchner Krankenhaus, als ich noch nicht wusste, was mit mir los ist, und ich wegen andauernder starker Schmerzen in der linken Körperhälfte durch eine lange ungewisse Phase der Diagnostik ging. Irgendwann hörte ich von einer jungen Ärztin, die ich an dem Tag zum ersten Mal sah, das Wort „Tumor“. „Wir haben auf dem letzten Bild etwas gefunden, das auf einen Tumor hindeutet. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht sagen.“

Ich ging auf die Dachterrasse des Krankenhauses. Ich setzte mich an einer schattigen Stelle in einen Liegestuhl und war dort alleine mit diesem Wort. Tumor. Ich sah den Tumor in meiner linken Körperhälfte vor mir, dort, wo ich die Schmerzen hatte. Ich war medizinisch nicht sehr bewandert, ich weiß nicht einmal, ob ich in diesem Moment fähig war, die Assoziation zu „Krebs“ herzustellen, ich glaube nicht. Entscheidend war, dass etwas in mir dem vermuteten Tumor in mir freundlich begegnete. In dieser ersten Begegnung hatte ich keine Angst. Ich spürte keinerlei Abwehr. Im Gegenteil. Ich empfand eine Art ruhigen Mitgefühls für das, was das Wort „Tumor“ als vage Gestalt irgendeiner körperlichen Erscheinung dort in mir bedeutete. Ich habe das nicht kraft einer vorher eingeübten Einstellung vermocht, aus der heraus ich gewusst hätte, wie wichtig es ist, die Wirklichkeit in ihrem Sosein anzunehmen. Dieser Moment eines tiefen Einverständnisses ist mir geschenkt worden. Ich empfinde ihn, wenn ich heute daran denke, immer noch als gnadenhaft. Es passierte ohne mein direktes Zutun. Aber es passierte in mir und mit mir, unter meiner Beteiligung. Ich war – oder wurde – beteiligt daran. Es geschah vollständig innerhalb meines wachen, fast überwachen Bewusstseins. Ich erlebte alles in mir und um mich her in einer immensen Klarheit. Die warme Luft, die Nähe der Baumkronen, die das Krankenhausdach umgaben, die Farben, die Gerüche der Gräser und Kräuter, die hier oben wuchsen, das Tageslicht, meinen Körper, und ein Licht innerhalb meines Körpers, dort, wo ich den Tumor vermutete, wo ich sein Vorhandensein annahm.

Was dann geschah, ist so persönlich, dass ich es hier nur andeuten will. Ich sah dort im Bereich des Tumors in der linken Hälfte meines Oberkörpers ein reales Geschehen aus meiner Kindheit ablaufen, das meinem Wachbewusstsein bis zu diesem Moment nicht zugänglich gewesen war. Ich hatte lange geahnt, zuletzt auch gewusst, dass es dieses traumatische Geschehen gegeben haben muss, hatte daran aber bisher nur Körpererinnerungen und keine bildhaften Erinnerungen gehabt. Jetzt, in dieser Begegnung mit dem Wort Tumor, in dieser Begegnung mit einer aktuellen gegebenen Wirklichkeit innerhalb meines Körpers, wurde eine im Körper abgespeicherte, vergangene Wirklichkeit frei. Sie stand mir nun erstmals als reale Erinnerung zur Verfügung. Ich sah, was passiert war, in allen Details vor mir, oder vielmehr in mir ablaufen. Es war ein überpräziser Film, der dort in meinem Körper in einem lichten Raum zu sehen war und dem ich mich weder entziehen konnte noch wollte. Ich spürte trotz der unerbittlich genauen Bilder, welches Geschenk sich da gerade ereignete. Etwas, das mein Leben bisher unerkannt mitbestimmt hatte, wurde erkennbar. Ich als Kind wurde mir darin erkennbar und erlebbar. Eine sehr kleine Anja hatte mir endlich alles gezeigt, was ich wissen musste. Das Kind, das ich damals war, blieb nicht in dieser nun verfügbaren Erinnerung zurück – es blieb stattdessen bei mir. Es blieb bei mir in meiner Gegenwart. So wenig wie ich hatte es Angst vor dem Tumor, obwohl dieser sich kurz danach als lebensbedrohlich herausstellen sollte. Meine Erstbegegnung mit dem Tumor hat das Kind freigegeben. Mit ihm habe ich es angenommen, habe es, mich, zu mir genommen.

Vermutlich, das denke ich heute mit Jahren Abstand, passierte ein Teil meiner Heilung damals in diesem Moment. Es folgte viel Schrecken und viel Schreckliches. Es folgte später auch viel Widerstand gegen meine Situation. Gegen die Tatsache, dass ich diese schwere Erkrankung so jung bekommen hatte, ein hochaggressiver Bauchspeicheldrüsenkrebs mit nur 43 Jahren. Ich entwickelte starke Widerstände gegen einige OP-Folgen, gegen meine immense Schwäche, gegen die Schmerzen. Ich befand mich teilweise in einem vor Empörung innerlich schreienden Kampf gegen meine Realität mit dem Krebs – ein auf 46 kg abgemagerter Körper mit kaum zu ertragenden Schmerzen bei jeder Darmtätigkeit und immensen Verdauungsschwierigkeiten. Leider vermittelten mir die Ärzte damals nicht, dass ich mit Ruhe und Geduld von selbst wieder zunehmen würde, sondern machten mir einen horrenden Druck mit der Ernährung, was meinen wunden Körper in noch mehr Stress versetzte und die Heilprozesse an dieser Stelle sicherlich nicht gerade beschleunigte. Ich kämpfte mit mir nach dieser ersten OP. Es dauerte Monate, bis ich aufhören konnte, mit den Begleiterscheinungen der Maßnahmen zu hadern, die mir das Leben gerettet hatten. Aber vor all diesen Schwierigkeiten lag jene kurze intensive Erfahrung der (Selbst-)Annahme. Und tatsächlich weiß ich, dass ich den Krebs als solchen zu keinem Moment als meinen Feind betrachtet habe. Ich habe mit vielem gekämpft, ich habe auch heute noch mit vielem zu kämpfen. Aber ich habe nie gegen den Krebs gekämpft. Ich bin ihm und mir dafür dankbar. Dieser Teil ist mir geschenkt worden. Entschlossene Akzeptanz als eigene Entscheidung, als selbstgewählte aktive Haltung musste ich danach mühsam dazulernen. Und dieser Lernprozess wird sich fortsetzen.

Auch kleine Entscheidungen für das Leben beruhen auf Akzeptanz

Während aller Kämpfe mit mir selbst und meinem Zustand gab es in den letzten Jahren auch Hunderte oder Tausende Momente von Akzeptanz. Es kann nicht anders sein. Auch bei dir war und ist das bereits so. Jede, auch die kleinste unserer Entscheidungen für das Leben beruht letztlich auf Akzeptanz. Selten ist uns das voll bewusst. Trotz Appetitlosigkeit etwas zu essen ist eine Entscheidung fürs Leben, sie setzt die Akzeptanz voraus, dass wir Nahrung brauchen. Trotz Schmerzen zuerst vom Krankenhausbett aus und dann in der Reha all die Übungen zu machen, die uns wieder in die Aufrichtung bringen, uns unsere Bewegungsfreiheit zurückgeben, ist eine Entscheidung fürs Leben. Sie setzt die Akzeptanz voraus, dass unser Körper schwer erkrankt ist und wir ihm beim Gesundwerden helfen müssen. Später trotz anderer Gewohnheiten und trotz eines gewissen Aufwands unsere Ernährung umzustellen, ist eine Entscheidung für das lebendige Leben, das wir sind. Sie hat die Akzeptanz der Tatsache zur Voraussetzung, dass es Ernährungsweisen gibt, die uns eher schaden und andere, die unser Immunsystem bei seiner täglichen Arbeit unterstützen.

Unsere Grenzen zu achten, ist eine Entscheidung für das Leben. Ihr geht die Akzeptanz voran, dass wir Grenzen haben, dass unsere Kräfte und Möglichkeiten ganz real begrenzt sind. Das ist immer so, aber vielleicht ist es seit der Erkrankung auch bei dir stärker der Fall als zuvor. Obwohl es mitunter extrem mühevoll ist, die Seele zu all dem zu befragen, ist auch das immer wieder von neuem eine Entscheidung für das Leben. Sie hat die Akzeptanz zur Voraussetzung, dass Körper und Seele miteinander verbunden sind, dass sie sich an jedem Punkt durchdringen und aufeinander angewiesen sind, wenn wir wirklich leben wollen.

Um mehr Akzeptanz zu gewinnen oder sie als Grundhaltung zu erlernen, ist es gut, sich klarzumachen, dass es unzählige Gelegenheiten gibt, wo wir sie bereits ganz selbstverständlich leben. Darauf können wir vertrauen, darauf können wir aufbauen.

„Ich akzeptiere, dass ich noch nicht akzeptieren kann, dass …“

Wenn du noch mit der Tatsache haderst, dass du überhaupt an Krebs erkrankt bist, dann ist das nicht schlimm. Denn wenn du spürst, dass du es einfach nicht akzeptieren kannst, Krebs zu haben, ist genau das im Moment ein Teil deiner Wirklichkeit. Schau was passiert, wenn du dir dann sagst: Ich akzeptiere es, dass ich meinen Krebs noch nicht akzeptieren kann. Es darf so sein. Es darf so sein, weil es im Moment so ist. Alles, was da sein darf, kann sich verwandeln. Wenn du nicht gegen die Tatsache kämpfst, dass dir noch ein Stück Akzeptanz fehlt, sondern weich mit dieser Tatsache mitgehst, wird sich etwas in deinem Erleben verändern.

Sich annehmen, so wie man gerade ist, heißt ja eben nicht, sich zu einem Ideal hinbiegen zu wollen, als das man dann hofft, sich eines Tages annehmen zu können … Das ist das alte Muster. Wir tragen es alle in uns. Auch dagegen müssen wir nicht ankämpfen. Wir können diesem Muster freundlich eine andere, annehmende Denkweise zur Seite stellen und uns immer häufiger für diese entscheiden. Irgendwann wird dann das neue, annehmende Denken zu unserer eigentlichen Haltung. Ich akzeptiere, dass ich immer noch glaube, einem Ideal entsprechen zu müssen, bevor ich mich ganz annehmen kann. – Sobald du das alte Muster auf diese Weise in deine Selbstannahme mit einbeziehst, ist es weniger wirksam.

So kannst du deine Kreise ziehen mit der Akzeptanz. Es verlangt etwas Aufmerksamkeit für das, was du alles unwillkürlich ablehnst und nicht akzeptieren willst. Wenn du irgendwann Lust hast, kannst du zum Krebs zurückkehren und einmal versuchsweise sagen: Ich akzeptiere, dass ich Krebs habe. Dann schau, wie sich das anfühlt. Vielleicht spürst du ein kleines bisschen Erleichterung. Dann lass sie sich in deinem Körper ausbreiten und verankern.

Und wenn du willst, geh weiter. Ich bin bereit, die Erfahrung zu machen, Krebs zu haben. Wie ist das? Wenn sich etwas in dir jetzt sträubt, nimm das Sträuben an: Ich akzeptiere, dass sich bei diesem Gedanken etwas in mir sträubt. Lass dir Zeit. Geh immer mit dem, was gerade ist. Jede Empfindung, jede Erfahrung sind willkommen. Alles ist Ausdruck deines lebendigen Erlebens, jetzt und hier, in diesem Moment. An einem anderen Tag möchtest du dich vielleicht weiter vorantasten: Ich bin bereit, alles zu erfahren, was der Krebs mir mitteilen möchte. Such deine eigenen Worte. Schau, was in dir deine Akzeptanz braucht, und sprich es freundlich an.

Etwas bejahen heißt nicht, es gut finden zu müssen

Du wirst merken, dass diese Form der wahrnehmenden Akzeptanz nichts mit Resignation zu tun hat. Ich würde sogar sagen, es ist gerade das Gegenteil von Resignation. Resignation bedeutet, sich mit etwas abzufinden, das man nicht haben will. Etwas wird dann als unabänderlich angesehen, aber es wird nicht geliebt. Akzeptanz heißt, etwas vorzufinden, das man als einschränkend oder unangenehm oder vielleicht sogar schrecklich erlebt, und dann zu beginnen, damit bewusst und aktiv umzugehen – letztlich also sich seiner liebend anzunehmen.

In der Resignation hängen unsere Schultern nach unten, wir bewegen uns nicht oder nur mühsam, unser Blick wird leer oder stumpf, wir schauen nicht mehr in die Ferne, weil wir nichts Gutes mehr in ihr erwarten. Wir ziehen uns in einen immer kleineren Handlungsradius zurück, tun das aber nicht entschiedenermaßen, sondern lassen es eher schleichend geschehen. In der Resignation schrumpfen die Lebensgeister vor sich hin und werden müde. Je resignierter ein Mensch ist, desto weniger bewusst gewählte Entscheidungen wird er treffen.

Ganz anders ist es in der Haltung der Akzeptanz. Akzeptieren was ist, macht extrem wach. Es erzeugt einen interessierten Blick, mit dem wir allem, was ist, offen ins Gesicht schauen. Nur, was ich klar vor mir sehe, was ich in seinem Sosein erblicke und erkenne, kann ich auch ganz annehmen. Unabänderliches zu akzeptieren, verlangt und bewirkt eine besonders aufrechte – und auch aufrichtige – Haltung. Es braucht Ehrlichkeit mit mir und anderen, es braucht den Mut, der Realität ins Auge zu sehen. Wenn diese Realität in einer Diagnose besteht, kann ich mich dazu entschließen, mich dieser Diagnose zu stellen. Gleichzeitig oder etwas zeitversetzt kann ich auch die Gefühle anschauen, die das in mir auslöst. Das kann mindestens ebenso herausfordernd sein und beides braucht unsere Entschlossenheit. Akzeptanz ist eine äußerst aktive Geisteshaltung und Lebenseinstellung. Wenn mir das bewusst ist, kann ich mich in Situationen, denen ich mich zunächst hilflos ausgeliefert fühle oder in denen mein Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist, dennoch als Akteurin, als Gestalterin meines Lebens erleben.

Was veränderbar ist, wird verändert – was unveränderbar ist, verändert mich

Eine kleine Geschichte von Pragmatismus und Nächstenliebe aus meiner Kindheit hat sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. Als meine Mutter nach der Geburt meiner jüngsten Schwester wegen Komplikationen, die nach dem Kaiserschnitt auftraten, längere Zeit im Krankenhaus lag, litt sie unter fürchterlichen Rückenschmerzen. Sie bat wegen der durchgelegenen Matratze mehrfach um ein anderes Bett. Es gäbe keines, sie müsse das schon aushalten, hieß es. Die Tage vergingen quälend, nicht nur der Rücken und die Operationswunde, auch die Seele tat ihr weh (dem Leiden an einer postnatalen Depression wurde damals leider noch wenig Beachtung geschenkt). In der zweiten Woche erhielt sie Besuch von einer älteren Nachbarin, die erkannte, wie schlecht es meiner Mutter ging. Sie nahm die Rückenschmerzen ernst, untersuchte das Bett, stellte fest, dass der Rost im Bereich des unteren Rückens defekt war und keinerlei Unterstützung bot. Sie redete mit der diensthabenden Schwester. Dann mit der Stationsleitung. Immer wieder hieß es, da sei nichts zu machen, es gäbe kein anderes freies Bett. Schließlich verlangte sie den Hausmeister zu sprechen. Sie bat ihn um eine alte Tür. Irgendwo im Krankenhaus werde es doch eine ausgehängte und abgestellte Holztüre geben, die nicht mehr gebraucht würde. Die Dame besaß eine natürliche Autorität, der Hausmeister schaffte die erbetene Tür herbei. Auf Geheiß der Nachbarin wurde sie wie ein Brett zwischen Bettgestell und Matratze geschoben. Meine Mutter konnte endlich flach liegen. Die Rückenschmerzen vergingen, es ging bergauf. Durch die tatkräftige Zuwendung der couragierten Nachbarin hatte sich ihre Lage im buchstäblichen und im übertragenen Sinne verändert.

35 Jahre später schrieb das Leben eine Fortsetzung oder Variation dieser Geschichte, aber das bemerke ich erst jetzt in diesem Moment, während ich versuche, ein paar Gedanken über äußere und innere Veränderungen mit dir zu teilen: Als ich nach meiner Erstdiagnose zuhause einige Tage auf die OP warten musste, konnte ich vor Schmerzen nicht mehr horizontal liegen. Die einzige aushaltbare Stellung war eine halb sitzende Position mit hochgelagerten Beinen. Ich erzählte meinen Eltern am Telefon davon. Drei Stunden später standen sie mit einem gebrauchten Elektrobett vor meiner Tür. Sie hatten es über Ebay-Kleinanzeigen aus meiner unmittelbaren Nachbarschaft besorgt, Kopf- und Fußteil ließen sich auf Knopfdruck in genau die Position bringen, die mein Körper brauchte, um die Zeit zu überstehen. Ein winziger Schritt auf dem langen Krankheits- und Genesungsweg, ein Liebesdienst – eine Erfahrung von Veränderungsmöglichkeit trotz eigener Hilflosigkeit.

Woran denkst du jetzt gerade, wenn du zu dir selbst hinschaust?

Welche segensreichen Veränderungen hast du in einer belastenden Situation schon erleben dürfen, weil andere sie für dich möglich gemacht haben?

Wo hast du schon wichtige Veränderungen für einen deiner Mitmenschen herbeigeführt? Wo für dich selbst? Sei es im Kleinen durch punktuelle Linderung von etwas Qualvollem, sei es im Großen durch eine tiefgreifende, eine weitreichende Entscheidung, die du getroffen hast?

Überall da, wo sich ein Problem lösen lässt, wo wir Leidbringendes für uns oder andere lindern können, ist unsere Entscheidungs- und Handlungsbereitschaft gefragt. Erst wenn wir mit etwas konfrontiert sind, das wir nicht verändern können, ist unsere Akzeptanz gefragt.

Was änderbar ist, dem gebührt die Priorität – wenn aber eine leidvolle Situation nicht veränderbar ist, dann „eignet ihr die Superiorität“, sie hat dann also etwas Übergeordnetes.