Ich liebe dich, weil ich dich brauche - Julia Obuco - E-Book

Ich liebe dich, weil ich dich brauche E-Book

Julia Obuco

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Beschreibung

Wahrheit und Lüge - Sehnsucht und Angst - Träume und AbhängigkeitenBen und Lena - ein Schicksal zwischen Welten. Ben, ein junger Migrant aus Nigeria, wagt mit 16 Jahren den gefährlichen Weg nach Europa, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Lena hingegen, aufgewachsen in der behüteten Schweiz, fühlt sich ständig dem Druck und den Erwartungen ihrer Umgebung ausgesetzt. Als sich ihre Wege kreuzen und sie sich ineinander verlieben,stoßen sie auf Hindernisse, die ihre Liebe auf eine harte Probe stellen.Inmitten einer Welt voller illegaler Substanzen und verführerischer Macht streben sie nach einem Traum, der ihr Leben verändern soll. Doch sie ignorieren die Zeichen, dass ihre Beziehung ihnen mehr schadet als nützt, und der Preis, den sie dafür zahlen, wird immer höher.Eine fesselnde Geschichte über Leidenschaft, Hoffnung und den hohen Preis der Liebe, die den düsteren Schatten der Realität enthüllt.

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Seitenzahl: 672

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Erster Teil

Der Traum von Europa

Benin City, Nigeria, Oktober 1992

Ben saß im Wohnzimmer, wie es ihm seine Mutter befohlen hatte. Er hörte, wie sie in der Küche seinen Vater anschrie: „Leslie, du musst etwas unternehmen! Dein Sohn bringt unsere Familie in Verruf! Wie soll ich am Sonntag unseren Geschwistern im Königreichsaal in die Augen schauen können? Jeder weiß, dass dein Sohn einen schlechten Umgang pflegt und nicht seinen Pflichten nachkommt! Und weißt du, auf wen das zurückfällt? Auf uns beide!“

Ben kannte diese Art von Streit. Wenn seine Mutter ihn als Sohn seines Vaters bezeichnete, obwohl er ebenso der ihre war, dann war ihre Schmerzgrenze erreicht. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein Vater mit eingesunkenen Schultern in der Küche saß und wartete, bis seine Frau sich wieder beruhigt hatte. Aber das konnte dauern. Ben wusste auch, was als nächstes kommen würde.

Er überlegte sich, wie viel seine Mutter wohl wusste. Wusste sie nur, dass er aus ihrer Bäckerei Brote hatte mitgehen lassen und diese im Viertel verkauft hatte, um dann das Geld dafür selbst einzustecken? Oder wusste sie, dass er mit seinem Freund Conrad Geld aus der Kasse des Barbershops gestohlen hatte? Er würde es bald erfahren. Bis dahin konnte er nichts tun als abzuwarten. Sein Blick streifte den Wachtturm, der auf dem Couchtisch lag. Wie sehr er diese Zeitschrift hasste. Diese dreißig Seiten waren gefüllt mit Regeln und Verboten, die sein Leben reglementierten. Als Lohn für ein tadelloses Leben wurde von diesem Regelwerk eine blendende Zukunft in der neuen Welt versprochen, die nach der Vernichtung der Ungläubigen, nach Harmagedon, auf der Erde errichtet werden sollte. Bis dahin sollten die Gläubigen ein folgsames Leben führen und Jehovas Botschaft in die Welt tragen. Bens Familie war Mitglied bei den Zeugen, und somit galten für sie seine Regeln, wobei ‚Regeln‘ ein zu lasches Wort war. Es waren keine Regeln, an die man sich halten konnte oder nicht, es waren Gesetze, die befolgt werden mussten, das Seelenheil jedes Gläubigen stand auf dem Spiel!

Bens Vater tauchte nun im Korridor auf und trottete müde zu ihm ins Wohnzimmer. Seine Mutter rauschte durchs Zimmer und verließ dann eiligst die Wohnung, ohne Ben eines Blickes zu würdigen. Wahrscheinlich ging sie zurück in ihre Bäckerei.

Sein Vater setzte sich zu Ben und seufzte: „Mein Sohn, warum kannst du es uns nicht einfacher machen?“ Ben antwortete nicht. Dieselbe Frage hätte er seinem Vater stellen können. Warum machten seine Eltern es ihm nicht einfacher? Abgesehen davon, dass dies eine rhetorische Frage war, wusste Ben, dass er seinem Vater nie eine ehrliche Antwort darauf geben durfte. Sein Vater duldete viel und war sparsam mit Schlägen, aber Widerworte akzeptierte er nicht. Also saß Ben einfach da und wartete auf die Moralpredigt, die ihn nun erwartete und die er nur zu gut kannte.

Bens Vater griff nach dem Wachtturm auf dem Tisch und blätterte darin herum. Als er die gewünschte Seite gefunden hatte, las er laut vor: „Wenn ihr eure Kinder liebt, dann werdet ihr sie zu gottgefälligen Zeugen erziehen. Ihr kennt die Wahrheit und es liegt in eurer Verantwortung als Eltern, euren Kindern das Gesetz von Jehova ins Herz zu legen.“ Ben schloss seine Augen. Er hatte keine Ahnung, was er mit solchen Worten anfangen sollte. Ihm wäre es sogar lieber gewesen, sein Vater hätte ihn angeschrien oder geschlagen, wie es seine Cousins und Freunde mit ihren Vätern erlebten. Stattdessen bekam er stets nur solche Ermahnungen zu hören, und der enttäuschte, resignierte Blick seines Vaters traf ihn besonders hart. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen, aber er wollte auch leben, nicht nur Regeln befolgen und ein braver Zeuge Jehovas sein.

Ben wusste, dass er nicht dem Bild eines Sohnes entsprach, wie ihn sich seine Eltern wünschten. Er war nicht wie seine Geschwister. Die fügten sich in die Rollen, die ihnen zugedacht waren. Sie gingen zur Schule, machten ihre Hausaufgaben und halfen zuhause mit. Sie studierten die Zeitschriften Erwachet und Wachtturm, die wöchentlich neu erschienen. Sie bereiteten sich auf die Zusammenkünfte vor, die mehrmals wöchentlich stattfanden und zwingend besucht werden mussten. Es war nicht damit getan, die Zeitschriften nur zu lesen, man musste die entscheidenden Punkte auswendig lernen und vor der gesamten Versammlung aufsagen können. Vor allem Bens ältere Schwester liebte das, Ben hingegen hasste es zutiefst. Denn ihn langweilten die Themen, die vorgeschriebenen Antworten, das ständige Wiederholen derselben Phrasen. Er hatte andere Ziele als sein Seelenheil. Er wollte erfolgreich sein, Ansehen und Geld haben. Er wollte ein aufregendes Leben, nicht dieses immer gleichbleibende öde Leben, dass seine Eltern für ihn vorsahen.

Sein Vater griff nach Bens Händen: „Mein Sohn, begreif doch, dass ich nur das Beste für dich will! Ich verstehe, dass du etwas erreichen willst. Und glaub mir, das will ich auch! Jeder will das. Aber Geld ist nicht das Einzige, was zählt. In der Bibel steht: ‘Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt besitzt und dafür seine Seele verliert? ’ Genauso ist es, Benjamin. Jeder Mensch will Erfolg haben. Aber der wahre Erfolg ist es, in Jehovas Augen Anerkennung zu finden.“

Ben nickte. Er hatte genug solcher Gespräche erlebt, um zu wissen, dass sein Vater seinen Standpunkt nicht verstehen konnte. Je eher er nachgab, umso schneller konnte er wieder nach draußen zu Conrad gehen. „Wenn du Geld brauchst, dann komm bitte in Zukunft zu mir. Deine Mutter arbeitet hart in der Bäckerei, sie muss die Mädchen bezahlen, das Holz für den Ofen und die Lieferanten. Es ist nicht recht, wenn du ihr Brot verkaufst und den Erlös in deine eigene Tasche steckst! Schon bald werde ich dich mit auf die Baustellen nehmen und dich in mein Geschäft einführen. Du bist mein ältester Sohn, du wirst eines Tages mein Nachfolger werden, wenn Jehova es will.“

„Ja, Papa, ich weiß, es tut mir leid, dass ich euch Sorgen bereitet habe“, sagte Ben, als wäre es ein auswendig gelernter Satz aus dem Wachtturm, und in gewisser Weise war es das auch. Sein Vater nickte zufrieden. Ben war erleichtert. Wenn seine Eltern scheinbar nichts von dem Griff in die Kasse des Barbershops wussten, dann musste er das gestohlene Geld dort auch nicht zurückgeben, und würde seinem Traum wieder ein Stück näher kommen: Ben träumte nämlich davon, aus Nigeria wegzugehen, schon seit er zehn Jahre alt geworden war, er musste dafür aber genügend Geld haben. Mit zehn Jahren hatte er zum ersten Mal einen Europäer gesehen. Ben war bei seinem Onkel George in Lagos zu Besuch gewesen, Onkel George besaß ein Haus in England und pendelte zwischen England und Nigeria hin und her. Einmal brachte er einen Geschäftspartner aus England mit. Ben hatte den weißen Mann mit großen Augen angestarrt. Natürlich hatte er zuvor schon gewusst, dass es weiße Menschen gab, die Zeichnungen im Wachtturm zeigten oft weiße Menschen, auch Asiaten und Afrikaner, die den Anschein erzeugten, als wimmelte es auf der ganzen Welt nur so von Zeugen Jehovas. Aber es war das erste Mal, dass Ben wahrhaftig einen Weißen sah. Alles an ihm erschien Ben perfekt. Er war nicht besonders groß, aber das brauchte er gar nicht zu sein, er strahlte an sich schon eine Selbstsicherheit aus, die Ben beeindruckte. Er sprach leise, mit einer tiefen Stimme, und wenn er sprach, verstummten alle anderen im Raum. Eigentlich beeinflusste der Weiße die Menschen bereits, als er den Raum betrat. Sofort änderte sich die Atmosphäre, sofort zog er die Aufmerksamkeit auf sich, sofort entstand eine merkwürdige Erwartungshaltung der Anwesenden, als könnte dieser kleine unscheinbare Mann ihr Leben verändern. Jedenfalls empfand es Ben so. Er spürte ein erwartungsvolles Kribbeln in seinem Bauch und empfand den starken Drang danach, die Hand dieses Mannes zu nehmen und nie mehr loszulassen. Er konnte es sich nicht erklären, aber die Anziehung zum weißen Mann war spürbar da.

Später erzählte ihm sein Onkel, dass der Weiße ein reicher Engländer sei, der aus Nigeria Rohstoffe für seine Fabriken importieren wollte.

„Hat er ein großes Haus in England? “ wollte Ben wissen.

„Ein großes Haus?“, echote sein Onkel lachend: „Er hat allein drei Häuser in England und eins in Spanien, direkt am Meer, mit einer großen Jacht.“

Seit diesem Tag träumte Ben davon, eines Tages nach Europa zu gehen und dort reich zu werden. Jedes Mal, wenn er seinen Onkel sah, fragte er ihn aus. Er wollte alles über England wissen. Sein Onkel lachte stets und erzählte von einer fremden Welt – einer Welt, in der man mit Fleiß alles erreichen konnte: „Wenn du in England eine Woche lang arbeitest, verdienst du gleich viel, wie du hier in einem Monat erhältst. Und das Beste ist, die Straßen sind sauber und sicher, du kannst um jede Tages- und Nachtzeit nach draußen gehen, ohne Angst um dein Leben haben zu müssen. Es gibt rund um die Uhr Strom und fließendes Wasser, soviel du willst.“ Ben staunte. Hier gab es morgens und abends nur ein paar Stunden lang Strom, manchmal auch tagelang überhaupt keinen. Und das Wasser musste man in Flaschen kaufen oder in einem großen Tank auf das Grundstück liefern lassen. Es gab zwar Wasserleitungen im Haus, aber aus den Hähnen kam nur eine rostige Brühe. Dieses Europa musste dagegen ein Paradies sein, da wollte er hin.

In Benin City war eines jederzeit gegenwärtig: Das Bewusstsein, dass es verschiedene Welten gab. In den Außenbezirken gab es wirklich arme Leute, die in slumähnlichen Wellblechhütten auf engstem Raum zusammenlebten. Einige besaßen eine kleine Hütte aus Holz, aber ohne Strom und fliessendem Wasser mussten auch sie auskommen, denn auch sie waren arm. Nur wenige Straßen weiter gab es gemauerte ein- oder zweistöckige Häuser mit Strom- und Wasserleitungen. Jedes Haus war von einer zwei bis drei Meter hohen Mauer umgeben, einer Sicherheitsschranke, welche die Armen fernhalten sollte. Hier wohnte die Mittelschicht, zu der auch Bens Familie gehörte. Und dann gab es die Quartiere für die wirklich Reichen. Hier waren die Schutzmauern noch höher, und die Quartiereingänge wurden von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht, ohne Einladung von einem Hausbesitzer war es also unmöglich, dort hineinzugelangen. Die Häuser in diesen Siedlungen waren aus den besten Materialien gebaut, mit Marmorböden und goldenen Wasserhähnen. Die Millionenstadt Benin City vereinte Millionen verschiedener Schicksale und jeder schien irgendwie gefangen in seiner Realität, jeder schien am Strampeln und am Kämpfen. Wer arm war, der wollte genug zum Leben haben. In der Mittelschicht wollte man reich werden, und die Reichen verteidigten ihren Reichtum und ihre Privilegien.

Und mittendrin war er, Ben. Er fühlte sich schon sein ganzes Leben lang unverstanden und hin- und hergerissen. Die gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits gehörte zu den Zeugen Jehovas. Sein Vater kam aus einer erfolgreichen Familie aus Benin City, die zur Oberschicht gehörte, Handel betrieb und mit Bauunternehmungen reich geworden war. Als Bens Vater dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er Grace kennengelernt. Sie stand eines Tages vor seiner Tür, drückte ihm eine Zeitschrift in die Hand und erzählte von Gott. Dieser Tag hatte sein Leben für immer verändert, denn er verliebte sich Hals über Kopf in die junge Frau. Um sie wiederzusehen, besuchte er eine Zusammenkunft der Zeugen Jehovas. Seine Angebetete machte ihm schnell klar, dass sie nur mit ihm zusammen sein wollte, wenn auch er ein Zeuge wurde. Dies beeindruckte den jungen Leslie. An Verehrerinnen hatte es ihm nie gemangelt, er sah gut aus und hatte keine finanziellen Sorgen. Für Grace schien dies alles jedoch nur zweitrangig zu sein. Obwohl ihn ihre religiöse Haltung zunächst beeindruckte, nahm Leslie das Ganze nicht so ernst, er hielt es eher für eine Spielerei, und war sicher, dass Grace ihn auch nehmen würde, ohne dass er dafür ihren Glauben annehmen musste. Er war schließlich Christ, kein regelmäßiger Kirchgänger zwar, aber auch kein Ungläubiger.

Grace belehrte Leslie eines Besseren: Sie machte ihm klar, dass es nur eine gemeinsame Zukunft für sie beide gab, wenn er ein richtiger Zeuge Jehovas wurde. Und Leslie war so sehr in Grace verliebt, dass er begann, ihre Worte ernster zu nehmen. Er fing an, sich mit den Lehren der Zeugen zu befassen, besuchte regelmäßig die Zusammenkünfte und ließ sich darauf ein. Damit gewann er die Liebe von Grace – aber er verlor dadurch seine eigene Familie. Sein Vater war dermaßen entsetzt von der 180-Grad-Wendung, die das Leben seines Sohnes nahm, dass er ihn hinauswarf aus seinem Haus. In seinen Augen war Leslie einer Sekte verfallen und das wollte er nicht dulden. So kam es, dass Leslies Brüder in die Familiengeschäfte eingebunden wurden, aber er selbst nicht. Für Leslie bedeutete dies, praktisch mittellos zu werden. Graces Familie versicherte ihm, daran könne er erkennen, dass die Welt und alles, was sie beinhaltete, böse sei.

Ben konnte sich daran erinnern, wie arm seine Familie gewesen war, als er und seine Schwester noch klein waren. Sein Onkel George, der auf seine eigene Weise ebenfalls ein schwarzes Schaf in der Familie war, hatte seinem Vater später das Geld gegeben, um ein paar Maschinen zu kaufen und damit eine eigene kleine Baufirma aufzubauen. Leslie wurde nicht reich damit, konnte aber immerhin seine Familie ernähren. Er war seinem Bruder für seine Hilfe dankbar und strebte nie nach mehr, für ihn war es wichtig, mitzuhelfen, Jehovas Reich auf der Erde aufzubauen. Der Familie seiner Frau musste er ständig beweisen, dass ihm sein Glaube auch wirklich wichtiger war als die Annehmlichkeiten seines alten Lebens.

Ben konnte seinen Vater nicht verstehen, es war ihm schleierhaft, wie er sich mit so wenig zufriedengeben konnte. Er erinnerte sich gut an das Anwesen seines Großvaters: Als kleiner Junge war er ein paarmal mit seinen Cousins dort gewesen, später hatte seine Mutter ihm verboten, dorthin zu gehen. Sein Großvater besaß ein zweistöckiges Haus mit vielen Zimmern und einer großen Einfahrt. Er hatte sogar Hausangestellte. Hinter dem Haus gab es Mangobäume mit süßen Früchten. Wenn Ben seine Mutter fragte, warum sie nicht auch in solch einem Haus wohnten, sagte sie: „Dein Großvater ist ein schlechter Mensch, er besitzt viel, aber sein Herz ist hart und kalt. Wir gehören zum auserwählten Volk, wir müssen jetzt zwar manches erdulden, aber nach Harmagedon wird uns die Erde gehören, und zwar für immer.“ Diese Erklärung stellte Ben jedoch nicht zufrieden. Es ging nicht nur um seinen Großvater, auch Onkel George war reich, und der war richtig nett und steckte Ben immer wieder ein paar Scheine zu, wenn er ihn sah. Sein Herz war nicht hart und kalt, er würde aber trotzdem keinen Platz in Jehovas neuer Welt haben – war dies nicht ein Widerspruch? Ben haderte oft mit seinem Schicksal. Wenn wenigstens die Aussicht auf das Paradies auf Erden verlockend gewesen wäre, aber in seinen Augen war sie das nicht. Die Idylle nach Harmagedon, wie sie in den Schriften der Zeugen Jehovas geschildert wurde, erschien ihm unwirklich und langweilig. Angeblich würden dann alle Menschen friedlich zusammenleben und alles zusammen teilen. Wie langweilig musste das sein? Das Aufregende im Leben war doch gerade, mehr zu besitzen als andere, sich etwas leisten zu können, was andere nicht hatten. Was sollte am Leben denn verlockend sein, wenn alle gleich viel besaßen? Es war doch viel beeindruckender, wenn man sich etwas erarbeitete und dann dafür bewundert wurde. Frieden auf Erden klang zwar edel und schön, Erfolg, Reichtum und Spaß klangen in Bens Ohren aber viel verlockender.

Ben beneidete seinen Freund Conrad. Conrad gehörte ebenfalls zu einer alteingesessenen Familie in Benin City. Alle aus Conrads Familie waren Mitglieder einer Pfingstgemeinde, besuchten regelmäßig die Gottesdienste, aber der Glaube blieb bei ihnen dort, wo er Bens Meinung nach auch hingehörte, in der Kirche. Conrads Eltern und Geschwister behandelten Ben wie ein Familienmitglied, er fühlte sich wohl bei ihnen und von ihnen angenommen, wie er war.

Ben mochte auch seinen Onkel George, aber der kam nur selten zu Besuch, Ben bedauerte es überhaupt, dass er nicht häufiger Kontakt zu der Familie seines Vaters haben durfte. Dort fühlte er sich viel wohler, dort versuchte niemand, ihn zurechtzustutzen. Aber seine Eltern vermieden jeden engen Kontakt zu diesem Zweig der Familie. Es war ihnen auch ein Dorn im Auge, dass Ben so viel Zeit mit Conrad verbrachte. Bens Eltern befürchteten, dass Conrad ihn vom rechten Weg abbringen könnte und betrachteten ihn daher als potenzielle Gefahr. Aber Ben liebte Conrad. Für ihn war er der wichtigste Mensch auf der Welt. Wenn er mit Conrad zusammen war, konnte Ben er selbst sein, zuhause musste er sich hingegen immer zurücknehmen, er war zu impulsiv, zu waghalsig und zu abenteuerlustig, solche Charakterzüge waren bei den Zeugen Jehovas nicht vorgesehen.

Mit Conrad zusammen unternahm Ben die abenteuerlichsten Aktionen: Wie die Aktion letztens im Barbershop. Conrad verwickelte den Barber in ein Gespräch, während Ben schnell in die Dose mit dem Geld griff, welche im Regal hinter dem kleinen Tresen stand. Er nahm nur einige Scheine hinaus, in der Hoffnung, dass der Diebstahl nicht auffiel. Wenn man solche Dinge geschickt anstellte, merkte es niemand. Gierig durfte man nicht sein, und man musste seine Nervosität verstecken, wenn trotz aller Vorsicht das Fehlen des Geldes hinterher jemandem auffiel. Wenn man sich dann eigenartig benahm, machte man sich verdächtig, blieb man cool, konnte einem nichts passieren. Ben hatte ein Händchen für so etwas: Dass er sich in seiner Familie so oft verstellen musste, war nämlich auch ein Vorteil; dadurch war er es gewohnt, seine wahren Gefühle zu verbergen und Gelegenheiten zu ergreifen, um seine eigenen Pläne durchzusetzen.

Ben hatte sein Leben lang Menschen beobachtet: Ehrliche, anständige Menschen schienen nur selten glücklich zu sein. Meistens zogen sich Sorgenfalten und Müdigkeit über ihre Gesichter. So wollte er nicht werden. Obwohl er sich innerlich dagegen sträubte, hatte die Botschaft der Zeugen Jehovas, die er ständig zu hören bekam, auch in seinem Denken Fuß gefasst: Er betrachtete nur die Zeugen Jehovas als wirklich ehrlich. Demzufolge schuldete er in dieser Logik auch nur ihnen wirklichen Respekt und hätte ihnen eigentlich nacheifern sollen. Aber das konnte er nicht. Er wollte nicht so werden wie sie. Seine Bewunderung galt Menschen wie seinem Onkel George. Der war aber laut den Zeugen Jehovas auf der falschen Seite, gehörte für sie zur bösen Welt und war deshalb dem Untergang geweiht. Und trotzdem wollte Ben so sein wie er. Es war paradox. George war schon immer sein Vorbild gewesen, spätestens nach seinem Erscheinen mit dem Engländer war für Ben klar, dass er genauso werden wollte wie sein Onkel. Obwohl George schon in Nigeria eine gute wirtschaftliche Ausgangslage gehabt hatte, hatte er sich nicht damit zufriedengeben wollen und war nach Europa gereist, als seine Kinder noch klein gewesen waren. Nach einigen Jahren war er mit einer anderen Frau und einem kleinen Sohn wieder aufgetaucht und hatte damit begonnen, ein zweites Haus zu bauen. George machte alles mit einer Selbstverständlichkeit, die Ben verblüffte. Erfolg schien etwas ganz Natürliches für ihn zu sein und keine Grenzen zu haben. Bei jedem Besuch fuhr George einen anderen Wagen, er trug immer die neuste Mode, seine Kinder besuchten die besten Schulen und erhielten gute Studienplätze. Seine Frauen, mittlerweile hatte er gerade das Haus für seine dritte Frau fertig bauen lassen, tolerierten seinen Lebenswandel, sie lebten ein Leben im Wohlstand und konnten sich vieles leisten, und nur das schien wichtig zu sein für diese Familie. Georges Frauen waren alle drei Nigerianerinnen. Als Ben ihn einmal fragte, ob es in Europa keine schönen Frauen gäbe, hatte George nur gelacht und gesagt: "Oh doch, mein Junge, und ob! In Europa gibt es wunderschöne Frauen. Aber die wollen selbst über alles bestimmen und sich von einem Mann nichts sagen lassen, das ist nichts für mich! Ich will mit einer Frau nicht herumdiskutieren müssen, sie muss schon ihren Platz kennen!“

Verglichen mit Georges Leben, kam Ben sein eigenes umso langweiliger vor. Die Lehren der Zeugen Jehovas wurden in seiner Familie nie hinterfragt. Die Erkenntnisse, die wöchentlich in den Zeitschriften veröffentlicht und in den Zusammenkünften gelehrt wurden, waren Gesetz. Und es war immer dasselbe. Zwar wurde immer wieder von neuen Erkenntnissen und Offenbarungen gesprochen, aber es war nie etwas wirklich Neues dabei. Es ging ständig darum, dass man sich unauffällig und sittsam benehmen, Jehovas Regeln befolgen und ein tadelloses, gottesfürchtiges Leben führen sollte. Ben konnte damit nichts anfangen, er wollte kein solches Leben, sah nichts Erstrebenswertes darin. In seinem Inneren tobte ein ständiger Kampf und er sehnte sich nach Frieden: Er war sich sicher, wie er diesen Frieden erlangen konnte, nur durch Erfolg und Reichtum.

Ben ahnte nicht, dass sein Onkel bereits ins Auge gefasst hatte, seinem rebellischen Neffen die Reise nach Europa zu ermöglichen. George hatte nämlich sehr wohl bemerkt, wie ähnlich Ben ihm war, er würde sich nicht mit einem mittelmäßigen Leben zufriedengeben, in einer Ideologie gefangen, die ihm keine Luft zum Atmen ließ. Ben war einfallsreich und nicht zimperlich, und er hatte einen Traum, wollte etwas erreichen, genau das brauchte es. Außerdem wollte George nicht ewig für die Familie seines Bruders sorgen müssen. Es war Zeit, dass sein Bruder ohne ihn auskam, und Ben seine Familie wirtschaftlich unterstützte. Früher oder später würde sein Bruder einlenken und Ben nach Europa gehen lassen, es war nur eine Frage der Zeit, da war sich George sicher.

Licht und Dunkelheit

Saules, Schweiz, September 1994

Lena trug den Wäschekorb nach draußen, um die Wäsche aufzuhängen. Yves und Zelia umkreisten sie mit ihren Fahrrädern und bettelten: „Nun komm schon, spiel mit uns!“ Lena deutete auf den Wäschekorb: „Wenn ich mit der Wäsche fertig bin, mache ich mit, versprochen!“

Die Kinder jubelten und drehten weiter ihre Runden. Lena lächelte. Sie war erstaunt, wie sehr sie sich in den letzten Wochen verändert hatte. Vor zwei Monaten hatte sie die Sekundarschule abgeschlossen und war hierhergekommen, in die Westschweiz. Schon allein das war erstaunlich, hatte sie doch in der Schule Französisch immer gehasst wie die Pest. Und jetzt sprach sie diese Sprache besser, als sie es sich je hätte träumen lassen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie gelernt, was ihr in den letzten fünf Schuljahren ein Rätsel geblieben war. In der Schule bedeutete Französisch lernen einzig Vokabeln büffeln, eine trockene Angelegenheit, der Lena nie viel abgewinnen konnte. Im Unterricht war sie immer schon eine Minimalistin gewesen, vor allem, wenn sie sich für etwas nicht begeistern konnte – wie zum Beispiel für diese komischen Wörter mit diesem Accent grave und Accent circonflexe, die kein Mensch verstand.

Das Jahr in der Westschweiz war eine reine Notlösung, weil Lena noch keinen konkreten Plan hatte, welche Ausbildung sie absolvieren wollte. Also machte sie gerade ein Haushaltslehrjahr in der pädagogischen Großfamilie “Espoir“ (Hoffnung). Die Großfamilie bestand aus den Hauseltern Félicie und Antoine mit ihren vier leiblichen Kindern und acht Pflegekindern, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern wohnen konnten. Bereits nach drei Wochen verstand Lena nahezu alles, was gesprochen wurde, und konnte zu ihrem großen Erstaunen auch schon sehr gut Französisch sprechen. Sie hatte lange Zeit keine Ahnung gehabt, dass sie die Fähigkeit besaß, Sprachen über ihr Gehör zu lernen. Und es war nicht das Einzige, was sie an sich neu entdeckt hatte. Ein Haushaltslehrjahr, wie sie es machte, war in der Schule verpönt gewesen, es galt als Überbleibsel einer früheren Zeit, in der es für Mädchen nach der Schule vor allem darum ging, zu lernen, was eine gute Hausfrau ausmachte und für das Eheleben vorbereitet zu sein. Im Großen und Ganzen gefiel es Lena aber sehr gut. Vier Tage in der Woche arbeitete sie in der Großfamilie im Haushalt. Einen Tag pro Woche besuchte sie die Berufsschule, in der sie die Fächer Lebensmittelkunde, Kochen, Haushalt, Handarbeit, Französisch und Allgemeinbildung besuchte. Natürlich war das keine große Herausforderung, die versprach, der Beginn einer steilen Karriere zu werden, aber eine Karriere war auch gar nicht das, was Lena anstrebte. Sie war vor allem froh, von zuhause weg zu sein.

Es war nicht so, dass sie ihr Zuhause nicht liebte. Sie liebte ihre Eltern und ihre beiden älteren Brüder, und sie vermisste ihre Freunde. Sie wusste, dass sie geliebt wurde, daran hatte sie keine Zweifel. Es war nur so, dass sie zuhause das Gefühl hatte, sich in zu engen Grenzen bewegen zu müssen.

Lena rebellierte schon lange, sträubte sich schon lange dagegen, dass ihre Eltern bestimmten, was das Beste für sie wäre, aber sie wollte das selbst herausfinden. Lena war in eine christliche Familie hineingeboren worden. Seit sie denken konnte, war sie davon überzeugt, dass Gott die Welt und somit auch sie selbst geschaffen hatte. Das stand außer Frage. Schwieriger war die Frage, was er von ihr wollte. Als sie noch klein war, stellte Lena sich diese Frage nicht. Sie war davon überzeugt, dass Gott sie einfach liebte. Deshalb hatte er sie geschaffen, aus Liebe. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie etwas tun konnte, das Gott wehtat oder ihn enttäuschte. Sie dachte nicht, dass sie seine Liebe verlieren könnte.

Als sie aber älter wurde, hörte sie in der Kinderkirche, dass sie sich für ein Leben mit Gott entscheiden müsse, dass sie wählen müsse, ob sie sein Kind sein wollte oder nicht. Und dass sie, wenn sie sich dafür entschied, tun müsse, was Gott wollte. Aber genau dies war das Dilemma, denn was wollte Gott? Diese Frage beschäftigte ihr ganzes Umfeld. Lenas Eltern, Verwandten und Bekannten war es wichtig, ein Leben zu führen, welches Gott gefiel. Aus Dankbarkeit, um ein gutes Vorbild zu sein und um ein erfülltes Leben zu haben. Es ging nicht nur um das irdische Leben, sondern auch um ein Leben nach dem Tod, um ein ewiges Leben. Deshalb war die Frage „Was will ich?“ die falsche Frage. Die richtige Frage lautete: „Was will Gott?“ Denn Gott wusste, was gut und böse war, und weil er es gut mit seinen Kindern meinte, wollte er auch, dass sie gute Entscheidungen trafen. Alles, was seine Kinder tun mussten, war also, auf ihn zu hören und ihm zu gehorchen.

Lenas Familie besuchte eine evangelische Freikirche in ihrem Wohnort. Der Unterschied zur Landeskirche bestand darin, dass in der Freikirche der Pfarrer kein ordinierter Theologe sein musste. Die Überzeugung war, dass Gott jeden Menschen als Sprachrohr gebrauchen konnte und dafür kein Theologiestudium notwendig war. Mehr noch, die Theologen wurden kritisch beäugt, es gehe beim Christsein um eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus und darum, mit ihm zusammen das Leben zu meistern. Und das könne man nicht an einer Universität lernen, man müsse sich vom heiligen Geist leiten lassen.

In ihrer Kindheit hatte Lena die Zeit in der Kirche geliebt, sie hatte sich dort durch und durch geborgen gefühlt. Ihre Familie war auch nebst den sonntäglichen Treffen mit vielen Gemeindemitgliedern befreundet, mit vielen herzlichen Menschen, die Lena mochte. Im Laufe der Jahre hatte Lena viele Prediger von ihrem Glauben erzählen hören: Einige leidenschaftlich und mitreißend, andere düster und warnend. Alles war darauf angelegt, Menschen zu helfen, eine lebendige Beziehung mit Gott einzugehen und sich von ihm führen zu lassen.

Der Glaube an Gott war geprägt von einem dualistischen Weltbild. Im Esszimmer von Lenas Elternhaus hing ein Bild mit dem Titel: Der breite und der schmale Weg. Der Maler hatte darin eine Bibelstelle dargestellt, in der Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!“

Schon als Kind hatte Lena dieses Bild regelmäßig und ausgiebig angeschaut. Es war quasi ihr Wimmelbuch gewesen, in dem sie immer wieder Neues entdeckt und sich dazu ihre Gedanken gesponnen hatte. Der Maler zeigte seine Interpretation des breiten und des schmalen Weges:

Auf den breiten Weg begeben sich gut gekleidete Herren mit ihren ebenso reich bekleideten Damen, feiern in Wirtshäusern bei Wein und Tanz, gehen ins Theater und ins Casino, hier natürlich Spielhölle genannt. Was gesellig beginnt, spitzt sich immer mehr zu: Ein Mann ist zu sehen, der in ein Haus einbricht, ein anderer erhängt sich. So geht der breite Weg dahin, und seine Freuden werden immer bitterer. Menschen werden auf der Straße überfallen, mit Waffen bedroht und zwei Kriegsparteien liefern sich einen erbitterten Kampf. Am Ende des Weges sieht man die Höllenfeuer und darüber in der Luft kreisende Dämonen.

Der schmale Weg beginnt mit dem Kreuz und einem Brunnen mit dem Wasser des Lebens. Es gibt eine Kirche, Predigten auf dem Felde und in einem Zelt. Ansonsten ist auf dem schmalen Weg aber nicht viel los. Kurz vor der himmlischen Pforte gibt es einen angebundenen Löwen, der nicht sehr gemütlich aussieht.

Aber alles in allem hatte der schmale Weg für Lenas Kinderaugen wenig Attraktives ausgestrahlt, bis auf die goldene Stadt am Ende des Weges.

Zu diesem Bild wurde dem Käufer eine achtseitige Erklärung abgegeben, die bestimmte Bilder und Begriffe erklären sollte.

Lena hatte nur das Bild gehabt und es für bare Münze genommen. Unter jeder einzelnen Illustration war eine Bibelstelle angegeben gewesen, und die Bibel galt grundsätzlich als göttliche Wahrheit. Also musste dieses Bild ein Abbild der tatsächlichen Welt sein.

Lena hatte dieses Bild mit ihren kindlichen Augen gedeutet: Ihre Idealvorstellung dabei war immer gewesen, erst einmal das Leben auf dem breiten Weg zu genießen. Dann, nach der Spielhölle, nach der in ihren Augen langweiligen Predigt auf dem Felde, die sich parallel zum breiten Weg befand, aber unbedingt noch, bevor sie der Erschießung auf der Straße des breiten Wegs zum Opfer fällt, wieder auf den schmalen Weg abzubiegen, mit etwas Glück auch noch den angebundenen Löwen auf dem schmalen Weg zu umgehen und so bis zur himmlischen Pforte zu gelangen. Denn: Ausschließlich dem schmalen Weg zu folgen erschien ihr - im Bild wie auch im Leben - eng und langweilig. Sie sehnte sich nach mehr.

Natürlich hatte sie als Kind versucht, eine gute Christin zu sein, es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass es etwas hätte geben können, was erstrebenswerter sein sollte. Aber je älter sie geworden war, umso schwieriger hatte es sich entwickelt. Es war leider nicht so gewesen, dass Jesus sichtbar neben ihr gestanden hatte, ihre Hand genommen und sie in die richtige Richtung geführt hatte. Das hatte sie nicht gefühlt. Es lag vielmehr an ihr, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ihr Gewissen ermahnte sie häufig, aber oft ignorierte sie diese Ermahnungen, weil sie etwas anderes wollte. So war es auch am Ende ihrer Kindheit gewesen. Und besonders in ihrer Pubertät war sie den Vorstellungen, wie sie sein sollte, nicht gerecht geworden. Sie hatte etwas erleben wollen, mutig sein wollen, Dinge ausprobieren wollen. Leider hatte sie sich in der Pubertät für viele Dinge interessiert, die eigentlich tabu gewesen waren: Da war es schon mit der Kleidung losgegangen. Die Kleidungsstücke, die ihr gefallen hatten, waren für ihre Mutter zu offenherzig gewesen. Zerrissene Jeans und knallbunte, knappe Oberteile waren auch nicht in Frage gekommen für ihre Mutter. Auch schminken hatte sie sich nicht gedurft, da hatte ihre Mutter gemeint: „Wir besitzen ganz andere Werte, es geht nicht um so oberflächliche Dinge im Leben!“

Lena konnte sich damals nicht einfach mit Freunden treffen. Ihre Eltern wollten sofort wissen: „Wer sind diese Freunde?“ Vor allem bei den Jungs. Es wurde immer hinterfragt: „Sind die ein guter Umgang für dich?“ Lena wusste, dass ihre Eltern es gut meinten, im Endeffekt waren es auch nicht die Regeln ihrer Eltern, die sie befolgen musste, sondern letztlich erwartete das ja Gott von ihr. Und trotzdem fand Lena jedes Schlupfloch, um der Kontrolle und den Regeln zu entkommen. War ein Kampf gegen ihre Eltern aber gewonnen, folgte sogleich der nächste; denn spätestens in der Kirche wurde Lena wieder daran erinnert, dass ihr Leben nicht so verlief, wie Gott es sich vermeintlich wünschte. Vor ihren Eltern konnte sie einiges verstecken, etwa wenn sie bei einer Freundin einen verbotenen Film ansah, aber dass Gott über jeden ihrer Schritte genau Bescheid wusste, belastete sie. Verglichen mit den anderen Jugendlichen in der Kirche, fühlte sie sich oft wie eine Heuchlerin. Und: Gott konnte sie sich nicht entziehen. Denn wenn sie nicht zu ihm gehörte und sich nicht benahm, wie sich ein Kind Gottes zu benehmen hatte, wartete vielleicht am Ende die ewige Verdammnis auf sie. Davor fürchtete sich Lena.

Ihre ganze Pubertät war geprägt gewesen von diesem Hin und Her: Damals wollte sie leben, ihre Träume verwirklichen. Wenn sie aber einige Schritte in diese Richtung ging, holte sie ihr schlechtes Gewissen ein und malte ihr aus, dass sie völlig verkehrt sei. Wenn die Angst, Gott enttäuscht zu haben und somit der Verdammnis anheim zu fallen, wieder groß genug war, bat Lena Jesus um Verzeihung, versuchte, sich zu ändern und sich angemessen zu verhalten. Ihr häufigstes Gebet in dieser Zeit war: „Bitte verändere mich!“ Sie fühlte sich nicht gut genug, nicht rein genug, nicht gehorsam genug. Es gab immer weniger Situationen, in denen sie sich wirklich gut fühlte und mit sich selbst im Reinen war. Immer häufiger fühlte sie sich schlecht, weil sie sich nach Dingen sehnte, die vermeintlich nicht gut für sie waren: Musik etwa war so ein Thema, vor dem Jugendliche in frommen Kreisen immer wieder gewarnt wurden. Damals in den achtziger Jahren war Hardrock angesagt, Bands wie AC/DC, Iron Maiden, Saxon, Van Halen und Guns n’Roses. In christlichen Elternhäusern klingelten da die Alarmglocken, christliche Verlage druckten tonnenweise Traktate, in denen erklärt wurde, dass Rockmusik generell vom Teufel sei, und Hardrock sowieso. Auf zwei bis drei Seiten mit plakativen Titeln wie „Wir wollen nur deine Seele“ wurde gegen die Gitarren- und Schlagzeugidole gewettert, vor ihrer Musik und vor allem vor den Texten gewarnt. Songtexte wie ‚Highway to Hell‘ und ‚Hells Bells‘ wurden übersetzt und als Beweismittel für die Handschrift des Teufels angeführt. Es war von hypnotisierenden Tonlagen die Rede, die das Publikum in Ekstase versetzen und zu hemmungslosem Sex verführen wollten. Man warnte vor Okkultismus, vor Rückwärtstexten, die auch noch das Unterbewusstsein versauen wollten. Auf Seite vier konnte der Leser, wenn er überhaupt so lange durchhielt, dann die rettende Botschaft lesen, dass Jesus für seine Sünden gestorben sei und ihn aus der Rockhölle befreien wolle. Die Traktate sahen so aus, als würden sie dazu dienen, die Heiden zu missionieren, tatsächlich landeten sie aber oft als gewissenspolizeiliche Maßnahme in den Händen christlicher Teenager, die aus Versehen in ihrem Zimmer ein Stück von Guns n’Roses zu laut hatten laufen lassen. Die Androhung mit der Hölle funktionierte bei den Rockfans nicht, wohl aber bei den eigenen Kindern. Das eigene Verhalten wurde somit immer überprüft und hinterfragt.

Seit Lena hier in diesem kleinen Dorf in der Westschweiz lebte, fühlte sie sich freier. Es gab zwar auch Regeln und ihr Alltag war mit Hausarbeit ausgefüllt. Aber sie konnte mehr selbst entscheiden, und das Gefälle zu den Menschen um sie herum war flacher. Die Großfamilie war Teil einer christlichen Stiftung, aber abgesehen von dem Gebet vor den Mahlzeiten, war davon nichts zu spüren. Es gab keine Gottesdienstbesuche, keine Gebetsabende, kein ständiges Hinterfragen des Benehmens. Es fühlte sich auch nicht an wie in einem Kinderheim, sondern wie in einer großen, bunten Familie. Das gefiel Lena. Sie hätte sich nicht vorstellen können, die verwöhnten Gören eines Zahnarztes zu betreuen, was in Etwa das normale Schema einer Gastfamilie war. Hier hatte sie das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.

Nachdem sie die Wäsche aufgehängt hatte, spielte sie mit den beiden siebenjährigen Kindern. Sie war selbst ein verspieltes Kind gewesen und konnte sich immer noch gut in eine Phantasiewelt hineinversetzen. So wurde das Gartenhäuschen zum verwunschenen Schloss, und sie mussten zu dritt den versteckten Schatz darin finden. Die Kinder waren begeistert. Nach dem Spiel wartete Arbeit in der Küche auf Lena. Für mehr als zehn Personen zu kochen war eine Herausforderung, aber Félicie, die Hausmutter, hatte Übung darin. Heute galt es, eine reichhaltige Gemüsesuppe zu kochen und danach gab es Gâteau à la crème, ein süßer Kuchen mit Rahmbelag, eine Spezialität, nach der alle ganz verrückt waren. Fleisch kam nicht täglich auf den Tisch, die Großfamilie lebte zu einem großen Teil von Beiträgen vom Staat und Spenden, das Budget war umsetzbar, aber nicht allzu großzügig bemessen. „Um gut zu kochen, braucht man nicht viel Geld, sondern viel Herz!“, war Félicie’s Devise und sie behielt recht. Die Grossfamilie war Leben pur, es gab immer etwas zu tun, immer einen Streit zu schlichten oder eine Geschichte zu erzählen, der Lärmpegel war hoch und Langeweile ein Fremdwort. Lena liebte es!

Entgegen ihren Erwartungen vermisste Lena ihre Eltern und sogar ihre beiden älteren Brüder. Das hatte sie nicht erwartet. Denn in den letzten Jahren hatten die ständigen Streitereien in der Familie viele positive Gefühle überlagert. Jetzt erst merkte Lena jedoch, wie sehr sie ihre Eltern liebte, und auch, wie sehr sie geliebt wurde. In ihrem Alltag in der Großfamilie nahm sie wahr, dass das nicht selbstverständlich war. Die meisten Kinder kamen aus schwierigen Verhältnissen, aus Familien mit Alkohol- oder Drogenproblemen. Lena lernte ein anderes Extrem kennen. Sie selbst war in gewisser Weise überbehütet worden, nun erlebte sie, was es für ein Kind bedeutete, von seinen Eltern vernachlässigt zu werden. Die kleineren Kinder vermissten ihre Eltern, verstanden aber nicht genau, weshalb sie nicht mehr zuhause wohnen konnten. Bei den älteren Kindern war das anders. Sie erinnerten sich an Vieles: An Schläge, die sie, ihre Geschwister oder ihre Mutter vom Vater oder anderen Personen in ihrem familiären Umfeld erhalten hatten; an Hunger, wenn alles Geld, das vorhanden war, dazu gebraucht wurde, den nächsten Schuss der Mutter zu finanzieren, anstatt um Essen zu kaufen; an das Gefühl des Verlassen-Seins, wenn sie nächtelang zuhause darauf warteten, dass ihre Eltern wieder heimkamen. Lena erkannte die Traurigkeit, die immer wieder in den jungen Gesichtern aufblitzte. Für die Kinder war es schwer zu verstehen, was es bedeutete, dass ihre Eltern süchtig waren. Sie sahen nur, dass sie ihren Eltern nicht wichtig genug waren, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Wenn Lena an diese Schicksale dachte, schämte sie sich. Sie selbst hatte rebelliert, weil ihre Eltern sie liebten und sie beschützen wollten. Dabei hatte sie vergessen, wie viel sie ihren Eltern bedeutete.

Wenn Lena mit der Arbeit fertig war, schrieb sie Briefe. Sie hatte unzählige Brieffreunde und liebte das Schreiben. Viele Möglichkeiten, ihre Freizeit zu verbringen, gab es hier ohnehin nicht. Das Dorf war klein, es gab einen Tante-Emma-Laden, eine Bäckerei, eine Käserei, ein Café und einen Bahnhof, der das Dorf mit dem Rest der Welt verband. Das war alles. Trotzdem fühlte sich Lena wohl. An den Wochenenden ging sie nach Hause. Ihre Freunde aus der Schule sah sie dabei selten. Fast alle hatten inzwischen eine Ausbildung begonnen oder gingen nun ihrem Studium nach. Lena durfte nach wie vor nicht mit in die Disco, also verbrachte sie die Samstagabende oft mit ihren Freunden aus der Kirche. So fiel es ihr auch leichter, sich in das Leben einzufügen, dass von ihr erwartet wurde, denn dass es so richtig war, daran glaubte sie eigentlich schon.

Sie wurde von Kindesbeinen an ermahnt, weise Entscheidungen zu treffen. In der Jugendgruppe der Kirche wurde seit Jahren immer wieder betont, dass es für gewisse Dinge keine zweite Chance gebe. Gott konnte zwar alles vergeben, aber einige Dinge im Leben waren einmalig. Seine Unschuld zum Beispiel konnte man nur einmal verlieren, seine Jungfräulichkeit nur einem Menschen schenken. Die Sexualität wurde mit einem Apfel verglichen: „Wenn du jedem erlaubst, ein Stück davon abzubeißen, bleibt am Ende dem Mann, der dich heiratet, nur das Gehäuse. Und wer will schon ein Apfelgehäuse, wenn er einen ganzen, schönen Apfel haben kann?“

Etwas sah dieses anschauliche Apfelbild allerdings nicht voraus: In Lenas Leben gab es sehr früh jemanden, der ihr zu nahe gekommen war und ungefragt in diesen Apfel gebissen hatte. Lena erinnerte sich: Ihre ersten sexuellen Erfahrungen erlebte sie mit elf Jahren, und sie waren nicht freiwillig, sie wurde nicht gefragt und getraute sich nicht, sich zu wehren. Er war ein Freund der Familie. Er wohnte mit seiner Frau und seinen Kindern in derselben Straße wie Lena. Er war Christ, besuchte aber nicht dieselbe Kirche wie Lenas Familie. Lena hatte ihn gemocht und ihm vertraut – ihre ganze Familie hatte ihn gemocht und ihm vertraut. Lena verstand erst gar nicht recht, was vor sich ging, als er sie eines Tages im Treppenhaus ihres Hauses umarmte und küsste. Sie fühlte, dass es nicht richtig war, sie wusste, dass Erwachsene Kinder nicht auf diese Weise küssten. Aber er sagte ihr, es sei nicht schlimm, sie solle sich keine Gedanken darüber machen. Sie glaubte ihm und dachte nicht weiter darüber nach. Nach einer Woche wartete er hinter einem Strauch am Rande des großen Gartens auf sie. Sie war überrascht, ihn dort zu sehen, und erstaunt, als er sie wieder küsste. Sie kannte nur die flüchtigen Küsse, die sich ihre Eltern manchmal gaben, und am Ende von romantischen Filmen küsste der Held die schöne Frau sehr liebevoll. Wie er sie hier küsste, war anders, er keuchte dabei, als ob es ihn anstrengen würde und sie fühlte seine Zunge in ihrem Mund. Sie überlegte, was ihn wohl so anstrengte, sie fand es nicht anstrengend, höchstens eigenartig. Danach sagte er ihr, sie dürfe niemandem davon erzählen: „Wenn du etwas erzählst, muss ich ins Gefängnis, und das willst du doch nicht, oder?“ Auch das war eigenartig. Verbrecher kamen ins Gefängnis, jemand, der stahl oder jemanden ermordete. Aber wegen eines Kusses kam doch keiner ins Gefängnis?

Er fand immer wieder einen Ort, an dem er sie abfangen konnte und ihn niemand dabei sah. Und er ging immer ein Stückchen weiter. Mit der Zeit fing er an, sie zu berühren, nahm ihre Hand und führte sie in seine Hose. Er küsste sie immer häufiger und länger, und sagte Dinge zu ihr, die ihr noch nie jemand gesagt hatte: Dass nur sie ihn verstehen könne, dass er sie vermisse, dass er an sie denken müsse, wenn er sie nicht sah. Seine Worte klangen eigenartig, es waren Worte, die sich Erwachsene sagten. Obwohl Lena es nicht genau wusste, war sie sich doch sicher, dass ihre Freundinnen noch nie solche Worte von jemandem gehört hatten. Irgendwie fühlte sie sich besonders, aber auf eine seltsame Weise. Ihr gefielen die Worte, die er zu ihr sagte. Wie er sie berührte, war zwar unangenehm, aber sie gewöhnte sich daran. Wenn er es tat, wusste sie, dass es nach einer Weile vorbei sein würde. Sie ließ es über sich ergehen, wenn er sein Glied an ihrer Hand rieb, die er zuvor in seine Unterhose gesteckt hatte. Sie ließ es zu, dass er unter ihr Hemd griff, obwohl er darunter nichts finden konnte. Sie hatte noch keine Brüste wie ihre Mutter, sie hatte noch überhaupt nichts. Wenn er in ihre Unterhose griff, kitzelte es manchmal ein wenig und sie musste sich ein Lachen verkneifen. Und sie versuchte seine Küsse zu zählen, die Sache mit seiner Zunge machte es aber schwierig abzuschätzen, wann ein Kuss vorbei war und wann der nächste begann. Er tat nie etwas, was ihr weh tat, und sagte ihr immer wieder, es sei etwas ganz Natürliches. Und er stellte es so dar, als wäre sie der Auslöser für das Ganze. Sie würde ihn reizen, sie würde es ihm unmöglich machen, ihr zu widerstehen. Lena wusste nicht, was er damit meinte. Sicher, sie mochte ihn, er hatte ein angenehmes Wesen, auch wenn er all diese Dinge tat, die er eigentlich nicht tun sollte. Aber dass sie daran schuld sein sollte, erschreckte sie schon. Er ermahnte sie auch immer wieder, dass sie niemandem etwas davon erzählen dürfe, dass es niemand verstehen würde.

Als in ihrer Klasse jemand etwas über Sex erzählte, erschrak Lena. Sie hatte den Begriff schon gehört, aber nicht genau gewusst, was damit gemeint war. Und nun stellte sich heraus, dass beim Sex all diese Dinge vorkamen, die er mit ihr machte. Lena schämte sich wahnsinnig. Sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, mit mäßigem Erfolg, er fand sie immer. Und sie war ratloser denn je.

Nach einigen Wochen erzählte ihr eine Freundin aus der Schule, ihr Reitlehrer habe sie zwischen den Beinen angefasst, als er ihr geholfen habe, vom Pferd zu steigen. Lena nahm all ihren Mut zusammen und erzählte ihrer Freundin die Dinge, die sie niemandem erzählen durfte. Es war seltsam, darüber zu reden. Für vieles fand sie überhaupt keine Worte. Und die Worte, die sie aussprach, klangen fremd, als würden sie gar nicht zu ihr gehören. Ihre Freundin wusste aber keinen Rat für Lena, denn sie war selbst überfordert mit dem, was in der Reitstunde passiert war. Doch irgendetwas veränderte sich in Lena trotzdem, indem sie jemandem davon erzählt hatte. Plötzlich wusste sie, dass er sie angelogen hatte. Er hatte ihr gesagt, dass ihr niemand glauben würde, nun aber glaubte ihr bereits die erste Person, der sie davon erzählte.

Ein paar Tage später nahm Lena all ihren Mut zusammen und als er sie mit sich ziehen wollte, sagte sie: „Nein! Fass mich nicht an!“ und rannte davon. Ihr Herz klopfte, aber er kam nicht hinter ihr her. Danach ließ er sie in Ruhe. Manchmal starrte er sie an, und sie schaute schnell weg, aber er fasste sie nicht mehr an.

Etwa ein Jahr danach kursierten in der Schule einige Bücher, in denen Frauen den Missbrauch, den sie erlebt hatten, schilderten und verarbeiteten. Lena las mehrere dieser Bücher, sie hoffte darin Antworten zu finden, zu verstehen, warum sie es so lange hatte über sich ergehen lassen und sich nicht früher dagegen gewehrt hatte. Die Bücher hatten aber die genau gegenteilige Wirkung, denn Lena fand sich in den Geschichten nicht wieder. Die Täter waren allesamt suspekte Typen, der Stiefvater, der nie einen guten Draht zu den Stiefkindern hatte, der komische Onkel, der manchmal zu Besuch kam, oder der große Bruder, der Aggressionsprobleme hatte und sowieso das schwarze Schaf der Familie war. Die Frauen schilderten die Angst und die Abscheu, die sie während des Missbrauchs empfunden hatten. Lena fand sich in solchen Schilderungen nicht wieder. Sie hatte den Mann, der sie missbraucht hatte, gemocht. Er war nett gewesen, alle hatten ihn gemocht. Er hatte eine Ausstrahlung, der sich Lena nicht entziehen konnte. Wenn er ihr sagte, dass sie etwas Besonderes sei, so fühlte es sich irgendwie gut an. Und wenn er sie berührte, tat es nicht weh, anfangs fühlte es sich komisch an und sie konnte es nicht einordnen, aber sie gewöhnte sich daran. Sie empfand es auch nicht als Bedrohung, es war einfach, wie es war. Die Abscheu kam erst hinterher, als sie begriff, was er da eigentlich mit ihr getan hatte. Nur verabscheute sie dann nicht nur ihn, sondern auch sich selbst, weil sie ihn hatte machen lassen. Sie hatte nicht begriffen, dass es Teil seiner Manipulation gewesen war, ihre Unwissenheit auszunutzen, um seine Taten als ganz natürlich hinzustellen. Ihr waren die Ungereimtheiten nicht aufgefallen, als er ihr gesagt hatte, sie bringe ihn dazu, diese Dinge zu tun.

Wie Lena in die Pubertät kam, waren ihre widersprüchlichen Gefühle am schlimmsten. Sie fühlte sich mitschuldig an dem Missbrauch, und nachdem selbst die Missbrauchsopfer, von denen sie las, ihr diese Gefühle nicht nehmen konnten, sondern sie noch verstärkten, getraute sie sich nicht mehr, darüber zu sprechen. Sie verstand sich selbst nicht, wie also würde jemand anderes sie verstehen können? Dieser Konflikt schwelte während ihrer Pubertät immer mehr oder weniger mit. Als Lena die Apfelgeschichte in der Jugendgruppe zum ersten Mal hörte, wurde ihr bewusst, dass sie kein makelloser Apfel mehr war. Sie war nicht mehr unversehrt, sie fühlte sich nicht jungfräulich, nicht rein und auch nicht unschuldig. Die Frage, ob sie hätte verhindern können, was ihr zugestoßen war, quälte sie lange. Und sie fand auf diese Frage keine Antwort. Sie fragte sich auch immer wieder, warum sie ihm nicht früher gesagt hatte, dass er aufhören solle. Es war ihr vorher gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie hätte „Nein“ sagen können.

Je älter Lena wurde, umso mehr machten ihr diese Erlebnisse und Gedanken zu schaffen. Wenn ihre Freundinnen davon sprachen, wie der erste Kuss wohl sein würde, schwieg sie. Für sie gab es keinen ersten Kuss mehr. Sie sehnte sich nach Liebe und Zuneigung, aber ihre Erfahrungen sprachen eine andere Sprache: „Du bist nur ein Apfelgehäuse: Gut genug, um davon zu kosten und damit herumzuspielen. Aber keiner will ein Apfelgehäuse, du bist nicht gut genug für echte Liebe. Wer will schon beschädigte Ware, wenn er jemanden ohne Makel haben kann?“

Jetzt war sie zum ersten Mal weg aus ihrer gewohnten Umgebung, ihrem Zuhause, welches ihr Zufluchtsort war, sie aber auch immer daran erinnerte, was ihr zugestoßen war. Jetzt erkannte sie, dass sie sich zu Hause an eine bestimmte Dunkelheit gewöhnt hatte. Es war ihr nicht aufgefallen, erst jetzt, im prallen Sonnenlicht, sah sie es. Und jetzt fühlte sie sich befreit.

Kulturschock

Auf dem Flug von Lagos nach Ankara, in die Türkei, Oktober 1994

Ben grinste Conrad an, er konnte noch immer nicht fassen, dass es tatsächlich passierte! Er saß mit seinem besten Freund in einem Flugzeug in die Türkei. Sein Vater hatte schließlich nachgegeben und die Reise für ihn bezahlt. George hatte seine Kontakte spielen lassen und Touristenvisas für die Türkei besorgt, mit Geld war fast alles möglich, George machte so etwas nicht zum ersten Mal. Er sorgte sogar dafür, dass auch Conrad mitreisen konnte. Er hielt Conrad zwar für ein anderes Kaliber als Ben, zu weich und zu unentschlossen, aber er wusste, wie unzertrennlich die beiden waren und zählte darauf, dass sie einander in der fremden Welt eine Stütze sein würden. Außerdem hatte er für Conrads Überfahrt einen guten Betrag ausgehandelt, der seine Kosten für die beiden Flüge fast deckte.

Ein Freund von George, Yusuf, holte die Jungen in Ankara vom Flughafen ab und brachte sie in einem kleinen Hotel unter. Er war anders als der Engländer, den Ben mit zehn Jahren gesehen hatte, seine Haut war dunkler, aber trotzdem bedeutend heller als die von Ben und Conrad. Die beiden Jungen fühlten sich seltsam verloren. Sie waren aufgeregt und müde, aber auch unsicher. Ankara hatte zwar etwas Vertrautes an sich, es war heiß und laut, besonders auf dem Markt, den sie auf dem Weg zum Hotel durchquerten. Und trotzdem war alles völlig fremd, so anders als zuhause, sogar die Hitze war anders, trockener. Sie verstanden kein einziges Wort, das hier gesprochen wurde, und sie kamen sich seltsam ausgestellt vor – als ob alle sie wie Fremde betrachteten. Sie waren froh, als sie endlich das kleine Hotelzimmer erreichten. Yusuf erklärte ihnen, dass sie in der Hotelhalle Nachtessen und Frühstück bekommen würden und er sie nach einigen Tagen wieder aufsuchen würde und ihre Reise dann weitergehen würde.

Ben war froh, dass Conrad bei ihm war. Sie getrauten sich kaum, nach draußen zu gehen. Sie hatten Angst davor, das Hotel nicht mehr zu finden oder draußen von jemandem angesprochen zu werden. Auch hatte Yusuf nach ihren Pässen gefragt und sie ihnen abgenommen, er hatte ihnen nicht einmal seine Telefonnummer gegeben und Geld hatten sie auch keines. Also saßen sie im Hotelzimmer, starrten aus dem Fenster und schauten zu, wie die Autos auf der Strasse unter ihnen vorbeifuhren. Das Hupen und der Gestank der Abgase beruhigten sie ein wenig, endlich etwas, was sie an zuhause erinnerte. Ihr Zimmer war klein und kahl, aber es hatte Strom und fließendes Wasser. Obwohl sie keinen Sender in einer Sprache fanden, die sie verstanden, ließen sie den Fernseher einfach laufen, sogen die Bilder und Eindrücke begierig in sich auf und hofften inständig, nicht in ihren gewohnten Betten wieder zu erwachen und festzustellen, dass sie alles nur geträumt hatten.

Nach einigen Tagen tauchte Yusuf mit einem Mann auf, der sie nach Italien mitnehmen sollte. Er war etwa fünfzig Jahre alt und hieß Zvonko, er besaß einen kleinen LKW und fuhr damit immer dieselbe Route über Bulgarien, Serbien, Kroatien und Slowenien. Er kannte viele kleine Ortschaften, an denen er die Grenzen überqueren konnte, ohne angehalten zu werden, so sparte er einiges an Zollkosten für seine Waren. Er hatte immer unterschiedliche Waren dabei: Mal waren es Stoffe, mal Lebensmittel, was er halt gerade so erstehen konnte. Den größten Teil des Gewinns machte er mit den Leuten, die er nach Italien bringen konnte. Er hatte noch nie deswegen Probleme gehabt, und wenn er einmal unterwegs angehalten worden war, hatte er dies bis jetzt immer mit einigen Geldscheinen regeln können und er war noch nie durchsucht worden. Die Beamten, denen er auf seiner Strecke begegnete, interessierten sich nicht für Gesetze und Bestimmungen einer Landesregierung, damit konnten sie weder essen noch eine Familie ernähren.

Yusuf drückte Ben und Conrad einige Geldscheine in die Hand sowie einen Zettel mit einer Adresse in Florenz, danach gab er ihnen zu verstehen: „Hört auf die Anweisungen von Svonko!“ Ben deutete auf Yusufs Tasche: „Was ist mit unseren Pässen?“ Yusuf schüttelte den Kopf und wollte sich umdrehen, aber Ben hielt ihn am Hemd fest und wiederholte seine Frage: „Passport? Wo?“ Yusuf winkte lachend ab: „Kein Passport, ihr braucht keine Pässe mehr!“ Ben protestierte: „Aber das sind doch unsere Pässe! George hat nichts davon gesagt, dass wir die nicht mitnehmen sollen!“ Wieder lachte Yusuf: „Das ist ok, glaub mir! Ihr braucht keine Pässe mehr!“ Als Ben ihn verdutzt ansah, rieb ihm Yusuf über seinen Arm und deutete auf seine dunkle Haut: „Das ist von jetzt an euer Pass!“ Danach nickte er Zvonko zu und verschwand. Zvonko gab ihnen zu verstehen, dass sie ihr Gepäck holen sollten, und steckte sich eine Zigarette an. Ben und Conrad gehorchten schnell, packten eilig ihren Kram zusammen und folgten Zvonko zu seinem LKW.

Die nächsten Tage verbrachten sie im Frachtraum des LKWs. Alle paar Stunden hielt Zvonko an und ließ die Jungen aussteigen, damit sie pinkeln und sich etwas die Beine vertreten konnten. Ab und zu gab er ihnen etwas Wasser und einige Brotfladen. Jede Nacht hielt er irgendwo in der Pampa an und schlief ein paar Stunden, dann ging es wieder weiter.

Als Zvonko schließlich nach einigen Tagen die Ladeklappe öffnete und den Jungs sagte, sie seien nun in Florenz, tat Ben und Conrad jeder Knochen im Leib weh. Sie zeigten Zvonko den Zettel mit der Adresse, der schüttelte nur den Kopf und ließ sie mitten auf der Strasse stehen. Es dauerte eine Weile, bis Ben den Mut fand, jemanden anzusprechen, der ihm den Weg weisen konnte, und es dauerte noch länger, bis sie endlich die gewünschte Adresse erreichten.

Schließlich standen sie vor einem mehrstöckigen Haus, aus dem sie vertraute Musik hörten, afrikanische Musik, und erfreut stellten sie fest, dass es hier auch nach afrikanischem Essen roch. Ein junger Mann erschien im Türrahmen, drehte sich um und rief hinter sich: „Hey Garry, deine Leute sind da!“

Wenig später erschien ein weiterer Mann mit einem breiten Grinsen im Gesicht: „Willkommen in Florenz, Leute!“ Ben wunderte sich ein wenig: „Woher wusste der, wer wir sind, und dass wir zu dir wollen?“

Garrys Grinsen wurde noch breiter: „Euch sieht man von Weitem an, dass ihr nicht von hier seid, hier trägt keiner solche Klamotten, und, nehmt es mir nicht übel, aber man kann es riechen, dass ihr eine weite Reise hinter euch habt! Macht euch nichts draus, das geht allen Neuankömmlingen so!“

Er klopfte Ben auf die Schulter und bat die beiden endlich hinein. Sie gingen einen Korridor entlang mit Zimmern auf beiden Seiten. Am Ende des Korridors waren zwei Toiletten und eine Dusche. Garry schloss eines der Zimmer mit einem Schlüssel auf und machte eine einladende Handbewegung: „So, das ist eure Bleibe! Ich wohne in einer Wohnung im obersten Stock. Wenn ihr etwas braucht, kommt zu mir! Ich lasse euch jetzt mal duschen und hole euch in zwei Stunden ab, ihr wollt sicher etwas von der Stadt sehen, nicht wahr? Und dann rufen wir George an, er will sicher hören, dass ihr gut angekommen seid!“

Die anschließende Dusche war vielleicht die beste seines Lebens, Ben hatte sich noch nie so gut gefühlt wie jetzt, da er den vielen Schweiß und Staub seiner Reise endlich abwaschen konnte. Eigentlich hätten Conrad und er todmüde sein müssen, aber sie waren immer noch ganz aufgekratzt durch die vielen neuen Eindrücke, und es wurden ja auch immer mehr.

Garry holte sie ab und führte sie zu einer Telefonzelle – das war auch etwas, was Conrad und Ben noch nie zuvor gesehen hatten. Garry zeigte Ben, wo er die Münzen einwerfen musste, wählte dann Georges Nummer und reichte Ben den Hörer schließlich weiter. Als George sich meldete, schrie Ben geradezu euphorisch in den Hörer: „Onkel George, wir sind in Florenz!“

Ein lautes Lachen war zu hören: „Und wie gefällt es dir?“

„Soll das ein Witz sein? Es ist der Hammer, die schönste Stadt der Welt!“, schwärmte Ben, obwohl er praktisch noch nichts von der Stadt gesehen hatte.

George lachte wieder, wurde dann aber ernst: „Hör mir nun gut zu, mein Junge, jetzt beginnt dein Part. Ab jetzt musst du selbst klarkommen. Du wirst schon bald sehen, dass das Leben in Europa anders ist, als du es dir vorgestellt hast. Es ist nicht einfach, aber du wirst es schaffen. Ich weiß, dass du ein Kämpfer bist; Garry wird dir alles erklären und zeigen, wie es funktioniert, und wenn wir uns das nächste Mal sehen, wirst du mehr Geld haben, als du es dir jetzt vorstellen kannst. Ab jetzt hast du dein Schicksal in der Hand. Es gibt keine Vorschriften mehr und du wirst bald merken, dass auch Gott dir keine Vorschriften macht. In Europa gelten andere Regeln, und wenn du es geschickt anstellst, wirst du bald selbst deine eigenen Regeln aufstellen können.“

Ben verstand Georges Worte nicht ganz, aber sie klangen gut. An Selbstvertrauen mangelte es ihm nicht, er war sich sicher, diese Chance nicht zu verspielen. Im Moment war er einfach nur überglücklich.

Garry war Mitte zwanzig, und vor vier Jahren selbst auf demselben Weg wie Ben und Conrad nach Florenz gekommen. Er wusste noch genau, wie er sich damals gefühlt hatte, und wie schockiert er gewesen war, als er begriff, wie seine Möglichkeiten hier aussahen. Er würde den beiden Neuankömmlingen noch einige Tage Zeit geben, um ihre Luftschlösser zu bauen und zu träumen, sie sollten ruhig das Gefühl haben, dass sie das große Los gezogen hätten. Danach würde er sie zurück auf den Boden der Realität holen und ihnen erklären, dass sie nicht in einer Märchenwelt gelandet waren, dass alles hier seinen Preis hatte und sie keine andere Wahl hatten, als diesen auch zu bezahlen.

Zunächst führte er Ben und Conrad aus, bezahlte Pizza und Wein und schleppte die beiden völlig überforderten Jungen in die nächste Disco, wo ihnen fast die Augen rausfielen, als sie sahen, wie die Frauen tanzten und lachten. In Nigeria waren die Frauen zwar nicht prüde, aber an die offenherzigen Italienerinnen kamen sie nicht heran, ganz zu schweigen von den ganzen Touristinnen, die im Urlaub allzu schnell die gute Erziehung vergaßen. Garry lachte in sich hinein, als er beobachtete, wie Bens und Conrads Augen immer größer und ungläubiger in diese Welt guckten. Ja, diese Welt hatte ihren Zauber, vor allem dann, wenn man sie noch nicht kannte. Nach ein paar Drinks, die weder Ben noch Conrad vertrugen, brachte Garry die Jungs in das Zimmer zurück, welches George für den ersten Monat bezahlt hatte. Das Haus gehörte einem älteren Italiener, der mit einer Nigerianerin verheiratet war. Seine Frau besaß auch eine kleine Garküche etwas weiter die Straße hinauf, in der sich die meisten Mieter verpflegten. Nur Garrys Wohnung besaß eine Küche, er hatte Glück gehabt, dass die Alte, die dort lebte, Gefallen an ihm gefunden hatte. Sie war die einzige Italienerin, die hier in diesem Gebäude wohnte, und wie es schien, hatte sie vor ihm schon ein paar Leute bei sich wohnen lassen. Die übrigen Hausbewohner waren allesamt Afrikaner, die meisten aus Nigeria, aber auch einige aus Gambia und aus der Elfenbeinküste. Es war laut und es wurde viel gelacht, obwohl die meisten nicht wirklich viel zu lachen hatten. Das Leben war hart, härter als es sich die meisten vorgestellt hatten. Hier musste jeder für sein Geld arbeiten, von nichts kam nichts. Garry würde schon bald sehen, aus welchem Holz Ben und Conrad geschnitzt waren. Er machte sich nicht allzu große Hoffnungen. Die meisten, die hier ankamen, waren schon bald wieder weg.

Die folgende Woche lebten Ben und Conrad wie im Rausch. Sie konnten sich nicht sattsehen an Florenz. Sie bewegten sich nur innerhalb einiger Querstraßen, aber was sie sahen, überwältigte sie vollkommen. Danach tauchte Garry in ihrem Zimmer auf und legte ein kleines Päckchen auf Bens Bett: „So Jungs, jetzt wird gearbeitet!“

Ben und Conrad betrachteten das kleine Päckchen neugierig.