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Loslassen - das ist für viele Menschen sehr schwer. Ein Kind loszulassen - unvorstellbar. Aber genau das lernt die Protagonistin Kathrin, deren gerade geborene Tochter Samira im Krankenhaus entführt wird, in diesem Buch auf ganz einfühlsame, behutsame Weise. Kathrin nimmt den Leser mit auf ihre Reise des Bewusstwerdens, öffnet durch ihre Geschichte jedes Herz und die Augen für eine wunderbare Welt in ihrer Reinheit und Essenz, die nicht fern und unerreichbar sondern in jedem von uns ist.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Sonnevend, das klingt wie Sonnenwende. Eine Sonnenwende beschreibt den Beginn des astronomischen Winters und auch des astronomischen Sommers. Für Kathrin, die Protagonistin in „Ich schenke Dir mein Kind“, bedeutet ‚Sonnevend’ auch einen Neubeginn – endlich Heilung und Befreiung und den Weg in ihr neues Bewusstsein. Nachdem Samira, Kathrins gerade geborene Tochter, direkt nach der Geburt aus der Klinik entführt wird, sinkt Kathrin immer tiefer in sich, in einen Raum, der ihr nichts mehr bietet als Kälte und Dunkelheit. Trotz der Liebe ihrer Familie, ihrer Freunde und ihres Ehemanns Thomas kommt Kathrin nicht mehr aus diesem Raum heraus. Sie ist voller Schuldgefühle, voller Schmerz, voller Wut, voller Hass. Doch dann beginnt für sie mit einem Kuraufenthalt im ‚Haus Sonnevend’ eines Tages der Start in IHR neues Leben. Gemeinsam mit Chefärztin Doktor Engler, aber vor allem auch mit ihrem engelsgleichen, therapeutischen Begleiter Michael lernt sie jeden Tag, was es heißt loszulassen, wie es funktioniert und was es letztendlich für sie bedeutet. Sie konfrontiert sich mit all ihren Gefühlen, egal ob negativ oder positiv, kann am Ende loslassen und befreit sagen „Ich schenke Dir mein Kind“.
Kerstin Mosner ist Mutter von vier Kindern, lebt in Hamburg und arbeitet seit vielen Jahren mit ganzem Herzen als Sippencoach, Kinesiologin, Ausbilderin und Unternehmerin. Ihr Wissen und ihre Erfahrung in der energetischen Arbeit gibt sie regelmäßig in geführten Gruppenmeditationen weiter. Während ihrer therapeutischen Tätigkeit ist ihr klar geworden, dass es letztendlich immer darum geht loszulassen – von Dingen, von Menschen, von Gefühlen, von Glaubenssätzen, die jeden von uns seit unserer Kindheit geprägt haben. In ihrem Debütroman „Ich schenke Dir mein Kind“, den Kerstin
Mosner während eines Kuraufenthalts schrieb, zeigt sie anhand der tragischen Geschichte der Protagonistin Kathrin genau den Weg, den es zu beschreiten gilt, um loslassen zu können. Ein Leitfaden für Jeden, an den aber auch Kerstin sich immer wieder in ihrem Leben gehalten hat und halten wird.
Vorwort
Samira
Das Neue
Ich freue mich sehr, dass Du dieses Buch in den Händen hältst.
Es wird Dein Leben verändern. Auf sanfte und geführte Weise wird Samira in Deinem Herzen Platz nehmen und sich dort ein Bettchen bauen!
Ich bitte Dich, ließ jede Seite mit Hingabe und Zeit, lasse Dich ein in eine Welt ohne Verstand.
Versuche zu fühlen und nicht zu denken und bitte, lass alles geschehen, es darf alles sein!
Nimm Deine Gefühle so an, wie sie sich zeigen und erlaube Dir und Deinem inneren Kind jedes Gefühl.
Das ist sehr wichtig, weil Samira Dich in Deine verborgenen Tiefen führt, wo Du noch nicht warst und dachtest, es gibt keine Tür zu diesem Raum. Gestatte Dir, ihn zu öffnen, sei dann sehr liebevoll zu Dir!
So kann und darf Dein inneres Kind mit jeder Seite, die Du liest, heilen und aus dem Raum „der Einsamkeit” herauskommen.
Samira wird Dein bisheriges Leben auf den Kopf stellen und alles in Frage stellen, was Du bisher gedacht hast.
Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du Dein Herz spürst und alle Gefühle beim Lesen zulassen und fühlen kannst.
Herzlichst Deine
Kerstin Mosner
Diese Zeilen hat mir ein lieber Mensch geschickt, nachdem sie „Ich schenke Dir mein Kind” gelesen hat.
Ich schenke Dir mein Kind? Wie bitte??? Niemals!
Was für ein abartiger Gedanke für mich als Mama von zwei zauberhaften Mädels, die ich mit meinem ganzen Herzen bedingungslos liebe. Ich bin überzeugt, es geht jeder Mutter so. Allein die Vorstellung, das geliebte Kind zu verlieren, egal auf welche Art und Weise, tut uns schon so sehr weh, dass wir diesen Gedanken weit von uns schieben und nicht denken wollen und das Gefühl, das in uns hochkommt, nicht fühlen wollen.
Nachdem ich nun dieses Buch lesen durfte, das Kerstin uns ‚geschenkt’ hat, weiß ich, warum sie genau dieses Thema gewählt hat. Es soll uns wach rütteln! Denn es geht für jeden von uns darum, um endlich befreit zu sein und sich selber wirklich mit ganzem Herzen lieben zu können, alle negativen Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen mussten und durften, loszulassen. Um das tun zu können, müssen wir uns noch einmal mit ihnen konfrontieren. Und, seien wir ehrlich, das möchten die wenigsten von uns. Wir müssen die Gefühle noch einmal genau so fühlen wie damals, um unser inneres Kind heilen zu können, indem wir vergeben und loslassen.
Kerstin zeigt uns mit diesem wundervollen Buch, dass es funktioniert. Sie beschreibt anhand von Kathrins Geschichte einen zunächst erst einmal sehr harten, dann aber doch so zauberhaften Weg, den jeder von uns gehen sollte, um aus der eigenen Dunkelheit herauszutreten, Licht zu werden und sich in seiner wahren Essenz zu spüren.
Kerstin, ich danke Dir für Dein Vertrauen in mich, ich danke Dir für dieses Buch, das mich so berührt und beseelt! Und ich danke den Engeln, dass wir uns kennenlernen durften. Wie sehr freue ich mich auf den gemeinsamen Weg mit Dir an meiner Seite! Ich bin jetzt mehr als bereit endlich loszulassen und frei zu sein.
Deine Carolin
Je mehr du gibst, umso reicher wirst du.
Thich Nhat Hanh
Kathrin lag mit weit gespreizten Beinen auf dem Krankenhausbett in der Entbindungsklinik in Hamburg und ihre erfahrene Hebamme Anja kniete dazwischen und gab genaue Anweisungen, wann gehechelt und wann gepresst werden sollte. Kathrin war völlig erschöpft, seit siebzehn Stunden erhoffte sie sich nun die Geburt ihres ersten Kindes, aber so langsam konnte sie Anjas Anforderungen nicht mehr nachkommen. Selbst ihr Ehemann Thomas, der unermüdlich neben ihrem Bett stand und ihre schweißnasse Hand hielt, hechelte und presste im Rhythmus von Anja und wirkte schon sehr mitgenommen.
Kathrin war heilfroh, dass Thomas nicht auch noch zwischen ihren Beinen kniete, um sich alles ganz genau aus der Nähe anzuschauen. Sie hatte ihn gewarnt! Wenn er das täte, könnten sie nie wieder miteinander schlafen, ohne dass beide daran denken müssten. Aber im Moment war Kathrin nicht nach Lachen zumute. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Schmerzen erlitten.
„Ich kann nicht mehr – wo ist ER jetzt?”
„Was meinst du?”, fragte Thomas. Er hatte seine Frau nicht verstanden. Oder doch? Wen meinte sie mit ER? Fantasierte sie jetzt? War es soweit?
„Müssen wir den Arzt holen, Anja?”, fragte Thomas.
„Nein, deine Frau ist ziemlich klar, sie ist nur sehr erschöpft nach dieser langen Zeit. Ich denke, dass sie mit ER Gott meint. Also komm, Schatz, noch einmal pressen und dann ist es geschafft.” „Woher willst du das wissen?”, schrie Kathrin, bevor die nächste Wehe sie zu zersprengen drohte. „Ohhhhhh Gottttt… komm endlich da rausss!” Mit der letzten noch verbleibenden Kraft presste Kathrin alles nach unten und raus, was daraus wollte. Anja rief: „Da ist es, ich sehe das Köpfchen!” Und mit diesen Worten sah sie nicht nur das Köpfchen, es kam ihr auch der gesamte Inhalt des Darms entgegen. Gott sei Dank sahen weder Kathrin noch Thomas etwas davon. Kathrin hätte sich wahrscheinlich so sehr dafür geschämt, dass sie aufgehört hätte, zu pressen. Sie wusste ja nicht, dass es für Anja ein ganz normaler Anblick war. Bei fast jeder Geburt entleert sich auch der Darm. Mit der letzten Presswehe verließ ein kleines Mädchen von 54 cm und 3.200 Gramm den Geburtskanal von Kathrin. Und sofort war jeglicher Schmerz wie abgeschaltet, das Gehirn wurde von Endorphinen nur so überschwemmt und ihr kleines Mädchen kam jetzt erst einmal käseverschmiert und ziemlich blau verfärbt auf ihrem Bauch zur Ruhe. Was für ein Erlebnis!
Kathrin liefen vor Rührung über dieses Wunder Tränen aus ihren Augen. Auch Thomas weinte vor Erleichterung und Glück. „Ich bin so stolz auf dich, meine Große. Das hast du gut gemacht”, sagte er und küsste seine Frau auf die Stirn. Kathrin bekam vor lauter Rührung nur ein unterdrücktes, gekrächztes ‚Oh’ heraus, dachte aber eigentlich: Du warst aber auch nicht schlecht. Selig streichelte sie ihrer kleinen Tochter über ihr nasses Köpfchen.
Anja war damit beschäftigt, den Mutterkuchen ganz langsam aus Kathrin herauszuziehen und genauestens zu untersuchen. Hatte sich auch wirklich alles gelöst und sah die Farbe der Plazenta gut aus? Nachdem sie damit fertig war und die gesunde Plazenta entsorgt hatte, kümmerte sich Anja um Kathrin. Untersuchte, ob ihre Scheide gerissen war, erkannte mit sicherem Blick das alles gut aussah, legte ihr eine dicke Slipeinlage zwischen die Beine, da immer noch Blut ausfloss, zog ihr eine Unterhose über, wusch sich ihre Hände und überprüfte nun, ob die Nabelschnur zur Ruhe gekommen war. „So, Thomas, möchtest du jetzt die Nabelschnur durchtrennen? Sie pulsiert nicht mehr und kann durchschnitten werden.”
„Oh Gott, kann ich das denn? Ich will meinem Kind nicht wehtun!” Thomas bekam es mit der Angst zu tun. Bisher hatte er passiv dabei sein können und seine tapfere Kathrin hatte sich sehr gut geschlagen, aber mit einer Schere die beiden zu trennen wirkte auf ihn doch sehr beängstigend. Anja spürte sein Unbehagen und beruhigte ihn. „Thomas, es ist völlig normal, was Sie jetzt empfinden, aber Ihren beiden Frauen geht es gut, vertrauen Sie mir. Die Nabelschnur muss durchtrennt werden, aber die Bindung zwischen Mutter und Kind kann keine Schere der Welt durchtrennen.”
„O.K., das beruhigt mich”, sagte Thomas, straffte seine Schultern, nahm die Schere und durchtrennte die Nabelschnur. Kathrin beobachtete ihren Mann dabei und musste über seine Unsicherheit lächeln. „Das ist ja eine ganz neue Seite an dir!” Thomas verdrehte die Augen.
„Ja, ich bin sensibel. So eine Geburt steckt auch der stärkste Mann nicht so einfach weg!” Er knuffte Kathrin liebevoll in den Arm.
„Darf ich mein kleines Mädchen jetzt anlegen?”, fragte Kathrin die Hebamme.
„Ja, natürlich, ich helfe dir.” Sie nahm das kleine, frisch geschlüpfte Küken und legte es in Kathrins Arme. „Wie soll euer kleiner Wurm denn heißen?”, fragte Anja.
Wie aus einem Mund antworteten die beiden „Samira – die immer Glückliche.”
„Samira? Was für ein seltener, aber sehr schöner Name.”
Samira roch schon im Arm ihrer Mutter die Milch, die normalerweise mit der Geburt einschießt. Sofort machte sie reflexartig Nuckelversuche.
„Oh, da hat aber jemand Hunger. Na, dann wollen wir die kleine Samira mal nicht länger warten lassen.” Anja nahm das Köpfchen und legte es vorsichtig an Kathrins Brust. Sofort fing die Kleine an zu saugen, als hätte sie das schon hundert Mal vorher getan und als wüsste sie, dass es das letzte Mal war, dass sie an der Brust ihrer Mutter trinken würde.
Auch jetzt liefen Kathrin die Tränen aus ihren Augen. „Mein Gott, ist das schön, ich kann mein Kind ernähren, sie trinkt einfach los, was für ein Wunder. Danke Gott für dieses Wunder, für dieses Geschenk, für dieses kleine, gesunde Mädchen. Danke, dass alles an seinem Platz ist und sie alle Gliedmaßen hat und gesund ist!”
Und genau in diesem Moment, als Kathrin vor Dankbarkeit und Rührung vollkommen in ihrem Herzen war, sah sie ‚Ihn’, sie fühlte ‚Ihn’ und hörte ‚Ihn’. Das war das Schönste und Großartigste, was Kathrin je in ihrem Leben erfahren hatte. Das war Leben in seiner einzigartigen Fülle! Ihr Herz öffnete sich vor Glück und sie spürte Gottes bedingungslose Liebe.
Die Erschöpfung kam auf leisen Sohlen in ihren Körper, nach und nach spürte Kathrin die Müdigkeit. Sie gähnte in einem fort, auch Thomas erging es nicht besser. Wenn man bedachte, wie viele Stunden die beiden in Aufregung, Schmerz, Anspannung und jetzt im vollkommenen Glück verbracht hatten, war es kein Wunder, dass beide stehend K.O. waren. Ein Wechselbad der Gefühle überschwemmte ihre Körper sowie, natürlich, die physische Anspannung. Der letzte Schlaf war vierundzwanzig Stunden her.
Nachdem die Hebamme die Kleine versorgt, gewogen, gemessen und gewickelt hatte, beschloss die erfahrene Hebamme, dass es für alle drei Zeit war, sich auszuruhen und zu schlafen.
„Kathrin, ich lege Samira jetzt in ihr Bettchen und schiebe sie ins Kinderzimmer zu den anderen kleinen Prinzen und Prinzessinnen. Du musst jetzt schlafen und dich erholen und du auch, mein lieber frisch gebackener Papa!”, sagte sie und schaute dem gähnenden Thomas liebevoll in die Augen. Thomas leistete keinen Widerstand. „Jawohl, Chefin”, sagte er und grinste Anja an. Er gab Kathrin einen langen Kuss. „Ich komme heute Abend zurück, meine Große. Ruh dich schön aus und träume von unserer kleinen Prinzessin. Jetzt ist es 6.00 Uhr morgens. Ich bin gegen 18.00 Uhr zurück.” Kathrin sah ihn schläfrig und dankbar an.
„Ja, vielleicht sollten wir uns alle drei etwas ausruhen, ich bin hundemüde! Aber wieso darf Samira nicht bei mir bleiben?”, fragte Kathrin an Anja gerichtet.
„Nach meiner Erfahrung kann ich dir sagen, dass die Mutter ruhiger schläft, wenn sie ihr Kind nicht hört. Es kann schon mal sein, dass die Kleine wach wird und dich dann weckt. Sie ist jetzt pappsatt und kann von den Schwestern im Kinderzimmer betreut werden. Du brauchst deine Kraft, es kommen noch viele schlaflose Nächte auf dich zu. Hier hast du jetzt noch viel Hilfe. Die Schwestern reißen sich im Kinderzimmer um so einen süßen Fratz! Mach dir keine Sorgen, wir passen gut auf euer kleines Mädchen auf. Und wenn sie hungrig wird, bringt sie Schwester Maria zu dir. Meine Schicht ist jetzt zu Ende, wir sehen uns morgen wieder. Jetzt schlaf gut und ruhe dich aus.” Sie streichelte Kathrin über die Stirn und nahm ihr Samira, die selig schlief, aus dem Arm.
Ohne irgendeine Gemütsregung ließ Samira sich in das kleine gläserne Babybettchen verfrachten, in dem sie einfach weiterschlief – das kleine Brot! Anja schob die Kleine aus der Entbindungsstation in das Kinderzimmer. Kathrin war erschöpft, aber auch sehr glücklich.
Nur Samira hätte sie lieber an ihrer Seite gewusst. Sie war über neun Monate mit dem kleinen Engel verbunden gewesen, so nah, wie es näher nicht geht. Und jetzt sollte sie in einem anderen Zimmer schlafen. Es sträubte sich alles in Kathrin, etwas in ihr schrie: „Gib mir mein Kind zurück!” Aber sie ergab sich den guten Argumenten ihrer Hebamme und gab auch der Müdigkeit ihres Körpers nach. Ein Pfleger betrat das Entbindungszimmer, half Kathrin, sich in ein normales Krankenbett zu legen, und schob sie in ihr Zimmer auf der Entbindungsstation 1B, das direkt gegenüber des Säuglingszimmers lag. All das bekam sie nur noch schemenhaft mit, denn als der Pfleger sie in ihr Einzelzimmer schob, schlief Kathrin schon tief und fest.
Auch Thomas war jetzt froh, in seinen Wagen zu steigen und in ihr kleines Häuschen nach Poppenbüttel fahren zu können. Vor seinem geistigen Auge ließ er die Ereignisse der letzten fünfundzwanzig Stunden noch einmal Revue passieren. Was für ein Erlebnis – ich bin immer noch total aufgewühlt, dachte er. Ich muss jetzt erst mal meine Eltern und Schwiegereltern informieren, die warten bestimmt schon ungeduldig. Thomas wählte die Nummer seiner Eltern. Nach dem ersten Klingeln hörte er die vertraute, warme Stimme seiner Mutter: „Bin ich Oma?”
Thomas musste herzlich lachen „Ja Mams, du bist Oma von einem wunderschönen kleinen Mädchen. Sie kam um 2.58 Uhr, mit 54 cm und 3.200 Gramm zur Welt. Oh, sie ist so schön und so klein und zart, sie ist so verletzlich, ich möchte am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag auf sie aufpassen! Mams, bist du noch dran?” Thomas hörte ein Schluchzen am anderen Ende. „Ja, mein Sohn, ich bin noch dran, ich kann dich so gut verstehen, es ist und bleibt ein Wunder, mein Sohn, und das ergreifendste Gefühl der Welt!” „Ja, du hast Recht, es ist sehr ergreifend, wenn man in die Augen seines eigenen Kindes schaut und sich darin erkennt.” „Wie geht es Kathrin?”, fragte Frau Hellwig. „Ach, sie war so tapfer! Die Geburt war recht lang und sie war zum Schluss doch sehr erschöpft. Ich hoffe, sie schläft jetzt und träumt von unserem kleinen Mädchen.” „Das wird sie ganz bestimmt. Wie heißt denn jetzt eure kleine Prinzessin?”
„Samira, die immer Glückliche. Ihr Name stammt aus dem Arabischen. Wir fanden ihn sehr passend und hoffen, ihr damit einen guten Start in ein glückliches Leben zu ermöglichen.” „Es hört sich sehr harmonisch und stark an, aber auch freundlich. Ich habe ihn noch nie vorher gehört.” „Wir haben auch lange gesucht nach einem bedeutenden Namen. Ich finde, er passt sehr gut, und wenn du unseren Engel gesehen hast, stimmst du mir bestimmt zu. Aber Mams, ich habe so eine Angst, dass ich sie nicht beschützen kann!” „Mein lieber Junge, das sind ganz normale Gefühle. Ihr Männer seid für die Versorgung und den Schutz der Familie da. Und glaube mir, auch dein Vater hatte damals die gleichen Ängste und auch er hat uns wunderbar versorgt und beschützt. Du wächst in deine Rolle herein, wächst mit deinen Aufgaben und wirst ein genauso guter Papa wie dein Vater es ist.”
„Du findest immer genau die richtigen Worte. Ich bin auch schrecklich müde, da kommen vielleicht noch mehr Ängste ans Licht, als wenn man ausgeschlafen wäre.” „Ganz bestimmt sogar. Dann fahre jetzt sicher nach Hause. Ich wecke erst einmal deinen Vater und werde ihm berichten, dass er nun glücklicher Opa von einer kleinen Samira ist. Und dann lege ich mich hin, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich hatte Angst, deinen Anruf zu verpassen. Thomas, sag bitte Bescheid, wann wir deine Frauen besuchen dürfen!” „Ja klar, ich denke mal, morgen Abend könnt ihr bestimmt schon kommen, werde es aber noch mit Kathrin abstimmen und sage euch dann Bescheid. Grüß bitte ‚Opa‘ von mir”, sagte Thomas schmunzelnd. „Wir sind sehr stolz auf dich, mein Junge.” „Danke, Mams.” Thomas legte auf und wählte gleich die Nummer seiner Schwiegereltern, um auch sie über die glückliche Nachricht zu informieren.
In Gedanken war er, solange es klingelte, noch bei seiner Mutter. Sie konnte ihn immer schon gut trösten und ihm zuhören und sie sagte immer das Richtige. Gerade jetzt, wo er selbst Papa geworden war, fiel es ihm besonders auf. Ich möchte für meine Tochter auch gerne so ein wichtiger Begleiter sein …Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken, da die Stimme seines Schwiegervaters Albert ihn aus seinen Gedanken riss. Allen anderen schickte Thomas erst einmal über WhatsApp ein Bild von seiner Tochter. Denn zu Hause angekommen hatte Thomas nur noch einen Wunsch: Von den beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben tief und innig zu träumen.
Kathrin wachte gegen 16.00 Uhr in ihrem Zimmer auf, weil ihre Brüste schmerzten. Sie dachte: Oh Gott, wo ist mein Kind, meine Brust platzt gleich. Wieso hat mich niemand geweckt? Sie blinzelte und erkannte, dass sich einige Menschen in ihrem Zimmer befanden. Sie dachte erst, es wäre ihre komplette Verwandtschaft, aber als sie genauer hinsah, erkannte sie den Chefarzt, der auf Kathrin einen sehr souveränen und vertrauensvollen Eindruck gemacht hatte. Jetzt wirkte er verstört und klein. Thomas saß mit rot unterlaufenen Augen an ihrem Bett. Ihr Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen und sie rief: „Was ist passiert? Thomas, wo ist Samira? Antworte! Was ist hier los? Wer sind all die Menschen hier?”
„Kathrin, unsere kleine Prinzessin ist weg”, schluchzte Thomas in Kathrins Hand hinein. Und bevor sie die unglaublichen Worte begreifen konnte, meldete sich Hauptkommissar Bringler zu Wort.
„Frau Hellwig, Ihre Tochter wird vermisst. Seit drei Stunden suchen wir vergebens. Sie wurde aus dem Kinderzimmer entwendet und niemand hat irgendetwas gesehen.” Die Worte schlugen wie eine Woge über Kathrin herein und verschlangen sie mit Haut und Haar.
Sie sah noch kurz, wie Thomas ihre Hand hielt, aber ganz langsam öffneten sich die Tiefen und Kathrin konnte nichts dagegen tun. Sie glitt hinein und ließ die Hand los, die sie all die vielen Jahre hindurch gehalten und getröstet hatte. Er verließ sie und Kathrin war alleine. Sie rutschte immer tiefer in einen Raum in sich selbst, in dem es keine Türen und Fenster gab. Hier war niemand außer ihr. Es war kalt und dunkel und sie war allein. Hier konnte ihr niemand mehr wehtun. Sie schloss die Türe hinter sich und schmiss den Schlüssel fort. Die Worte hallten nach: „Samira … weg …”
„Frau Hellwig, haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?”, fragte der besorgt aussehende Kommissar.
Wie in Trance antwortete Kathrin: „Ja, mein Mädchen ist weg.”
Verstört blickte Kathrin sich um und erkannte ihre Hebamme Anja. Sie dachte, Anja hat doch jetzt keine Schicht? Sie sah den Chefarzt und drei Schwestern, die sie nur vom Sehen kannte, ihren Mann, ihre Eltern und Schwiegereltern. Plötzlich schrie Kathrin los: „Was wollt ihr alle hier, wo ist mein Kind, warum habt ihr nicht aufgepasst, sucht sie! Warum sucht sie denn keiner?” Thomas versuchte, seine Frau zu beruhigen, die aufgebracht versuchte, das Bett und das Zimmer zu verlassen. „Lass mich los!”, schrie Kathrin. „Sucht meine Tochter, ihr Versager, mein Kind, mein Kind …” Doch sie kam nicht weit. Sie wurde von Thomas, nach dem sie schlug, und von Hauptkommissar Bringler festgehalten und Doktor Müller gab ihr eine Beruhigungsspritze in den Arm.
„Beruhigen Sie sich, Frau Hellwig, wir tun alles, um Ihre Tochter zu finden”, hörte Kathrin noch Doktor Müller sagen und wurde dann von den Schwestern und Thomas vorsichtig wieder ins Bett gelegt. Dann wurde um Kathrin der Nebel immer dicker. Sie fiel in einen traumlosen Schlaf und bekam von den Ereignissen um sie herum nichts mehr mit. Doktor Müller entschied, dass es besser wäre, die Milch abzupumpen, um einer Brustentzündung vorzubeugen. Anja zog einen Paravan zwischen Kathrin und die anderen und machte sich gleich daran, mit einer Maschine, die aussah wie eine einer Melkmaschine, eben nur kleiner und handlicher, die Milch aus Kathrins Brüsten zu saugen.
Hauptkommissar Bringler versuchte, den verstörten Thomas, seine Eltern und Schwiegereltern zu beruhigen. „Ich versichere Ihnen, so etwas ist hier in diesem Krankenhaus noch nicht vorgekommen, es kommt überhaupt kein Fremder ins Kinderzimmer hinein, das ist unmöglich!”
Thomas wurde wütend: „Aber es ist passiert, Samira ist weg, also ist es möglich. Ich verklage das ganze Krankenhaus!”, schrie Thomas den Kommissar an.
„Beruhige dich, Thomas”, sagte Frau Hellwig und legte dem verzweifelten Thomas ihre Hand auf die Schulter. „Lass den Kommissar seine Arbeit machen, mein Sohn, damit sie Samira so schnell wie möglich finden. Und wir stehen auch nicht mehr untätig herum”, sagte sie und schaute dabei ihre Familie an. „Thomas, du bleibst bei Kathrin, wenn sie aufwacht, braucht sie dich. Und wir durchsuchen jetzt das Krankenhaus. Irgendjemand muss doch einen so kleinen Säugling gesehen haben.” Damit zog sie Kathrins Stiefmutter Heather, Albert und ihren Mann Herbert mit nach draußen. Jeder von ihnen ging in eine andere Richtung und da sie alle per Handy verbunden waren, verabredeten sie sich, sofort alle anderen zu informieren, sobald jemand etwas erfahren würde oder Samira sogar gefunden hätte. Kommissar Bringler vernahm nochmals das gesamte Krankenhauspersonal der Entbindungsstation, aber niemand hatte irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt. Aber das Baby kann doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein, überlegte er. Ich werde nicht aufgeben. Irgendwer muss sie mitgenommen haben. Ich brauche die Unterstützung der Medien. So gab er Samiras Bild frei und schon am nächsten Tag wusste ganz Deutschland von dem verschwundenen Baby aus der Hamburger Klinik.
Kathrin wachte mit sehr starken Kopfschmerzen auf und als sie in Thomas Augen schaute, der neben ihrem Bett gewartet hatte, sah und spürte sie, dass der Alptraum noch nicht zu Ende war. „Sie wurde nicht gefunden, oder?” Eine vage Hoffnung flackerte in Kathrin auf, aber Thomas machte sie mit seiner Aussage gleich zunichte.
„Nein, meine Liebe, sie haben noch keine Spur von Samira”, sagte Thomas, ohne seinen verzweifelten Blick von seiner Frau abzuwenden.
„Thomas, wie kann das sein?”, hörte Kathrin sich wie durch eine Nebelwand sagen. Sie hatte das Gefühl, dass der Nebel um sie herum noch dichter geworden war, als ob sie nicht sie selbst wäre, irgendwie nicht mehr in ihrem Körper. Kathrin fühlte außer Schmerzen nichts mehr. „Das Kinderzimmer ist doch abgeschlossen, wie kann da jemand reinspazieren und unser Baby klauen?”, fragte Kathrin verzweifelt. „Ach, Liebes”, sagte er und strich über ihre Hand, „ich verstehe es doch auch nicht. Kommissar Bringler ist der Meinung, dass eine diensthabende Schwester oder eine, die hier früher gearbeitet hat, Samira mitgenommen haben könnte. Eine, die keine eigenen Kinder bekommen konnte, die aber wusste, wie man ungehindert in die Entbindungsstation und ins Kinderzimmer hineinkommen kann. Und sie hat sich das Baby geschnappt, das als letztes ins Zimmer geschoben wurde, und das war leider unser kleines Mädchen”, hörte Kathrin ihren Mann sagen, konnte die Worte aber nicht fassen und schon gar nicht begreifen. „Kathrin, alle versuchen, unsere kleine Prinzessin zu finden. Sogar Presse und Rundfunk haben eine Suchaktion gestartet. Leider bisher vergebens. Ich bete sehr, dass es unserer Kleinen gut geht. Ich hoffe so sehr, dass sie jemand mitgenommen hat, der sie auch liebt und ihr alles gibt, was sie braucht, um glücklich zu sein.”
Kathrin sprang bei diesen Worten aus dem Bett: „Sie braucht uns, um glücklich zu sein! Sie braucht ihre Mutter und ich brauche sie! Niemand kann sie so lieben, wie ich es tue! Ich will sie zurück, ich will sie streicheln, sie berühren, sie halten und ihr etwas vorsingen! Thomas, sie ist doch so klein und verletzlich – mein Kind!” Und während Kathrin im Zimmer tobte und versuchte, das Gehörte zu fassen, stand Thomas mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf im Krankenzimmer. Er fühlte sich so unendlich schwach und ausgelaugt. Was sollten sie jetzt tun? Als Anwalt hatte Thomas bisher immer gewusst, was zu tun war. Aber in dieser Situation hatte er keinen Rat mehr, weder für sich noch für seine Frau.
Die Situation glitt ihm aus der Hand und er konnte nichts dagegen tun. Das war die Hölle, er war sich ganz sicher, so fühlte es sich an, wenn man einen Menschen verliert, den man bedingungslos liebt. Einen Menschen, den man gerade erst kennengelernt hat und vom Gefühl her immer schon kannte.
Als er seiner Tochter in die Augen blickte, hatte er ihre Seele und sich selbst in ein und demselben Moment erkannt. Und jetzt würde er sie nie wiedersehen! Dieses Gefühl war die Hölle!
Kathrin zog sich ihre Sachen an, denn sie konnte es nicht mehr ertragen, teilnahmslos im Bett zu liegen. Sie wusch sich ein wenig, putzte sich die Zähne, kämmte ihr braunes, lockiges Haar und band es zu einem Zopf zusammen. Als sie aus dem Bad kam, stand Hauptkommissar Bringler im Zimmer.
„Wie geht es Ihnen?”, fragte er und schaute von Thomas zu Kathrin. Kathrin antwortete etwas schneller als Thomas. „Was meinen Sie, wie es einem geht, dem das Baby gestohlen wurde!”, sagte sie empört und fügte hinzu: „Haben Sie Kinder?”
Herr Bringler, der offensichtlich nicht beleidigt oder wütend war, reagierte sehr, sehr ruhig und gefasst: „Frau Hellwig, Herr Hellwig, ja, ich habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ich kann ihnen leider noch nichts Neues erzählen. Samira ist nach wie vor noch nicht gesichtet worden. Es gibt aber eine Spur, der wir gerade nachgehen. Vor drei Jahren arbeitete hier im Krankenhaus eine Schwester, der gekündigt wurde, weil sie sich sehr schlecht von den neugeborenen Kindern trennen konnte. Sie hat die Babys immer viel zu spät bei ihren Müttern abgegeben und hat sogar versucht, eins zu stehlen. Daraufhin wurde ihr dann gekündigt. Diese Frau ist unverheiratet und hatte damals auch keine Kinder. Sie wohnt allerdings nicht mehr in Hamburg. Wir suchen gerade nach ihr.”
„Oh, das hört sich gut an”, hörten sich Hellwigs wie aus einem Mund sagen.
„Das sind doch gute Neuigkeiten. Wann wissen Sie mehr über diese Frau?”, fragte Thomas ganz aufgeregt.
„Wie schon gesagt, die Ermittlung läuft und wir können jede Stunde mit mehr Informationen rechnen.”
Kathrin und Thomas umarmten sich freudig und aufgeregt und in Kathrin regte sich wieder ein Gefühl von Hoffnung. „Was können wir tun, Herr Bringler?”, fragte Kathrin.
„Im Moment nur beten, dass wir auf der richtigen Spur sind. Sie fahren am besten nach Hause und ich informiere Sie, sobald ich etwas erfahren habe.”
„Nach Hause?”, fragte Kathrin empört. „Ich kann nicht nach Hause und einfach so weiterleben. Ich muss hier bleiben. Hier wurde meine Tochter gestohlen und hier werde ich auf sie warten. Ich fahre nirgendwohin!”
„Das verstehe ich, Frau Hellwig, aber hier können Sie auch nicht mehr tun”, sagte Hauptkommissar Bringler.
In dem Moment kam Doktor Müller ins Zimmer und nahm Kathrin in den Arm. „Meine liebe Frau Hellwig, es tut mir sehr leid, was geschehen ist und Sie können selbstverständlich noch bleiben, aber bedenken Sie bitte, hier werden Babys geboren”, und schaute Thomas dabei eindringlich an. „Ich glaube, dass es Ihnen nicht gut tut, wenn Sie jeden Tag Neugeborene sehen. Zuhause kommen Sie zur Ruhe und Anja kommt jeden Tag vorbei, um Sie zu unterstützen.”
Kathrin merkte, wie Wut in ihr hochstieg. Das ist doch die Höhe! Erst können sie nicht auf mein Baby aufpassen und jetzt schmeißen sie mich raus. Aber Kathrin hatte keine Kraft mehr, dagegen anzugehen. Sie spürte Thomas starken Arm und hörte, wie er sagte: „Liebes, es ist vielleicht besser, wenn wir zu Hause sind und nicht der Versuchung ausgesetzt werden, uns einfach ein Baby zu schnappen.” Dabei küsste er seine Frau auf ihren empörten Mund.
Kathrin dachte: Ja, eigentlich hat er Recht. Wenn ich jetzt auch noch die anderen glücklichen Mütter sehe mit ihren frischgeborenen Säuglingen, kann es mir schon passieren, dass ich mir einfach eins schnappe.
„Also gut, dann packe ich mal meine Sachen.”
„Ich helfe dir”, sagte Thomas und holte die kleine Tasche aus dem Kleiderschrank und legte sie aufs Bett.
„Ich bringe Sie nach Hause”, sagte Herr Bringler. „Da es draußen vor Reportern nur so wimmelt, ist es besser, wenn ich Sie begleite.”
„Oh Gott, das auch noch”, dachte Kathrin.
Anja kam noch zu ihnen, um sich zu verabschieden, und versicherte Kathrin, dass sie morgen vorbeikäme, um nach ihr zu sehen. Auch Chefarzt Doktor Müller verabschiedete sich von dem geknickten Paar, das sich den Abschied aus dem Krankenhaus wahrlich anders vorgestellt hatte.
Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um ihr kleines Mädchen. Wo sie jetzt gerade wohl ist? Geht es ihr gut? Wer kann so etwas Schreckliches einem anderen Menschen nur antun? Für Kathrin war klar: Es konnte keine Mutter sein. Eine Mutter, die selbst unter Schmerzen ein Baby auf die Welt gebracht hatte, würde einer anderen so etwas nie antun. Wofür dieser Schmerz, wenn man danach diesen kleinen Wurm noch nicht einmal in den Arm nehmen kann? Das fehlte Kathrin am allermeisten. Samira zu spüren, wie ihre weichen Lippen an ihren Brüsten saugten. Es war so unbeschreiblich schön. Nie würde sie diese ersten Stunden mit ihrer Tochter vergessen. Bei diesem Gedanken spürte Kathrin, wie ihre Brüste anfingen zu tropfen. Als würden sie sich darauf freuen, endlich von Samiras Babymund berührt zu werden. Aber das würde wohl noch dauern, bis sie ihr kleines Mädchen wieder anlegen durfte. Solange wollte Kathrin abpumpen, damit sie immer noch Milch hatte, wenn Samira wieder da war.
Kathrin konnte es immer noch nicht begreifen, wie ihr kleines Mädchen verschwinden konnte. Warum ihre Tochter, warum nicht ein anderes Kind? Oh Gott, warum tust du mir das an? Was haben wir verbrochen, dass wir so etwas erfahren müssen? Sag was, Gott, warum? Aber in Kathrin blieb alles still, sie bekam keine Antwort. Und trotz dieses Hoffnungsschimmers der gekündigten Säuglingsschwester zog Kathrin sich immer mehr in sich zurück.
Kathrin kannte diesen Ort in sich. Schon früher, als kleines Mädchen, hatte sie ihn kennengelernt, als sehr plötzlich und unerwartet ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Kathrin war damals vier Jahre alt. Und genauso fühlte sie sich jetzt. Alleine und verzweifelt. Obwohl Thomas sie beim Hinausgehen in seinem Arm hielt, konnte auch er nicht verhindern, dass Kathrin immer tiefer in sich hineinfiel. Dort, wo es keinen Schmerz gab, keine Traurigkeit, keine Wärme. Nur Kälte und Nebel.
Die drei kamen ohne größere Störungen in der Tiefgarage des Krankenhauses an und stiegen in das Auto des Hauptkommissars. Er fuhr das Paar nach Poppenbüttel in ihr kleines Einfamilienhaus. Jeder der drei hing seinen Gedanken nach. Thomas hielt Kathrin im Arm und streichelte unentwegt über ihre Stirn, als wolle er alle schlechten Gedanken einfach wegwischen.
Als sie in der Grünstraße 7 ankamen, stand leider auch hier eine Traube von Reportern vor der Tür. Herr Bringler stieg als erster aus dem Ford Galaxy und bat die Reporter, doch bitte Rücksicht auf den Zustand der Eltern zu nehmen. Doch als er gerade dabei war, die Reporter dazu zu bewegen, das Grundstück zu verlassen, standen Kathrin und Thomas neben ihm und sprachen mit den Reportern. Thomas sagte: „Wir sind jetzt auf Ihre Hilfe angewiesen und möchten sehr gern mit Ihnen allen reden. Aber haben Sie bitte etwas Geduld, wir sind noch sehr verstört über das Verschwinden unserer Tochter. Wenn Sie heute Abend wiederkommen, dürfen Sie ins Haus und Fotos von uns und Samiras Zimmer machen. Ein Foto von unserer Tochter wurde ja schon rausgegeben. Wir sind froh um jeden Hinweis. Aber nun entschuldigen Sie uns bitte, meine Frau und ich benötigen jetzt ein wenig Zeit.” Die Reporter bedankten sich und freuten sich darüber, gegen Abend doch noch mehr zu erfahren und sogar Fotos vom Kinderzimmer machen zu dürfen. Das war mehr, als sie sich jemals erhofft hatten.
Herr Bringler begleitete Thomas und die sehr blasse Kathrin ins Haus und fragte: „Halten Sie das wirklich für eine gute Idee, einer Horde von schaulustigen Reportern Rede und Antwort zu stehen?”
„Lust habe ich gewiss nicht dazu, Herr Bringler. Aber die Reporter bringen unsere Geschichte in jedes Wohnzimmer und irgendjemand wird auf eine Frau aufmerksam, die jetzt ein Baby hat, aber nie schwanger gewesen ist. Und solange sie sich in Deutschland aufhält, dürfen wir nichts unversucht lassen.”