Ich spür Banane blau - Bettina Markones - E-Book

Ich spür Banane blau E-Book

Bettina Markones

0,0

Beschreibung

Mit großem Einfühlungsvermögen und Expertise zeigt Bettina Markones, wie Focusing heute im therapeutischen, aber vor allem auch pädagogischen Umfeld mit Kindern eingesetzt werden kann. Dabei schöpft sie aus einer langjährigen eigenen Praxis in der Arbeit mit Kindern. Focusing wie hier vorgestellt fördert die Identitätsbildung, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, das Reflexionsvermögen und die emotionale Reifung von Kindern. Es ist aktuell einer der vielversprechendsten Ansätze, sowohl in der Therapie mit Kindern als auch in der Schule und Sonderpädagogik. Dieses Buch ist das Ergebnis von vielen Jahren engagiertem Lernen und Erfahren mit und von Kindern. Möge es Ihnen und vielen Menschen helfen, diesen Weg zu entdecken, Kinder einfühlsam und achtsam für die Herausforderungen ihres Lebens zu stärken.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 200

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bettina Markones

Ich spür Banane blau

Focusing in der Arbeit mit Kindern

Mit einem Vorwort von Klaus Renn

Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Impressum

© 2022 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2022

Lektorat: Judith Mark

Titelbild: galitskaya / istockphoto.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

www.arbor-verlag.de

ISBN 978-3-86781-376-1

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1 Die Grundlagen

»Ich spür Banane blau«

Warum arbeite ich mit Kindern?

Für Eltern

Für Erwachsenentherapeuten

Was ist Focusing?

Der Begründer der Methode: Eugene Gendlin

Grundlegende Begriffe im Focusing

Grundlegende Techniken im Focusing mit Kindern

Die Focusing-Grundhaltung

2 Die Praxis

Freiraum schaffen

Malen

Bewegung

Traum

Die Arbeit mit Bilderbüchern

Die Arbeit mit Märchen

Puppen als Arbeitsmaterial

Schreiben als Medium

Töne und Musik

Knetmasse und Ton

Imaginative Techniken

Kreuzen

Schlusswort

Anhänge

Über die Autorin

Orientierungsmarken

Cover

Vorwort

Von der Autorin Bettina Markones schimmert in diesem Buch immer wieder ihre Liebe zu Kindern durch und zugleich ihre reichhaltige Erfahrung. Nichts ist hier bloße Theorie. Die präzisen und zugleich einfach zu praktizierenden Anleitungen sowie eine besondere Art der Beziehung führen dazu, dass das Innere von Kindern und Erwachsenen individuell und wesentlich antworten kann.

Das Buch ist an Eltern und an professionelle Begleiter:innen von kindlichen Prozessen adressiert. Inspirierend ist es aber auch für alle, die mit Erfahrungen arbeiten, welche »inneres Kind« genannt werden.

Der Ansatz von Bettina Markones ist Focusing bzw. Focusing-Therapie: eine Achtsamkeits-Methode, eine Haltung in Mindfulness, ein erlebensbezogener psychotherapeutischer Ansatz. Focusing bezieht sich auf die allen Menschen innewohnende Fähigkeit, eine spezielle Art von körperlicher Resonanz entstehen zu lassen. Focusing bewirkt, dass sich gestoppte Erlebensprozesse in einem erlebten, wohltuenden inneren Raum fortsetzen können. Dabei wird frische Energie spürbar und ein tiefes So-Sein-Dürfen erfüllt den ganzen Körper und die gesamte Person. Kinder und Jugendliche erfahren die innere Resonanz von Erlebens­prozessen noch unmittelbarer als wir Erwachsenen.

Bettina Markones hat den Ansatz von Focusing und Focusing-­Therapie auf einmalige Weise in die Kinderwelt übersetzt. Dabei wird Focusing noch kreativer, beweglicher und körperlicher, als es ohnehin schon ist. Malen, Schreiben, Basteln, Singen, Spielen, Musizieren, Bewegen, Skulpturieren … all das gehört zu den kreativen, kindgemäßen Ausdrucksformen, zu denen uns Bettina Markones ermutigt und hinführt.

Inspiriert wurde Bettina Markones von der Pionierin des Kinderfocusings, Martha Stapert. Stapert hat Focusing mit Kindern erstmals in den 1980er-Jahren praktiziert und 2008 beschrieben. Die Niederländerin Martha Stapert konnte ihre kindorientierte Arbeit mit Focusing in der internationalen Focusingszene bekannt machen. Bettina Markones lernte Martha Stapert in einem Workshop kennen und wusste in einer tiefen inneren Bewegung sogleich, dass sie hierher gehörte. Zwischen den beiden Frauen ergab sich eine herzliche, kreative und lebenslange Freundschaft.

Martha übergab Bettina all das, was sie erarbeitet hatte. Damit konnte Bettina den Staffelstab aufnehmen und mithilfe ihrer Erfahrungen in Schule, Weiterbildung und Lehre das Kinderfocusing in Praxis und Theorie weiterentwickeln. Jetzt legt sie uns dieses Buch vor.

Ihnen wünsche ich viel Freude beim Lesen.

Mit herzlichen Grüßen

Klaus Renn

Leiter des Deutschen Focusing Institutes (DFI),

www.deutsches-focusing-institut.de

1

Die Grundlagen

-

»Ich spür Banane blau«

Diesen Satz hörte ich vor vielen Jahren bei einem achtjährigen Mädchen. Seit ich ihn aufgeschnappt habe, begleitet er mich, weil er für mich die Welt des Focusing mit Kindern auf gelungene und poetische Weise zusammenfasst.

Ich gab in einer Familienbildungsstelle eine Zeit lang Kurse für Kinder. Jeder dieser Kurse entwickelte sich auf seine Weise. In dem Kurs, aus dem diese Aussage stammt, waren die Kinder völlig begeistert von Naturerfahrungsspielen im Zusammenhang mit Focusing. So entstand die Idee, am Ende der gemeinsamen Zeit ein Fest zu feiern, das mit lauter Wahrnehmungsübungen gestaltet werden würde.

Auch das gemeinsame Essen, das bei einem Fest ja nicht fehlen darf, sollte in irgendeiner Form eingebunden werden. So baute ich ein Buffet auf, das aus Obst, Gemüse und einigen kleinen Leckereien bestand, alles in mundgerechte Stückchen geschnitten. Neben Zahnstochern zum Aufpiksen der Lebensmittel gab es Forscherblätter. Dies waren DIN-A4-Blätter, in sechs kleine Felder eingeteilt; für jedes probierte Lebensmittel war ein Feld vorgesehen. Die Kinder durften sich natürlich so viele Forscherblätter nehmen, wie sie wollten. Die Einladung an die Kinder war, beim Essen eines Stückchens Obst, Gemüse oder etwas anderem zu spüren, wie sie das innerlich erlebten. Sie hatten ja im Verlauf des Kurses geübt, wie sie so ein körperlich spürbares Fühlen über »das Ganze von Etwas« finden konnten. Es war ein heiteres Treiben an dem Tisch mit dem Essen. Kosten, Schmecken, Malen geschah in einer bunten, fröhlichen Abfolge. Wer Kohlrabi nicht mochte, nahm davon nichts. Wer ausprobieren wollte, ob die roten, gelben, weißen und grünen Gummibärchen gleiches Erleben bewirkten, der musste wohl oder übel viermal zugreifen. Die Bäuche füllten sich mit den guten Häppchen und die Blätter mit bunten Klecksen, Formen und Gestalten.

Am Ende des Festes kamen die Eltern dazu und ließen sich von den Kindern erzählen, was sie gespielt und ausprobiert hatten. Dabei hörte ich, wie ein Mädchen seiner Mutter das Forscherblatt vom Buffet erklärte. Als es auf einen blauen Fleck zeigte, erklärte es: »Das war die Banane.« Die Mutter erwiderte: »Aber Bananen sind doch gelb.« Gelassen und doch mit Klarheit kam der Satz: »Ich spür Banane blau.«

Die ruhige Selbstsicherheit, mit der das Mädchen sprach, zeigte mir, dass Focusing Kinder stärken und in ihrer Entwicklung unterstützen kann. Sie lernen, auf ihr Erleben zu vertrauen und es auch auszudrücken. Für die meisten Kinder ist Focusing im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht. Sie haben oft noch einen guten Zugang zu ihren Empfindungen und Gefühlen.

Ich

Der Satz beginnt mit dem Wort »ich«, und das ist gut und stimmig. Es geht schließlich um dieses bestimmte Kind, ein anderes würde vielleicht schon beim Anblick einer Banane die Nase rümpfen und weitergehen. In dem Satz schwingt auch das Wissen mit: »Für mich ist Banane blau, für dich vielleicht ganz anders.«

Focusing unterstützt die Identitätsbildung des Kindes. Es lernt, auf seine Empfindungen, Gefühle und seine Intuition zu achten. Durch die Grundhaltung des Begleiters erfährt das Kind, dass es in Ordnung und willkommen ist, so wie es ist.

Vor allem aber lernt das Kind, innezuhalten und zu spüren, was gerade in ihm vorgeht. Von dort aus kann es bemerken, dass es ein »Ich und meine Wut, Angst …« gibt. Das bedeutet, dass die Emotionen nicht mehr völlig überwältigend sind. Es ist und bleibt ein langer Prozess, bis ein Kind so viel Selbstkompetenz erworben hat, dass es seine Emotionen gut regulieren kann und genug Selbstvertrauen hat, auf eigene Lösungswege zu vertrauen. Je nachdem, wie heftig die jeweiligen Emotionen sind, wird dies mal besser, mal schlechter gelingen.

Aber es beginnt mit der Klarheit: Hier bin ich, und ich habe Empfindungen, Emotionen, Themen, die ich wahrnehme und spüre.

spür

Genau darum geht es im Focusing: spüren, was gerade in mir passiert. Wie wirkt die Situation, mit genau diesen Menschen und Dingen, auf mich? Was kann ich hierzu körperlich wahrnehmen, was löst es in mir aus? Es können z. B. Emotionen auftauchen, Imaginationen oder etwas ganz anderes. Es können auch Gedanken kommen, dies sind aber vermutlich andere als die, die beim bloßen Nachdenken auftauchen würden.

Ich kann mich gut an Kinder erinnern, die als Konsequenz für »schlechtes Verhalten«, z. B. Raufereien, einen Besinnungsaufsatz schreiben sollten, um ihre »Fehler« zu überdenken. Meist saßen sie völlig überfordert vor dem Blatt oder sie wussten, was der Erwachsene hören wollte. Der abschließende Satz, in dem eine halbherzige Entschuldigung stand und Besserung versprochen wurde, hatte nichts mit dem Kind zu tun. Wenn das Kind in einem Gespräch sagen darf, wie zu der Auseinandersetzung kam, wie es sich vorher, dabei und hinterher gefühlt hat, dann kann das etwas in ihm bewirken. Ich habe häufig erlebt, dass dadurch Einsichten kommen, aus denen eine ernst gemeinte Entschuldigung oder ein aufrichtiger Vorsatz entstehen.

Banane

»Banane« ist wie ein Platzhalter für alle Themen des menschlichen Lebens. Zu jedem Wort, Gegenstand, zu jedem Menschen oder jeder Situation kann man eine körperliche Resonanz finden. Statt »Banane« könnte da auch »meine Freundschaft mit X«, »Alles über meine Arbeitsstelle« oder »Der Streit mit Y« stehen. Das Vorgehen ist immer das Gleiche: Da bin ich und da ist das Thema; zu diesem kann ich etwas in mir spüren.

In meinem Beispiel geht es um Bananen. Ein Wort, das einen bestimmten Gegenstand bezeichnet. Es gibt eine klare Übereinkunft in unserer Sprache, welche Frucht damit verbunden ist. So verbindet jeder Mensch mit diesem Wort das gleiche Obst. Damit endet aber auch schon das Gemeinsame. Denn jeder Mensch hat ein anderes Bild zu der Frucht, unterschiedliche Erinnerungen, gespeicherte Geschmacks- und Geruchsvorstellungen. All das taucht auf, ohne dass es ins Bewusstsein kommen muss, wenn jemand das Wort hört. In der Focusingübung zur Banane ging es darum: Allem, was mit Banane verbunden ist, Zeit und Gelegenheit zu geben, in irgendeiner Form aufzutauchen.

In der Anleitung hört sich das ungefähr so an: »Nimm jetzt das Stückchen Banane, rieche daran und iss es dann in deinem Tempo. Vielleicht erinnerst du dich an irgendetwas, was du mit Bananen erlebt hast, oder du weißt auch schon einiges über Bananen. Alles, was für dich zu Bananen dazugehört, darf dazukommen. Und du spürst einfach, wie es dir geht, ob du etwas in dir bemerken kannst.«

blau

Das Kind spürt Banane blau. Wenn ich zu einem Thema eine körperliche Resonanz suche, so ist diese erst einmal vage und ohne Sprache. Verweile ich länger bei diesem körperlichen Spüren, so bildet sich daraus etwas, was in irgendeiner Form ausgedrückt werden kann. Häufig sehe ich spontane Bewegungen, die vielleicht nur ganz klein sind. Oder das Kind fängt an, etwas zu erzählen, was ihm zu dem Thema eingefallen ist. Farben zum Ausdruck zu benutzen fällt den Kindern eher leicht und gibt dem Ganzen immer einen spielerischen Charakter. Es geht nicht darum, eine richtige oder falsche Antwort zu geben. Diese Kategorien sind überflüssig und nicht anwendbar. Wer kann beweisen, dass ich Banane nicht blau spüre? Das nimmt Angst und schafft Freiraum, der ja zum Spüren unbedingt notwendig ist. Der Satz hätte auch heißen können: »Ich spür Banane laut« oder »Mich macht Banane traurig«. Es hätte auch ein Geräusch kommen können wie »Mhh«.

Das körperlich Gespürte kann ich auf viele Arten ausdrücken; mit dem, was da kommt, lässt sich dann weiterarbeiten, wenn es nötig ist. In diesem Beispiel war nichts Weiteres notwendig. Es ging um leichtes Tun, mit Freude und Genuss. Ich selbst hatte lange die Vorstellung, Focusing wäre nur für Probleme und schwere Themen. Als ich anfing, in Konzerten focusingorientiert zuzuhören, bemerkte ich, dass ich den lebens- und genussvertiefenden Aspekt von Focusing unterschätzt hatte. Seitdem bin ich immer mehr auf der Suche, wie ich Focusing so anwenden und lehren kann, dass Freude und Leichtigkeit einen großen Raum einnehmen. Das Schwere kommt sowieso von selbst, die Kinder bringen es mit. Das darf dann da sein und es kann sich auch verändern. Mein Job ist es, dabei zu bleiben, bis klar wird: Das Leben ist nicht nur grau, sondern bunt, und jedes Kind spürt Banane in seiner ganz eigenen Farbe.

Warum arbeite ich mit Kindern?

Wenn ich mit Kindern arbeite, möchte ich, dass sie verstehen, was ich mit ihnen tue. Und noch wichtiger ist mir, dass ihnen klar ist, warum ich etwas mit ihnen mache. Das heißt aber nicht, dass ich ihnen Vorträge halte und sie mit Worten überflute. Vielmehr suche ich immer wieder danach, wie es einfach zu erklären ist. Am besten ist, wenn ich etwas finde, bei dem ich auf eigene Erfahrungen der Kinder zurückgreifen kann.

Arbeite ich mit einem einzelnen Kind, das ein eigenes Anliegen hat, so braucht es oft kaum Erklärungen. Aber die meisten Kinder kommen nicht aus eigenem Antrieb zu mir. Oft haben sie Ängste vor dem, was wohl passieren wird. Dann ist es gleich am Anfang gut, ihnen zu erklären, was sie erwartet.

Ein normaler Haushaltsgummi leistet mir immer wieder gute Dienste. Ich ziehe ihn mit zwei Fingern langsam auseinander und frage dabei das Kind, ob es so etwas kennt und schon einmal in der Hand gehabt hat. Manchmal braucht es keine Fragen, die Mimik der Kinder oder ein erschrockener Ausruf zeigt, dass sie wissen, was jetzt passieren kann. Ich führe die Finger zusammen und erkläre: »Mit uns Menschen ist es nicht viel anders. Wir spannen uns an, um etwas zu schaffen. Aber irgendwann müssen wir auch wieder entspannen.« Dabei lasse ich den Gummiring wieder langsam zusammengehen. Wenn das Kind mag, kann es gerne einen der bereitliegenden Gummiringe nehmen und selbst damit spielen.

Wenn genügend sprachliche Kompetenz vorhanden ist, sammle ich mit dem Kind, wofür es sich anstrengt und was anstrengend in seinem Leben ist. Interessanterweise ist dies oft nicht das Gleiche.

Erneut spanne ich den Gummiring maximal, dann halte ich einen Moment inne. „Dies hier ist es, was ich mit dir tun möchte. Immer wieder ist es gut, einen Moment innezuhalten, nichts mehr zu tun. Dann kannst du spüren, was gerade in dir vorgeht. Brauchst du dringend etwas wie Entspannung, Freude, Kuscheln, Hilfe …?

Es kann aber auch sein, dass du bemerkst, dein Gummi hängt durch und hat gar keine Spannung mehr. Dann können es andere Dinge sein, die du brauchst. Vielleicht eine spannende Aufgabe, Ermutigung, einen Helfer … Wir alle um dich herum können das nicht wissen, und du musst es auch nicht. Aber du kannst es spüren, denn du steckst in deinem Körper, und der zeigt dir gerne, was du brauchst. Bei diesem Hinspüren auf den Körper möchte ich dich gerne unterstützen.«

Schreiben ist anders als Reden. Was hier als Block geschrieben ist, spule ich keinesfalls als Monolog ab. Ich versuche mit dem Kind von Anfang an in einen Dialog einzutreten. Äußerungen und Mimik des Kindes bestimmen, wie es weitergeht. Was ich zuvor geschrieben habe, ist das, was am Ende klar sein sollte.

Danach kann ganz leicht noch ein wenig zum Setting oder den Rahmenbedingungen gesagt werden. Kann – muss aber nicht, wie die Situation gerade so ist.

Arbeite ich mit Gruppen oder Schulklassen im Primarbereich, so ist Ida meine beste Assistentin. Ida ist ein roter Luftballon im gleichen Alter wie die Kinder. Zuerst stelle ich den schlaffen Ballon feierlich vor, dann fange ich an zu erzählen. Ich schildere einen Tag im Leben von Ida, mit angenehmen, aber deutlich mehr unangenehmen Begebenheiten. Jedes Mal, wenn Ida sich ärgert, puste ich kräftig in den Luftballon. Irgendwann rufen die Kinder »Vorsicht!«, »Nein!« oder »Hör auf!«. Das ist der Punkt, wo ich wieder in den Dialog mit den Kindern eintrete. Wie am Einzelfall beschrieben, erkläre ich mein Vorhaben.

Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist eine Flasche mit kohlensäurehaltigem Getränk (Cola oder Limo) sehr gut geeignet zur Demonstration. Ich erzähle den Kindern, dass ich ahne, wie oft sie sich anstrengen müssen und dann doch enttäuscht oder frustriert sind. Während des Sprechens schüttle ich die Flasche. Dann sage ich: »Moment mal, jetzt muss ich schnell was trinken.« Spätestens, wenn ich mit der Hand an den Schraubverschluss greife, kommen Warnungen von den Kindern.

Die Kinder finden meist mehrere mögliche Strategien, wie mit der Colaflasche umzugehen ist. Abwarten – langsam, schrittweise den Druck entweichen lassen –, an einem sicheren Ort wie dem Waschraum öffnen.

Über diese unterschiedlichen Möglichkeiten kann ich wieder mit den Kindern oder Jugendlichen über meine Arbeit ins Gespräch kommen.

Bei all diesen Formen der Erklärung ist es wichtig, dass sie anschaulich, knapp und altersgemäß sind. Ida würde sich in einer Gruppe von 14-Jährigen nicht wohlfühlen – genauso wie andersherum.

Für Eltern

Gleich vorweg: Sie machen den wichtigsten und zugleich herausforderndsten Job. Ihre Schicht ist 24 Stunden lang an sieben Tagen pro Woche. Dass einem hier immer wieder der innere Freiraum verloren geht, ist nur allzu verständlich. Manchmal passieren dann genau die Dinge, die man niemals machen wollte: Man schreit das Kind an, sagt Sachen, die man gar nicht so meint, droht mit Strafen oder verhängt sie, verfällt in strafendes Schweigen oder entzieht auf andere Weise dem Kind das Gefühl von Sicherheit und Geliebt-Werden.

Hinterher geht es weder dem Kind noch dem Elternteil besser. Ganz im Gegenteil: Häufig fallen dann die inneren Kritiker über den Erwachsenen her und geben dem angeschlagenen Selbstwertgefühl noch etwas obendrauf. Sätze wie: »Du bist ja wie deine Mutter/dein Vater«, »Du hast dich einfach nicht im Griff« oder »Wie konntest du so was nur tun« kreisen in einem und machen alles noch schwerer.

Die Grundvoraussetzung für gelingende Beziehungen und damit auch für die Erziehung ist eigener innerer Freiraum. Aus diesem heraus können wir dem Kind begegnen und es auch in schwierigen Situationen unterstützen. Daher ist der wichtigste Focusing-Schritt, dass Sie immer und immer wieder für sich selbst und einen guten inneren Freiraum sorgen. Ich möchte Sie ermutigen, das nicht heimlich und mit Gewissensbissen zu tun, sondern in dem Bewusstsein, dass Sie gerade damit etwas Gutes für Ihr Kind tun.

Um Ihnen einen ersten Eindruck zu ermöglichen, möchte ich Ihnen eine kleine Achtsamkeitsübung vorschlagen. Im Focusing arbeiten wir immer mit dem eigenen inneren Erleben, von dort kommen die stimmigen Einsichten und Schritte.

Machen Sie es sich bequem und atmen Sie einige Male tief ein und aus. Der Stuhl, das Bett, der Boden trägt Sie. Sie können beim Ausatmen etwas Druck abgeben. Vielleicht bemerken Sie, was in Ihnen gerade besonders angespannt ist und können in der Vorstellung einen sanften Atem dorthin schicken. Es braucht sich nicht zu verändern, alles darf sein, wie es ist. Und der Atem geht wie von selbst: ein und aus.

Nun stellen Sie sich bitte eine Leinwand vor oder einen Bildschirm. Dort werden Sie gleich eine eher unangenehme Szene sehen. Prüfen Sie bitte für sich, wie weit der Abstand sein muss, damit Sie das ansehen können, ohne in die Szene und in die damit verbundenen Gefühle hineinzufallen. Wenn Sie den richtigen Abstand gefunden haben, möchte ich Ihnen noch sagen, dass Sie diesen jederzeit verändern können.

Nun lassen Sie auf der Leinwand einen Film ablaufen von einem der letzten Konflikte mit Ihrem Kind. Beobachten Sie aus der Distanz, wie eines zum anderen kommt und sich langsam aufschaukelt. Bevor es richtig schlimm wird, stoppen Sie bitte den Film.

Wie geht es dem Erwachsenen zu Beginn der Szene? Ist er oder sie entspannt, fröhlich, unbelastet? Vermutlich nicht. Können Sie spüren, was diese Person bräuchte? Zeit für sich, Entlastung, innere Balance, Verständnis von sich oder jemand anderem oder etwas ganz anderes?

Wenn Sie für sich klar haben, was diese Person brauchen würde, dann kommt etwas Magie ins Spiel.

Stellen Sie sich vor, dass auf wundersame Weise alles Belastende aufgelöst wäre. Niemand weiß, auf welche Weise es passiert ist. Aber dieser Erwachsene im Film hat, was er braucht, und ist ruhig und entspannt.

Können Sie spüren, wie diese Magie bei Ihnen wirken würde? Lassen Sie sich ein wenig Zeit, damit die Wirkung sich entfalten kann. Sie haben inneren und äußeren Freiraum und können auf Ihre eigenen Ressourcen zugreifen. Welches Repertoire an Möglichkeiten können Sie nutzen? Empathie, Zuwendung, Humor, Ablenkung, Gelassenheit, Zeit lassen, Festhalten können an Grenzen …

Wie fühlt sich das an, wenn alles auf magische Art und Weise gelöst ist? Lassen Sie sich Zeit, das körperlich wahrzunehmen. Vielleicht ist es möglich, aus diesem neuen Körpergefühl heraus einen winzigen Schritt zu finden. Einen winzigen Schritt hin zu dem Gefühl, alles ist gelöst. Für den einen ist es ein Schritt in Richtung zeitliche Entlastung, für den anderen Menschen ein Schritt hin zu mehr Verantwortung teilen. Was auch immer Ihr Schritt ist, lassen Sie ihn klein genug sein, damit er gelingen kann. Manchmal braucht es Zwischenschritte, bis Sie einen wirklichen kleinen Schritt gefunden haben. Lassen Sie sich Zeit und warten Sie, ob etwas in Ihnen entsteht.

Eine Kollegin, Mutter von vier Kindern zwischen vier und 13 Jahren, entdeckte in der Supervision, dass sie nach dem Mittagessen allein einen Kaffee trinken wollte und ein Stückchen einer ganz bestimmten Schokoladensorte dazu essen. Bei ihrer familiären Situation war es schwierig, das zu etablieren. Aber der erste Schritt war getan: herauszufinden, was sie brauchte. Mit einer gewissen Beharrlichkeit konnte das Ritual dann installiert werden. Es waren nur zehn Minuten, aber diese waren sehr wichtig.

Selbstfürsorge ist ein wichtiger Aspekt gelingender Elternschaft. Mein Vater war früher Bergsteiger. Von ihm habe ich die Lehre: Selbstsicherung geht vor Fremdsicherung. Das gilt auch für Eltern.

Aus dieser Erfahrung heraus möchte ich Mütter und Väter ermutigen, sich im eigenen Alltag umzusehen. An welchen Punkten des Tagesablaufes braucht es kurze Zeiten für das eigene Wohlbefinden? Mit Kreativität und Humor finden sich Möglichkeiten. Wenn wir uns ausnahmsweise mal die Raucher als Vorbild nehmen: Irgendwie schaffen sie es, zu ihren Rauchpausen zu kommen. Das können Sie auch hinbekommen – ohne mit dem Rauchen anfangen zu müssen. Wichtig ist es, sich in diesem Bemühen nicht beirren zu lassen.

Neben dem Freiraum-Konzept finden Sie in diesem Buch noch viele andere Anregungen – auch wenn der Praxisteil primär für Menschen geschrieben ist, die im beruflichen Kontext mit Kindern zusammen sind.

Meine eigenen Kinder waren in der Pubertät, als ich Focusing kennenlernte. In dieser Zeit konnte ich sehr, sehr wenig Focusing mit ihnen machen. Nur die Grundhaltung half mir, manchmal anders zu reagieren, als ich es sonst wahrscheinlich getan hätte.

Ein gängiges Thema mit Jugendlichen ist ja die Zeit, wann sie wieder daheim sein müssen. Ich bat meine beiden Kinder häufig um einen zeitlichen Vorschlag, von dem sie meinten, dass er sowohl für sie als auch für mich in Ordnung wäre. Meist haben sie mich deutlich unterboten, was ich aber nie so formuliert habe. Eher habe ich es als Angebot ausgedrückt: »Wie wäre es, noch eine halbe Stunde länger zu bleiben?« Die Antwort war in den meisten Fällen: »Nein, das passt so.«

Ich hätte Focusing gerne schon gekannt, als meine eigenen Kinder klein waren. Umso mehr freue ich mich, wenn ich jetzt durch die langjährige Arbeit mit Erwachsenen und Kindern immer wieder erleben darf, wie sich die Kinderfocusing-Kompetenz stärkend auf Familien auswirkt.

Ich weiß von vielen Müttern und Vätern, dass sie sich von Übungen und Ideen, die sie in meinen Seminaren kennengelernt haben, inspirieren lassen und sie mit ihren Kindern ausprobieren.

So kann beim Bilderbuch-Vorlesen die eine oder andere Frage eingeflochten werden, genauso wie beim Märchen-Erzählen. Auch beim Puppenspiel kann das eigene Kind eingeladen werden, sich über Erlebnisse zu äußern.

Eine unserer Enkelinnen hat nie erzählt, wie es für sie im Kindergarten ist. Aber es war deutlich zu bemerken, dass irgendetwas sie bedrückte. So übernahm ich im Spiel mit den Playmobilfiguren die Kinder und eine Erwachsene. Ich ließ mich anleiten, wie ich nun damit einen Kindergarten spielen könnte. Anfangs war alles immer ganz ruhig und ideal. Dann verließ ich das vorgegebene Konzept und probierte einiges aus. Ich ließ Kinder frech werden, die Erzieherin schimpfen und einiges mehr. Nach jeder Änderung der Regieanweisung bat ich meine Enkelin um Rückmeldung, ob es so in einem Kindergarten sein könne. Mehr und mehr wurden die Anweisungen konkreter und es durften auch Streit und Ärger da sein. Am Ende war klar, dass die Kleine in einer Dreiergruppe von Mädchen war und es ständig ein Problem mit dieser Kombination gab. Eines der Mädchen versuchte, dass abwechselnd eine der anderen beiden Freundinnen ausgeschlossen wurde. Die Lösung meiner Enkelin bestand darin, sich eine neue, zusätzliche Freundin zu suchen. Danach konnte sie auch wieder friedlich und ohne Ängste mit den beiden anderen spielen. Wenn die alten Machtspiele anfingen, ging sie weg und stürzte nicht mehr in Verzweiflung. Sie hatte gut für sich gesorgt.

Nun sind Eltern und Großeltern zwar keine Therapeuten und ich bin auch nicht dafür, dass Sie mit den eigenen Kindern Therapie machen. Dennoch fände ich es wunderbar, wenn Sie für sich mehr Wege entdecken, Ihren Kindern dabei zu helfen, auf ihre eigenen Lösungen von Schwierigkeiten zu kommen. Manchmal braucht es ein wenig Fantasie und den Mut, Anregungen für die eigene Situation zu verändern.

Dieser Text ist in der Zeit der Corona-Einschränkungen entstanden. Dazu hatte ich mit einem Enkelkind eine focusingorientierte Übung gemacht, weil klar war, dass wir uns jetzt erst einmal eine Zeit lang nicht treffen durften. Eine Kollegin las die Übung, da ich sie über Facebook weitergegeben hatte. Später schrieb sie mir, dass sie genau diese Übung genommen und auf ihre Scheidung und die Trennung der Kinder vom Vater angewandt habe. Dabei ist ein ganz schönes Ergebnis herausgekommen, wo neben der Trauer auch das Gute an der neuen Situation auf einmal klar wurde.