Ich sterbe, also bin ich - Martin Schnick - E-Book

Ich sterbe, also bin ich E-Book

Martin Schnick

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Beschreibung

Riskantes Denken ist in vielen Epochen gefährlich, und manchmal sogar lebensgefährlich. Große Philosophen wie Sokrates und Seneca wurden zum Suizid gezwungen, Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und Freigeister wie der Marquis de Sade und Friedrich Nietzsche in Irrenanstalten weggesperrt. Autor Martin Schnick spürt den tragischen Schicksalen großer Denker und Denkerinnen nach und beleuchtet gleichzeitig ihre ganz eigenen Theorien vom Tod. Was geschieht, wenn das Leben endet? Was erwartet uns jenseits des Todes? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele oder ist am Ende alles zerstäubt? Dieses Buch lädt die Leser und Leserinnen zu einem faszinierenden Streifzug durch 2.500 Jahre Kulturgeschichte ein und regt zum Nachdenken über die tiefsten Fragen des menschlichen Daseins an.

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Seitenzahl: 179

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Über das dramatische Ableben großer Denker ...

… und ihre Theorien vom Tod

SOKRATES, DER ZWEIFLER

Die menschliche Seele – unsterblich oder auf ewig zerstäubt?

SENECA, DER STOIKER

Die Zeit, die bleibt

AVICENNA, DER MEDICUS

Die Jenseits-Imagination

GIORDANO BRUNO, DER KETZER

Alles ist belebt!

ÉMILIE DU CHÂTELET, DIE AUFKLÄRERIN

Die göttliche Physik

MARQUIS DE SADE, DER LIBERTIN

Die absolute Negation

PHILIPP MAINLÄNDER, DER PESSIMIST

Die Welt als Resultat Gottes Selbstmord

FRIEDRICH NIETZSCHE, DER NIHILIST

Gottes Todesanzeige

WALTER BENJAMIN, DER MESSIANIST

Die humanistische Apokalypse

LUDWIG WITTGENSTEIN, DER MYSTIKER

Annäherungen an das Unaussprechliche

MICHEL FOUCAULT, DER THERAPEUT

Der privateste Punkt der Existenz

Literaturverzeichnis

Über das dramatische Ableben großer Denker ...

„Les hommes meurent et ils ne sont pas heureux.“

Albert Camus

Während sich alle Lebewesen nahtlos in die sie umgebende Natur einfügen und instinktiv handeln, nimmt der Mensch allem Anschein nach eine Sonderstellung in der Welt ein. Als vernunftbegabtes Wesen erkennt er seine Andersartigkeit. Der Mensch gliedert sich nicht einfach in die Welt ein, sondern er ist sich seiner selbst bewusst und stellt Fragen: Wer bin ich und warum existiere ich? Er fragt nach dem Ursprung der Welt, nach dem Sinn des eigenen Seins, nach einer Fortexistenz über den Tod hinaus. Mythen und Religionen versuchen über Jahrtausende, diese spekulativen Fragen zu beantworten. Auch die Philosophie startet diesen Versuch. Sie setzt dabei ganz auf den Logos, den menschlichen Verstand. Die Philosophie ist über Jahrtausende das Schlachtfeld, auf dem um die Deutungshoheit gerungen wird. Große Philosophen sind Extremisten im Denken. Ihnen geht es um Existenzielles und Essentielles, um erste Ursachen und letzte Begründungen. Sie stellen das Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, auf den Prüfstand, hinterfragen das, was uns als sicher oder heilig gilt; sie loten die Untiefen unseres Wissens und Unwissens aus und stellen die Welt mal vom Kopf auf die Füße, mal umgekehrt. Ihre Schriften und Gedanken sind nicht selten subversiv. Gesellschaftsordnungen, Religionen und Herrschaftssysteme sehen sich immer wieder herausgefordert und bedroht. Riskantes Denken ist in vielen Epochen gefährlich, und manchmal sogar lebensgefährlich. Sokrates, der Gottvater der abendländischen Philosophie, wird von der Athener Gerichtsversammlung im Jahr 399 v.u.Z. zum Tode verurteilt und muss den Becher mit dem Schierlingsgift trinken. Der schwammige Grund: Der fast 70-jährige Philosoph habe die Jugend verführt und gegen göttliche Riten verstoßen. In der Zeit des Cäsarenwahns wird dem Römer Seneca im Jahr 65 von seinem einstigen Zögling, dem amtierenden Kaiser Nero, vorgeworfen, er habe sich an einem Putschversuch beteiligt. Jetzt steht vor der Wahl: Den ehrenvollen Freitod zu vollziehen oder hinterrücks gemeuchelt zu werden. Im Morgenland kann der schiitische Philosoph und Medicus Avicenna, der die Medizin revolutionierte und durch dessen Schriften posthum Aristoteles im Abendland bekannt wurde, seine eigene Krankheit nicht kurieren und stirbt im Jahr 1037 nach einem Behandlungsfehler. Das Leben des Dominikanermönchs Giordano Bruno endet 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen, wo er auf dem Campo de’ Fiori öffentlich als Ketzer verbrannt wird. Émilie du Châtelet, Voltaires langjährige Geliebte und intellektuelle Partnerin auf Augenhöhe, stirbt 42-jährig im Kindbett. Der Marquis de Sade entkommt in den Wirren der Französischen Revolution in letzter Sekunde der Guillotine, wird jedoch ins Irrenhaus von Charenton gesteckt, wo er im Jahr 1814 altersgeil seinen letzten Atem aushaucht. Philipp Mainländer übertrifft die bereits pessimistische Weltsicht seines Vorbilds Arthur Schopenhauer und nimmt sich 1876, im Alter von nur 34 Jahren, das Leben. Friedrich Nietzsche, der Chefstratege der Nihilisten, stirbt 1900 nach zig Jahren der geistigen Umnachtung. Der jüdische Intellektuelle Walter Benjamin begeht auf der Flucht vor den Nazis 1943 in den Pyrenäen Selbstmord. Und der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein ist 1951 sichtlich erleichtert über seine letale Krebsdiagnose und scheidet mit einer erfüllten Biographie aus dem Leben. Krebs, so lautete zunächst auch die offizielle Todesursache des französischen Soziologen und Philosophen Michel Foucault. Erst später wird bekannt: Er starb 1984 an AIDS.

Was passiert, wenn wir sterben, wenn es soweit ist? Gibt es eine Fortexistenz nach dem Tod? Welchen Sinn hat das Leben? Diese Fragen stellt sich früher oder später jeder Mensch. Heute leben wir in Westeuropa in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Philosophie ist nur mehr ein Orchideenfach im Hochschulbetrieb, und auch die etablierten Kirchen verlieren zunehmend Mitglieder und Einfluss. Vor allem die Theologie hat ihre Vormachtstellung bei der Beantwortung dieser letzten, spekulativen Fragen eingebüßt. Heute haben die Naturwissenschaften die Deutungshoheit in weiten Teilen inne. Ein Wandel, der sich über Jahrhunderte vollzogen hat und noch weiter andauert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostizierte Sigmund Freud drei wissenschaftliche Umbrüche, die die Menschen im Mark erschütterten. Er nennt sie auch die „drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit“. (Freud, 1917) Im 16. Jahrhundert ersetzte Kopernikus das geozentrische Weltbild durch ein heliozentrisches. Den Menschen wurde der Glaube genommen, die Erde (und damit die Menschheit) sei der Mittelpunkt des Universums (= die kosmologische Kränkung). Im 19. Jahrhundert zeigte Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie, dass der Mensch nicht von Gott geschaffen, sondern aus der Tierreihe hervorgegangen ist (= die biologische Kränkung). Der Letzte im Bunde ist Freud selbst. Nach ihm werden alle menschlichen Handlungen vom Unterbewusstsein gesteuert. Seine Psychoanalyse konfrontiert den Menschen mit dem Umstand, „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (= die psychologische Kränkung).

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts empfinden nicht wenige Menschen den Tod als eine persönliche Kränkung, die sie aus der Welt der beständigen Selbstoptimierung, des Konsums und der individuellen Selbstverwirklichung herauskatapultiert. Und nicht wenige Zeitgenossen definieren den Tod als eine Krankheit, die heute noch nicht geheilt werden kann. Sie sind überzeugt, dass es der Wissenschaft gelingen wird, auch diese Krankheit „Tod“ in Zukunft zu besiegen. Die Naturwissenschaften, so der Eindruck, erfüllen heute alle Funktionen einer Religion. Sie liefern absolute Wahrheiten, sie leiten aus ihnen ethische Handlungsanleitungen ab und geben ein Heilsversprechen. Doch Skepsis ist angebracht. Ob die Menschen bei der Frage nach der Entstehung des Universums an eine Urknalltheorie glauben oder daran, dass ein biblischer Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat – für den Philosophen Ludwig Wittgenstein wäre es einerlei. Er sähe auch in der naturwissenschaftlichen Welterklärung nur einen modernen Mythos, ein Narrativ. Wissenschaftliche Theorien und Modelle haben nur solange Bestand, bis sie durch ein überzeugenderes Modell abgelöst werden. Absolute Gewissheit gibt es nicht. Gleiches gilt für den Tod. Letzte Fragen bleiben – trotz aller wissenschaftlichen Erklärungsversuche – im Bereich der Spekulation.

So pluralistisch die westlichen Gesellschaften heute sind, so pluralistisch sind auch die Weltanschauungen. Viele Menschen bedienen sich bei den unterschiedlichsten Lehr- und Glaubensangeboten, wählen aus dem konkurrierenden Sortiment nach Gutdünken aus. Sie verbinden scheinbar problemlos buddhistisches Gedankengut mit traditionell christlichem, bezeichnen sich mal als Atheisten, mal als Agnostiker. Viele basteln sich ihre private Weltanschauung zusammen. Und wenn es um die letzten Fragen geht, kocht jeder sein eigenes esoterisches Süppchen. Gleichzeitig haben unsere mehr oder weniger diffusen Vorstellungen vom Tod zugleich ganz konkrete Auswirkungen auf unser Handeln im Hier und Jetzt. Denn Antworten auf die letzten Fragen haben auch immer eine ethische Dimension. Und das gilt nicht nur für Debatten über Abtreibung oder Sterbehilfe. Mit der Beantwortung der letzten Fragen werden zugleich die allgemeinen Leitplanken für unser Handeln gesetzt. Zwar hat Immanuel Kant (1724 – 1804) gezeigt, dass eine Ethik auch allein aus der Vernunft heraus begründet werden kann, doch neigen viele moderne Menschen nach wie vor zu einem individuellen Glauben (wenn oft auch ohne Transzendenzbezug). Zudem gibt es Menschen, die nach wie vor an den Teufel glauben und eine Hölle fürchten. Der Teufel ist auch heute noch ein trefflicher Pädagoge Gottes. Diese Menschen werden dementsprechend gottesfürchtig leben und verbotenes wie z.B. das Begehen einer Straftat oder eines Sakrilegs vermeiden. Buddhisten hingegen, die sich um ihr Karma sorgen und eine Wiedergeburt (auch in Form einer anderen Kreatur) befürchten, begegnen anderen Geschöpfen mit entsprechendem Respekt und großer Sorgfalt. Andererseits sprengen sich Selbstmordattentäter in die Luft in der Erwartung, als Märtyrer ins Paradies einzugehen – die wohl perfideste Auslegung eines wie auch immer gearteten göttlichen Heilsversprechens. Eines jedoch steht fest: Der Tod hat Macht über die Lebenden, er wirkt ins Leben hinein.

Welche Antworten haben große Philosophen wie Sokrates, Avicenna oder Nietzsche auf diese letzten Fragen gefunden? Wie sind sie zu ihren Überzeugungen gelangt? Welche Theorien vom Tod haben sie entwickelt? Dies ist die zweite Frage, die – neben dem dramatischen Ableben – im Zentrum dieses Buches steht. Der zweite Teil der Einleitung gibt einen ersten Überblick über die Theorien und versucht ihre kurze philosophie- und kulturgeschichtliche Einordnung.

… und ihre Theorien vom Tod

„Gott, wenn du bist, rette meine Seele,

aus dem Grabe, wenn ich eine habe.“

Arthur Schopenhauer

Dieses Zitat von Arthur Schopenhauer, das daherkommt wie ein Stoßgebet, wirft gleich zwei grundlegende philosophische Fragen auf. Gibt es einen Gott? Und besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele? Fragen, die die Menschheit seit Urzeiten umtreiben. Schon in den frühesten Kulturen (sei es bei den Kelten oder Ägyptern) stoßen Archäologen immer wieder auf Grabbeigaben. Den Verstorbenen wurden nützliche Werkzeuge, Alltagsgegenstände, aber auch Waffen und wertvolle Schätze mit ins Grab gegeben. Welchen Sinn würden diese Beigaben ergeben, wenn die Menschen nicht an eine – wie auch immer geartete – Weiterexistenz in einem Jenseits glaubten? Der Mensch besitzt eine Seele und der Tod ist nur eine Passage, der Übergang in eine andere Welt. Eine Hoffnung, die sich bis heute in vielen Kulturen und Religionen erhalten hat. Doch seit der Antike gibt es auch immer wieder Zweifler. Schopenhauer bleibt in diesen Fragen ebenso skeptisch (wie der zweifache Gebrauch des einschränkenden Wörtchens ,wenn‘ untermauert), wie Jahrtausende vor ihm bereits Sokrates. Die Frage, ob die menschliche Seele auf immer zerstäubt oder doch ewig existiert, lässt er letztlich offen.

Wenn es ein Jenseits gibt, wie ist dieses beschaffen? Die Unterwelt der alten Griechen wird in vielen Mythen beschrieben. Einem Brauch zufolge wird den Toten vor der Erd- oder Feuerbestattung eine Münze in den Mund gelegt. Die toten Seelen bezahlen damit den Fährmann Charon, der sie über den Fluss Lethe, den Strom des Vergessens, ins Schattenreich bringt. Hier im Hades fristen sie ein freudloses Dasein, allerdings auch frei von Not oder Pein. Nur große Helden wie Achill werden divinisiert und gelangen ins Elysion, auf eine Insel der Glückseligen, die am Rande dieser Welt lokalisiert wird. Eine ganz ähnliche Topographie des Jenseits findet sich in der ältesten der drei monotheistischen Religionen, dem Judentum. Im Zentrum des jüdischen Glaubens steht der Bund Jahwes mit dem Stamm Israels. Diese Abstammungs- und Boden-Religion ist vor allem auf das Diesseits fokussiert. Der Mediävist und Philosoph Kurt Flasch weist darauf hin, dass „die Hebräische Bibel sich sehr wenig, ja fast gar nicht um das Schicksal der Seele nach dem Tod kümmert.“ (Flasch, Der Teufel und seine Engel, 2015) Das Totenreich spielt eine untergeordnete Rolle und wird nur vage angedeutet. Die Toten weilen mit ihren verstorbenen Verwandten im Scheol, der Unterwelt; dem Land des Staubes, der Finsternis und des Vergessens. Hier führen sie ein Schattendasein bis zur Wiederkunft des Erlösers. Mit der Ankunft des Messias und dem Anbruch des göttlichen Zeitalters werden die Toten auferweckt. Im Zentrum des jüdischen Glaubens steht nicht die Erlösung des einzelnen Individuums, sondern die Erlösung des ganzen Volkes Israel. Vor allem die messianische Ausrichtung, die Erwartung einer Endzeit, fehlt in antiken Vorstellungen.

Die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele wird von Sokrates (469 – 399 v.u.Z.) immer wieder thematisiert und zum Teil widersprüchlich beantwortet. „Der Tod ist, wie mich dünkt, nichts anderes als zweier Dinge Trennung voneinander, der Seele und des Leibes“, legt Platon an einer Stelle Sokrates in den Mund (Georgias 524b). In seinem eigenen philosophischen System vertritt Platon einen strikten Dualismus zwischen Leib und Seele. Später entwickelt er seine Ideenlehre. Es ist nicht der Körper, sondern die unsterbliche Seele, die Teil hat an der Welt der Ideen und die sich nach und nach wieder erinnert. Die Wiedergeburt ist gesetzt und Teil seines Systems – und findet im Buddhismus ihr Äquivalent.

Vorausgesetzt, es gibt eine unsterbliche Seele, biegt schnell ein ethisches Problem um die Ecke. Was ist mit den Guten und den Bösen – ereilt beide das gleiche Schicksal? Wenn ja, wäre dies eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, so sieht es zumindest Sokrates. Um diesem Dilemma zu entkommen, muss es auch im Jenseits eine Art Zweiklassengesellschaft geben. Im Georgias-Dialog wird erstmals auch eine Zweiteilung in Betracht gezogen:

„[…] dass welcher Mensch sein Leben gerecht und fromm geführt hat, der gelangt nach seinem Tode auf die Insel der Seligen und lebt dort ohne Übels in vollkommener Glückseligkeit, wer aber ungerecht und gottlos, der kommt in das zur Zucht und Strafe bestimmte Gefängnis, welches sie Tartaros nennen.“ (Georgias 523a)

Das Elysion, so sieht es Sokrates, steht nach dem Willen der Götter allen Gerechten offen. Die Bösen hingegen kommen in den Tartaros, den tiefsten Teil des Hades. Damit wäre der Dualismus auch in der griechischen Jenseitstopographie realisiert. Ein Konzept, das später im Christentum in der Zweiteilung von Paradies und Hölle sein Spiegelbild findet. Zudem spricht Sokrates, auf der Anklagebank sitzend, von den „wahren Richtern“, die den Seelen in der Unterwelt ihren gerechten Platz zuweisen werden. Eine Funktion, die in den monotheistischen Religionen dem einen Richter-Gott zugeschrieben wird.

Den philosophischen Hauptströmungen der römischen Antike, dem Epikureismus und der Stoa, liegen solche Jenseitsgedanken fern. Den vorherrschenden Pantheismus und die Riten haben die Römer weitgehend von den Griechen übernommen. Auf ein besseres Leben nach dem Tod kann der gemeine Mensch nicht hoffen. Eine Fortexistenz der Seele ist nicht vorgesehen. Das Augenmerk der Denker richtet sich daher auf das Leben bzw. auf die Frage: Wie kann ein gutes Leben gelingen? Für beide Strömungen heißt philosophieren ‚sterben lernen‘. Es geht darum, sich mit dem unausweichlichen Schicksal der eigenen Sterblichkeit zu arrangieren. Und ihre Vertreter haben die Nachwelt mit klugen Kalendersprüchen reichlich beschenkt.

„Solange wir da sind, ist er [der Tod] nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Er hat also weder für die Lebenden noch für die Toten eine Bedeutung; denn für die einen ist er nicht da, die anderen sind für ihn nicht mehr da.“

Epikur (ca. 340 – 270 v.u.Z.) erklärt den Tod kurzerhand für bedeutungslos. Und sein Nachfolger Lukrez (96 – 55 v.u.Z.) gibt in Bezug auf die Frage nach einer unsterblichen Seele zu bedenken: Selbst, wenn die Seele unsterblich wäre, könne es uns egal sein, da es einen Bruch in der Erinnerung gibt und wir ohnehin alles vergessen. Der Stoiker und Asthmakranke Seneca (ca. - 1 – 65) betont einen anderen Aspekt:

„Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Übeln, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, er versetzt uns in jene Ruhe zurück, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.“

(Von der Kürze des Lebens – De Brevitate Vitae IX, 1)

Ein Gedanke, den auch schon Sokrates in Erwägung gezogen hatte. Für Seneca ist das Streben nach materiellen Gütern, nach Macht und Reichtum ein bloßes Haschen nach dem Wind. Erst wenn sich der Mensch von diesem fruchtlosen, weil wenig nachhaltigen Begehren befreit, findet er im Diesseits seinen Seelenfrieden. Für Seneca ist der Tod lediglich eine zeitliche Begrenzung. Wer das Leben als zu kurz empfindet, hat es eben nicht sinnvoll genutzt. Er selbst fordert dazu auf, den Tod zu verachten.

Trotz dieser eschatologischen Leere im ersten Jahrhundert des römischen Weltreiches ist es für Apostel Paulus kein Leichtes, diese Lücke mit seiner Christusreligion zu füllen. In Jesus Christus wird der Leib-Seele-Dualismus scheinbar überwunden. Paulus verspricht den Gläubigen die „fleischliche Auferstehung“ nach dem Tod. Ein Zombiekult, der anfangs viele irritiert. Als Paulus in Athen von der Auferstehung des Leichnams Jesu predigt, wird er von den Zuhörern verlacht. Sie nehmen ihn nicht ernst (Apostelgeschichte 17:32). Auch bei einer Begegnung mit dem von Rom eingesetzten König Agrippa trifft Paulus auf Unverständnis. Agrippas Statthalter Festus ist fassungslos: „Paulus, du bist von Sinnen! Dein großes Wissen hat dich um den Verstand gebracht.“ (Apostelgeschichte 26:24) Warum sollte man so etwas Unglaubliches glauben? Die Antwort des ersten lateinischen Kirchenschriftstellers Tertullian ist ebenso knapp wie prägnant: Eben, weil es unglaublich ist. Diese phantastisch anmutende Verheißung findet vor allem bei den Unterprivilegierten und Entrechteten Anklang. Für diese Gesellschaftsschicht ist die Aussicht auf eine aufgewertete Weiterexistenz nach dem Tod offensichtlich besonders attraktiv. Im Gegensatz zu den starren Hierarchien besticht das frühe Christentum durch seine klassenlose Konzeption. In den ersten Gemeinden beten adlige Patrizier neben ehemaligen Sklaven. Es ist egal, ob man arm oder reich ist – vor dem einen Gott sind alle gleich. Zur Zeit Kaiser Neros lebten bereits rund 3.000 Christen in Rom, was einem Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach. Eine Minderheit mit merkwürdigen Ritualen, die nach dem Großbrand von Rom im Jahr 64 zum Sündenbock gemacht wurde. Der Legende nach fiel auch der Apostel Petrus der neronischen Christenverfolgung zum Opfer und wurde in Rom gekreuzigt. Mit dem Märtyrertod des ersten Bischofs wurde das Papsttum begründet und Rom später zur Machtzentrale einer neuen Weltreligion. Ob allerdings Petrus, der erste Jünger Jesu, jemals in Rom war, ist historisch nicht belegt. Fakt ist: Drei Jahrhunderte später, im Jahr 393, wird das Christentum zur römischen Staatsreligion.

Wiederum drei Jahrhunderte später betritt die dritte große monotheistische Religion die Weltbühne. Von der arabischen Halbinsel aus expandiert der Islam. Der Prophet Mohammed (ca. 570 – 632) überliefert mit dem Koran seine Offenbarung. Diese neue Religion teilt viele Gemeinsamkeiten mit den bereits existenten und somit konkurrierenden Religionen des Juden- und Christentums. Auch für Muslime ist Abraham der Stammvater, und sie haben im Grundsatz ähnliche Vorstellungen von einem einzigen Gott und vom Jenseits. So glauben Muslime an „(1) die körperliche Wiederauferstehung nach dem Tod und das Jüngste Gericht, (2) die Unsterblichkeit der Seele sowie (3) die Existenz von Paradies und Hölle als reale physische Welten.“ (Günther, 2011) Am Tag der Auferstehung werden Körper und Seele im Grab wieder vereint und kommen, je nach Lebenswandel, entweder in das Paradies oder in die Hölle. Wie im Christentum ist für Märtyrer ein Logenplatz im Jenseits reserviert. Männliche Muslime dürfen sogar auf Jungfrauen hoffen, was suggeriert, dass Sexualität im islamischen Paradies möglich ist. Vor allem in den Hadithen wird diese erotische Lesart des Korans verstärkt und teils detailliert ausgemalt.

Nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 in Medina entbrannte ein Streit um seine rechtmäßige Nachfolge. Daraus entwickelten sich die beiden Hauptströmungen der Sunniten und der Schiiten. Um die Jahrtausendwende wird im persischen Großreich der Schiit Avicenna (ca. 980 – 1032) geboren. Ein Universalgenie, dessen Wirken auch das Abendland nachhaltig prägen wird. Er brilliert vor allem in zwei Disziplinen: der Medizin und der Philosophie. Sein „Kanon der Medizin“ zählt auch in Europa über Jahrhunderte zum Standardwerk. Avicenna ist es auch zu verdanken, dass die abendländischen Gelehrten auf einen ihnen bis dahin unbekannten antiken Philosophen aufmerksam werden. Sein Name: Aristoteles (ca. 384 – 322 v.u.Z.). An seinen Schriften arbeitet sich Avicenna ein Leben lang ab und verfasst unzählige Kommentare. Aristoteles bietet in seiner Schrift „De anima“ eine völlig neue Theorie von der Beschaffenheit der Seele. Für ihn ist die Seele kein eigenständiges Wesen, das sich vom Körper lösen kann – und er stellt sich damit diametral der Auffassung Platons entgegen. Pflanzen, Tiere und Menschen – alle organischen Körper sind beseelt, verfügen aber über unterschiedliches Seelenvermögen. Die höchste Stufe stellt die Vernunft (gr. nous) dar, über die allein der Mensch verfügt. Die von Aristoteles vorgenommene Intellektualisierung der Seele hat gravierende Konsequenzen. Es ist allein die Vernunft, die Unsterblichkeit besitzt, nicht aber das einzelne Wesen an und für sich. Damit stellt der Philosoph posthum alle Jenseitskonzepte der großen Religionen in Frage. Denn ohne eine eigenständig existente Seele ergeben paradiesische Freuden oder höllische Qualen keinen Sinn. Im Mittelalter sehen sich viele Gelehrte herausgefordert, die gegensätzlichen Positionen von Platon und Aristoteles zu überbrücken. So auch Avicenna. Und sein Lösungsansatz ist verblüffend. Für Avicenna ist der Koran nicht wörtlich zu verstehen, sondern allegorisch. Himmlische Freuden und höllische Qualen werden nicht körperlich erfahren, sondern vom Intellekt als Imagination erlebt. Ein geistiger Spagat, der dem gemeinen Volk nicht zugemutet werden kann. Von daher sei es gerechtfertigt, so Avicenna, dass der Koran in dieser real-physischen Bildlichkeit von Paradies und Hölle spricht.

Mit dem Untergang des römischen Imperiums verschwinden aus Mitteleuropa zivilisatorische Errungenschaften der Antike. Unter dem Einfluss des Christentums erfährt vor allem die Konzeption des Körpers einen radikalen Wandel. In der Antike herrschte ein austariertes Gleichgewicht zwischen Körper und Seele. „Mens sana in corpore sano“, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, galt als Leitbild. Der Körper wurde ästhetisiert, er wurde in Gymnasien trainiert, in Wettkämpfen mit anderen gemessen und in Statuen verewigt. Im europäischen frühen Mittelalter ist damit Schluss – es gibt keine Thermen, Amphitheater oder Sportstätten mehr. Für Papst Gregor den Großen (540 – 604) ist der Körper nichts weiter als ein „verabscheuenswertes Kleidungsstück der Seele“. (Goff, Une histoire du corps au Moyen Âge, 2006) Eine pessimistische Sicht, die sich im Laufe der Jahrhunderte noch verschärft. Für Kleriker ist der Leib zuvorderst eins: eine Angriffsfläche für die Sünde. Askese und Enthaltsamkeit gelten als die probaten Gegenmaßnahmen. Die Abkehr von der Antike und der Wandel hin zu einem lustfeindlichen Körperbild werden später von Nietzsche und nach ihm von Foucault heftig attackiert.

Zudem lebt der mittelalterliche Mensch in der Erwartung des bevorstehenden Weltendes. Die biblischen Schriften sind noch nicht kanonisiert, und im frühen Christentum zirkulieren zahlreiche Apokalypsen, die den Weltuntergang in drastischen Katastrophengemälden ausmalen. Der nahende Untergang und das anschließende Weltgericht machen es umso dringlicher, sich aktiv um sein Seelenheil zu bemühen. Der Fokus der Lebenden ist vollkommen auf das Jenseits ausgerichtet.



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