Ich tanzte barfuß in meinem Kopf - Olivia Zeitline - E-Book

Ich tanzte barfuß in meinem Kopf E-Book

Olivia Zeitline

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Nach einem Burnout kündigt Charlotte, eine junge Pariserin Anfang 30, ihren nervenaufreibenden Job in einer Werbeagentur und zieht einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben. Sie kehrt dorthin zurück, wo sie immer mit viel Herzblut dabei war: dem Tanz. Doch zunächst läuft nichts nach Plan. Unbezahlte Rechnungen türmen sich, ihre große Liebe enttäuscht sie und ein Traum entfernt sich. Doch dann bringt Stella, eine Freundin und Lebenskünstlerin, sie dazu, ihrer inneren Stimme Gehör zu schenken. Peu à peu lernt Charlotte, sich darauf einzulassen und offen zu sein für die überraschenden Momente, zufälligen Begegnungen und kleinen Zeichen des Lebens. Eine inspirierende Erzählung, die Lust macht, der eigenen Intuition zu folgen und seinen Traum zu leben.

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Seitenzahl: 137

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Olivia Zeitline ist eine französische Autorin. Sie studierte Jura und schlug nach ihrer erfolgreichen Anwaltsprüfung einen ganz anderen Weg ein: In Paris kuratiert sie Kunstprojekte für kleine Galerien und widmet sich dem Schreiben. Ihr Blog über persönliche Entwicklung wurde von den „Golden Blog Awards“ ausgezeichnet. Dies ist ihr erstes Buch.

Olivia zeitline

Ich tanzte barfuß in meinem Kopf

Aus dem Französischen von

Elsbeth Ranke

Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Et j’ai dansé pied nus dans ma tête« bei Editions Solar, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe

© 2018 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

© 2017, Editions Solar, Place des éditeurs.

Lektorat: Anne Nordmann

Umschlaggestaltung: ki 36, Sabine Krohberger Editorial Design, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22508-7V002

www.kailash-verlag.de

Prolog

Pünktlich zur selben Uhrzeit ist Charlotte jeden Morgen zur Stelle. Die Eingangshalle atmet sterile Leere. Die Absätze klacken über den frisch gewienerten Boden. In der Luft hängt noch der Geruch des Putzmittels. Wie jeden Morgen waren die Reinigungskräfte früh am Werk, lange bevor irgendwer sonst im Haus ist. Alles muss blitzblank sein, alles muss glänzen. Vertrauenerweckend muss es wirken. Die Computerbildschirme poliert, die Tastaturen mit Desinfektionsmittel abgewischt. Die Wände in Charlottes Büro sind so weiß, dass sie sich im ersten Moment geblendet fühlt. Wie jeden Morgen setzt sie sich auf ihren Plexiglasstuhl. Nirgends liegt etwas herum, nicht ein Blatt Papier, nicht ein persönlicher Gegenstand; die Angestellten sind angewiesen, nichts auf den lackierten Schreibtischen liegen zu lassen. Das ununterbrochene Rauschen des Verkehrs erinnert daran, wie nah der Boulevard Périphérique ist. Als Junior-Projektleiterin hat Charlotte nur Anspruch auf ein nach Norden ausgerichtetes Büro. Der Raum ist klein und schummerig, mit niedriger Decke. Da steht plötzlich der Marketing-Chef vor ihr, ohne zu klopfen, ohne Gruß.

»Ist die Präsentation fertig? Der Kunde steht schon unten. Ist zu früh gekommen.«

»Guten Morgen, Julien. Ja, ja, alles ist fertig.«

»Legst du sie auf meinen Schreibtisch und kommst um halb rüber ins Besprechungszimmer?«

Die Seiten des Ausdrucks sind durcheinandergeraten. Und auch in Charlottes Kopf ist alles verheddert. Seit 48 Stunden spuckt sie Excel-Tabellen aus. Ihr ist schlecht. Sie schlüpft zur Toilette. Ihre Verdauung streikt, aber sie wird nicht umkippen. Sie schafft das, sie ist stark, sie hat immer alles geschafft. Mehrmals wiederholt sie das ihrem Spiegelbild. Charlotte wollte in ihrem Leben stets alles im Griff haben. Ihre Angstanfälle und Schweißausbrüche lässt sie sich nicht anmerken. Immer das Beste geben, um besser zu verdienen, mehr Sicherheit zu haben. Ein ständiger Druck in dieser gut geölten Sozialmaschinerie aus falschem Lächeln, kaltem Automatenkaffee, Eileinkäufen im Supermarkt und reduzierten Lederhandtaschen. Allerdings spielt seit ein paar Monaten ihr Gedächtnis hin und wieder verrückt. Sie kann sich nicht mehr konzentrieren, und manchmal versteht sie einfach nicht, was ihre Kollegen zu ihr sagen. Dann tut sie als ob. Nickt ohne ein Wort. Langsam bekommt sie Angst vor sich selbst, Angst vor diesem Schatten, den sie zwar ablehnt, der aber zugleich auch seinen Reiz hat. Zu gefährlich, um zum Arzt zu gehen. Sie will sich nicht anhören müssen, dass sie krank ist. Stattdessen beißt sie die Zähne zusammen. Irgendwann wird es schon besser werden, dann ruht sie sich richtig aus. Wieder geht ihre Bürotür auf.

»Charlotte, was treibst du denn? Die Präsentation! Hast du auch die Zahlen rausgenommen?«

Heute kann sie sich nicht zurückhalten, zum ersten Mal.

»Ich habe es satt, dass du dauernd, ohne zu klopfen, bei mir im Büro stehst. Man meint fast, du machst das mit Absicht. Ja, ich habe die Zahlen rausgenommen, alles ist fertig. Bitte schön!«

Mit einer unwirschen Geste reicht Charlotte ihrem Vorgesetzten die Präsentation.

Minuten später setzt sie sich im Besprechungszimmer neben ihn. Die Spannung ist mit Händen zu greifen. Die Vorwürfe bleiben unausgesprochen, aber das Schweigen lastet schwer. Der Kunde rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her und klopft nervös mit dem Fuß auf den Boden. Seine Assistentin kratzt mit dem Füller über ihren Notizblock. In Charlottes Kopf klingen alle Geräusche doppelt laut. Sie ist mit Reden dran. Sie versucht laut zu sprechen, sie versteht nicht, was sie sagt, sie bringt alles durcheinander. Plötzlich verstummt sie. Black-out. Das Loch, vor dem sie solche Angst hatte. Sie stürzt hinein. Sie wird kreidebleich. Ihr ist speiübel. Nichts mehr anfassen. Sie will tanzen. Sie treibt lose im Wind. Ihre Arme werden zu auffliegenden Blättern, ihr ganzer Körper ein einziger Luftzug. Eine Brise hebt sie auf, sanft, ganz sanft. Ihr Kopf taumelt auf den Schultern, ihr Becken zeichnet eine Acht. Ihr Herzmuskel beschleunigt auf den Rhythmus der pochenden Erde, als würde ihr gesamtes Blut auf einmal in den Körper schießen. Charlotte ist im Wald. Sie heult wie eine hungrige Wölfin. Barfuß stapft sie durch den Matsch, stampft, bespritzt die Pflanzen ringsum. Aus ihren Fußsohlen schlagen Wurzeln, die sie mit dem Mittelpunkt der Erde verbinden. Lichtstrahlen fahren aus ihrem Kopf in den Himmel hinauf. Sie ist verbunden mit dem Unendlichen, sie ist ein gedehntes Band jenseits der Zeit, eine Welle im Land der Träume. Sie tanzt in Trance vor einer johlenden Menge. Nichts hört sie mehr, sie ist ganz in ihrer Kunst. Alle Blicke ruhen auf ihr. Sie steht ganz vorn auf der Bühne, ganz vorn in ihrem Leben. Die Schreie des Publikums werden lauter. Ein paar Zuschauer haschen nach ihr. Geschmeidig weicht sie ihnen aus, schnellt in Lichtgeschwindigkeit auf. Im Bruchteil einer Sekunde kippt sie nach vorn. Der Aufprall ist hart. Ihre Brust und ihre Arme rumsen an die Zimmerwand, holen sie in die Wirklichkeit zurück. Sie ist schweißgebadet. Sie hat getanzt, im Besprechungszimmer vor aller Augen. Um zu zeigen, dass er die Situation völlig im Griff hat, erklärt der Marketing-Chef ungerührt:

»Charlotte, du hast einen Burn-out. Gleich kommt der Krankenwagen.«

Ein Satz von harmonischem Klang, wie eine Melodie

1

Kurz vor sechs Uhr. Immer noch keine Nachricht von Tom. Charlotte schaltet das Telefon aus. Sie muss stark sein. Sie schiebt das Handy in die Tasche und betritt das Tanzzentrum in der Rue du Paradis. Da geht es zum Pina-Bausch-Saal, dem Raum, in dem ihr Modern-Dance-Kurs stattfindet. Vor der Doppeltür wartet Jeanne, eine alte Freundin aus dem BWL-Studium.

»Bist du die Einzige?«, fragt Charlotte.

»Sieht ganz so aus, außer wir sind heute in einem anderen Raum.«

»Nein, dann hätte Michaël mir Bescheid gesagt. Das stimmt schon hier. Ist Théa noch nicht da?«

Jeanne versucht sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihr ist.

»Ich habe vorhin mit ihr telefoniert. Sie kann nicht zu deinem Kurs kommen. Ihr Casting wurde verlegt. Sie hat gesagt, sie komme später zu uns ins Restaurant.«

Charlotte antwortet mit einem verkrampften Lächeln.

»Dann bist du heute also meine einzige Teilnehmerin.«

»Mach dir nichts draus, Süße, es ist November, das ist ganz normal. Da haben die Leute nach der Arbeit keine Lust mehr auf Bewegung. Aber weißt du, dein Kurs ist echt genial. Ich liebe das. Wenn ich mal eine Woche nicht kann, vermisse ich es total.«

»Letzte Woche hatte ich nur drei Teilnehmer. Heute bloß dich. Ganz schön heftig zurzeit, aber ich bleibe optimistisch.«

»Du bist eine super Lehrerin, Charlotte, das weißt du.«

Schwitzend strömen die vielen Teilnehmer des Kurses vor ihnen aus dem Raum. Mit einem Stich in der Brust sieht Charlotte ihnen auf dem Gang zu den Umkleiden nach. Warum sind beim Jazz so viel mehr Leute als bei mir? Sie tritt in den Raum, hinter ihr Jeanne. Sie rollen ihre Matten für die abschließenden Entspannungsübungen aus. Im Raum hängt noch der Schweißgeruch des letzten Kurses. Charlotte hat Weihrauchstäbchen dabei, die sie an den Seiten des Raums anzündet. Nach ihrem Burn-out vor drei Jahren hat sie ihr Leben verändert. Bloß kein Marketing mehr. Sie hat sich wieder dem zugewendet, wofür sie schon immer gebrannt hat: dem Tanzen. Sie hängte ihren Beruf an den Nagel und ging wieder täglich zum Training und zu Tanzworkshops. Auch das Improvisieren in sommerlichen Parks hat sie für sich entdeckt. Mit Leib und Seele ist sie dabei. Ihre Psychologin brachte sie zum Modern Dance, auch wenn ihre Mutter schimpfte: »Und wie willst du dein Geld verdienen?« Charlotte wird nicht klein beigeben. Sie ist diesen ganzen Weg nicht umsonst gegangen. Vom Bromazepam wird sie für immer die Finger lassen. Es gibt keinen Weg zurück. Sie will von ihrer Leidenschaft leben, von ihren Kursen.

Als sie gerade auf ihrem Tablet, das an den Lautsprechern hängt, die Playlist startet, kommt eine junge Frau in den Raum gestürzt.

»Hier ist doch Jazz Dance, oder?«

»Ja, aber das war vor einer Stunde. Jetzt ist hier Modern Dance«, erklärt Jeanne. »Das solltest du mal probieren, du wirst sehen, es ist super.«

Die junge Frau lässt sich überzeugen.

Charlotte versucht, ihre schwarzen Gedanken zu verscheuchen. Sie muss sich wieder in den Griff bekommen und ihr Bestes geben, auch wenn sie nur zwei Teilnehmerinnen hat. Sie beginnt den Kurs mit ein paar Aufwärmbewegungen und Yoga-Übungen und macht dann mit freien Figuren zu Hip-Hop-Musik weiter. Sie lädt ihre Schülerinnen ein, ihren Körper bewusst wahrzunehmen, lässt sie Spiele und Scharaden aufführen und fordert sie auf zu improvisieren und ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie schließt die Stunde mit einer Entspannung zu tibetischem Gesang. Jeanne ist eingeschlafen. Die andere junge Frau ist begeistert, sie strotzt vor Energie. Sie verspricht, nächste Woche wiederzukommen. Bevor Charlotte das Tanzzentrum verlässt, geht sie bei Michaël vorbei, der für die Verwaltung zuständig ist. Sie reicht ihm die beiden Coupons von ihrem Kurs.

»Du hattest heute ja nicht gerade volles Haus, Goldlocke«, stellt Michaël hinter seinem Tresen fest.

»Ja, aber ihr Kurs ist genial«, erwidert Jeanne.

Michaël spendiert den beiden einen Detox-Drink, Zitronenwasser mit Gurkenscheiben.

Charlotte holt ihr Portemonnaie heraus, um den Raum zu bezahlen.

»Ist schon okay, für dieses Mal.«

»Ja, wirklich?«

»Wir sitzen doch alle im selben Boot, meine Schöne«, blinzelt Michaël zurück.

»Vielen Dank, Michaël. Du bist ein Engel.«

Draußen ruft Jeanne ihren Mann an. Sie bittet ihn, mit ihren Mädchen zu Abend zu essen. Auch Charlotte schaltet ihr Telefon ein. Immer noch keine Nachricht von Tom. Dabei hatte er geschworen, er würde sich melden.

Ich verspreche dir, ich schicke dir lauter Liebesbotschaften.

Charlottes Magen zieht sich zusammen.

»Alles klar, Bernard kümmert sich um die Mädchen. Er hat zwar ein bisschen gemaunzt, aber er schafft das schon. Gehen wir?«

Charlotte rührt sich nicht. Sie ist in Gedanken versunken.

»Was ist? Kommst du? Théa ist bestimmt schon da.«

Sie treffen Théa vor dem Chez Jeannette. Sie wartet, langer Caban über einem schwarzen Kleid, Zigarette in der Hand. Als Théa klein war, gingen sie und Charlotte zusammen tanzen. Inzwischen ist sie Schauspielerin.

Die Brasserie ist brechend voll. Die drei Freundinnen bahnen sich einen Weg an die dicht belagerte Bar. Einer der Kellner erkennt Charlotte und begrüßt sie mit Küsschen.

»Alles klar? Ihr seid zu dritt?«

Er nimmt einen Brotkorb und führt sie an einen der roten Resopaltische hinten im Raum. Die Tische, die Charlotte so mag. Ein paar Minuten später bringt er ihnen drei Mojitos. Die viele Minze überdeckt den Rumgeschmack. Charlotte trinkt ihr Glas nicht leer. Tom nimmt all ihre Gedanken in Beschlag. Sie kann sich gar nicht auf das Gespräch konzentrieren.

»Und weißt du was? Ich kann meine sämtlichen Überstunden abfeiern.«

»Genial, Jeanne, da werden sich deine Mädchen aber freuen.«

»Und du, wie war dein Casting? Erzähl.«

Das Essen kommt. Charlotte rührt ihren Teller kaum an. Nicht einmal der Salat schmeckt ihr.

Tom ruft nicht an. Nie hält er, was er verspricht.

Théa wendet sich an Charlotte.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung? Du hast gar nichts gegessen.«

Schnell antwortet Jeanne für sie.

»Es war keiner im Tanzkurs.«

»Ach deshalb sagst du schon die ganze Zeit kein Wort. Stresst dich das?«

»Ein bisschen … Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich meine nächste Miete bezahlen soll. Ich bekomme kein Arbeitslosengeld mehr … auch wenn es schwer fällt, versuche ich, den Mut nicht zu verlieren, irgendwann wird es schon anlaufen.«

»Gut so, Charlie. Mein Maya-Schamane sagte immer: ›Bei uns spielt sich alles im Kopf ab.‹ Wenn du daran glaubst, wird die Lösung schon kommen.«

Jeanne findet die Lösung auf der Stelle.

»Wenn es mit deiner Wohnung nicht hinhaut, Charlotte, gibt es immer noch unser Dachbodenzimmer: Das Au-pair-Mädchen fährt nächste Woche heim.«

»Das ist wirklich total lieb, Jeanne. Danke, ich denk darüber nach.«

»Okay, nehmen wir einen Nachtisch? Die Rechnung geht auf mich«, schlägt Théa vor.

Charlotte gibt vor, müde zu sein. Sie kann nicht mehr. Toms Schweigen dreht ihr den Magen um. Sie verabschiedet sich von ihren Freundinnen. Ihr ist elend zumute.

Kaum aus der Brasserie heraus, stürzt sie sich wieder auf ihr Telefon. Kein Anruf. Keine Nachricht.

Ich bin ihm völlig egal.

Sie geht bis zur Bushaltestelle, ihr Kopf platzt fast vor Wut. In dem Moment, als beim 31er die Türen aufgehen, hat sie einen Satz in den Ohren. Einen Satz von harmonischem Klang, wie eine Melodie: Sei bereit, deine Geschichte mit Tom geht morgen zu Ende.

Der Weg zur Harmonie führt über viele falsche Töne

2

Der Bus ist beinahe leer. Charlotte setzt sich nicht. Wie unter Schock steht sie da. Der Satz, den sie gehört hat, dreht sich in ihrem Kopf. Sie versteht nicht, was mit ihr los ist. Alles um sie herum ist ins Schlingern geraten. Dann lässt sie sich doch auf einen Sitzplatz fallen. Leichenblass greift sie nach ihrem Telefon und schreibt zitternd eine Nachricht an Stella.

Ja, sie muss augenblicklich Stella sehen.

Barbès-Rochechouart, endlich. Hier muss sie aussteigen. Charlotte nimmt ihre Tasche, rempelt den Mann vor ihr an und zieht ohne Entschuldigung davon. Auf der Straße ist ihr Hals wie zugeschnürt, ihr Herz pocht. Sie fängt an zu schwitzen, obwohl es kalt ist. Sie beeilt sich, will endlich da sein, diese aufsteigende Panik bezwingen. Früher wäre so eine Situation leichter gewesen, da hätte Charlotte nicht lange gefackelt und einfach ein Beruhigungsmittel genommen. Doch damit ist Schluss, das hat sie sich geschworen. Die Psychologin, bei der sie nach ihrem Burn-out war, hätte bestimmt gefragt: »Und was bedeutet dieser Satz für Sie?« So sehr Charlotte sich auch anstrengt, sie findet keine Antwort. Sie ringt nach Luft. Nichts zu machen. Sie geht den Boulevard de Rochechouart hinauf und biegt in die Rue de Clignancourt ein. Die Bürgersteige sind verwaist. Das Café du Commerce auch. In der Rue Pierre-Picard entspannt Charlotte sich etwas. Im Treppenaufgang des Hauses, in dem Stella wohnt, kam sie sich schon immer vor, als beträte sie einen Zauberwald jenseits der Zeit. Die Fahrt im hölzernen Käfigaufzug scheint ewig. Sie klingelt. Endlich.

»Komm rein, Liebes, es ist offen.«

In dem Moment, wo sie die Tür aufmacht, atmet sie wieder freier. Die japanischen Kalligrafien an den Wänden befrieden sie. Sie hängt ihre Jacke an den schmiedeeisernen Kleiderständer. Eine Kunstzeitschrift in der Hand, erwartet Stella sie im weißen Seidenkimono. Sie sitzt auf dem großen Sofa im Wohnzimmer. Stella ist Musikerin mit slawischer Herkunft. Charlotte kennt sie über Tom, der sie einmal für seine Radiosendung interviewt hat. Irgendwie hatte er gespürt, dass diese aufgeklärte Zweiundsechzigjährige Charlotte gefallen würde. Als arrivierte Cellistin hat Stella schon die ganze Welt bereist und in aller Herren Länder Konzerte gegeben. Ihre silbergrauen Haare und ihre tiefschwarzen Augen lassen sie wie eine Madonna wirken. Als sie sich zum ersten Mal begegneten, hatte Charlotte das seltsame Gefühl, sie würde sie schon immer kennen.

»Also, Liebes, erzähl, was los ist.«

Charlotte ist unfähig, ein Wort herauszubringen, und stürzt sich weinend in Stellas Arme. Sie schluchzt minutenlang an ihrer Brust. Stella lässt sie weinen. Sie lässt ihren ganzen Kummer zu und fängt ihn auf.

»Gut so, nur weiter, wein dich aus. Tränen waschen das Herz rein.«

Nach und nach kommt Charlotte zur Ruhe. Die aufgestauten Gefühle machen sich in tiefen Atemzügen Luft. Stella steht auf, reicht ihr eine Packung Taschentücher und verschwindet in der Küche.

»Ich koch dir einen Tee.«

Mit zwei Keramiktassen auf einem Tablett mit orientalischem Muster kommt sie zurück.

»Es ist wegen Tom, oder? Was hat dir dieser Haudegen denn schon wieder angetan?«

»Du errätst aber wirklich alles, Stella.«

»Du weißt doch, dass ich meine Fühler habe.«